Streifzug durch einen alten Literaturkalender
“Um von vornherein den ganzen wirklichen Horizont des Problems des Schönen und vielleicht auch dessen, was Kunst ist, zu gewinnen, ist es nötig, daran zu erinnern, daß für die Griechen der Kosmos, die Ordnung des Himmels, die eigentliche Anschaulichkeit des Schönen darstellt. Es ist ein pythagoreisches Element im griechischen Gedanken des Schönen. In der regelmäßigen Ordnung des Himmels haben wir eine der größten Anschaulichkeiten von Ordnung, die es überhaupt gibt. Die Perioden des Jahreslaufes, des Monatslaufes und des Tag- und Nachtwechsels bilden die zuverlässigen Konstanten von Ordnungserfahrung in unserem Leben – gerade im Kontrast zu der Zweideutigkeit und Wechselhaftigkeit unseres eigenen menschlichen Tuns und Treibens.”
Theophrast, “…denn er sagt, es sei schwierig für einen Schwätzer zu schweigen, die Zunge bewege sich von selbst, er könne nicht schweigen, auch wenn man ihn für geschwätziger als die Schwalben hielte.”
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben.
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew´gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
(einer der von Roberto Bolaño geschätzten Dichter)
April
Der Grünfink in der Erle.
– Und was mehr?
– Die Erle im blauen Himmel.
– Und was mehr?
Der blaue Himmel im Wasser.
– Und was mehr?
Das Wasser im neuen Blättchen.
– Und was mehr?
Das neue Blättchen in der Rose.
– Und was mehr?
Die Rose in meinem Herzen.
– Und was mehr?
Mein Herz im deinigen!
Um es poetisch auszudrücken: ich möchte Rose oder Auge oder Mund oder Hand sagen. Aber zugleich den Übergang von Rose, Auge, Mund, Hand an ihre Umwelt, an Wind, Luft, Licht darstellen, an ein leichtes Ensemble, das den Einzelheiten hilft, so liquid wie möglich zu werden. Ich möchte gewissermaßen Leitern an die Gegenstände legen, mit Sprossen, die immer weiter nach oben, in ein unverdächtiges, offenes Blau führen.
Das “schöne Wort” vergeht vielleicht in der Mitte eines rohen Satzes. Aber es bannt die Angst, indem es sie benennt, nach ihren Gründen fragt.
Man lauert sonst jeder unschuldigen Verbindung auf. Das aber scheint gleichgültig zu sein, daß die Ärmsten in eine große Gesellschaft zusammengedrängt werden, sich immer mehr abgrenzen gegen die übrige Bevölkerung und zu einem furchtbaren Gegengewichte anwachsen.
aus: Dies Buch gehört dem König (1843)
Ihr »Königsbuch« mißfiel in gewissen Kreisen sehr, und besonders war ihr Schwager Savigny – schon Justizminister – ungemein unzufrieden. In einer Gesellschaft Abends bei ihm wurde Bettina wegen des Buches lebhaft angegriffen und geneckt, sie sagte im Trotz, es würden noch mehrere Bände folgen, für die möge man etwas Aerger sparen, die würden dessen noch mehr anregen. Savigny sagte kopfschüttelnd: »Noch mehrere Bände? Es ist an Einem schon viel zu viel!« Da ergrimmte Bettina denn doch, und sagte vor allen Leuten: »Ich muss doch dem König vollkommen klar machen, daß er Esel zu Ministern hat, das kann ich nicht in aller Kürze.« Man schwieg erschrocken, auch Savigny, der vergebens zu lächeln versuchte, es wurde ein Grinsen daraus.
(Heinrich Heine an Varnhagen von Ense)
Eines Tages begegnet ihm und seiner Kiste ein Kerl – er war fremd im Camp – und sagte:
”Was habt ihr denn da in der Kiste?”
Und Smiley, anscheinend gleichgültig, antwortete:
”Vielleicht einen Papagei, vielleicht einen Kanarienvogel; könnte ja sein, stimmt aber nicht – es ist nur ein Frosch. “
Und der Kerl nahm die Kiste, blickte aufmerksam hinein, drehte si so rum und so rum und sagte schließlich: “Hm – das stimmt. Na und, wozu braucht ihr ihn?”
”Nun”, sagte Smiley leichthin und sorglos, “zu einer Sache ist er wenigstens gut zu gebrauchen, denke ich: Im Wettspringen kann er jeden Frosch der Provinz Calaveras schlagen.”
Der berühmte Springfrosch der Provinz Calaveras (The Californian 1865)
Offensichtlich liegt das Ziel seiner Erinnerungsphantasien in deren historischer Genauigkeit. die Befriedigung bei der Wiederherstellung des lebensgeschichtlich und realhistorisch Vergangenen findet sich für Kempowski nicht in dessen Ausgestaltung nach Wünschbarkeit, sondern in seiner Wahrhaftigkeit, was hier ein anderer Name für Realismus ist. Das historische Prinzip der detaillierten Erforschung des einzigartigen scheint Kempowski dabei die Garantie zu sein für die Existenzfähigkeit des von ihm literarisch Wiederhergestellten. So ‘reproduzieren’ die Romane nicht nur die Schauplätze oder die Requisiten mit abbildhafter Präzision, sondern porträtieren auch die Personen, die Eltern beispielsweise, mit dokumentaristischer Schonungslosigkeit. Dies gilt insbesondere für die gesprochene Sprache, die Kempowski höchst eindringlich recherchiert hat.
„Ansage mir frisch“, „Kinder, wie isses nun bloß möglich“ (Tadellöser & Wolff)
… ja auch das hat die Poesie mit allem Unvergänglichem gemein, daß man ihr selbst gegen einen anderen Willen geneigt sein muß. Leicht wird man übrigens bemerken, daß sie nur da gehaftet hat, wo überhaupt eine regere Empfänglichkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie vorhanden war. Wir wollen in gleichem Sinne diese Märchen nicht rühmen oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung verteidigen: ihr bloßes Dasein reicht hin, sie zu schützen. Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Notwendigkeit in sich und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben betaut, und wenn es auch nur ein einziger Tropfen wäre, den ein kleines zusammenhaltendes Blatt gefaßt hat, so schimmert er doch in dem ersten Morgenrot.
Vorrede zur Märchenausgabe von 1819
>>>>> Reclams Literaturkalender 1.1955 –
>>>>> Reclams Literaturkalender 2013
>>>>> Reclams Literaturkalender 2014