Rückblick auf Roberto Bolaños “Amuleto”. Von Blumenvasen und Staub (Capítulo 1)
Vor mehr als einem Jahr konnte ich es kaum erwarten, ein neues Buch von Roberto Bolaño lesen zu können und so schrieb ich für alle vierzehn Kapitel des Romans beinahe täglich spontan meine Leseeindrücke auf. Ich habe sie zwar auch in einer PDF-Datei damals zusammengefasst, aber wer liest in einem Blog schon mehr als 10 Seiten am Stück. So werde ich meine damaligen Kommentare noch einmal häppchenweise hier erneut erscheinen lassen:
Was passiert: Eine Studentin der Philosophie und Literatur in Mexiko Stadt erinnert sich, bei zwei Dichtern die Wohnungen geputzt zu haben. Welch ein Kontrast zwischen dieser dürftigen Inhaltsangabe und der grandiosen, erzählerischen Phantasie Roberto Bolaños. Der dunkle Schlund einer Vase zum Beispiel wird unversehens zum Abgrund des Bösen. Zum Vorboten für das Abgleiten der gesamten mexikanischen Gesellschaft unter die militaristische Gewalt des Staates. Die Staub wischende Studentin Auxilio (Hilfe, Erbarmen,Schutz) Lacouture (la couture= die Umhüllung, der Mantel, la locura=der Wahnsinn) [die vor dem Wahnsinn Schutz Suchende] erinnert sich an ihre Zeit vor 1968 und hält sich für die „Mutter der mexikanischen Poesie“. Sie ist es, die hier scheinbar erzählt. In Wirklichkeit aber ist nicht sie die Poetin, auch nicht Pedro Garfías oder León Felipe (sie „kennt ja alle Dichter“, ich kannte beide nicht, ob fiktiv oder real, das Glossar im Anhang half) und auch nicht Arturito Belaño. Der Autor Roberto Bolaño selbst ist hier der Poet aller 250 ermordeten mexikanischen Studenten des Massakers von Tlatelolco.
Aus welcher Perspektive schreibt Bolaño eigentlich seine ganzen Romane? Er schreibt in Wahrheit nicht mehr aus der Sicht seiner jeweiligen Protagonisten. Er beschreibt das, was in seinem eigenen Gehirn genau in dem Moment abläuft, bevor er schreibt. Das ist ein schnelles, vermutlich eruptives Schreiben. Es umfasst die gesamte literarische Welt in seinem Kopf, jede spontane poetische Intuition und folgt immer weniger der Erzählperspektive einer einzelnen Person. Handlung und Aufbau, auch Überarbeitung, gehorchen dagegen einer übergeordneten Geometrie, die fast abstrakt (wie z. B. manchmal die Namen der Figuren A, B oder X) daherkommt oder sich sogar scheinbar mathematischen Prinzipien und Zahlenspielen hingibt (der Formel der Unendlichkeit bei Borges ähnlich). Bolaño hat mit den alten Formen des auktorialen und personalen Erzählens gebrochen, letztlich zählt nur noch der kurze Moment vor dem Schreiben. Er setzt das Denken und Fühlen seiner Figuren immer dem spontanen Gedankenfluss des eigenen Denkens und Fühlens aus. Diesem Prozess verdanken wir die poetischen Ausschweifungen in Sätzen wie:
„Gleichzeitig ging mir die Blumenvase nicht aus dem Kopf,… auf einer Konsole, auf der auch eine silberne Kröte hockte, eine Kröte, die den ganzen Irrsinn des mexikanischen Mondes mit ihrer Haut absorbiert zu haben schien.“
Die Staubwolke am Schluss des ersten Kapitels repräsentiert die melancholische Stimmung des sich Erinnernden an die unheilvolle Bedrohung der autonomen Universität durch das Militär. Gleichzeitig aber auch die den sterbenden Studenten und uns allen bevorstehende Auslöschung durch den Tod. Die Zeit ist gnadenlos in der Kunst des Vergessens, gegen das Bolaño sich in schreibendem Erinnern wehrt. Die Literatur sei leichte Beute für den Staub. Denn so wie Asche zu Asche, würden auch die Bücher am Ende vergessen. Wir wissen, oft erscheinen sie nicht einmal.
Die Erzählsituation Bolaños ähnelt also der seines letzten Vortrages über spanische Literatur:
„weil ich diese Rede,…, aus dem Gedächtnis geschrieben habe, kurz bevor ich sie halten musste.“
(Roberto Bolaño: „Der unerträgliche Gaucho“ S. 176).
Ein weiteres Stilmittel, das diesen Schreibprozess zu bestätigen scheint ist die sofortige Relativierung im gleichen Satz. Als Beispiel führe ich hier den ersten Satz aus „Der Stern in der Ferne“ an, der darüber hinaus auch zu belegen scheint, dass Bolaño immer nur an einem Buch geschrieben hat, das er immer variierte, denn er beginnt mit den gleichen Worten wie „2666“:
„D a s e r s t e M a l sah ich Carlos Wieder 1971 oder 1972, als Salvador Allende Präsident von Chile war.“ („Stern in der Ferne“ S. 9)
„D a s e r s t e M a l las Jean-Claude Pelletier ein Buch von Benno von Archimboldi Weihnachten 1980 in Paris…“ („2666“ S. 13, Benno assoziiere ich neuerdings mit Benno von Wiese oder Gottfried Benn)
Jeweils werden zwei Personen im ersten Satz genannt und die Jahreszahl im ersten Zitat wie aus dem Gedächtnis als vermutlich rekapituliert. Das erste Mal ist wie das Aufschlagen einer ersten Seite eines neuen Buches. Die Situation des Protagonisten ist also unmittelbar unsere eigene beim ersten Lesen. Das sich nicht genau erinnern können kommt sehr häufig vor. Ein weiteres schönes Zitat aus dem ersten Kapitel von „Amuleto“ möchte ich anführen:
„Wir strecken einfach die Zeit, wie die Haut einer bewusstlosen Frau im Operationssaal eines Schönheitschirurgen.“
Das „Wir“ ist eigentlich das „Ich“ des Autors, Auxilio ist eine Hilfskonstruktion. Selbst dann, wenn es eine solche Frau (Alcira Soust Scaffo) in der Realität gegeben haben soll. „Wir“ schließt auch den angesprochenen Leser mit ein. Er wird in den Sog des suggestiven Schreibens mit hereingezogen. Trotz des neuartigen, sagen wir mal „Autoren-Inneren-Monolog-Erzählens“ ein Rekurs auf alte Erzähltricks, ohne Versteckspiel kein Roman. Sonst hätten wir eine Art Tagebuch. So wie Bolaño fiktive und reale Namen vermischt, so vermischt er auch alte und neue eigene Erzähltechniken.
Bolaño bewegt sich weniger an einem Handlungsfaden entlang, als durch die Regale voller Bücher und Literatur. So auch in diesem ersten Kapitel, wo bereits wieder zwei Lyriker, ein Schriftsteller und ein Philosoph Erwähnung finden. Auffällig ist die durchgängige Hochschätzung von Lyrikern und auch die Höherbewertung des Begriffes Dichter gegenüber dem des Schriftstellers, was ja auch das eigene Werk betraf. Vielleicht sind seine Romane gar keine Prosa, sondern zu lang geratene Gedichte.