Roberto Bolaños “Amuleto”. Kinder der Kloake und ein Stricherkönig (Capítulo 7)
Bolaño lässt sein literarisches Alter Ego Arturo Belano von seiner Rückkehr aus Chile nach dem Putsch Pinochets erzählen. Er schreibt auch über die eigene Legendenbildung, die mehr von anderen um seine kurze Inhaftierung gesponnen wurde. Er erzählt von der Freundschaft, vor allem der mit seinem homosexuellen Freund Ernesto San Epifánio. Nach der Erfahrung in Chile ist seine Rolle die eines Außenseiters „mit seinen [eigenen] Dämonen“ (S. 74) in dem Kreis der jungen Dichter, der seine Rückkehr feiert. Er lässt sich vorübergehend mit den noch jüngeren Dichtern ein, Auxilio bezeichnet sie als „Kinder der Kloake“ (S. 71), weil sie aus den sozialen Ghettos der Hauptstadt, einer Art Unterwelt kommen. Mit Ernesto streitet er, weil dieser in die Fänge eines Zuhälters geraten ist. Am Ende siegt Arturos Auffassung, dass er seinem Freund beistehen müsse. Der autobiographische Rückbezug ist in diesem Kapitel besonders deutlich. Das Leben des Autors Bolaño vermischt sich mit dem des Protagonisten. Der Blick auf die eigene Geschichte wird aber durch die Erzählhaltung gebrochen, denn es ist immer noch Auxilio, die Schutzgöttin der jungen Poeten, die erzählt und sie folgt den beiden Freunden, die auf dem Weg in die Höhle des Zuhälters und seiner Bande sind, mit einem Messer in der Tasche.
Der Satz „Ich stand vor einem Spiegel und erblickte ein riesiges verlassenes Tal“ (S. 68) erinnert mich an den Anfang von Juan Rulfos „Pedro Páramo“ und die verlassene Stadt Comala. Bolaño umschreibt mit diesem „Tal des Verderbens“ die empfundene Todesnähe in Chile. Was nehme ich mit von diesen Seiten? Dass Freundschaft ein hohes Gut ist, vielleicht höher als die Liebe und das Macht auf Angst beruht. Eine Falte in Arturos Gesicht, „in der die Angst der ganzen Welt sich sammelte“ (S. 76) scheint mir wie eine programmatische Aussage für das Werk Bolaños. Die Vergänglichkeit allen Lebens und aller Kunst kommt in dem oft bemühten Zitat des „Friedhof[es] im Jahre 2666“ (S. 78) zum Ausdruck, das auf seinen letzten, als Vermächtnis zu verstehenden Roman „2666“ vorausweist.
Bolaños Romane sind aneinandergereihte Erzählungen, unterbrochen von darin verschachtelten Geschichten. So wie „Amuleto“ auf dem Zeugenbericht aus „Die wilden Detektive“ beruht oder „Stern in der Ferne“ aus der letzten fiktiven Biographie in „Die Naziliteratur in Amerika“ hervorgegangen ist, so hätte Bolaño auch die Fähigkeit gehabt, jede kleinste Geschichte zu einem ganzen Roman auszubauen. Für mich sind deshalb die Teile von „2666“ auch als einzelne Romane einer zusammengedachten Reihe möglich, die nun nur posthum editorisch zu seinem umfangreichsten Roman wurden. Den Aufbau mit einem endlos erscheinenden Mittelteil aus unterschiedlichen Zeugenschaften sehe ich als Parallele in der Konstruktion zum „Teil von den Verbrechen“ in „2666“. Vielleicht probiert in der Zukunft ein neuer Verleger, diese „Romane“ auch einmal einzeln zu verlegen. Aber ich schweife ab und um das noch zu steigern, absurd, und weil ich nostalgisch alte Interviews Bolaños mag, noch ein Link auf ein Interview von 2002: „Unser Teil der Traurigkeit“. Geschichten, Erzählungen, Romane, leider können jetzt nur noch weniger Erzählbegabte über ihn schreiben.