Bolaños “Amuleto”. Carlos und Erigone II(Capítolo 12)
Immer noch befindet sich Auxilio im Haus von Carlos, der ihr die Geschichte von Erigone erzählt. Er ist an dem Punkt angekommen, wo Erigone (Auxilio) sich entscheiden muss, ob sie auf seinen Vorschlag der Flucht mit einem seiner Führer eingeht, hinter dem sie aber auch den perfiden Plan vermutet, sie ermorden zu lassen. Auxilio fantasiert, der Leser befindet sich also quasi in ihrem Traum. In Träumen ist alles möglich und genauso phantasmagorisch erzählt Bolaño. Nicht leicht zu lesen, weil die mythologische Ebene vollkommen gleichwertig gegen das realistische Szenario der Bedrohungssituation auf der Frauentoilette gesetzt wird, über deren Boden “der Mond mit unendlicher Geschwindigkeit von Fliese zu Fliese eilte.” Nachdem Carlos seine Erzählung von Orest und Erigone beendet hat, erinnert sich Auxilio an die Mythologie um Kronos, den griechischen Gott der Zeit. Bei so viel Chronologie und griechischer Mythologie fällt mir wieder ein Gedicht Bolaños ein, das wie auch die zwei Kapitel hier als eine Referenz an die Mythen der Odyssee zu sehen ist, mit denen er sich eingehend beschäftigt haben muss:
INMITTEN VON FLIEGEN
Dichter Trojas
Nun da nichts mehr was Eures sein konnte
existiertKeine Tempel keine Gärten
Keine PoesieSeid frei
Bewunderte Dichter Trojas
Damals lautete meine Übersetzung in der Überschrift “Mücken”, am spanischen Text (moscas) klebend und einen Dichter mit Mückenschwärmen (Ideen) im Kopf als Bild denkend. Heute ist mir klar, dass “Fliegen” wohl doch die bessere wäre, wenn man an Euripides und Sartre denkt. Eine Frage der Stärke von Gewissensbissen, ob Erinnyen nun als Mücken oder als Fliegen auftauchen sollten. Orest wurde jedenfalls sehr von ihnen verfolgt, was auch kein Wunder ist, wenn man die eigene Mutter ermordet hat. Auxilio glaubt, dass die Geschichten von Orest und Kronos sie an etwas erinnern, das ihr nicht einfällt:
“Halt, sage ich. Ich erinnere mich. Die von Tausenden umher fliegender Insekten stickig gewordene Luft war plötzlich wieder leicht. Coffeen starrte mich an. Und ich erblickte einen Flughafen, ohne Menschen, ohne Flugzeuge: Nur Hangare und Landebahnen, denn es war ein Flughafen, von dem einzig und allein Visionen und Träume starteten. Es war der Flughafen der Besoffenen und Junkies.“
Auxilio fühlt sich bedroht, halluziniert sich in Todesnähe, betäubt von Carlos und den Griechen wähnt sie sich auf dem Weg in einen Operationssaal. Diese Fahrt zum Operationssaal, die mich an die Fahrt im Aufzug aus „Literatur + Krankheit = Krankheit“ erinnert („Der unerträgliche Gaucho“ S. 142 ff, dort wird auch viel mit den Griechen verglichen) bezeugt aber einmal mehr, dass Bolaño immer wieder auf Bilder zurückgreift, die seine eigene schriftstellerische und gesundheitliche Situation spiegeln. Eile ist geboten, um diese Geschichte im doppelten Sinne zu gebären. Geschichten werden nämlich nur zeitnah (ein schönes Unwort aus dem Personalmanagement) geboren, sonst versteht sie niemand mehr und Auxilio gebiert gerade ihr Baby, ihre ureigene Erinnerung an das schreckliche Massaker 1968 in Mexikos Hauptstadt.
Ein anderes Thema: Warum habe ich den Eindruck, doch wenig wirklich Biographisches von Auxilio zu hören? Ihre Gedanken scheinen sich auf andere, ihr ähnliche Personen zu richten. Sie ist zwar selbstreflektierend und erzählt auch von ihren Gefühlen, aber über ihr tatsächliches Leben erfährt der Leser nur wenig. Wie ein Blogger das Internet durchzieht oder ein Suchroboter, so streift Auxilio durch die Zeit und sammelt ihre Eindrücke, aber aus Gründen der Geheimhaltung oder um im Bild zu bleiben, des Datenschutzes, sagt sie nur wenig über sich selbst und ihren Lebenslauf. Sie bleibt eine Art träumende und halluzinierende Papierfigur. Andere Literaten und Künstler geben ihr scheinbar Leben, aber gleichzeitig ist sie auch deren Retterin und Mutter.
Am Ende des Kapitels verlässt Auxilio den Maler, kommt sich aber im Blick des sie heimfahrenden Taxifahrers wie eine “Nutte vor, die eine üble Nacht hinter sich hatte”. Sie geht mit einem Tee und einem Buch ins Bett “und dann ging wieder einmal die Sonne auf über Mexikos Hauptstadt.”