Bolaños “Amuleto”. Carlos und Erigone I(Capítulo 11)
Also weiter in diesem erzählten inneren Monolog einer Frau auf der Toilette einer mexikanischen Universität. Auxilio Lacouture steigt in die griechische Mythologie herab: in Homers Mörderpfuhl und in die Schatzkiste Sigmund Freuds. Sie besucht den Maler Carlos Coffeen Serpas, ein attraktives Müttersöhnchen Lilians? Bolaño verknüpft in diesem Kapitel griechische Mythologie mit einem nur erträumten Geschehen. Im Grunde erzählt Bolaño von einem Männerbild, das er in der weiblichen Psyche Auxilios vermutet. So unklug scheint mir der Blick auf den jungen, attraktiven Maler durch die Mythologie nicht zu sein. Männer verkörpern für Frauen oft gleichzeitige Anziehung und Bedrohung. Einmal erscheint er ihr als mordender Orest, um dann wieder ein zu bemitleidender, inzestuöser Liebhaber und Vergewaltiger zu sein. Erigone, die Schöne, symbolisiert wohl so etwas wie eine traurige Liebe, die der Gewalt begegnet. Griechische Geschichte ist zu groß für mich, die zahlreichen Varianten der Überlieferungen zu mehrdeutig. Bei der Beschreibung seiner Künstlerhöhle und seiner nichtssagenden Zeichnungen sieht Auxilio auf ihn als bloßen Schatten seiner Mutter herab und ist doch auch von ihm angezogen. Ödipuskomplex und Psychoanalyse. Von der „Niederkunft der Geschichte“ (S. 135) träumt Auxilio und man weis als Leser nicht genau, ob nun die große Geschichte der Welt oder Auxilios eigene Geschichte, die sie gerade erzählt, damit gemeint ist oder ob Bolaño damit das eigene Prinzip des Erzählens meint, nämlich gesellschaftliche Geschichte durch die Erzählung einer einzelnen Protagonistin wieder erlebbar zu machen und damit auch immer wieder neu zu schreiben. Das erinnert mich an Dieter Forte, der in seinen Romanen auch durch die zersplitterte Geschichte einzelner Protagonisten die große in der Erinnerung neu erzählt. Im Sprachstil könnten beide Schriftsteller kaum weiter voneinander entfernt sein, in dem Prinzip der Rettung der Geschichte durch das Erzählen und durch das Kunstvolle der Literatur, und ich meine “Geschichte” im doppelten Sinne, scheinen sie am gleichen Seil zu ziehen.
Bolaño spiegelt mit der griechischen Mythologie das Geträumte Auxilios. Es mischen sich in ihr die weibliche Sehnsucht nach einer Liebesnacht, gepaart mit der bedrohlichen Situation, in der sich Auxilio in Wirklichkeit gerade befindet. Bolaño und die Frauen sind ein schwieriges Kapitel. Oft referiert er in einem eher sarkastischen, belanglos erscheinenden Stil über Sexualität, das am deutlichsten durch das häufiger gebrauchte Wort “vögeln” zum Ausdruck kommt. Seine Empathie in Bezug auf eine weibliche Sichtweise begegnet man jedoch an vielen Stellen seiner Romane, so in “2666” in dem “Teil von den Verbrechen”, aber auch in einzelnen Figuren, wie z. B. der Hellseherin Florita Almada im gleichen Kapitel oder der jungen Bianca des “Lumpenromans”. Nicht nur diese Stellen beweisen, wie viel Wert darauf gelegt wird, weibliche Psychologie aus einer mitfühlenden Position heraus zu beschreiben, so auch hier in Amuleto. Nur oberflächlich sprachlich auf den Geschlechtsakt bezogen zieht er es vor, beiläufig geringschätzig zu wirken. Ein Mann wäre auch nicht unbedingt der beste Erzähler weiblicher Empfindungen von Intimität. Ihm haben es mehr die weibliche Intuition und ihr Zauber angetan und das unerschöpfliche Thema männlicher Gewalt gegen Frauen. Der auf der einen Seite attraktiv erscheinende Orest (Carlos) droht seiner Stiefschwester Erigone, sie umbringen zu lassen. Diese Bedrohung spürt auch Auxilio bei ihrem Besuch. Virtuos vermischt Bolaño die mythische Erzählebene mit der politischen Geschichte Mexikos, bis dass es dem Leser schwindelt.