Roberto Bolaños “Amuleto”. Seelenwanderungen der Zukunft (Capítolo 13)
1973: Auxilio sieht in ihre Zukunft, in der sie von einer Art Schlafkrankheit befallen wird, denn in ihrer „Seele hatte sich eine große Zerbrechlichkeit eingenistet.“ Sie ist gerührt, als ein 17-jähriger Student sie im Bus zur Universität weckt. Mit den Griechen und Carlos Coffeen hat sie abgeschlossen, obwohl von der Anziehungskraft des “zeichnenden Orest” etwas übrig bleibt. Sie macht sich als “Mutter der mexikanischen Poesie” sorgen um die Zukunft der jungen Dichter. Wo steckt die jugendliche, zukünftige Literatur des Landes? Dann hört sie eine innere Stimme von ihrem Schutzengel, der von ihr in einem Dialog Prophezeiungen über die Zukunft der Schriftsteller und Künstler wissen möchte. Danach befindet man sich 2010 im Jahr der zweiten Reinkarnation von Anton Tschechow, sein 150zigster Geburtstag. Ein irrwitziger, phantastisch-assoziierter Reigen, ein Run durch die Literatur, den man in seiner Absurdität nur genießen kann:
“Im Jahre 2150 ist Majakowski wieder groß in Mode. Im Jahre 2124 wird James Joyce als chinesisches Kind wiedergeboren. Im Jahre 2101 wird sich Thomas Mann in einen ecuadorianischen Apotheker verwandeln.
Von 2033 an wird Marcel Proust für eine schrecklich lange Zeit in Vergessenheit geraten. Ezra Pound wird 2089 in einigen Bibliotheken verschwinden. Vachel Lindsey wird im Jahre 2101 ein massenhaft gelesener Dichter sein.
César Vallejo wird um 2045 in den unterirdischen Eingeweiden der Städte gelesen werden. Jorge Luis Borges ebenfalls. Vicente Huidobro wird 2045 ein massenhaft gelesener Dichter sein.
Virginia Woolf wird im Jahre 2076 in der Gestalt einer argentinischen Dichterin wiederauferstehen. Louis Ferdinand Celine wird im Jahre 2094 das Fegefeuer betreten. Paul Eluard wird im Jahre 2101 ein massenhaft gelesener Dichter sein.
Metempsychose. Die Dichtung wird nicht vom Erdboden verschwinden. Ihre Ohnmacht wird auf andere Weise sichtbar werden.
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Arno Schmidt wird 2085 der Asche entsteigen. Kafka wird im Jahre 2101 in allen Kloaken und unterirdischen Kanälen Lateinamerikas gelesen werden. Witolt Gombrowicz genießt um 2098 große Anerkennung in den Vorstädten des Rio de la Plata.
Paul Celan wird um 2113 der Asche entsteigen. André Breton wird um 2171 den Spiegeln entsteigen. 2059 wird Max Jacob nicht mehr gelesen, das heißt in diesem Jahr stirbt sein letzter Leser.
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Nicanor Parra hingegen werden sie 2059 eine Statue auf einem Platz irgendwo in Chile errichten. Genauso wie Octavio Paz 2020 in Mexiko und Ernesto Cardenal 2018 in Nicaragua, eine kleine allerdings.
All diese Statuen aber fliegen, durch göttliche Einwirkung oder, prosaischer, durch die Einwirkung von Dynamit, wie die von Heinrich Heine. Also sollte man nicht allzu viel auf sie geben.
Carson McCullers wird 2100 immer noch gelesen. Alejandra Pizarnik verliert ihre letzte Leserin im Jahre 2100. Alfonsina wird als Katze oder Seelöwe wiederauferstehen, genaueres läßt sich nicht sagen, 2050 jedenfalls.
Mit Anton Tschechow verhält es sich ein bißchen anders. Seine erste Reinkarnation verzeichnen wir im Jahre 2003, dann noch einmal 2010, 2014, und schließlich erscheint er noch einmal im Jahre 2081. Danach nie wieder.
Alice Sheldon ist 2017 zu einer massenhaft gelesenen Autorin geworden. Alfonso Reyes wird endgültig im Jahre 2058 ermordet werden, tatsächlich aber ist er es, der seine Mörder zur Strecke bringt. Marguerite Duras lebt noch 2035 im Nervensystem von Tausenden von Frauen.”
Was auffällt ist eine Art Plädoyer Auxilios für die unbekannteren Dichter, die nur von wenigen gelesen werden, weil sie etwas völlig Neues, Avantgardistisches schreiben. Allerdings fehlt dort notgedrungen ein Satz, den ich ergänzen möchte, weil ein Schriftsteller sein eigenes zukünftiges, ungeschriebenes Werk natürlich noch nicht berücksichtigen kann, im Grunde lauert es unsichtbar aber auch in den vielen Jahreszahlen der obigen Aufzählung:
[Im Jahre 2666 findet man einen Datenträger in der Ruine eines Universitätsgebäudes auf der iberischen Halbinsel, auf dem ein anscheinend umfangreicher Roman eines gewissen R. Bolaño gespeichert ist, dessen Format sich als unlesbar herausstellt.]
Zahlenaffinität, die mit Geburts- und Sterbedaten spielt, verleitet zu einer dechiffrierenden Lesart. Ich glaube grundsätzlich nicht an die Dechiffrierung von Texten oder eine literaturwissenschaftliche Vorgehensweise, die sich einer Art Spurensuche oder Dechiffrierung bedient. Nicht alle Bücher sind Kriminalromane und haben Sherlock Holmes zum Helden. Bücher sind auch keine Kreuzworträtsel und Schriftsteller sind keine Mathematiker, zumindest nicht, wenn sie schreiben. Intellekt sollte man nicht abschalten, aber er kann auch zu einer Art Ungeheuer werden, das ständig neu gefüttert werden will.
Wer ist der argentinische Schutzengel der Träume, den Auxilio am Ende erwähnt? Dieser Engel verschwindet wieder, weil es ihm bei Auxilio eiskalt wird und das Gesicht dieser Engelsstimme ist wie ein Gedicht von Robert Frost. Diese Stimme ist wie ein „flaumweiches Angorapullöverchen“ und „schnurrt wie die Kätzchen im Garten von Remedios Varo.“ Auxilio fühlt sich durch die Kälte in eine Schneefrau verwandelt oder vielleicht auch in einen Schneemann, der „durch die Wüste läuft“, „die die eisigen Sterne überfunkeln?“ („Telefongespräche“, S. 71) Ein tropfender Wasserhahn weckt sie wieder auf und „der Mond wandert eine Fliese weiter.“ Im letzten Kapitel werden diese Wassertropfen zu Tränen, aber davon später.