Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke vom 19. Kapitel.
“Aber kommen wir zur Sache, nähern wir uns für einen Moment dem einsamen Staubkorn, das der Wind oder der Zufall mitten auf diesen riesigen leeren Tisch befördert hat.”
Roberto Bolaño: “Literatur+Krankheit=Krankheit” in “Der unerträgliche Gaucho” S. 144
In diesem Kapitel spricht Emil, der Vater Krisztinas über den Verlust der Tochter und was es für ihn und seine Frau Dora bedeutete. Vom Aufbau her sind manchmal leichtere, humorvollere Kapitel kontrastiv gegen eher schwermütigere gesetzt. Mir sind gerade die letzteren unter die Haut gegangen. Für mich gibt es ein paar herausragende Kapitel. Als erstes zählt dazu das dritte der Chronistin Silvana, die in den Schauplatz Marginime und dessen Geschichte einführt und so die Grundlage für die folgenden Marginime-Kapitel legt. Auffällig, dass die in diesem rumänischen Dorf spielenden Kapitel mich besonders berührt haben. Das mit Heimat assoziierte wirkt wohl authentischer und zumindest auf mich herausgehoben. So auch das fünfte Kapitel des Schuhmachers dort, das siebente Elena-Kapitel, das elfte Clara-Kapitel und das zwölfte Lydija-Kapitel. Allerdings auch das etwas herausfallende fünfzehnte Berliner “Aufzählungskapitel” und bis jetzt eben auch dieses neunzehnte Emil-Kapitel.
Der Vater Krisztinas spekuliert über die Ursache des Verschwindens seiner Tochter. Hatte der Tischler Varian damit zu tun oder war dessen Bruder aus der Stadt gar Mitglied des Geheimdienstes? Hing alles mit dem jungen, verliebten Nicolae zusammen, warum waren auch Marijan und seine Mutter verschwunden? War Krisztina aus eigenem Antrieb weggegangen, wie so viele andere? Daran glaubt er nicht. Seine Frau Dora hat es am schlimmsten getroffen: “Sie lebt nicht mehr in dieser Welt.” In ihrer Phantasie erfindet sie das Leben ihrer Tochter nachts träumend neu. Welchen Weg hätte es genommen, wenn sie nicht spurlos verschwunden wäre? Diesen komprimierten Lebenslauf auf den nächsten zwei Seiten habe ich als starke Erzählleistung der Autorin empfunden. Wie in einem Familienalbum werden die einzelnen Lebenssituationen kurz belichtet. Am Ende bekommt Krisztina ein Kind und auf der folgenden Feier gibt es Rhabarberkuchen. Ein gemurmeltes Zauberwort für die Mutter, das einmal mehr verdeutlicht, wie die Erzählweise der Autorin mit ihrem Sprachgefühl verwachsen ist. Gerade sprachliche Kleinigkeiten und vor allem die Bilder zeichnen für mich die herausgehobenen Kapitel aus. Wie Emil wieder vom weißen Laken Silvanas spricht, die behauptet, das ganze Dorf wäre dabei gewesen, als Krisztina mit dem Teufel kämpfte. Aus dieser kleinen Andeutung könnte man herauslesen, dass alle in die dunkle politische Epoche Rumäniens verwickelt waren und nur eine wirre Alte dies in ihrem Bild zum Ausdruck bringt, während alle anderen sich keiner Schuld bewusst sind. Aber das bleibt Spekulation im Kopf des Lesers. Die ursprüngliche Konzeption mit einem Mörder, der später in Berlin zu finden war, hat die Autorin anscheinend zugunsten eines blinden Flecks in der Phantasie des Lesers fallengelassen. Allein die letzten Absätze dieses Kapitels, die von der Landflucht der Dorfbevölkerung erzählen, wie der Tischler aufgibt und das Geschäft des Schuhmachers immer schlechter läuft, sind großartig erzählt. Eigentlich weist jedes Kapitel eine Geschlossenheit auf, die insgesamt den ganzen Roman auszeichnet. Wie der mögliche, einzelne Tod Krisztinas ins Verhältnis zum Tod des ganzen Dorfes gesetzt wird, hat mir ausgezeichnet gefallen. So wie der Schluss, in dem sich das Lachen der Dorfschullehrerin Clara im Bewusstsein Emils gegen alle Todesgedanken und seine Depressionen behauptet. Er glaubt wie Nicolae daran, dass sie Krisztina eines Tages wieder aus “ihren klaren Augen” ansehen wird. Sie ist für sie zum Symbol für die Sehnsucht nach dem Leben und der Liebe geworden.
Lieber Dietmar,
Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass ich schon wieder auf anderen Wegen unterwegs bin. Allerdings liegt dieser Text für mich ja auch schon, wenn man von der letzten Überarbeitung absieht, bei der ich nahezu hundert Seiten aus dem Text herausoperieren musste, schon mehr als zwei Jahre zurück.
Mir ist das beinahe ein wenig peinlich, wie ausführlich Sie sich damit befassen. Ich werde dazu, das hatte ich schon angekündigt, noch entsprechend Stellung nehmen, nicht ganz so ausführlich wie Sie!
Es haben nicht wenige gesagt, dass Ihnen die Dorfkapitel am besten gefallen. Es gibt auch Kritik, aber die sie geübt hat, war noch nicht fertig mit der Lektüre, konnte also das Motiv Krisztina nicht zur Gänze einschätzen. Es gibt sicherlich Kapitel die besser gelungen sind, Figuren, die sich geschmeidiger oder gefälliger oder erratischer durch den Text ziehen, eindringlichere Spuren hinterlassen, als andere. Dagegen lässt sich auch gar nichts tun.
In der Ablehnung meines Manuskriptes durch Kiepenheuer & Witsch stand explizit – das kann ich jetzt nicht mehr beweisen, weil mit meiner Festplatte auch mehrere tausend Mails untergegangen sind (es ist zum Heulen!) – dass die ganze rumänische Mythologie für einen deutschen Leser nicht nachzuvollziehen sei. Haben sie da irgendetwas von Mythologie gesehen? Können Sie da was nicht nachvollziehen?
Jetzt bin ich beim Thema: wie mir, so gelingen auch Ihnen manche Kapitel besser als andere und so möchte ich Ihnen zu dem obigen meinen Glückwunsch aussprechen. Dieses gefällt mir mit am besten von allen Kapitelbesprechungen bisher.
Vielen Dank
Aléa Torik
Liebe Aléa,
verzeihen Sie mir meinen obsessiven, extensiven Umgang mit Ihrem Roman. Das hängt wohl auch mit der Nähe zu Ihrem Blog zusammen, wo ich die „Geburtswehen“ schon seit sehr langer Zeit mitverfolgt habe. Jetzt freue ich mich darüber, was daraus entstanden ist und es nimmt mich einfach sehr gefangen.
Dass Ihnen gerade dieser Beitrag so gefällt; wir wissen gottseidank alle nicht, was dem einen oder anderen gefällt. Das würde den Prozeß des Schreibens auch eher behindern, aber es freut mich natürlich sehr.
Was Ihre Frage nach der nicht nachvollziehbaren, rumänischen Mythologie betrifft, bin ich vollkommen anderer Meinung als die Lektoren von Kiepenheuer & Witsch. Die haben das wohl für eine Art Heimatroman gehalten, völlig daneben. Da ist nicht von Mythologie, sondern nur von Dorfgeschichte die Rede. Diesem möglicherweise auf industrialisierte Mitteleuropäer verschlafen wirkende, fiktive rumänische Dorf haben sie im Gegenteil ein sprachlich modernes Gewand gegeben. Mit seiner Geschichte und den Figuren wird exemplarische Dorfgeschichte beschrieben und auch von der Achtung vor dem erzählt, was man in der Großstadt meist unwiderbringlich verloren hat. Außerdem lebt der Roman ja gerade durch den Kontrast mit den Berliner Kapiteln. Wenn das Mythologie sein soll, dann ist es eine europäische und Europa insgesamt täte es gut, mehr von seinen osteuropäischen „Randgebieten“ und ihren Werten zu erfahren.
Für diese „rumänische Dorfgeschichte“ gebührt Ihnen nichts als Anerkennung.
Herzlichen Gruß an das großstädtische „Karpatengirl“ mit temporären Computerproblemen
Dietmar
Lieber Bücherblogger,
auch hier wieder eine Spiegelung: so wie die Protagonisten sich in ihrem Dorf tief verwurzelt und beheimatet wissen und fühlen (auch wenn sie ihm im Verlauf der Geschichte den Rücken kehren) so auch ich als Leserin: ich werde eingeladen, mich zu identifizieren, die Innenperspektive einzunehmen, mich mit an den Herd zu setzen. Und so wie Elena, Marijan,Valentin sich in ihrer neuen Heimat Berlin als Fremde bewegen, mit einer Mischung aus Neugier, Skepsis, (Heim-)Weh, so bewege auch ich als Leserin mich durch die Berlin Kapitel etwas distanzierter, kühler, fremder, einsamer.
Mit herzlichem Gruß,
helga d.
Liebe Helga,
ich habe den Eindruck, dass in den Kapiteln, die in Berlin spielen, oft mit Humor der dortigen Anonymität und dem Fremdsein begegnet wird. Großstadt und Dorfgemeinschaft werden immer Gegensätze bleiben und vielleicht spiegelt sich im Roman auch ein Bedauern der Autorin darüber. Die beiden Schauplätze sind ja nicht umsonst die ihrer eigenen Geschichte. Aber Vorsicht, sonst hebt sie ihren Zeigefinger und ermahnt mich, doch beim Text zu bleiben, wo auch sonst. Wer weiß, wie lange es noch Dörfer gibt, angesichts der Entwicklung hin zu Mega-Cities. Medien und Kommunikationsmittel verflachen sowieso die Unterschiede, wir leben da schon in einem globalen Dorf, das auch nationale Unterschiede zumindest was den Konsum angeht, kaum noch kennt. In Stadtteilen finden sich aber oft auch soziale, dörfliche Kultur und Strukturen wieder.
Zumindest Sie scheinen den Roman ähnlich aufmerksam zu lesen und zu interpretieren wie ich. Über diese Ähnlichkeit wundere ich mich ein bißchen, aber sie freut mich auch.
Acht Kapitel noch, wenn ich „schwächele“, übernehmen Sie einfach die letzten hier durch Kommentare. Sie schaffen das genauso gut wie ich, da bin ich mir nach Ihren bisherigen Beiträgen sicher. Schade, dass es bisher keine Rezension in einschlägigen Zeitungen oder Zeitschriften gibt. Ich finde bisher keine.
Mit herzlichem Gruß zurück
Der Buecherblogger
Lieber Bücherblogger,
das sind sehr freundliche Worte. Doch gebe ich zu bedenken, dass meine Kommentare in Resonanz auf Ihre „Leseeindrücke“ entstehen, also ohne diese würde es wohl nicht funktionieren, bzw. würde es mir auch keine Freude machen.
Ich habe den Roman Gestern zu Ende gelesen und bin noch erfüllt von der letzten Szene, die mich in ihrer zarten, liebevollen Intimität sehr berührt hat.
Und – ja: intelligente Rezensionen am richtigen Ort, wären sehr wünschenswert. Ich habe keine Ahnung, über welche Wege das läuft. Mir bleibt nur die „Mund-zu-Mund-Propaganda“.
Mit besten Grüßen,
helga d.
Liebe Helga,
ich stehe gerade noch im 24. Kapitel im Windzug des Bahnhofs Zoo herum. Da wird sich nicht weniger liebevoll (vorläufig) verlassen, die beiden wissen das nur noch nicht richtig. Liv grübelt, ob sie die Mund-zu-Mund-Beatmung mit Valentin fortsetzen soll. Dass Männer auch immer gleich das ganze Leben umkrempeln müssen. Jede Art von Propaganda für junge deutsche Literatur ist willkommen. Der Markt kennt nur Berühmtheiten, mit denen sich auch ordentlich Geld verdienen lässt. Selbst Denis Scheck nervte mich gestern wieder mit seinem Hang zur Fantasyliteratur. „Das Geräusch des Werdens“ überfordert den „Normalverbraucher“ wahrscheinlich schon im Titel. Geräusch von was? Sperriger Genitiv? Wolken, Wind, Wasser, Mond und Sterne wären besser, man will ja schon träumen und verführt werden, bevor man überhaupt zu lesen begonnen hat. Bloß keine intellektuelle Überforderung. Dann liest Ernst oder Elfriede auf der Rückseite noch was von „beunruhigender Blindheit“ und legt das Behindertenbuch wieder weg. Klingt ein bißchen böse, nicht wahr, ist aber vermutlich so.
Ich lese die letzten Kapitel jetzt wegen meiner „Leseeindrücke“ noch einmal. Am Ende bin ich wohl plattgedrückt, aber dann zelebriere ich wie Phönix aus der Asche mein Showdown, die große Abrechnung, nächste Woche in diesem Theater.
Herzliche Grüße nach Köln
Der Buecherblogger