Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Gedanken zum 20. Kapitel.
Schließen Sie für einen Moment die Augen! Jetzt versuchen Sie einmal, sich mit Ihren verbleibenden Sinnen bewusst zu werden, wo Sie sind. Was hören Sie, was riechen Sie, hat Ihr Mund einen bestimmten Geschmack? Können Sie in diesem Dunkel nur mit Ihren Gedanken sehen? Tauchen verschwommene Bilder oder Vorstellungen aus Ihrer Vergangenheit auf? Gelingt es Ihnen vielleicht mit geschlossenen Augen ein Bild Ihrer jetzigen Umgebung zu erzeugen? Gut, Sie haben doch bis hierher weitergelesen. Aber jetzt, eine halbe Minute, schließen Sie die Augen!
Am Ende ein Bild zusammengesetzt hat auch dieses fertige Buch, das immer noch auf meinem Schreibtisch liegt, das ich in der Hand halte, ein nicht mehr zu veränderndes Konstrukt. Ein Konstrukt aus den Scherben eines Flakons. Schriftsteller sammeln solche Scherben wie andere Menschen Geldscheine. So mag ein Schreibender sich auch seine Welt zusammensetzen müssen wie ein Blinder. Seine Welt ist ihm irgendwann vertraut, aber die Welt der Sehenden wird ihm immer fremder.
„Nicht die eigene Blindheit ist das Beunruhigende, sondern das Sehen der anderen.“
Die Anführungszeichen der direkten Rede weisen deutlich darauf hin, dass der blinde Marijan in diesem vierten “Das Geräusch des Werdens” genannten Kapitel in seinem Vortrag weiter von der Zeit nach dem Tod seiner Mutter Elena erzählen wird. Die Jetzt-Zeit der Galerie rahmt alle anderen Kapitel als erzählte Erinnerungen ein. Alle fünf Kapitel würden als Rede gehalten allerdings wohl mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Marijan muss sich jetzt allein aus seinem mütterlichen Marionettendasein befreien. Er erinnert sich an die Eisdiele, wo alle freundlich zu ihm waren, und träumt davon ein blinder Eisverkäufer zu sein, den man bestaunt, wenn er “Malaga von Mango und Zitrone von Zabaione” schlafwandlerisch unterscheiden kann. Marijan lernt wieder besser mit Menschen umzugehen und die größte Errungenschaft ist sein neugewonnenes Lächeln. Seine Frage, welchen Bildervorrat er von seiner rumänischen Kindheit behalten hat, weist voraus auf die Begegnung mit dem unbekannten Mann auf einer Bank, der ihm spontan eine Kamera schenkt. Er kann zunächst überhaupt nichts damit anfangen, einfach absurd ein Blinder könne fotografieren. Dann drückt er aus Versehen auf den Auslöser, wird neugierig auf das entstandene Foto und begibt sich in ein Fotogeschäft, wo er mit seinem Anliegen auf Verwunderung trifft. Aber auf seinem Spaziergang dorthin trifft er noch jemand anderen wieder, der sein ganzes Leben verändern wird: Leonie.
Mit diesem Buch geht es mir wie jedem Kunstwerk, es beginnt nach seiner Fertigstellung beim Rezipienten weiterzuleben. Das fertige Konstrukt ist also in Wahrheit ein Prozess, ein Werden. Es könnte sogar sein eigenes Verschwinden überleben, solange es im Gedächtnis auch nur eines einzigen Menschen gegenwärtig wäre. So ist auch ein Text immer Entstehung, Bewegung, etwas Lebendiges. Bevor wir ein Buch aufschlagen und lesen, ist es ja nur ein eckiges Produkt zwischen zwei Deckeln, ein Haufen Papier mit seinen Textzeichen. Aber mit auch nur einem Leser beginnt dieses leblose Ding ständig auf sich selbst zu weisen und immer über sich selbst hinaus. Der Titel des Romans könnte also auf dreierlei hinweisen: seinen eigenen Entstehungsprozess, der mühsame Weg, Schriftsteller(in) zu werden und als Metapher für eine Lebendigkeit, die wir, blind oder nicht, immer wieder neu erkämpfen müssen. Diese ständige Transformation unseres Ichs zu etwas Neuem, das man Leben nennt. So hört zumindest ein Blinder vielleicht wesentlich mehr davon als ein durch das Sehen abgelenkter. Tröstend meint der Mann, der seine Kamera verschenken will, zu ihm dann lächelnd auch: “Blind sind sie hier alle.” Dieser Roman versucht etwas in der Schwebe zu halten, vielleicht das Verständnis füreinander, so verschieden wir auch immer sein mögen.
Zum Abschluss dieses Kapitels ein poetischer Film über einen erblindeten Bibliothekar, der am Ende behauptet, Dichter würden im Dunkeln sehen wie Blinde. Vielleicht war der Mann, der Marijan seinen Fotoapparat auf der Bank schenkte auch ein Blinder und er hat es nicht erkannt, wie bei seinen beiden Mobilitätstrainern zuvor.