Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Die Leseeindrücke des 26. Kapitels.
Das 26. Kapitel ist wieder ein in Ich-Form erzähltes Mărginime-Kapitel, das mit einer Szene beginnt, in der die Dorfschullehrerin Clara gedankenversunken und träumerisch am Schulfenster steht und einen Blick hinaus auf die Landschaft wirft. Die Bauern sind gerade bei der Heuernte und es ist Spätsommer. Das erinnerte mich wieder an einen Dokumentarfilm, den ich bereits eingestellt habe. Die ruhige Erzählweise des Films, die Menschen und ihr Leben werden in gemäldehaften Bildern eingefangen, haben direkt mit dem Roman zwar nichts zu tun, aber den Personen des Films wird eine gewisse Achtung entgegengebracht, die eine überhebliche Annäherung ausschließt. In dieser Betrachtungsweise meinte ich eine Parallele zur Behandlung der Figuren im Roman durch die Autorin zu erkennen.
Fünfunddreißig ist Clara mittlerweile und die zehn Jahre in Mărginime haben ihren Lebensrhythmus ruhiger werden lassen. Sie kommt gerade von einer Urlaubsreise nach Paris zurück, wo sie aber die Hektik der Großstadt enttäuscht hat. Sie ist immer noch ungebunden und zwischen den Zeilen liest man eine starke Sehnsucht nach Liebe und der Geborgenheit einer Familie heraus. In vielen Figuren ist diese Suche nach Sinnerfüllung in einer glücklichen Beziehung angelegt. Das Glück ist allein schwer zu finden, aber der Weg dorthin keineswegs konfliktfrei. Gerade die Frauenfiguren Clara, Elena, Lydija, Silvana, Liv und Leonie erschienen mir doch wie Alter Egos der Autorin, in die sie ihr ganzes Wissen und Fühlen eingebracht hat, ohne sie natürlich mit ihren Protagonistinnen verwechseln zu wollen. Clara sieht einen fremden Mann auf dem Marktplatz sitzen, der sich aber als der heimgekehrte Valentin herausstellt. Sie versteht natürlich den wahren Grund nicht, als er sie nach einem Hotel im Dorf fragt. Er trägt sich, wie der Leser weiß, mit der Absicht selbst eines zu eröffnen.
Ich will nicht verhehlen, dass ich die letzten Kapitel jetzt noch ein zweites Mal lese. Doch wie bei einem guten Tee muss der zweite Aufguss nicht schlechter sein als der erste. Im Gegenteil, immer noch fallen mir kompositorische Feinheiten und sprachlich gelungene Passagen neu auf.
So wie Valentin und Ioan sich viel zu erzählen hatten, ergeht es jetzt auch Valentin mit Emil, von dem er mit “einer sehr ausgeprägten Verspätung” von fünfundzwanzig Jahren etwas über den Verlust seiner Tochter Krisztina erfährt, an dem seine Frau vollkommen verzweifelt ist. Der punktuelle sprachliche Humor und die Komik einzelner Szenen sind hintergründig und offensiv zugleich. Als Emil über die Zeit nach ihrem Verschwinden erzählt, wie “die Zeit stillstand” wird sein Weinen und seine Trauer doch mit einem Schuss Humor gemildert: “Wie ein Esel steht sie auf der Stelle.” Auch Valentin erzählt über seine Ehe und seine Pläne, frischen Wind in das Dorf zu bringen, was angesichts der politischen und finanziellen Lage schwer sein dürfte. Clara erfährt von Valentin, dass er sich von seiner Frau zwar getrennt hat, aber genau zu wissen glaubt, sie würde ihm nachgereist sein und genau an diesem Tag eintreffen. Später gibt es ein harmonisches, die Dorfkultur widerspiegelndes Bild, in dem sie alle auf Bänken nebeneinander sitzen, auch die wirklich eingetroffene Liv, und sich ob jung oder alt, rumänisch oder deutsch einfach in einem Gespräch austauschen.
Es ist schwer und macht vielleicht auch nicht viel Sinn, die Fülle dieses Kapitels nachzuerzählen. Da würde noch Valentins Bemerkung über Claras “hinreißenden Arsch” fehlen und das er mit seiner Frau das Grab seiner Eltern besucht. Ein wunderschönes Bild Claras aus ihrer Kindheit, das gerade weil wir es schon kennen, tief berührt, darf jedoch nicht fehlen:
“Ich dachte an meine Mutter und an meine Schwester, an das Glück meiner Kindheit. Ich fühlte mich wie das kleine Mädchen, das ich einmal war, das im Fenster saß und auf die Straße schaute. Ich hatte den Eindruck, dass ich nie, zu keinem Zeitpunkt meines Lebens, so sehr das Mädchen im Fenster gewesen war wie in diesem Moment. Glück als ein Zustand, von dem man nichts weiß, so hatte ich mir das zurechtgelegt. Konnte man in diesen Zustand zurückgelangen? Oder ist das Glück, einmal erkannt, für immer verloren? Alles andere, alles, was danach kommt, alles, was man sonst noch Glück nennen möchte, ist lediglich eine Reminiszenz an dieses verlorene Kinderglück?”
Das Kapitel endet mit einem heftigen Gewitter, das aus den Bergen heraufzieht und einer weinenden Clara. Ich habe mich nach der Symbolik dieses Gewitters gefragt. Steht es für die chaotischen Kräfte des Lebens, denen der Mensch schicksalsträchtig ausgeliefert ist. Findet die Naturgewalt eine Entsprechung in den Gefühlswelten der Figuren, das Auf und Ab ihres Lebensweges. Der Sturm tobt auch zwischen ihren Beinen, ist es ein Bild für die unbändige Lust und Last der Sexualität? Clara sitzt wie im Zentrum eines Orkans, in dessen Mitte sie sich ohne Krisztina nicht denken kann. Ist Krisztina das Symbol für eine nie heilende Wunde. Sind es doch politische Kräfte, die sie fortgerissen haben wie in einem Gewitter? Sind das in Wahrheit die Dämonen des noch im ganzen Dorf vorherrschenden naturreligiösen Aberglaubens? Ist es ein Symbol für eine ständig notwendige kathartische Erneuerung unserer selbst. Das, was uns antreibt, jung bleiben lässt wie Valentin. Gelten Claras Tränen Krisztina und sich selbst? Ist das Gewitter ein sie umschlingendes weißes, taumelndes Laken? Sind wir selbst Taumelnde um ein Nichts, Harmonie Suchende, bevor wir unseren unausweichlichen Platz am Hang des Hügels finden, wo jedes über uns hinwegziehende Unwetter keine Tränen mehr verursacht und uns kalt lässt?
Wenn eine einzige Seite dieses Buches soviel Fragen in mir aufwerfen kann, dann muss es selbst Symbolkraft haben, und die hat kein schlechtes. Mit den Figuren beginnt man zu leben und ihre Eigennamen tragen sie auch nicht zufällig. Auch sie scheinen alle eine spezifische Symbolik zu haben, aber das wäre ein eigenes Kapitel für sich.