Fotos aus dem Saal: ANH/iPhone.]
Um einen perfekten Otello hören und sehen zu können, hat man nach Frankfurt am Main zu reisen, wenn auch erst wieder im Juli, oder man lebt sowieso dort und darf in die Oper einfach mit der UBahn fahren oder braucht sogar nur zu Fuß gehn.
Ich kann nicht nur, sondern m u ß das so schreiben, nachdem ich am 28. März der dreiundzwanzigsten Vorstellung dieser Inszenierung beigewohnt habe. Daß sie so gar nichts von Repertoire hatte, weil nicht die Spur von Routine fühlbar wurde, sondern, obwohl längst andere, als bei der Premiere, Sänger:innen diese späte Oper Verdis gestalteten und obwohl das Dirigat durch Riccardo Frizza sowie die „Abendspielleitung“ von Orest Tichonov übernommen worden sind, ist schon wunderbar für sich, und mit welch höchster Intensität musiziert und gesungen worden ist,
sei es dank des nicht nur einfühlsamen – : das sagt sich gern mal so dahin -, sondern vor allem leidenschaftlichen, klanglich grad auch im Stürmen furchtbar herrlichen Mitagierens des Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchesters,
sei es des mal drohenden, mal fordernden, mal ausgelassenen und dann wieder durchaus hämischen Chores halber, dem ich bei der Sturmszene des ersten Akts allerdings noch ein wenig mehr Gewalt gewünscht hätte – andererseits geht der Mensch im Sturm ja grad unter -,
sei es vor allem wegen der Sänger:innen:besetzung, in der es sogar eine Art Wunder gibt, die eine alte, als Huldigung für Johanna Heiberg niedergeschriebene Forderung Søren Kierkegaards absolut einlöst… -:
sei es wes‘ immer – –
– – Eraths Inszenierung ist von einer derartigen Klarheit, daß sich seine und Dirk Beckers, seines kongenialen Bühnenbildners, Auffassung dieses späten Meisterstücks Verdis auf nächste Ausführende „einfach“ übertragen läßt: So zugleich typisiert, wie aber individualisiert eben auch, sind nahezu sämtliche Rollen. Und fast durchweg wird auf Theatermätzchen verzichtet. Das eben auch politische Eifersuchtsdrama bedarf nicht irgend eines symbolistischen Herumabstrahierens, um den konkreten Geschehen eine Allgemeingültigkeit zu verleihen, die die conditio humana im Blick hat und nicht, wie elend oft bei Wagner, manipulierende Ideologie will.
Marco di Felice präsentiert den Mann, wie der sich selbst sieht: extrem markant, auch in seiner von allen Männern dieses Abends tiefst- und weitestreichenden Stimme, männlich überhaupt, ja machistisch, auftrumpfend, eroberhaft eitel, doch ohne eine Spur von Selbstüberschätzung: darum gewinnt er sein böses Spiel. Wohl nicht von ungefähr erinnert seine Erscheinung einerseits an den Colonel Kurtz aus >>>> Coppolas „Apokalypse now“, andererseits an Mussolini. Voll Verachtung für die zumal sentimentale Schwäche auch und gerade seiner Geschlechtsgenossen, Cassios etwa, vor allem Rodrigos, kommt ihm dessen pubertäre Schwärmerei nur allzu recht. Für Otellos Selbstglorifizierung hat er nur Hohn, denn er und nicht dieser hat „das Grauen gesehen“, so bei Coppola, „I’ve seen horrors…“:
Den hat Erath gerade dadurch, daß bei ihm Otello n i c h t schwarzgeschminkt wird, grandios herausgearbeitet: indem er ihm nämlich einen schwarzen Doppelgänger beigibt, einen sozusagen verdrängten, der auch immer wieder wegwill; aber die Türen sind verschlossen. Otello b l e i b t schwarz, ob er will oder nicht, er kann so weiß sein wie möglich. Darin liegt etwas mehrfach Beklemmendes, liegt auch eine Selbstlüge: indem er aus der Sklaverei freikam und schließlich für Venedig als geachteter Feldherr kämpft, ist er doch als Krieger gegen die Sarazenen auch ein Verräter am eigenen Volk, an, zumindest, der eigenen Kultur.

Hinreißend, wie Erath diesen Virus sich nun ausschütten läßt. Er befällt gleichsam jedes Organ Otellos, bis der Schmerz so groß und die tatsächliche Krankheit, die ihn bewirkt, derart quälend geworden ist, daß der Befallene nur noch rast. Das führt uns Frank van Aken nicht nur mimisch vor, zunehmend verwühlt und zu Berge stehend sein Haar, die Gestik wilder und wilder, sondern vor allem auch sängerisch; je wüster er sich nämlich geriert, desto lyrischer, weil eben leidend, wird sein Tenor. Der ganze Mann bricht auseinander, will sich zwar fassen – daher die abrupt wirkenden Versöhnungsgesten zwischendurch -, aber kommt gegen den Wahn nicht mehr an. Deshalb paßt es auch so, daß van Aken mit der Stimmenmacht de Felices nicht wirklich mithalten kann: Otellos Heldenarien, in Wahrheit, glauben sich selbst nicht. Das ist folgerichtig von Anfang an so gesetzt: Tribun ist immer sein Widersacher, den er noch lange für einen Freund hält. So tritt wieder und wieder sein „schwarzes Ich“ auf die Bühne stumm zurück, aber nicht, wie man sich ein schlechtes Gewissen personifiziert vorstellen mag, sondern in enormer Schönheit der Erscheinung, die dennoch wieder und wieder, und eben deshalb, unterworfen sich erniedrigen muß. Welch ein Einfall jenseits alles Aufgesetzten!
Wie großartig das durchgeführt wird, zeigt der 3. Akt, in dem sich der Schwarze anfangs ein wenig grundlos wieder vorn an die Bühne legt. Was soll das jetzt? dachte ich – und vergaß es derart sofort, daß ich beinah erschrak, als sich der gebrochene Mann am Aktschluß wieder erhebt, aufsteht und geradezu strahlend dasteht, doch nur strahlend als eine Möglichkeit, eine, die vielleicht gewesen wäre, hätte es nicht die unselige Geschichte und Selbstüberhebung des, bleiben wir mal im Klischee, „weißen“ Mannes gegeben und seiner brutalen christlichen Kirchen. Deren Grausamkeit die der islamischen freilich nicht nachstehn.
Tragisch, unter anderem, ist an dem Stück die E c h t h e i t des otelloschen Leidens, das aber Selbstvergötzung mitbewirkt hat; schon sie hat dem Mann den klaren politischen Blick getrübt. Jago ist dem Mohren nur ein ebenso falscher Freund wie die Seerepublik selbst, der er dient. Denn beide sind ihm nur um den Preis der Selbstverleugnung zuhanden, die schließlich seine Auslöschung will.
Eraths Inszenierung zeigt das bereits im Bühnenbild und schon ganz zu Anfang. Wenn wir den Opernsaal betreten, steht die Bühne voller Soldatenstiefel, die, selbstverständlich, in Reih und Glied. Mittendrin hockt, düster glänzend, der Mohr, halb vom – hellen – Feldherrenpelz umdeckt, links hinter ihm aber, auf einem Gerüst, steht ein – Bambi. Genial, diese bis zum Schluß völlig unkommentierte Dekoration. Über Desdemona verrät sie mehr als jede Analyse, nämlich über die Wunschprojektion, die sie verleiblicht hat, indem sie sie erfüllt. Deshalb versagt die Frau hier nicht minder als der Mann, ja, Desdemona ist das geradezu geborene Opfer – das zurechtgeprägte, meint das, destilliert aus stiller Einfalt und Ergebung. Jago muß es nur nutzen. Wie irre Otellos Eifersucht schließlich ist, wird besonders hier in Frankfurt deutlich, weil einem solchen Geschöpf jeglicher Eros abgeht. Leah Crocettos Desdemona-Erscheinung ist komplett kindlich, gütig kindlich, zärtlich kindlich und stellt keinerlei, schon gar „nymphomane“, Forderungen, die einen Mann in Probleme bringen könnten.
Tatsächlich ist Desdemona fast noch unreifer als Otello, beinahe täppisch, doch eben voller – ecco! – Hingebungsbereitschaft und so genau das Frauchen, das sich der Monotheismus idealisiert hat; damit steht sie aber zugleich für alles, was sich „der Mann“ versagt und von sich abspalten soll. Wenn Desdemona im 4. Akt, der fast ganz nur daraus besteht, von der alten Trauerweise unmittelbar in ihr „creda per noi“ und attacca ins Avemaria übergeht, creda per me, das direkt ins letzte Beisammen mit ihrem Mann führt, dann bringt Frau Crocettos herzrührender, gestisch aber stillgestellter, sozusagen duldender Gesang ein männliches Wunschbild von Frau in die Welt, das alles, was das herrschende Geschlecht sich nicht durchgehen lassen darf, bzw. durfte, auf diese Figur konzentriert. In Verdis katholischem Umfeld wird sie damit zur Jungfrau Maria selbst, Pietà, die noch nach der Geburt ihres Kindes Unbefleckte und damit zur idealen italienischen Mutter als einer heilig Unberührbaren; die Renaissance sah die Rolle der Frau zumindest für die gehobenen Stände noch anders als Verdis Zeit; sein und Boitos Jago ist auch deshalb so mächtig und nicht nur einfach ein Bösewicht, weil er in Desdemona das Marien-Ideal sich gerade dadurch weitererfüllen läßt, daß auch die Oper sie opfert. Die Ideologie der christlichen Reinheit bleibt selbst vom Bösen unangetastet, ja wird von ihm garantiert. Auch das zeigt – wie regressiv das ist – der aufs Gerüst gestellte Bambikitsch. Tatsächlich ist Desdemona ein Dummchen mit einem aber sehr großen Herzen – und mit so tiefem, daß sie und Otello darin ertrinken.
Dem die Musik gegeben zu haben, und jeder Person ihre eigene – nicht zuletzt das schafft des alten Verdis Verismo Allgemeingültigkeit sogar jenseits seines objektiven wie subjektiven, nämlich psychologischen Realismus; eben dies trennt ihn ein für alle Male von Wagner, dem ideologischen Reaktionär. Verdi ist noch in der Klage, noch in der christlichen Affirmation kritisch. Was über die erzählte Handlung (den „Plot“) hinausgeht, ja –langt, strahlt aus eben ihr heraus. Es ist ihr transzendentes Ergebnis, das zu der Geschichte schließlich noch hinzukommt: als eine mythische, als solche aber aus ihr gewordene Erzählung, neben der die reale – gesellschaftliche, muß man sagen – zugleich den Bestand wahrt. Insofern überstrahlt, in höchstem Sinn modern, des alten Verdis Kunst die des alten Wagners um Dimensionen. Eraths Frankfurtmainer Otello-Inszenierung läßt einen das direkt erfahren: wie vor den Kopf geschlagen schon in der ersten Pause sitzt man da.

Er führte, der Zaunkönig, selbst die Hand.
Deshalb fühlen wir, so im Programmbuch W. H. Auden, Mitleid mit Otello, doch haben keine Achtung vor ihm, die – als eine ästhetische – Jago gelte. Das ist nicht ohne Zynismus formuliert, und zwar gerade, indem er, Auden, das entstehende Leid fokussiert, aber die Bereitschaft übergeht, mit der sich Menschen für politische Ideologien opfern, deren eine Spielart die organisierte Religion ist. Auch von der bleiben schließlich nur Stiefel zurück, darin noch die Füße der in die Luft gesprengten Soldaten. Es gehört zur Größe dieser Inszenierung, uns dies von Anfang an vor die Augen zu führen und immer wieder daran zu erinnern. Otellos Schicksal ist traurig, tragisch aber Desdemonas, die noch im Sterben, statt daß sie begriffe, vergibt. Jago aber, an der hinteren Bühne, steht da, die Hände in den Taschen, und zeigt uns den Rücken, ohne daß er sich rechtfertigen müßte. Denn „you have no right to call me a murderer“, sagt Colonel Kurtz. „You have a right to kill me. You have a right to do that, but you have no right to judge me.“

Ein bleibendes Rätsel wird freilich bleiben, weshalb am 28. März der Applaus so verhalten ausfiel. Fühlte man sich zu sehr – erkannt? Oder war der Intensität nicht gewachsen, der uns das gesamte Ensemble einschließlich Orchester und Dirigent ausgesetzt hat? Denn wahrlich! Dieser ist kein netter Abend, der sich fürs Sehen und Gesehenwerden eignet, noch um mit interesselosem Wohlgefallen die Pausenschnittchen zu genießen. Sondern große, größte Kunst: das Gegenteil von „Unterhaltung“.
Giuseppe Verdi.
OTELLO.
Dramma lirico in quattro atti.
Text von Arrigo Boito nach Shakespeare.
(Trailer der Oper Frankfurt)
Frank van Aken – Marco di Felice – Leah Crocetto – Jenny Carlstedt – Beau Gibson – Simon Bode – Bálint Szabó – Franz Mayer – Kihwan Sim.
Chor und Kinderchor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Riccardo Frizza
Die nächsten Aufführungen:
4. und 7. Juli 2013, je um 19.30 Uhr.
>>>> Karten.
Ich nehme diesen Text wie einen fliegenden Teppich wahr, auf den ich zum Verbindungen erspähen und Staunen eingeladen bin.
Vielen Dank, das war frühlingsrauschhaft zu lesen!
Sie haben das Privileg. Im Juli ohne größeren Aufwand hineingehn zu können. Tun Sie’s, wird sich das Staunen rauschhaft erden.
Auch dieses. Übernommen von >>>> Faust-Kultur.