Ein Mann verliert in einem Lokal, in dem er nach der Arbeit ein Bier trinken geht, ein Ohr und dann noch etwas später beim Schwimmen eine kleine Zehe, so geschiehts in Wilhelm Genazinos „Mittelmäßiges Heimweh“
„Das ist allerdings gar nicht so tragisch, denn ihm ist Wichtigeres abhanden gekommen: Seine Gefühle sind nur noch mittelmäßig“, steht auf der Buchrückseite und das stimmt eigentlich nicht oder doch, von außen betrachtet könnte man es so interpretieren. Der Mann ist der Vierzigjährige Ich-Erzähler Dieter Rotmund, der als Controller in einer Pharmafirma arbeitet und später Finanzdirektor wird. Er hat eine Frau und ein Kind, die Frau ist ihm aber schon vor dem Ohr abhanden gekommen, bzw. mit Sabine in den Schwarzwald gezogen, so daß er zwei Wohnsitze bezahlen muß und weil er sich das nicht leisten kann, am Wochenende schwarz zu Edith und Sabine fährt. Allerdings nicht lange, wirft ihn die Frau ja bald hinaus und wundert sich ein bißchen, daß er dann das Konto auflöst und sich scheiden lassen will. Ansonsten geht der Mann von seinem schäbigen Einzimmerappartement in sein Büro und betrachtet dort die kleinen Dinge, bzw. die Kolleginnen, Frau Grunewald, Frau Bredemeyer etc, refelektiert über deren kleine Busen, läßt sich von Frau Grunewald ein Stück Weißbrot antragen und zögert dann doch zu lang, so daß er sie am Sonntag im Park mit einem anderen Kollegen sieht.Trotzdem setzt er dann erstaunlich große Reaktionen, so setzt er die Hausbank seiner Firma unter Druck, daß er drei Millionen des operativen Kapitals abziehen würde, wenn sie die Überweisungskosten nicht deutlich senkt, daraufhin steigt er in die Führungsetage auf, bekommt eine eigene Sekretärin und das Mittagessen von einem Cateringsservice zugestellt, was ihn nicht sehr glücklich macht, denn er ist ja ein Mann der kleinen Beobachtungen und liebt es bei seinen mittäglichen Spaziergängen oder auch sonst, Leute zu beobachten, neue Worte aufzuschnappen oder Geschichten zu erzählen. So erzählt er der kleinen Sabine die Geschichte, wie er einmal ein Hase war und beobachtet mit ihr wie Spinnen Fliegen fressen und kauft sich auch ein Vogelbuch, um den Bachstelzen auf die Spur zu kommen. Als er befördert wird, kauft er eine Flasche Rotwein, läßt sie öffnen und beschließt die Nacht damit im Freien zu verbringen, allerdings kehrt er davon leicht beschämt und beschmutzt schon um neun in sein Appartement zurück, um die Beischlafgeräusche seiner Nachbarn zu beobachten.
Wo bleiben da die mittelmäßigen Gefühle? Denn eigentlich ist das Buch ja ein Orchesterkonzert der Beobachtungen, Geräusche und Wortschöpfungen.
„Zeitstrecke, Zeitachse, Zeitfenster“, die neumodischen Bürowörter beispielsweise, die er nicht schätzt, aber dennoch gern verwendet oder die Gefühle der Einsamkeit, die ihm beim Baden beim Anblick einer Seife überkommen, die ihn an das Stückchen Butter erinnert, das im Eiskasten seiner Kindheit lag, die Mutter lag depressiv im Bett und hatte nicht eingekauft, so daß dort nur das Restchen lag und der Vater und die Schwester den Bäcker aus seiner Wohnung herausläuten mußten. Wenn er am Bahnhof flaniert und das tut er so oft, überkommt ihm beim Anblick eines Pfirsich, eines nasenblutenden Mannes und einem eisleckenden Hund das Gefühl verrückt zu werden und manchmal landet er in seiner Mittagspause auch in einem Bordell, um die als Braut gekleidete Hure zu fragen, wieviel sie für ihr die Zeit im Brautbett verlangt, er tut es dann mit einer anderen und reklamiert nicht, als sie ihm auf seinen Hunderterter statt zwei Zwanziger zwei Fünfziger herausgibt, denn schließlich hat sie ihm beim Sex auch betrogen.
Dann gibt es noch ein paar Schachteln in seinem Keller, die ihm nie aufgefallen sind und von seiner Vormieterin stammen, wie wegen nicht Bezahlen der Miete delogiert werden mußte, diese Frau Schweitzer ruft einmal an und will sich ihre Schachteln holen, läßt sie dann doch im Keller stehen, trinkt mit dem Einohrigen, der seinen Makel anfangs hinter einer Ohrenklappe verbirgt ein Glas Wein und führt ihn später in die routiniertesten Sexualpraktiken ein, wofür er ihr immer behutsam einen Hunderter in die Handtasche legt. Er bekommt auch heraus, daß Frau Schweitzer, die er alsbald Sonja nennt, in einem Obdachlosenheim wohnt und geniert sich dafür. Sie darauf anzusprechen traut er sich genausowenig, wie er vorher nicht zu sprechen wagte, als ihm Edith erklärte, seine Stimme nicht mehr hören zu können. Nur als sie nicht mehr erscheint, erkundigt er sich in dem Heim nach ihr, um zu erfahren, daß sie wegen Kreditbetrug im Gefängnis sitzt. Ob er auch zu den Geschädigten zählt? Das nein, die Karten sind alle noch da und auf dem Konto ist nichts abgebucht, so bringt er die Schachteln in das Heim zurück, lernt dort die Pflichtverteidigerin und eine Schuldenberaterin kennen, die ihm auf eine Vernissage mitnimmt und ihm ihre Visitenkarten zusteckt. Vorher hat er noch in einem Park beobachtet, wie ein kleines Mädchen einen Daumen verlor und in der Zeitung darüber gelesen. Auch das wird als harmlos beschrieben. „Aber immerhin , die Spur der Katastrophe ist in der Zeitung angekommen. Bis sie wirklich erkannt werden wird, werden noch Monate vergehen. Ich bin beschädigt, ich habe Zeit.“
Es ist ein Buch der großartig gekonntenen Beschreibungen der kleinen Gefühle, der mittelmäßigen Heimatlosigkeit eines mittelalterlichen bürgerlichen Mannes, der seine Enttäuschungen mit den Frauen hatte, von ihnen benützt wird und sie auchselbst benützt, der sehr gut beobachten, aber offenbar nicht wirklich daran leiden, empfinden oder etwas ändern kann. Oder auch das Klagen des Büchnerpreisträgers Wilhelm Genazinos über die Leiden des mittelalterlichen bürgerlichen Intellektuellen an der Welt. Das tut er sehr gekonnt und großer Sprachgewalt.
„Ganz auf der Höhe seiner Kunst… das volle Genazino Programm: Humor und Melancholie, Ironie und Alltag“ schreibt Gerrit Bartels im „Tagesspiegel“.
Mir hat das Lesen Spaß gemacht, die Genauigkeit mit der Wilhelm Genainzo die banalsten Begegenheiten ausführlich schildert, ist ja etwas, was ich auch sehr gern betreibe und das Leiden des mittelalten Mannes an der Prostata, beobachte ich als mittelalte schreibende Frau ja auch immer amusiert. Jetzt habe ich also auch ein Buch des 1943 in Mannheim Geborenen gelesen, gehört habe ich ihn ja schon im Dezember im Literaturhaus
2011-04-14
Mittelmäßiges Heimweh
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