Literaturgefluester

2012-10-16

Jean Amery bei den Grundbüchern

Filed under: Uncategorized — jancak @ 00:03

Man erlebt immer wieder seine Überraschungen, obwohl ich ja eine sehr abgebrühte Literaturveranstaltungsbesucherin bin und eigentlich der Meinung, das in der Alten Schmiede vorgebrachte, kann mich weder umhauen, noch besonders stark berühren und da wurde von Kurt Neumann vor einigen Jahren die Reihe Grundbücher der österreichischen Literatur nach 1945 ins Leben gerufen mit jährlich vier bis fünf Veranstaltungen, die fünfundvierzigste war Jean Amery gewidmet, der vor ziemlich genau hundert Jahren in Wien als Hans Chaim Mayer auf die Welt gekommen ist und sich am siebzehnten Oktober 1978 in Salzburg das Leben nahm. Schriftsteller und Philosoph ist er gewesen und ich kenne seinen Namen, seit den späten Achtzigerjahren, als ich gemeinsam mit Margot Koller die „Selbstmordanthologie“- der GAV herausgegeben habe und dazu hatte er ja seine Thesen.
Ein bekannter Name, aber nie etwas gelesen, nur vor kurzem Kurto Wendts Arbeitsamtsatire, die sich darauf bezieht und jetzt ist er in der Grundbuchreihe, also ging ich hin, ohne mir besonders viel zu erwarten.
Lydia Mischkulnig, die ich ja vor zwei Wochen, beim jungen Hitler traf und die mich durch ihre sehr speziellen Fragen beeindruckte, hielt die kommentierte Lesung. Bei den Grundbüchern wird ja immer ein Gegenwartsautor gebeten aus dem Buch zu lesen und dann kommt ein Wissenschaftler und sagt dazu seine Meinung. Kurt Neumann leitete ein, Margot Koller, die schon zur GAV-GV nach Wien gekommen ist, habe ich getroffen und vorher habe ich mir die Bücher am Büchertisch angeschaut, denn wie erwähnt, ich hatte noch nichts gelesen. Es gab eine mehrbändige Werkausgabe und das 1966 erschienene „Jenseits von Schuld und Sühne-Bewältigungsversuch eines Überwältigten“, war das Grundbuch das besprochen wurde und mit dem er, der sich nach dem Holocaust Jean Amery nannte, im deutschsprachigen Raum bekannt wurde. Das Buch enthält fünf Essays und Lydia Mischkulnig, die von Kurt Neumann als eine profunde Jean Amery Kennerin vorgestellt wurde, las zuerst einen kurzen Einleitungstext und dann aus dem dicken Buch, das mit „Den Grenzen des Geistes“ beginnt und da hat es angefangen mich zu packen, denn soetwas habe ich, die ich mich ja schon sehr viel mit dem Holocaust und seiner Literatur befasst habe, noch nicht gehört. Stimmt nicht ganz, Victor Klemperers Tagebücher sind ähnlich beeindruckend.
Da kommt ein jüdischer Intellektueller nach Auschwitz und beginnt zwanzig Jahre später darüber zu schreiben und spricht darüber, wie es einem als jüdischer Intellektueller dort ging, wenn man als Arzt, wie Viktor Frankl Erdarbeiten machen und Überlebensstrategien entwickeln muß, damit einem die polnischen Gauner, die einem da ja darin über sind, nicht die Schnürsenkel stehlen, schreibt von seiner Entwurzelung und Einsamkeit, als religionsloser jüdischer Intellektueller und beginnt im zweiten Essay über „Die Folter“ zu schreiben, die er chronologisch vorher erlebte, als er als Widerstandskämpfer 1943 verhaftet wurde und dann nach Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen kam.
Der mittlere Essay heißt „Wieviel Heimat braucht der Mensch“, der vierte handelt, glaube ich, von den „Ressentements“, wie das Buch auch heißen sollte. Der Verlag hats nicht zugelassen und der fünfte „Vom Zwang und Unglück Jude zu sein“, da beschreibt er auch, wie er 1935 in einem Wiener Cafehaus in der Zeitung von den Nürnberger Prozessen gelesen hat und das in diesem Moment begriff.
Lydia Mischkulnig beeilte sich sehr möglichst viel vorzulesen, verhaspelte sich dabei und war auch sichtlich berührt. Dann kam Gerhard Scheit, der den Band auch mitherausgegeben hat und erzählte etwas von seiner Entstehungsgeschichte, nämlich, daß der Text über die Folter heute noch angegriffen wird, das Adorno aber schon in den Sechzigerjahren seinen Studenten das Lesen desselben empfohlen hat, daß sich Amery, der nach dem Krieg in Belgien lebte, mit Satre auseinandersetzte und in den Sechzigerjahren Helmut Heissenbüttel seine Texte angeboten hat, der sie im Rundfunk veröffentlichte, wovon er dann überlebte.
In der Diskussion meinte Kurt Neumann, daß der vom Verlag gewählte Titel besser gewesen wäre, während er Amery wahrscheinlich zu aufdringlich erschien und meinte auch, daß das Großartige nicht nur das persönlich Erlebte wäre, denn das hätte Primo Levi beispielsweise auch getan, sondern die Verknüpfung mit der Gegenwart und Lydia Mischkulnig meinte, das Berührende wäre die klare scharfe Sprache, mit der der Intellektuelle um Fassung ringt und mich haben wohl die psychologischen Komponenten am meisten beeindruckt, konnte ich mir so doch eine sehr klare Vorstellung machen, wie es damals gewesen ist und so denke ich, wirklich sehr wichtig ist.

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