Literaturgefluester

2010-04-14

Schlaflose Tage

Filed under: Uncategorized — jancak @ 22:17

Jurek Beckers „Schlaflose Tage“, sind die Beschreibung einer Midlifekrise a la DDR.
Lehrer Simrock ist sechsunddreißig Jahre alt und spürt mitten im Unterricht zum ersten Mal sein Herz. Daraufhin erschrickt er heftig, legt sich in den Rasen, denkt an seine Sterblichkeit und über den Sinn des Lebens nach, was dazu führt, daß er seine Frau Ruth und die pubertierende Tochter Leonie, die lesend unter dem Tisch liegt und dem Vater nur zerstreute Antworten gibt, verläßt, zu seiner Mutter zieht und beschließt ein guter Lehrer zu werden, der die Schüler kritische Geister werden läßt.
Also fordert er sie auf, nur dann zur 1. Mai Feier zu erscheinen, wenn sie es wirklich wollen, worauf nur acht Schüler kommen und er einen Rüffel vom stellvertretenden Direktor bekommt.
Simrock lernt indessen in einem Tanzlokal Antonia kennen, die wegen einer Unvorsichtigkeit im dritten Semester ihres Physikstudiums von der Universität gewiesen wurde und zieht bei ihr ein.
Um den wahren Sinn des Lebens kennenzulernen, beginnt er in den Ferien ein Monat lang in einer Brotfabrik zu arbeiten und im zweiten mit Antonia nach Ungarn zu fahren, die dort einen Fluchtversuch über die österreichische Grenze unternimmt.
Simrock geht zur Schule zurück und verspricht den Schülern den Unterricht zu ändern, sie sollen nachher ins Geschichtskabinett kommen, um ihre Änderungswünsche mitzuteilen, worauf er alleine bleibt, da es die Schüler vorziehen, im Schulhof zu raufen. Er ist auch der einzige, der dem Oberleutnant, der den Schülern die nationale Volksarmee schmackhaft machen soll, kritische Fragen stellt, was zu seiner Entlassung aus dem Schuldienst führt und Simrock veranlaßt wieder Brotausfahrer zu werden, um beim Anblick eines Rettungswagens an den kleinen Schmerz erinnert zu werden, der sein Leben so sehr verändert hat….
Eine Fibel des positiven Widerstandes, wird das Buch vom Deutschlandfunk genannt, das der 1939 in Lodz geborene, 1997 an Krebs gestorbene Jurek Becker, 1978 geschrieben hat, der das Ghetto von Lodz und einige KZs überlebte, 1945 nach Ost-Berlin kam, mit dem Ghetto-Roman „Jakob der Lügner“ berühmt wurde und 1975 den Nationalpreis für Literatur der DDR bekam. 1976 wurde Wolf Biermann ausgebürgert, 1977 trat Becker aus dem Schriftstellerverband aus und zog mit DDR Genehmigung in den Westen, wo 1978, die „schlaflosen Tage“ erschienen und er 1996 das Drehbuch für die erfolgreiche Fernsehserie „Liebling Kreuzberg“ schrieb.
Ich habe das 1986 erschienene „Bronsteins Kinder“ und „Amanda herzlos“, 1992 erschienen, gelesen.
2010 liest sich der Schelmenroman, in dem der DDR Protest ironisch sanft geschildert wird, als Erinnerung an eine Zeit, die man sich gar nicht mehr vorstellen kann, werden die Midlife- und die Sinnkrisen heute ganz anders ausgelebt.
Desinteressierte Schüler und frustrierte Lehrer wird es aber noch immer geben. Die DDR dagegen nicht und wegen Fluchtversuch über die österreichiche Grenze wird man nicht mehr siebzehn Monate eingesperrt, sondern abgeschoben. Die Frage was ein guter Lehrer ist, stellt sich aber immer noch und ich könnte mir vorstellen, daß die, die heute eine Herzattacke erleiden und über den Sinn des Lebens grübeln, angesichts der überfüllten Schulklassen, dem beschränkten Hochschulzugang und der mangelnden Lesefähigkeit der Migranten- oder anderer benachteiligter Kinder, genauso verzweifelt an die Wand rennen und auch mit der Festung Europa, den neuen Sicherheitsbestimmungen und Überwachungsszenarien unserer westlich freien Globalisierungswelt, so manche Probleme haben, die sich vielleicht nicht so friedlich einfach lösen lassen, wie es Jurek Beckers naiver Tor Karl Simrock versucht. Und die Stelle verliert man bei nicht angepassten Verhalten, wo alles evaluiert und qualitätsüberprüft wird, heute wahrscheinlich noch viel leichter und steht dann auf der Straße oder kann einen Pensionsantrag stellen, während die DDR wenigstens versuchte, den glücklichen Brotausfahrer zurückzuholen.
Eine kleine Anmerkung habe ich noch, der Plattensee liegt nicht an der österreichischen Grenze, aber wahrscheinlich hat man das in den DDR Schulen nicht gelernt, wo die Landkarten ja mit dem nichtsozialistischen Ausland endeten.

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