Macht

Er legte den Mittelfinger über den Ringfinger. Vielleicht sollte es eine magische Geste sein. Vielleicht war er aber auch einfach nur nervös und versuchte sein Flattern mit einer unbemerkten Bewegung zweier Finger, die doch niemandem auffallen konnte, zu bändigen. Eine kleine Veränderung des Körpers, die ihm helfen sollte, sich zu beruhigen. Er sah auf seine Schuhe runter, die schmutzig waren, die er vergessen hatte zu putzen. Er konzentrierte sich auf die Staubschlieren und versuchte sich zu erinnern, wo er gewesen war, um sein Schuhwerk derart in Mitleidenschaft zu ziehen. Es fiel ihm nichts weiter dazu ein, aber damit er nicht aufblicken musste, dachte er trotzdem noch eine Weile darüber nach.
Jemand rempelte ihn an. Er ignorierte es. Er bog den Mittelfinger noch ein wenig mehr über den Zeigefinger, bis er jenen Punkt erreichte, der ihm einen leichten Schmerzschauer verursachte. Der Schmerz lenkte ihn ab. Schmerz war schon oft sein Heilmittel gewesen.
Geht es besser?, fragte seine Frau.
Ein wenig, antwortete er und log sie damit an.
Sie hakte sich bei ihm unter, schob ihre linke Hand unter seinen rechten Unterarm, um ihn so zu führen, waren sie doch nur noch zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt.
Mach einen Schritt, sagte sie.
Ich kann nicht, sagte er. Die Menschen …
Beachte sie einfach nicht.
Sie versuchte ihn in den Strom zu schieben, drückte ihn ein wenig zur Seite, bis er schließlich in diesem unaufhörlichen Fluss aus Passanten wie ein Fels stand, an dem sie sich brachen. Niemand rempelte ihn an, sie glitten um ihn wie weiches Wasser, streiften seine linke Seite. Rasch zog er den Arm ein, dachte wieder an seinen Finger, an die Macht, die in ihm lag, an den Schmerz, der ihn vor all dem überschäumenden Leben ablenkte.
Siehst du, es passiert gar nichts, sagte seine Frau. Alles in Ordnung. Niemand wird dir etwas tun.
Er nickte. Dachte: Ich hätte mich nie auf diesen Spaziergang einlassen sollen.
Seine Frau versuchte ihn zu ziehen. Er gab ein wenig nach, weil er seine Frau liebte und ihr nicht allzu viele Schwierigkeiten bereiten wollte.
Denk an Zuhause, sagte sie. Du kannst dich in deinen Sessel setzen, die Beine hoch legen, du kannst nach einem Buch von Borges greifen, deine Pfeife anzünden, und dies alles hier als einen Albtraum abtun.
Er schloss die Augen und versuchte sich auf das Bild, das sie ihm entworfen hatte, zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Er konnte sich nur den Sessel vorstellen, der aber leer war. Das Bild ängstigte ihn. Er blieb stehen, die Augen noch immer geschlossen, und lauschte auf das Rauschen der Autos.
Der Sessel war leer, flüsterte er.
Was?
Leer!
Sie schüttelte den Kopf. Er sah es nicht, konzentrierte er sich doch wieder auf das Bild vom Sessel. Endlich gelang es ihm, sich hinein zu setzen. Er legte die Beine hoch, lächelte, griff nach seiner Brille, dann nach Pfeife und Buch.
Du lächelst ja, sagte sie.
Ich habe keine Angst mehr.
Das ist gut, sagte sie.
Langsam führte ihn seine Frau zwischen den Menschen hindurch, steuerte ihn behutsam Richtung ihres Hauses.
Wir sind jeden Moment da, sagte sie.
Er sagte nichts. Lächelte noch immer. Die Straße, die Menschen, die Autos bereiteten ihm keine Angst mehr. Er hatte die Macht, dies alles mit einem Wimpernschlag hinter sich zu lassen.
Er lächelte und entzog sich dem Griff seiner Frau. Lief langsam weiter. Erstaunt sah ihm seine Frau nach, dann beschleunigte sie ihre Schritte, hakte sich wieder unter und flüsterte: Ich liebe dich.
Er nickte nur kurz, sah sie mit geschlossen Lidern an, trat einen Schritt zur Seite und lief Richtung Straße. Nach drei Schritten stand er vor einem parkenden Auto, wollte gerade weiter gehen, da erwischte sie seinen Mantel. Sie packte in den Stoff, hielt sich mit ihrem geringen Gewicht daran fest.
Bleib doch stehen, rief sie.
Mir kann nichts passieren, sagte er.
Dann lief er weiter, zwischen zwei Autos hindurch auf die Straße, seine Frau wie ein angebundenes Ruderboot im Schlepptau.

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