Als ich eben die Rezension zu “Ginster” geschrieben habe, das im Rahmen der Aktion “Frankfurt liest ein Buch” der diesjährige Pflichttitel für den Südhessen war, fiel es mir wieder ein. “Wir” haben das doch erfunden und wenn nicht erfunden, so doch zumindest als erste in Deutschland nachgemacht: “Bad Hersfeld liest ein Buch”. Die Stadt, aus der Konrad Duden zwar nicht kam, aber dort zumindest lehrte, lebte und und begraben wurde, die z.B. mit den Festspielen in der Stiftsruine für seine Größe ein beachtliches Kulturangebot hat und als Logistikstandort für Amazon und Libri zumindest versorgungstechnisch einen recht großen Einfluss auf den Buchmarkt hat, hat sich bereits vor Jahren die Förderung des Lesens einmal jährlich auf die Fahnen geschrieben. Darf es bei Massenkultur sonst eigentlich nicht zu ernst und lieber leicht verdaulich sein, gönnt sich Bad Hersfeld direkt zum Start Der Vorleser von Bernhard Schlink, der zwar leicht lesbar ist, aber nicht unbedingt ein leichtes Thema behandelt. Außerdem sind z.B. Im Krebsgang von Günther Grass, Faust, Ruhm von Daniel Kehlmann, Tannöd oder Die Frau, für die ich den Computer erfand von Friedrich Christian Delius, der auch aus der Gegend kommt, gelesen worden.
Doch jetzt blamieren wir uns doch wieder, weil man sich kleinstädtisch nicht über den diesjährigen Titel einigen konnte, irgendwer wurde nicht gefragt, dann auch noch so ein Buch mit Bart vorne drauf und mit Hitler, das kann man ja nicht machen, was sollen die Leute denken. Und dann könnte es ja sein, dass man sich mit der eigenen Geschichte und Hitler auseinandersetzen müsste, gar in der Schule drüber sprechen, das ganze dumme Volk, hätte vielleicht gedacht, dass er tatsächlich wieder da ist. Chance vertan – die Stadt scheut (angeblich) personellen und finanziellen Aufwand der Betreuung der Lesenden und ihrer möglichen Fragen. Die stadteigene Gazette schlussfolgerte sogar “Hitler überfordert Leser in Bad Hersfeld”.
Nicht, dass ich ein großer Freund von Er ist wieder da von Timur Vermes wäre, vielmehr ärgert mich nur, dass sich z.B. die Zeit über “uns” lustig macht. Jetzt wird also Louise im blauweiß gestreiften Leibchen von Mathias Nolte gelesen, klingt ähnlich anspruchsvoll wie Hitlerparodien und die besten Kritiken kommen von der Für Sie, Myself und der Freundin. Ich möchte keinem unrecht tun, vor allem da ich das Buch nicht gelesen habe, aber so laufen schöne Ideen und Projekte langsam aus, der Anspruch lässt nach, weil sonst immer nur dieselben Gesichter zu den Veranstaltungen kommen, die man in der Kleinstadt auch noch alle kennt. Mit Er ist wieder da hätte man zwar keine literarische Hochkultur genossen, aber man hätte, gerade aufgrund der entstandenen Debatte, die natürlich in Kleinstädten auch entsprechend heftig ausfällt, viele Menschen neugierig machen und anschließend begeistern können. Ebenso wurde leider die Chance auf einen fruchtbaren Dialog und die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte vertan, gerade lese- und geschichtsmuffelige Schüler hätte man “mitnehmen” können.
Jetzt also Kamillentee statt Bart, Liebesgeschichte statt Dialog und die Angst vor der eigenen Courage tatsächlich kulturell ein Zeichen zu setzen, zu bewegen und Leute zum Lesen zu bringen.