Arbeit und Struktur

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tschick von Wolfgang Herrndorf hat 2010 ein mittelschweres Beben in der deutschen Literatur ausgelöst. Ein Autor, der bisher nur wenigen ein Begriff war, landet mit einem Jugendbuch einen Bestseller, der allein in Deutschland über 750.000 Mal verkauft und inzwischen in 16 Sprachen übersetzt und für das Theater adaptiert wurde. Jeder sprach mit glänzenden Augen von diesem herrlich komischen Buch mit den nachdenklichen, kritischen Untertönen, den Seitenhieben auf die Erwachsenenwelt. Niemand kam damals an tschick vorbei, auch ich fand es gut, wenn auch nicht so großartig wie die meisten anderen. Die Sprache Herrndorfs gefiel mir, mehr noch seine genauen Beobachtungen, die Beschreibungen einfachster Alltagssituationen, die sonst untergehenden Details und doch blieb das Ganze für mich doch in erster Linie ein gut gemachtes Jugendbuch, keine große Literatur. Herrndorf gab keine Interviews, er las nicht öffentlich und trat auch nicht auf. Seit bei ihm 2010 ein Glioblastom, ein unheilbarer Hirntumor, festgestellt worden war, verwandte er all seine verbleibende Zeit auf das Schreiben.

Nur ein Jahr nach tschick erschien Sand. Der vorher langsam veröffentlichende, weil akribisch und sehr selbstkritisch über Jahre an den Entwürfen arbeitende Autor schloss nach dem Jugendroman auch den Wüstenroman zügig ab. Sand wurde, wie von allen erwartet, mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und erneut ein Bestseller. Herrndorf schrieb weiter, nun an einem SciFi Projekt, denn die Arbeit sollte seinem Leben, seiner restlichen Zeit, die Struktur geben, die nötig wäre nicht den Mut zu verlieren. Drei Jahre nach der Diagnose, am 26. August 2013, nahm sich Wolfgang Herrndorf das Leben. Er hatte bis dahin viel mehr geschaffen als er sich zugetraut und mehr gelebt als er gehofft hatte.

Herrndorf schrieb neben seinen Büchern an einem Blog mit dem Titel Arbeit und Struktur. In diesem dokumentierte er sein Leben mit dem Tumor. Hellsichtig und klar, offen und ehrlich, schrieb Herrndorf über seine Ängste und Hoffnungen, über den Alltag im Angesicht des Todes und informierte über neue Diagnosen. Im Zuge des Erfolgs von tschick fand der Blog, erst nur als Informationsmedium für seine Freunde gedacht, immer mehr Leser und erschienen, wie von ihm gewünscht, Ende desselben Jahres als Buch.

Arbeit und Struktur beginnt im März 2010 einen Tag nachdem sich der Autor selbst in die Psychiatrie eingeliefert hat, verkleidet als Pinguin. Am Anfang weiß ich nicht was ich Herrndorf glauben soll, schreibt er ironisch oder wirr, delirt er oder ist er klar. Die ersten Kapitel sind voller Details zur Medikation, zum Teil nur kurze Notate, kleine Beobachtungsschnipsel zu den anderen Insassen der Psychiatrie, aus denen aber bereits die Meisterschaft Herrndorfs leuchtet. Die kleinen Textfragmente und Notate zeichnen langsam eine Szenerie um die Hauptperson, man scheint auf einmal alles und alle zu kennen. Als wäre es nicht darauf angelegt, versorgt Herrndorf den Leser mit den Informationen, die er braucht um seine Geschichte zu verstehen. Stimmung, Person, Emotion – dafür braucht er nur zwei Sätze, zehn Wörter.

Einer geht immer auf und ab. Das ist der Traurigste.

Nach den ersten acht Kapiteln sind zehn Rückblenden eingeschoben, auf die Zeit vor dem Blog, die Diagnose der Krankheit. Die nicht vergehenden Kopfschmerzen und erste neurologischer Ausfälle, die Nacht des Zusammenbruchs, auf welche die Entdeckung des Tumors folgt, all das schildert Herrndorf ganz nüchtern und doch spürt man erste Beklommenheit. Den Sog des Textes kann man nicht an einzelnen Stellen festmachen; eine wahre Geschichte in diesem Ton und dieser Offenheit erzählt zu bekommen, bewegt zwangsläufig. An keiner (!) Stelle wird der Diarist kitschig, nicht einmal Vogelzwitschern kann seiner Prosa etwas anhaben. Seine Verzweiflung ist nicht rührselig oder weinerlich, sie gehört bei einem Bericht dieses Gewichts dazu, das Aussparen würde die Authentizität beeinträchtigen und doch ergreift es den Leser viel tiefer als nur durch Rühren im Emotionentopf. Arbeit und Struktur ist kein Krebsroman. Der Leser sollte durch den Blog informiert, nicht Mitleid geheischt werden. Gerade diese Sachlichkeit, immer dieser Blick des scheinbar Außenstehenden ist ein Geheimnis der Kraft der Prosa.

Wie ehrlich und detailliert Herrndorf seine depressiven und wahnhaften Phasen beschreibt, als hätte ein anderer als er selbst diese erlebt, gnadenlose Analysen, die immer eindringlicher werden, wenn man die gespielte Distanz aufbricht indem man sich erneut vor Augen führt, das Herrndorf über sich schreibt. Der Schmerz, den er durch literarischen Abstand zu verbergen sucht und doch offen zugibt.

Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.

Pointierter kann man die Lust zu Leben in einem Satz nicht darstellen. Ein sensibleres Thema als den eigenen Tod ist wohl kaum denkbar und trotzdem bleibt Herrndorf im Angesicht des bevorstehenden Endes ohne Wehleidigkeit. Ein Buch über die Schönheit des Lebens und die Angst vor dem Tod, eine herausragende Leistung!

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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