Ich beginne vorne zu lesen und arbeite mich nach hinten durch, erst spät und selten beginne ich zu springen, einzelne Kapitel lasse ich zwar aus und andere lese ich nur an, aber dieses Buch vermag tatsächlich zu fesseln. Nichts anderes würde man von einem Roman erwarten, aber von einer Geschichte der deutschen Literatur? Natürlich gibt es das, wenn Marcel Reich-Ranicki auf dem Buchdeckel steht.
Ein Jahr nach dem Tod des deutschen Großkritikers erscheint bei der DVA die bisher umfangreichste Auswahl aus den Essays des Kritikers, in chronologische Reihenfolge der deutschen Literaturgeschichte gebracht.
Anders als rein wissenschaftliche Werk bildet diese Anthologie nicht nur eine Fundgrube an fundierten Empfehlungen, sondern gleicht einer Liebeserklärung an die deutsche Literatur. Der Grund hierfür, natürlich das Temperament des Autors, seine Passion für gute und die Frustration über schlechte Bücher. Der Herausgeber Thomas Anz fasst die Gründe für Reich-Ranickis Deutlichkeit und Leidenschaft zusammen: “Noch seiner heftigsten Kritik ist die Enttäuschung eines Liebhabers eingeschrieben, der nicht gefunden hat, was er leidenschaftlich suchte: eine Literatur, die derart intelligent, fesselnd und schön ist, dass man sie ein Leben lang lieben kann. Seine Literaturgeschichte ist eine Liebesgeschichte, gekennzeichnet von oft sehr persönlichen, höchst eigenwilligen Vorlieben, Abneigungen und Ambivalenzen.”
Gerade dieser subjektive Einschlag macht meiner Meinung nach auch die Wirkmacht eines Kritikers aus. Mag man Ranickis Verve, mit der er lobt und verreißt, teilweise für überzogen gehalten haben, sie macht seine Meinung doch umso glaubhafter. Ich kann diesen Mann und seine Empfehlungen ernstnehmen, denn er steht mit seinem Namen für Titel und Autoren ein. Er bürgt für das Buch und hat auch noch die Größe Fehlurteile zuzugeben und zu korrigieren. So zum Beispiel hat er seine deutliche Kritik an der Grassschen Blechtrommel – “Die Blechtrommel ist kein guter Roman” – ebenso gedruckt wie seine darauf später erfolgte Selbstkritik.
Ganz bewusst reklamiert Reich-Ranicki bzw. der Herausgeber Thomas Anz keine Allgemeingültigkeit dieser Literaturgeschichte. Das Meine im Titel will unterstrichen gewusst sein. Weil es sich um kein durchkomponiertes, sondern ein zusammengestelltes, ein gesammeltes Werk von Einzelbeiträgen handelt, bestehen aber auch Lücken, wie der Herausgeber auch einräumt. So sind gerade im 18. und 19. Jahrhundert beispielsweise Georg Büchner und E.T.A. Hoffmann nur kurze Texte gewidmet, auch der Schillertext bringt es nur auf knappe drei Seiten. Hier fehlten, trotz der Verehrung Reich-Ranickis für diese Autoren, entsprechend allgemein gehaltene Artikel, die in eine solche Zusammenstellung passen würden. Dagegen sind zur Literarischen Moderne bis 1945 und der Nachkriegsliteratur bis zur Gegenwart 350 Seiten voller alter Bekannter enthalten. Reich-Ranicki hat Essays zu allen großen Autoren des klassischen Kanons geschrieben: Zu Frisch, Böll, Dürrenmatt und Brecht, Hesse und Kafka gesellen sich zu Tucholsky, Bernhard, Walser und Grass.
So liest man Essay um Essay, die teilweise knappen Texte lesen sich in ihrer Kürze schnell und dank Ranickis Leichtigkeit und Begeisterung auch mal zwischendurch ohne bloß oberflächliche Appetizer zu sein. Auch hierfür hat der Herausgeber in seiner guten Einführung eine Erklärung: “Reich-Ranicki ist es wie keinem anderen Kritiker und Literaturwissenschaftler gelungen, im Umgang mit Literatur die Kluft zwischen populärer Unterhaltung und historisch fundierter Intellektualität zu schließen.” Entsprechend kurzweilig und doch bildend liest sich dieses wunderbare Geschenk an die deutsche Literatur. Man stelle sie sich ins Regal, um sie immer wieder zur Hand zu nehmen, Neues zu entdecken und alte Lieben wiederzufinden.
Dieser Marcel Reich-Ranicki fehlt dem deutschen Literaturbetrieb, bestimmt fehlt er auch Grass und Walser ein bisschen; warum, zeigt dieses Buch deutlich auf.