Mich umweht ein Hauch des Morbiden. In Paris spaziere ich lieber über Friedhöfe, statt das Nachtleben der Stadt zu erkunden, Wien die Hauptstadt der Todessehnsucht ist natürlich meine Lieblingsstadt. Nicht, dass mich eben solche Sehnsucht plagen würde, ich habe es mir hier sehr gut eingerichtet und plane noch einige Jahrzehnte meinem noch jungen Leben folgen zu lassen, bin aber irgendwie in diese Geschichte reingeschlittert, sind doch die meisten meiner Autoren tot. Bei Heine und Böll, Kästner und Zweig kann man schlecht auf eine Lesung gehen, will mal jemandem also eine Ehre erweisen, so gibt es nichts näheres als einen Besuch am Grab.
Sterben die Großen, ruft man ihnen nach. Der Nekrolog ist eine eigene Gattung des Journalismus. Die Frage, ob die großen Zeitschriften den passenden Nachruf für möglicherweise bald Versterbende, bereits in der Schublade haben, füllte sogar schon Romane (z.B. Picknick auf dem Eis von Andrej Kurkow). Nun haben Georg Thiel und Florian Baranyi für jedes Jahr des 20. Jahrhunderts einer verstorbenen Persönlichkeit einen Nachruf geschrieben und ein Geschichts- und Erinnerungsbuch daraus gemacht: Alle tot – Das 20. Jahrhundert in 101 Nachrufen.
Beginnend mit Oscar Wilde 1900 bis Lolo Ferrari 2000 führen die beiden Autoren unterhaltsam und lehrreich durch das Säkulum. Man trifft alte Bekannte und lernt neue Autoren, Künstler und Politiker kennen. Besonders erfreulich hierbei, dass zum Teil die nicht naheliegenden Todeskandidaten des Jahres vorgestellt werden.
In seiner Agonie verlangte er Papier und Stift und bat um 100 Mikrogramm LSD, intramuskulär verabreicht. Laura kommt dem nach. Als sie ins Nebenzimmer geht, um die Ampulle zu holen, erfährt sie, dass John F. Kennedy gerade erschossen wurde. Einige Stunden später schläft Huxley friedlich ein.
Nicht eben den offensichtlichen Kennedy, sondern Aldous Huxley zu nehmen, beschehrt dem Leser dazu auch noch die Bekanntschaft mit Moritz Schlick (1936) oder Antonio Gramsci (1937). Klar ’45 ist Hitler gestorben, aber eben auch Anton von Webern, Hitler kennen alle, von Webern doch sicher wenigere. Trotzdem muss man nicht auf die Stars des Todeskults verzichten: Jim Morrison (1971), Elvis (1977), Eva Perón (1952) oder Falco (1998).
Thiel und Baranyi erzählen so auf eine völlig andere Art die Geschichte der europäischen Kultur in hundert wundersamen Jahren durch hundert und ein wundersames Leben. Ein grandioses Lesevergnügen, das nur durch das eklig glatte Papier geschmälert wird. Gänzlich fehl am Platz dagegen die Illustrationen von Stefan Kahlhammer, die vielmehr das Niveau eines einfachsten Kinderlexikons haben und für das Buch keinen Mehrwert darstellen. Wenn man sich den Lesegenuss hierdurch nicht verderben lässt, wird man mit Alle tot bestens unterhalten!