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Offenes Selbstbild, verkrustete Strukturen [Queering Literaturbetrieb]

Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

eine Kolumne von Kevin Junk

 

Literatur gab mir mein Leben. Sie zeigte mir, dass mein Begehren seinen Platz in der Welt hatte. Um es mit trans YouTuberin Natalie Wynne zu sagen: „The only good thing about being gay is doing gay shit.“ Und den fand ich in der Literatur: Klaus Manns unglückliches Verliebtsein, Genets brachiales Begehren, Mishimas schüchterne Zärtlichkeit, Schernikaus süffisante Affären. Ich fand ihn auch bei Else Lasker-Schüler, die zumindest mit Queerness spielt, so wie sie mit dem Verliebtsein kokettiert, als wäre es eine Droge, die gerade erst synthetisiert wurde. Ich lernte von Audre Lorde über das Begehren, über die Politisierung von Körpern und Intersektionalität. So viele queere Intellektuelle fütterten mein Selbstverständnis als schwuler Mann. Aber diese Texte waren alle Zeugen ihrer eigenen Zeit. Was war mit meiner Gegenwart?

Unsere Stimmen haben gesamtgesellschaftliche Relevanz

2019 sah ich Ocean Vuong auf dem Berliner Literaturfestival. Auf die Frage, wie er queeres Schreiben verorte, antwortete der amerikanische Autor, dass wir als queere Personen eine Verantwortung für die Gesellschaft haben. Denn wir sind in der Lage, so beschrieb es Vuong, Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Diese Perspektive habe ihre Berechtigung und einen Wert, den wir als Schreibende nicht vergessen dürften. Das hat mich beeindruckt und den Blick auf meine eigene Arbeit nachhaltig geändert. Für mich heißt das nicht, dass ich einer mehrheitlich cis-geschlechtlichen, heteronormativen Gesellschaft mein queeres Begehren erklären muss. Aber ich adressiere auch kein exklusiv queeres Publikum. Meine Texte sind kein Nischenphänomen – sie sind die Arbeit eines Autors, der auch ein queerer Mann ist. Muss man ein queerer Mann sein, um über zwei Männer zu lesen, die sich verlieben? Kann ich denn keine Lust dabei empfinden, wenn Audre Lorde in einem Gedicht den Sex mit einer Frau beschreibt? Kann ich als schwuler Mann denn nicht die Liebe zwischen zwei cis geschlechtlichen Heteromenschen in einem Film sehen wollen (wobei ich davon, wenn ich ehrlich bin, genug hatte)? Von trans Männern und ihrem Schreiben dürfte ich mehr über Männlichkeit gelernt haben als von vielen cis Männern. Unabhängig von unserer intersektionalen Verortung sind wir alle Menschen und wenn Literatur eines ist, dann eine Übung in Menschlichkeit, in Vorstellungsvermögen und in Mitgefühl. Literatur ist für mich ein Raum kritischer Reflexion, von erotischer Freude und von rationaler Stärke. Literatur kann so viel sein – aber der deutsche Literaturbetrieb zensiert sich selbst.

Wer will schon einem queeren Arbeiterkind zuhören

Als queerer cis Mann, als neurodiverse Person, als Arbeiterkind finden so viele Aspekte meines Erlebens nur selten in kulturellen Erzeugnissen statt. Erst recht nicht gleichzeitig. Mir wurde bei Weitem kein Selbstverständnis im Umgang mit kultureller Produktion auf den Weg mitgegeben. Das ist keine Anklage an meine Herkunft – mehr eine Beschreibung von realen Verhältnissen. Meine Herkunft konnte ich erst durch die Reflexion mit Freund*innen spiegeln, denen dank ihrer Bildung, ihrer Klasse und ihrer Herkunftsfamilie mehr soziales und kulturelles Kapital gegeben war.

Bereits in der Grundschule hielt meine Klassenlehrerin mich für sprachlich wenig begabt. Sie attestierte mir, dass meine sprachlichen Fähigkeiten nicht für das Gymnasium ausreichten und schickte mich auf die Realschule. Als ich Jahre später vom Begriff „Kevinismus“ hörte, wurde mir klar: Vielleicht gab es einen Grund, warum die Bernds und Hannahs auf das Gymnasium kamen, Kevins und Kerstins aber nicht. Auch ein Kevin kann schreiben, das musste ich mir immer wieder sagen. Schreiben lernt man nur vom Schreiben, sagte mir eine Deutschlehrerin. Recht hat sie – und ich wollte Schreiben lernen, daran bestand kein Zweifel.

Aber Arbeiterkind sein, das hieß für mich: Scham. Also lieber verschweigen. Ich bin schon schwul, jetzt muss ich meine intersektionalen Mühen nicht noch verschlimmern und mich damit belasten, dass ich mir Bildung erarbeiten und zum Teil erkämpfen musste. Ich wollte einfach ein belesener junger Mann sein, der sich zwanglos mit Literatur auskennt. Ich bin ein Literaturnerd – aber habe ich was zu schreiben? Bestimmt nicht, wenn ich auch noch meine Mehrfachdiskriminierung zur Schau stelle. Mir war noch nicht klar, das genau darin mein kreatives Potenzial liegt.

Nerdgasm: Die erotische Kraft der Gegenwart

Ich war 20, als ich nach Berlin kam. Ich verlor mich im intertextuellen Austausch zwischen den schwulen Literaten des 20. Jahrhunderts, las Kurzgeschichten von Mishima über Radiguet, jagte nach alten Klaus Mann-Romanen auf dem Flohmarkt. Ich hatte schon ein Promotionsthema in der Schublade. Ich wusste, wo ich hinwollte. Wie so oft kam es anders. Wenn alles glatt gelaufen wäre, wäre ich dank des Vorsprungs, den ich durch mein Frühstudium hatte, noch mit 22 oder 23 mit dem Master fertig gewesen. Aber nach den sehr früh begonnenen Jahren in der akademischen Welt, fehlte mir etwas. Ich wollte am Leben teilhaben, wollte in dieses Berlin eintauchen. Ich wollte nicht nur in queerer Literaurgeschichte sein, ich wollte queere Lebensrealität erfahren. Was war all die Forschung wert, all das Lesen, wie sollte ich jemals selbst schreiben, wenn ich nie am Leben teilgenommen hatte?

Ich war ausgebrannt von der Universität und verliebt in die queere Gemeinschaft, die ich auf Tanzflächen und in Toilettenkabinen fand. Das, was ich auf den Seiten von Büchern zwischen den Zeilen durchscheinen zu sehen glaubte, was ich aus Party Monster kannte (die zärtliche Hassliebe zwischen Seth Green und Macaulay Culkin), diese erotische, alles durchdringende, radikal am Leben teilhabende Energie, ich hatte sie gefunden. Meine Herkunft war egal, meine akademischen und intellektuellen Leistungen waren egal, ich hatte durch meine bloße Existenz bereits kulturelles Kapital und Teilhabe. Kleidung, Tätowierungen, Habitus: Sie wurden zur Währung in einer Gemeinschaft, die sich außerhalb von heteronormativen Räumen bewegte. Flirts, Küsse, Musik: Sie wurden zu kleinen Ritualen der Aufmerksamkeit, zu Wertschätzung in einer Welt, in der wir als queere Menschen nicht begrüßt wurden. In einem Raum voller queerer Menschen zu stehen und zu tanzen hat mich befreit, weil wir uns in diesen Momenten unsere Lust und unsere Lebensfreude zurückholten.

Der Bruch zwischen der geradlinigen Akademia und dem frei schwebenden Zustand außerhalb von Bildungseinrichtungen und hinter gut bewachten Clubtüren, eröffnete mir eine neue Perspektive auf mein Leben als queerer Mann. Ganz auf mich gestellt, mit der Aufgabe betraut, meinem Leben selbst Richtung zu geben, hatte ich hier Inspiration gefunden. Meine Herkunftsfamilie konnte mir keine Karrieretipps geben, genausowenig konnte meine kulturwissenschaftliche Ausbildung mich auf ein Leben außerhalb der akademischen Weltvorbereiten.

Nach Jahren der Analyse von Romanen und Texten, nach Jahren der Theorie, war es an der Zeit, in die Praxis zu gehen. Ab 2013 schrieb ich regelmäßige kultur- und gesellschaftskritische Essays auf einem mittlerweile eingestellten Blog. Meine Essays zur Gegenwartskultur mündeten dann irgendwann in den Band “Berliner Befindlichkeiten”, den ich 2015 bei Culturbooks veröffentlichte. Aber ich  wollte einen Roman schreiben, der die Gegenwart in den Blick nahm, eine Geschichte erzählen, die Relevanz hatte, ohne dabei meine eigene Biografie in den Mittelpunkt zu stellen (das können Mittelschichtskinder bestimmt besser). Ich wollte von der erotischen Kraft der Gegenwart erzählen, so wie ein Genet mir von der erotischen Kraft eines Seemanns erzählt.

Wie ein Roman funktionierte, wusste ich durch Jahre der Analyse – aber wie schrieb man einen? Die Falle autobiografischer Nabelschau löste ich durch eine auf mehrere Figuren aufgeteilte Geschichte. Der Schreibprozess absorbierte mich komplett, so sehr, wie mich sonst nur akademisches Arbeiten absorbiert hatte. Feedback aus meinem direkten Umfeld gab mir das Gefühl, dass ich mit dem Text nicht komplett daneben lag. Also schloss ich den Roman ab und suchte mir eine Agentur. Glücklicherweise sah eine Praktikantin, wie mir eine spätere Agentin erzählte, das Potenzial im Text. Insgesamt sollte ich mit drei Agent*innen arbeiten, die mir alle das gleiche sagten: Es ist ein toller Text, du hast eine Stimme. Aber das Thema, die Figuren, das Set-up – das wird schwierig. Niemand sagte es so gerade heraus, aber der Roman war zu queer. Kein großer Verlag würde sich an den Stoff trauen.

Kann ein Roman zu queer sein?

Da war ich nun mit einem Manuskript in der Hand, das ich im Laufe der Jahre immer wieder anpasste, an dessen Relevanz ich glaubte, das mir als veröffentlichungswürdig attestiert wurde, und doch war etwas falsch daran: Es war nicht mein Talent, es war meine Geschichte. Es war die Beschreibung einer Realität, die scheinbar in der Literatur nicht sein durfte. Hätte ich den Roman einfach auf eine eher straighte Storyline umschreiben sollen? Nein, auf keinen Fall.

Ich wartete auf Mails von Agent*innen, hoffte auf eine Zusage und irgendwann gab ich auf. Ich hatte keine Hoffnung mehr in der Prosa. Zugleich hatte ich kleine Erfolge mit lyrischen Veröffentlichungen: Hier war ich nicht zu queer, hier konnte ich gar nicht queer genug sein. Vielleicht weil man mit Lyrik ohnehin kein Geld macht. Mit Lyrik wurde ich zu Anthologien eingeladen, von Magazinen zur Einsendung aufgefordert, fand Freundschaften und war Teil von Lesungen. Dann eben Lyrik, dachte ich mir. Aber die Prosa ganz aufgeben? Dazu war ich nicht bereit. Ich kann nicht sagen, ob es Sturheit oder Selbstbewusstsein war, aber als ich die Chance hatte, persönlich mit einem Verlag zu sprechen, brachte ich den Roman wieder auf den Tisch. Wir tauschten uns aus, wir näherten uns an – für den ersten schwul-lesbischen Verlag Deutschlands konnte ein Buch zumindest nicht zu queer sein. Während diese Zeilen entstehen, liegt das Romanmanuskript in den letzten Zügen des Lektorats – nach 8 Jahren Arbeit am Text wird „Fromme Wölfe“ im März 2021 im Querverlag erscheinen. Ein weiter Weg, der sich, um ehrlich zu sein, für den Roman als Projekt gelohnt hat. Aufgeben war nie eine Option.

Es gibt zu viele Barrieren

Karten auf den Tisch: Ich bin froh, in einem queeren Verlag zu veröffentlichen, fühle mich in der Autoren-Verleger*innen-Beziehung aufgehoben. Was ich dem allgemeinen Literaturbetrieb aber guten Gewissens vorwerfen kann, ist dass das offene tolerante Selbstbild leider mit der Realität kollidiert. Als schwules Arbeiterkind muss ich sagen: Es gibt viele unsichtbare Barrieren. Diese Barrieren sind in den Köpfen des Literaturbetriebs. Niemand will es zugeben, niemand will sein*ihr offenes Selbstbild mit der Realität kollidieren lassen. Aber die Barrieren werden anfassbar, wenn Aussagen kommen wie: “Das wird schwer zu veröffentlichen.” Diese Barrieren hemmen meine Finger beim Tippen und sie machen mich vorsichtig. Will ich veröffentlicht werden oder will ich mein Leben ungehindert ausbuchstabieren? Ich will ja noch nicht mal provozieren, ich will ja noch nichtmal anklagen, aber das, was für mich selbstverständlich ist, das wird bereits als Schreiben gegen Normen lesbar. Wo liegt der Unterschied zwischen einem nicht-veröffentlichten Roman, der aufgrund seiner schwulen Figuren nicht zu verkaufen ist, und den Menschen, die mich anspucken, weil ich schwul bin? Es fällt mir schwer, beides zu trennen, denn beides ist in letzter Konsequenz: homofeindlich. Beides limitiert meinen Ausdruck in der Welt, nur weil ich mich in Männer verliebe.

Zugleich ist der Literaturbetrieb reich an Beispielen, die meine Argumente widerlegen könnten. Wurde nicht Mishima kürzlich wieder aufgelegt? Gibt es nicht queere Arbeiterkind-Geschichten von Édouard Louis? Was diese beiden Beispiele gemein haben: Sie sind nicht in der deutschen Gegenwartskultur entstanden. Scheinbar kann das queere Erzählen im deutschen Literaturbetrieb nur als das andere, das übersetzte oder das historische passieren. Wir brauchen mehr queere Stimmen, wir brauchen einen ganzen Chor, der die Vielfalt und die erzählerische Kraft einer queeren Perspektive auf die Welt zeigt.

Aber die strukturellen Bedingungen machen es mehrfach diskriminierten Menschen nicht leicht, ihre Geschichten zu erzählen. Doch dafür genügen nicht Autobiografien queerer Menschen, die ihre Berechtigung haben. Es braucht jede mögliche Form des kulturellen und literarischen Ausdrucks, in jeder Form, von autobiografisch bis Science-Fiction. Wir können mehr als eine tokenisierte Sprecher*innenposition, aus der queere Menschen nicht ausbrechen dürfen Was wenn ich nicht so beharrlich gewesen wäre? Was, wenn mir Agent*innen und Weggefährt*innen nicht immer wieder Mut gemacht hätten? Wie viele Menschen gibt es, die weniger Privilegien haben als ich, die relevante und schöne und politische Geschichten zu erzählen hätten, aber leider nie die Chance auf eine Veröffentlichung bekommen?

Audre Lorde sagt in ihrem Essay “The Uses of the Erotic”, dass das erotische Erleben kein Zurück kennt:

Es drückt sich als ein inneres Gefühl von Befriedigung aus, das wir, sobald wir es einmal erfahren haben, immer wieder anstreben können. Weil wir die reiche Tiefe der Gefühle und die ihnen innewohnende Kraft erfahren haben, erwarten wir aus Ehre und aus Respekt vor uns selbst nicht weniger als eben diese Fülle von uns. [1]

Genau dieses Erleben speist literarisches Schreiben. Genau dieses Erleben speist mein Verständnis von Literatur. Und weil ich nicht weniger von mir erwarte, als genau mit dieser erotischen Kraft zu arbeiten, kann ich mich nicht zensieren. Als queere Schreibende haben wir die Chance unsere Lebensfreude, unsere Lust und unsere erotische Kraft in Texte zu gießen. Als queere Kulturschaffende können wir zu einer besseren, zu einer offeneren Gesellschaft beitragen. Wir haben das Privileg Räume der Gemeinschaft zu schaffen, unsere Imagination dazu zu nutzen neue Möglichkeiten des Mitfühlens zu schaffen. Unsere Geschichten haben Relevanz, gerade weil sie sich nicht in das heteronormative Normgefüge einordnen lassen. Wir müssen uns dabei nicht für unsere Queerness rechtfertigen, sie erklären. Sie darf einfach sein – denn auch wir verlieben uns, auch wir altern, auch wir kennen Rassismus. Auch wir schlendern durch Wälder und schreiben Gedichte. Auch wir haben etwas von Bedeutung und von Schönheit zu erzählen. Queere Autor*innen sind bereits ein integraler Teil der Literaturgeschichte und wir werden weiterhin da sein. Doch der deutsche Literaturbetrieb ist weniger mutig, weniger offen, als er sich gerne sehen will. Deswegen: Queering Literaturbetrieb. Und zwar jetzt.

 

[1] “It is an internal sense of satisfaction to which, once we have experienced it, we know we can aspire. For having experienced the fullness of this depth of feeling and recognizing its power, in honor and self respect we can require no less of ourselves.”

 

Photo by Jonathan Kemper on Unsplash

 

Die Zurichtung der Frau – Interview mit der dänischen Schriftstellerin Olga Ravn

(Interview von Bror Axel Dehn für die Zeitschrift Vagant, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich)

 

In Meine Arbeit (Mit arbejde, 2020) treibt Olga Ravn ihre Kritik an den sozialen Verhältnissen weiter als je zuvor. Auf 420 Seiten, die sich aus Prosastücken, Dramatik, Gedichten und Tagebucheinträgen zusammensetzen, kämpft die Erzählerin des Romans mit ihrer Rolle als Mutter. Szenen aus dem Geburtsvorbereitungskurs finden sich neben Katastrophengedanken aus dem Tagebuch. Anna, die Protagonistin, muss einsehen, dass sie sich – nach der Geburt ihres ersten Kindes – nicht in den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen wiedererkennen kann; infolgedessen nähert sie sich einem psychischen Zusammenbruch. Denn wie umgehen mit der Scham, die entsteht, wenn man sich in einem einengenden sozialen Normenverständnis nicht wiederfinden kann? Ein paar Tage lang schickten Olga Ravn und ich Mails hin und her. Wir sprechen darüber, was passiert, wenn eine Frau „auf eine spezielle Denkart, auf einen Wertemaßstab hin abgerichtet und krank wird“. Wenn wir einen besseren Gesellschaftsentwurf wollen, dann muss jemand Zeugnis ablegen.

Olga Ravn, mit Meine Arbeit versuchen Sie, einige der vorherrschenden Denkweisen zu problematisieren, die heutzutage an die Rolle als Mutter geknüpft sind. Handelt Ihr Roman von Befreiung?

Ja, ich stelle mir das Buch tatsächlich als einen Befreiungsschlag vor! Ich wollte gerne untersuchen, was für eine Figur eine Mutter ist, die auf den Arbeitsmarkt kommt und wie sie für die unbezahlte Reproduktionsarbeit steht. Beim Schreiben habe ich eine ganze Menge Bücher über Kindererziehung und Elternschaft gelesen. Jedes einzelne davon entwirft sein eigenes Zeitbild. Die Wahrheit über die „richtige“ Kindererziehung wandelt sich fast jährlich. Mir ging auf, dass die Moralvorstellungen der jeweiligen Periode durch die Mutter am deutlichsten hervortreten. Man erwartet von ihr, dass sie alle persönlichen Charakterzüge und Ansichten zur Seite legt, um blind einer Autorität zu folgen, die abwechselnd die Behörden, der Mutterinstinkt, die Natur oder etwas Viertes sind.

Die schwangere Person wird von der Gesellschaft gegängelt bis zum Geht-nicht-mehr?

Im Laufe meines Lebens habe ich oft sogenannte Gesinnungsschnüffelei erlebt, aber niemals derart übergriffig wie während  meiner Schwangerschaft. Man versteht sehr schnell, dass man nicht mehr sich selbst gehört, sondern der Gemeinschaft. Fremde kommen zu einem hin und berühren den Körper, überall bekommt man Ermahnungen zu hören. Es ist klar, dass Eltern – und, aus historischer Sicht, vor allem Mütter – Arbeitskräfte und wahlberechtigte Bürger*innen produzieren. Es liegt im Interesse der Gemeinschaft, dass diese zukünftigen Bürger*innen nach einem Wertemaßstab erzogen werden, der den Status quo aufrechterhalten soll. Die Verantwortung für ein Kind innezuhaben, gehört für mich zu den politischsten Dingen überhaupt.

Wohl aus ebendiesem Grund ist es wichtig, dass jemand diese Erfahrung literarisch bearbeitet?

Mich empört, dass der Geschichte der Reproduktion in der Literaturhistorie nicht mehr Platz eingeräumt wird. Heute habe ich etwa gelesen, dass im ICE (Anm.: US Immigrations and Customs Enforcement) inhaftierten Migrantinnen ohne ihre Zustimmung die Gebärmutter entfernt wird. Vor ein paar Monaten kam dann die Nachricht, dass Schwarze US-Amerikanerinnen in einem Gefängnis sterilisiert wurden – und das alleine deshalb, weil es billiger ist, als für eine medizinische Behandlung der Schwangeren, für Binden und dergleichen aufzukommen. Aber so lässt sich die Bevölkerung eben genau kontrollieren. Die italienische Philosophin Silvia Federici hat es einmal so formuliert: Fangen die Behörden mit einer solchen Überwachung an, dann wächst die Frauenfeindlichkeit der Medien. Es wird deutlich, dass der Staat die Reproduktion aufmerksam im Blick behält; er will mehr von den richtigen Kindern, also weißen Kindern der Mittelklasse. Wenn es darum geht, wer Mutter werden darf und wie, welche Kinder man sich wünscht und unter welchen Gegebenheiten, dann darf man nicht übersehen, dass große wirtschaftliche und politische Interessen auf dem Spiel stehen.

In Meine Arbeit scheitert Anna an einigen der Erwartungen, die an die Rolle als Mutter geknüpft sind, weil sie sich in ihnen nicht wiedererkennen kann. Handelt dieser Roman auch von innerer Zerrissenheit?

Das literarische Doppelgänger-Motiv, das ich auch in Celestine (2015) verwendet habe, interessiert mich schon seit längerer Zeit. In Meine Arbeit wollte ich zeigen, wie eine Frau auf eine spezielle Denkart, auf einen Wertemaßstab hin abgerichtet und krank wird. Auch das kann zu dem Eindruck beitragen, dass man eine Doppelgängerin ist, auf der Bühne der Gesellschaft eine Rolle als Frau spielt und sich darin vielleicht manchmal völlig abhandenkommt – allerdings finden sich im Leben der Frau noch unbeleuchtete Teilbereiche. Die gespaltene Frau, die versucht, die Erwartungen an sie zu erfüllen und sich gleichzeitig dagegen zur Wehr zu setzen – dieses Motiv kann man in der Literatur sehr häufig beobachten. Emily Dickinson spricht von „Horror’s Twin“. Ebenfalls könnte man auf Charlotte Brontës „madwoman in the attic“ verweisen.

Sie sind nicht nur Schriftstellerin, sondern vermitteln Literatur auch durch Übersetzungen, u. a. von Joan Didion und Sylvia Plath. Früher haben Sie im Verlag Gyldendal die Skalaserie mitherausgegeben, eine Reihe übersehener Klassiker. Was bedeutet Vermittlung für Ihr eigenes Schreiben?

Das Gespräch über gute Literatur hängt für mich untrennbar mit dem Schreiben zusammen – an welche Literatur man sich erinnern, welche man analysieren und welche man lesen sollte. Müsste ich ausschließlich den gültigen Kanon lesen, wäre ich zum Schreiben erst gar nicht in der Lage. Deswegen musste ich daran arbeiten, mein Verständnis von Klassikern zu erweitern, denn sonst hätte mein eigenes Schreiben keinen Platz gefunden. Klar, womöglich ist es ziemlich seltsam, auf den Schultern einer großen Literaturgeschichte zu schreiben, die die meisten Leser*innen nicht kennen. Hier denke ich hauptsächlich an das akademische Milieu, Kritiker*innen etc. Gewöhnliche Leser*innen sind im Allgemeinen recht vertraut mit meinen Referenzen. Sie haben Tove Ditlevsen, Doris Lessing, Kirsten Thorup, Sylvia Plath usw. gelesen.

Einen Kanon anders zu denken, das heißt wohl auch, dass wir die Geschichte, die wir kennen, bloß erschaffen haben – und es viele alternative Geschichten gibt?

Ja. Ich fände es sinnlos, einen gültigen Kanon gegen einen neuen einzutauschen. Eher geht es darum, die Vorstellungen über ein bedeutsames Buch, über das Bild eines Menschen oder einer Wirklichkeit zu erweitern. In Meine Arbeit widersprechen viele der Kapitel einander. Ich wollte deutlich machen, dass ein Leben nicht nur eine einzige biographische Wahrheit hat. Um eine etwas schlappe Metapher zu bemühen, man könnte sagen, ich will keine Bücher aus dem Regal entfernen, sondern welche dazustellen. Außerdem meine ich, wir sollten uns einigen der unbequemen Diskussionen über unsere Klassiker hingeben, eben damit wir sie weiterhin lesen können.

In den letzten Jahren wurde in den Medien oft darüber diskutiert, die Literatur dänischer Autorinnen sei zu privat. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?

Als ich in die Kopenhagener Schreibschule ging, stieß ich mit dem, was man als „weibliche Erfahrung“ oder „Bekenntnisliteratur“ definieren könnte, auf recht heftigen Widerstand. Das empörte mich, tut es immer noch. Søren Ulrik Thomsen hat viele wunderbare Gedichte geschrieben, aber auch eines darüber, wie satt er die Frauen hat, die über ihr Leben als Frau schreiben. Bei so etwas – diesem herablassenden, jovial-heimeligen Tonfall – verliere ich komplett die Fassung. Einerseits wird man zwingend zur Frau gemacht, andererseits aber, wenn man versucht, diese Erfahrung zu verstehen, wird man gedemütigt. In Lars Frosts Roman Kongskilde NS5100 (2013) sagt der Protagonist, dass es Amalie Smith, Ida Marie Hede und Josefine Klougart an Temperament fehlt und er nicht versteht, was sie mit ihrer Literatur bezwecken. In einem Interview mit Vagant sagt Frost dann auch, dass die Literatur dieser Schriftstellerinnen in einem sterilen Raum spielt, in dem man gerade geputzt und die frischgewaschenen Barbiepuppen aus der Waschmaschine geholt hat. Das ist so dermaßen bekloppt frauenfeindlich. Just saying, ich würde ja gerne mal ein Buch lesen, das von nichts weiter handelt als von den frischgewaschenen Barbiepuppen eines jungen Mädchens.

Haben Sie eigene Erfahrungen mit Frauenfeindlichkeit gemacht?

Dass andere Frauen Misogynie ausgesetzt werden, entspricht auch meiner eigenen Erfahrung, denn sie werden aufgrund ihres Geschlechts angegriffen. Deshalb ist das ein Angriff auf alle Frauen, auch auf mich. In der Schreibschule verfasste ich einmal einen Text über eine Vergewaltigung, und ich erinnere mich, dass mein Mentor sagte: „Ich verstehe ja, dass viele einen Text über ein junges Mädchen lesen wollen, das mal einen dicken Schwanz abkriegt.“ Ich wurde wütend, auf ihn, aber auch auf das Mädchen im Text. Mühsam auf andere Stimmen der Literaturgeschichte hinzuweisen und sie anzupreisen, ist wohl mein Ausweg aus dieser vertrackten Situation. Oft höre ich das Argument, Frauen hätten nicht gut genug geschrieben, aber das ist eine Lüge. Wer glaubt, dass das längst der Vergangenheit angehört, soll bitte mal aufwachen. Noch im August trug die Buchbeilage der Zeitung Politiken die Schlagzeile „Die Frauen bleiben eben“. Man stelle sich vor, weibliches Schreiben sei eine erwähnenswerte Nachricht. Zwischen den Zeilen steht ja: Wann lassen sie’s bleiben?

Würden Sie meinen, es braucht Widerstand, um schreiben zu können?

Nein. Aber ich glaube auch nicht, dass es so etwas wie ein Leben ohne Widerstand überhaupt gibt. Allerdings gehe ich davon aus, dass einen zu viel Widerstand am Schreiben hindern kann. Ich habe es umgekehrt gemacht und Widerstand in einen Antrieb verwandelt.

Wieso? Würden Sie Ihre eigene Arbeit als einen Kampf beschreiben?

Nein, das will ich nicht. In meiner Arbeit möchte ich in erster Linie an einen Ort vordringen, von dem ich meine, dass es ihn gibt, um dann zu sagen, was es heißt, zu leben. Meine Arbeit stelle ich mir als Wechselwirkung zwischen Veränderung und Bewahrung vor. Mit dem Kampf als treibender Kraft kann ich mich nicht aussöhnen. Ich will ganz nah an der Literatur sein, an ihrer wunderbaren, transformativen Kraft. Im Haus der Literatur erzählen mir viele Werke und Ideen, dass ich dort nicht sein darf. Also muss ich um meinen Platz darin kämpfen.

Wollten Sie schon mal alles hinschmeißen?

Ich stand schon oft kurz davor, das Schreiben aufzugeben. Ich glaube, das ist eine grundlegende Erfahrung für Schriftsteller*innen. Finanziell ist es sehr schwer. Und es ist schwer, auf so viel Widerstand zu stoßen. Es ist schwer, nie Erfolg zu haben. Das Schreiben kann einen an Orte führen, an denen man nicht sein mag. Ich glaube, dass man immer ein Wagnis eingehen muss. Immer wieder klammere ich mich an das angenehme Gefühl, dass da etwas in mir ist, von dem ich selbst nichts weiß, oder dass das Schreiben seine eigene Show abzieht. Das ist wunderbar. Das wird niemals verschwinden.

Olga Ravn, geboren 1986, zählt zu den wichtigsten Autorinnen Dänemarks und ist neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin auch als Übersetzerin tätig, u. a. von Ann Jäderlund. Seit ihrem Lyrikdebüt im Jahr 2009 veröffentlichte sie drei weitere Gedichtbände; Den hvide rose (2015) erscheint demnächst unter dem Titel Rose werden in Übersetzung von Alexander Sitzmann im deutsch-dänischen Nord Verlag, der Roman De ansatte (2018) ist seit kurzem in Martin Aitkens englischer Fassung erhältlich (The Employees, Lolli Editions). Mit arbejde ist Ravns insgesamt dritter Roman.

 

Photo von Sharon McCutcheon

Der Pionier – ‘This American Life’ macht das Persönliche politisch [Podcast-Kolumne]

von Svenja Reiner

Ich bin mit der medial geprägten Vorstellung aufgewachsen, dass es sich bei den Tagen vor Weihnachten vor allem um eine romantische und besinnliche Zeit handelt. Glühwein, Weihnachtsmärkte und halb geöffnete Wintermäntel gehören zu den wichtigsten Accessoires einer guten Romcom, in der Schnee nur leise und vor allem so wohldosiert rieselt, dass keine Frisur zerstört und keine Mascara verwischt wird. Bis heute verfolge ich diese Filme mit großer Faszination, obwohl oder weil sie so fürchterlich wenig wie meine eigenen Feiertage aussehen. Der ästhetische Versuchsaufbau von Podcasts hingegen zielt ja eher auf das zynisch rationale Ohr denn auf das verliebte Auge, und folglich ist eine meiner Lieblingsfolgen von This American Life (TAL) die Nummer 47.: Christmas and Commerce.

Streng genommen ist TAL kein Podcast, sondern eine Radioshow, aber seit jeder Audiocontent, der ins Internet geladen wird, “Podcast” genannt wird, sehen wir das an dieser Stelle nicht so eng. TAL wird seit 1995 wöchentlich von Ira Glass gehostet und hat seitdem unglaubliche 619 Folgen produziert. Für seinen Storyjournalismus, mit dem TAL viele folgende Podcasts geprägt hat, wurden die Macher:innen mehrfach ausgezeichnet – zuletzt mit dem Pulitzer Prize, der zum ersten Mal an eine Radioshow oder einen Podcast vergeben wurde. Aus der TAL-Redaktion sind eine Reihe von weiteren erfolgreichen Podcaster:innen hervorgegangen, wie Sarah Koenig (Serial), Brian Reed (S-Town), Alex Blumberg (StartUp), Alix Spiegel (Invisibilia) und Jonathan Goldstein (Heavyweight). Lulu Wang schrieb ihre Story What You Don’t Know sogar in den erfolgreichen Kinofilm The Farewell um.

Obwohl der Titel Böses ahnen lässt, ist Christmas and Commerce keine trockene Konsumkritik am Ausverkauf von Weihnachten, sondern featured zwei der charmantesten und weirdesten Autoren, die als freie Mitarbeiter über viele Jahre Geschichten beigesteuert haben: David Rakoff und David Sedaris. David Sedaris ist in Deutschland spätestens seit der Veröffentlichung seiner Kurzgeschichtensammlung Calypso bekannt. In Santaland Diaries, der Nacherzählung seiner Weihnachtstage von 1986, etabliert er jenen humorvoll plauderigen, sarkastischen und sehr selbstironischen Ton, mit dem er seitdem tragische Geschichten aus seinem Leben erzählt. Zum Zeitpunkt der Erzählungist Sedaris 33 Jahre alt und nimmt den Job eines Weihnachtselfs im SantaLand der Kaufhauskette Macy’s an. Nach seiner ursprünglichen Vorstellung dieser Beschäftigung (“I told the interviewers that I wanted to be an elf because it was the most ridiculous thing I’d ever heard of”), stellt sich heraus, dass das ganze Unterfangen doch anstrengender und deprimierender ist als ursprünglich gedacht. In samtgrünen Elfhosen, zwischen riesigen Zuckerstangen und mechanisch tanzenden Pinguinen trifft Sedaris auf einen Reigen alltäglicher menschlicher Grausamkeiten: Sexistische Männer, rassistische Mütter, minderjährige Fisher Price-Models, entnervt schreiende und schlagende Eltern, Kinder, die sich verstorbene Familienangehörige zurückwünschen. 

Auch innerhalb des Weihnachtswunderlandcasts wird gelogen, betrogen, verletzt und gedemütigt. Die meisten Darsteller:innen sind junge Schauspieler:innen, die an den Broadway wollen, und die entsprechend verbittert darüber sind, Entrance Elf, Water Cooler Elf, Santa Elf oder Cash Register Elf spielen zu müssen. All diese Erlebnisse erzählt Sedaris tagebuchartig, so laid-back wie die E-Gitarre, die im Hintergrund klimpert, und macht gemeinsam mit der Santa Claus Is Comin’ to Town stolpernden Hammond Orgel ein realistisch New York zwischen all dem Kunstschnee sichtbar.

Eine andere Form der Begegnung macht der mittlerweile verstorbene David Rakoff, der viel nüchterner und schneller einsteigt: “I am the ghost of Christmas subconscious. I am the anti-Santa. I am Christmas Freud.” Rakoff verbringt die Tage vor Weihnachten ebenfalls in einem Verkaufsraum. Die New York Filialen von Barney’s verzichten auf klassische Dekorationen und widmen jedes ihrer Schaufenster einer historischen Persönlichkeit. Rakoff ist der einzige engagierte Schauspieler, und er spielt Sigmund Freud. Zunächst kommt er sich lächerlich vor, dann verschwimmen auch hier die Grenzen: Rakoff läd Freund:innen auf die Couch ein, mehr als eine Sitzung endet in Tränen. Das Schaufenster wird trotz Publikum weniger Aquarium als Versteck. Ist Rakoff, selbst Analysepatient, Therapeut geworden? Ist Freud der echte Weihnachtsmann? Gibt es wahre Intimität unter Aufsicht von Kaufhauskameras? Auch Rakoff trifft einen Kinderstar und bleibt nach dem zweireihigen Lächeln, den strahlenden Augen und der Intensität ihrer Worte zerrüttelt zurück. 

Vielleicht, so überlegt er zuletzt, liegen in den Liedern von Doris Day, Mae West oder Marlene Dietrich, mit denen das Kaufhaus die feierliche Zeit bespielt, die eigentliche Tragik. Heimliche Lieben, verlorene Geliebte, der Wunsch nach Verbundenheit mögen von Kritiker:innen nach wie vor als (zu) simple Themen oder vorhersehbare Plots belächelt werden. Trotzdem geben sie Einblicke in die unerreichbare Wunschvorstellungen vieler Menschen, in emotionale Bedürfnisse und die Tragik und Schwere von Einsamkeit.

Die musikalische Begleitung der Folge ist fantastisch: Neben der Auftragskomposition Christmas Freud Caroling von The Formerly Known As Family hören wir Sedaris, wie er Away in a Manger interpretiert “the way Billie Holiday might have sang if she had put out a Christmas album”. Wir hören verzerrte Stimmen, schiefe Tonlagen, dramatische Intonationen, die die erwarteten Christmas-Klassiker dehnen und biegen, bis sie endlich passen, denn: “Christmas is the time when everybody is who they normally are, but more so.”

Während Sedaris’ mit der Feststellung endet, dass Macy’s Weihnachtsland weder Kinderträume erfüllt noch das Weihnachtsmärchen wahr werden lässt, sondern einzig dazu da ist, elterlichen Vorstellung zu entsprechen, endet Rakoff ungleich sehnsüchtiger. Am Ende seiner Amtszeit sträubt es sich in ihm, das Schild abzunehmen. “I know this will pass, but for now I want nothing more than to continue to sit in my chair, someone on the couch, and to ask them, with real concern, ‘So tell me, how’s everything?’”.

 

Fetisch Kreativarbeit – Künstlerbiographien als Lebensratgeber

von Felix Lindner

 

Und wieder eine falsche Kuh. Also setzen sich die beiden Frauen, Gertrude Stein und Alice Toklas, noch einmal in den Ford und fahren weiter, bis zur nächsten Kuh. Steins Aufgabe ist es, zu schreiben, und sie schreibt am liebsten draußen, auf einem Campingstuhl, und zwischendurch, da braucht sie diese Aussicht. Und auch Alice Toklas hat eine Aufgabe: die Kuh zu finden, die zur Stimmung ihrer Freundin passt und sie in ihr Blickfeld bringen. Es ist oft die falsche. Ist eine gute Kuh gefunden, schreibt Stein manchmal, aber meistens, heißt es, meistens schaut sie einfach nur auf Kühe.

Das ist nur eine der 161 Miniaturen, die der Journalist Mason Currey schon vor ein paar Jahren in einem Büchlein zusammengestellt hat: Daily Rituals. How Artists Work heißt es und versammelt die Kreativroutinen der „Geistesgrößen der letzten 400 Jahre“. Darunter sind bekanntere und mittlerweile kanonisierte Anekdoten wie Kafkas Nachtarbeit mit Turnübung und Thomas Manns gestrenge Stundentaktung, weniger bekannte wie Stephen Kings tägliches 2000-Wort-Pensum und Prousts Schreibhaltung im Liegen – sowie den meisten wohl recht unbekannte wie die des Behavioristen B. F. Skinner, der seine Arbeitssessions mit einer Stoppuhr maß und dann auf einer Produktivitätskurve aus Wort- und Stundenzahl evaluierte. Die Angewohnheiten reichen von sympathisch – der Komponist und Möbelfetischist Morton Feldman meinte, wenn er endlich einen bequemen Stuhl fände, könne er es auch mit Mozart aufnehmen – über erwartungsgemäß sonderbar – John Cheever, der jeden Morgen im Anzug mit dem Fahrstuhl in den Lagerraum seines Hochhauses fuhr, um dort bis Mittag nur in Unterhosen zu schreiben – bis hin zur Tyrannei, wie bei Gustav Mahler, der seine Frau Alma eher aus Dekorationszwecken zu seinen stundenlangen Kreativspaziergängen mitnahm. Während er komponierte, hatte sie still zu sein und durfte ihn nicht ansehen.

Unter dem schrägen Titel Musenküsse erschien die Sammlung 2014 auch auf Deutsch, und das Feuilleton hatte viel Spaß damit. „Witzige“ und „amüsante“ Anekdoten und „Marotten“ „aus der wundersamen Welt“ der Künstler:innen hätte man da vor sich, die zeigten, „dass manche Klischees über Genies tatsächlich der Wahrheit entsprechen“, ja „[a]uch geniale Persönlichkeiten haben ihre Alltagsrituale“. Überhaupt sei das Buch, wie die Welt schrieb, „mehr als nur eine lustige Anekdotensammlung: Es ist die Aufforderung, den eigenen Lebensrhythmus zu analysieren.“ Der „Künstleralltag“, heißt es weiter, „inspiriert den Leser, seine eigenen Gewohnheiten zu ergründen und zu überdenken.“ Hier atmen wir kurz aus.

Dass das Buch als Ratgeber und nicht allein aus Arbeitsvoyeurismus rezipiert werden würde, scheint von Verlagsseite zumindest angenommen worden zu sein. Mason Currey jedenfalls fand sich bald in der Rolle des Kreativcoachs wieder, obwohl er doch nach eigener Aussage nur zeigen wollte, welche Verhaltensweisen zu „großartigen Werken“ geführt hätten.  Das ist alles harmlos, solange Künstler:innen nicht zu erfolgreichen Unternehmer:innen  gemacht werden und ihre Arbeitsweise zum Versprechen einer Produktivitätssteigerung. Dann nämlich werden gegenwärtige Imperative von Effizienz und Selbstunternehmertum von vermeintlich unschuldigen, weil künstlerisch wertvollen Vorlagen gestützt. Wer noch besser arbeitet, seinen Alltag noch nutzbringender kuratiert, scheint uns das Buch zu sagen, der wird auch erfolgreich sein. So wird nicht nur Disziplin zur Seinsaufgabe, sondern auch Prekarität als Lifestyle neutralisiert.

Diese Mischung aus scheinbar vorbildlichem Zeitmanagement und Schrullenhaftigkeit scheint hierzulande immerhin einen Nerv getroffen zu haben. Schon im nächsten Jahr erschien ein Folgebuch: Mehr Musenküsse, das unter Beteiligung des Journalisten Arno Frank speziell auf den deutschsprachigen Markt zugeschnitten wurde. Wir wissen nun, dass Sloterdijk zur Entspannung lange Fahrradtouren unternimmt, Handke bei Blockaden gerne Brombeeren sammelt und Scholl-Latour nie Mittag aß. Obendrein heißen sie alle drei auch Peter. Carl Gustav Jung schrieb zwei Stunden am Vormittag, Juli Zeh schreibt zwei am Tag, Franz Josef Wagner fängt um halb vier an und schickt seine Kakophonie einer Kolumne spätestens um sechs weg. Die Routinen sind sich auch im Folgeband allesamt schrecklich ähnlich und liefern Erkenntnis höchstens in der Summe.

Sieht man genauer hin, scheint man es hier mit einer noch recht jungen Art von Selbsthilfeliteratur zu tun zu haben, die Kreativität zum Maßstab gelungenen Alltagsmanagements erklärt. Der Wunsch nach dauerhafter kreativer “Transformation des Alltags“, heißt es in Andreas Reckwitz’ Die Erfindung der Kreativität, sei seit den 1990er-Jahren zu beobachten: Es gelte, einen „erfolgreichen kreativen Habitus“ anzulegen, sein „natürliche[s] Potenzial durch Arbeit an sich selbst zu realisieren“[1], und Künstler:innen stehen dabei Modell. Der Kurier fühlte sich durch die Musenküsse veranlasst, über den „perfekten Tagesablauf“ zu sinnieren und befand: „Nun, da mit dem 12-Stunden-Tag täglich bis zu vier Überstunden möglich sind, ist die Frage nach der optimalen Zeiteinteilung für maximale Produktivität aktueller denn je. […] Ob wir mit der Mehrarbeit jedoch dieselben Meisterleistungen wie Kafka schaffen, bleibt abzuwarten.“ Abgesehen davon, dass die Klientel dieses „Wir“ nur in einer gesellschaftlichen Schicht zu suchen ist, der Zeit überhaupt variabel zur Verfügung steht, erscheint es schlicht ignorant, den Lebensstil von schreibenden Junggesellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als sinnvolles Modell für heutige Arbeitnehmer:innen zu erklären. So nämlich werden ökonomische Strukturen zu individuellen Kompetenzfragen. Sagen Sie doch mal sorgearbeitenden Menschen, sie könnten ruhig ein wenig produktiver in ihrer Zeiteinteilung sein. Die machen das bereits. Kafka arbeitete übrigens halbtags.

Das führt zu einem weiteren Problem. Eher ungewollt zeigen diese Bände, wie viel Sorgearbeit von Frauen notwendig ist, die Wunschfigur des Kreativgenies überhaupt erst zu ermöglichen. Dass sich Sigmund Freud anscheinend sogar die Zahnpasta von seiner Frau Martha auftragen ließ, dass Mark Twain mit einem Horn von seiner Familie gerufen werden musste, steht in eklatantem Gegensatz zu Frauen wie Frances Trollope oder Sylvia Plath, deren Schreibarbeit oftmals um vier Uhr früh begann, um im Verlauf des Tages putzen, waschen und kochen zu können. Was bei den Männern inspirieren soll, das Künstlertum als role model, wirkt bei den Frauen in Anekdotenform allzu oft wie Hohn.

Wohl auch deshalb reagierte man im letzten Jahr mit einem dritten Band der Musenküsse, diesmal nur mit Künstlerinnen. „[G]leichermaßen Fortsetzung wie Korrektiv“ sollte er sein, und bis auf den Einband, bei dem man auf Birgit Nilssons Ausspruch „Mein kreatives Geheimnis sind bequeme Schuhe“ offenbar nicht verzichten konnte, scheint das auf den ersten Blick gelungen. Er sei nun „freier vorgegangen“, schreibt Currey, und habe auch Künstlerinnen porträtiert, „die keinem geregelten Tagesablauf folgten – entweder, weil sie sich diesen Luxus nicht leisten konnten, oder weil sie keinen Wert darauf legten“. 

Dass das Ganze trotzdem überhaupt nicht aufgeht, liegt an der Prämisse dieser Sammlungen. Sie sollen zur Nachahmung anregen, kreative Archetypen liefern, vielleicht sogar Vertrauen in die eigene Arbeit schaffen. Mit dem Fokus auf die Widerstände weiblichen Künstlertums zeigen die Porträts aber eigentlich nur das, was sie verbergen wollten: schreibende Mütter statt Schriftstellerinnen, malende Hausfrauen statt Malerinnen, ein großes „Trotzdem“, das emanzipativ sein will, aber nur den Status quo der Repressalien abbildet, die nicht nachgeahmt, sondern überwunden werden müssen. Es ist dieses „Trotzdem“, trotzdem schreiben, trotzdem malen, trotzdem singen, das nicht richtig passen mag und an die „Starke Frauen“-Kalender  erinnert. Das ist doppelt schade, weil es in der Sache wichtig, nur in der Form daneben ist.

Es ist die Form der Anekdotensammlung, der Miniaturen, die diese Bücher in ihrer Rezeption so problematisch macht. Das liegt zum einen daran, dass die Logik der Anekdote einen desaströsen Quellenumgang geradezu herausfordert. Currey unterscheidet wenig sorgsam zwischen Selbst- und Fremdaussagen. Gerüchte stehen neben Mutmaßungen und Briefstellen neben Biographien. Das lässt Künstler:innen gerade nicht zu Kreativexempeln werden, sondern zu mythischen Kreaturen, die im Stundentakt aus Kaffeepulver Gedichte pressen. Sammlungen als solche suggerieren obendrein, dass es hier so etwas wie Traditionslinien und Konstanten in den Unterschieden gibt, was bei dieser Bandbreite an Künstler:innen schon sozialgeschichtlich nicht der Fall sein kann.

Wer darstellen möchte, mit welchen Routinen, Störungen, Redundanzen und Kontingenzen Künstler:innen bei ihrer Arbeit konfrontiert werden, der muss den Blick auf die Bedingungen dieser Arbeit, nicht auf die Sache selbst lenken. Anekdoten aber machen diese Geschichte intransparent. Sie verwechseln Historie mit deren Wiedergabe, machen Zufälliges aus Notwendigem und aus einem ganzen Leben einen Satz. Sie machen unsichtbar, wie die Ränder künstlerischer Arbeit in deren Zentrum rücken, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, dass Männer abends turnen und Frauen morgens kochen. Kritik wird so unmöglich.

Wie man klug und sinnvoll darauf eingehen kann, zeigt die im November dieses Jahres erschienene und von Ilka Piepgras herausgegebene Sammlung Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben. Auch hier soll der „Entstehungsprozess literarischer Arbeit“ gezeigt werden, aber mit dem Unterschied, dass die Künstlerinnen hier ausschließlich selbst zu Wort kommen.  Es scheint fast so, als ob die vielen Mythen um geniale Männer gar nicht nötig wären, als ob der Klatsch nur zementieren würde, was man sich ohnehin schon gedacht hatte. Was die Texte von Terézia Mora, Zadie Smith, Antonia Baum oder Elfriede Jelinek den Anekdotenplaudereien von Curreys Sammlungen voraushaben, ist, dass sie etwas zeigen können, was der „Veröffentlichung eines Kunstwerks lange voraus[geht]“: die Vorurteile, die öffentliche Wahrnehmung, die sozialen Investitionen und institutionellen Widerstände, denen schreibende Frauen noch immer ausgesetzt sind. Diese Selbstaussagen erzählen von der Schwierigkeit und auch vom Glück, zu schreiben. Solch Geschichte hätte Currey auch an Männern zeigen können. Nur Anekdoten reichen dafür nicht.

Neben historischer Arbeit braucht das Kreativitätsparadigma dieser Bücher deshalb vor allem eins: Sensibilität. Das Bewusstsein dafür, dass man es in diesen Miniaturen weder aufseiten der Künstler:innen noch aufseiten der Leser:innen mit Luxusproblemen oder Privatsachen zu tun hat, sondern mit Geschlechter- und mit Wirtschaftspolitik, mit Sozial- und Institutionengeschichte. Wo das am wenigsten auffällt, ist es, wie so oft, am wirkungsvollsten – und man sieht am Ende nur die Kuh, aber nicht, wer sie dort hingeschoben hat.  

 

[1] Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012, S. 230, S. 323 sowie S. 346.

 

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Ein geheimer Garten / Ein vergrößertes Zimmer

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein geheimer Garten

von Fernanda Melchor (übersetzt von Angelica Ammar)

 

Ich zog in diese Wohnung wegen des Gartens gegenüber. Die Nähe zum Stadtzentrum von Puebla, die drei großen hellen Zimmer, die günstige Miete, all das vergaß ich, als ich zum ersten Mal aus dem Wohnzimmerfenster sah und vier Stockwerke weiter unten, auf der anderen Seite einer engen Gasse, einen von Mauern umgebenen, einsamen wilden Garten entdeckte, dessen Avocadobäume, Mispelbäume, Pfirsichbäume und rosa Engelstrompeten sich im kupferfarbenen Licht der Dämmerung wiegten. Ich nehme sie, sagte ich zum Vermieter, noch ehe er mir den Rest der Wohnung gezeigt hatte. Die Rohre waren in einem schlechten Zustand, die Schlafzimmerwände hätten dringend etwas Farbe gebrauchen können, doch all das war mir egal. Gebannt schaute ich auf den Garten gegenüber. Ich hatte das Gefühl, es sei das Zeichen, auf das ich gewartet hatte, das Zeichen, dass es richtig war, aus dem Haus auszuziehen, in dem ich fast ein Jahrzehnt lang Mutter, Gattin, Hausfrau, Chauffeur, Sklavin und manchmal, gelegentlich, frühmorgens am Esstisch, wenn alle noch schliefen, Schriftstellerin gewesen war.

Fernanda Melchor (©Literatura Random House)

Es war eine turbulente, beklemmende Zeit. Ich war so am Boden zerstört, dass ich die Tage ohnmächtig an mir vorbeiziehen ließ. Nach dem Umzug weigerte ich mich monatelang, einen Kühlschrank zu kaufen, so überzeugt war ich, dass ich ihn nicht brauchte. Nachmittags füllte ich an einem kleinen Tisch, den meine beste Freundin mir geliehen hatte, die Seiten meines Tagebuchs, schaute auf die nackten Wände meiner neuen Bleibe und die einstaubenden Bücherkartons. Jetzt hatte ich alle Zeit der Welt, um zu schreiben, doch ich war wie gelähmt und dachte nur an das, was ich zurückgelassen hatte: die Familie, die ich mir so sehnlich gewünscht hatte, die Tochter, die ich zu meiner gemacht hatte, weil sie eine Mutter und ich dringend einen Sinn im Leben brauchte. Und abends, wenn Krähenschwärme über den Stadthimmel zogen und die Lichter der Kirchen auf dem Hügel von San Juan angingen, stand ich von meinem Tisch auf, öffnete die Läden und dachte, dass meine kleine Tochter dort drüben, auf der anderen Seite der Stadt, allein duschte und zu Abend aß, und niemand hörte, wie sie sich im Bett laut vorlas, eine einsame Schneeleopardin im Pyjama, und ich blickte zu dem Grundstück gegenüber und stellte mir vor, dieser ummauerte, für die vorbeihastenden Passanten völlig uneinsichtige Garten gehöre mir, nur mir; es sei der Wirklichkeit gewordene geheime Garten, den ich all die Jahre lang versteckt hatte hegen müssen, um weiter schreiben zu können, ungeachtet der Verpflichtungen des Erwachsenenlebens, des fordernden Elterndaseins, der Bitterkeit einer zerrütteten Beziehung, der erdrückenden Schuld, die es mir immer noch bereitete, dieses unverständliche Bedürfnis zu haben, für mich allein zu sein und in diesem Hortus conclusus mit meinen Alter Egos zu spielen, unerreichbar für die Welt, unangreifbar für grausame Worte oder nicht gehaltene Versprechen.

Und so sah ich aus dem Fenster, bis es dunkel war, und nach und nach gelang es mir, mich zu überzeugen, dass der Schmerz ein Ende haben, dass er nachlassen würde, wie ein wild klopfendes Herz sich langsam beruhigt, wenn der Albtraum vorbei ist. Eine eigene Wohnung und ein geheimer Garten und Zeit; das war alles, was ich brauchte, sagte ich mir.

 

Ein vergrößertes Zimmer

von Guadalupe Nettel (übersetzt von Carola Fischer)

 

Virginia Woolf war eine der ersten Feministinnen, die ich gelesen habe, und zweifellos ist sie es, die ich immer wieder lese. Ihr Essay Ein Zimmer für sich allein beschreibt mit  schmerzlicher Deutlichkeit die größten Hindernisse, die einer Frau im Wege stehen, nicht nur, wenn sie eine literarische Karriere und gesellschaftliche Anerkennung anstrebt, sondern auch, was so elementare Dinge wie die Kreativität (die gewöhnlich den entspannten Geist aufsucht) oder die Konzentration anbelangt. Ich glaube, dass die Beobachtungen von Virginia Woolf – obwohl sich die Gesellschaft in punkto Gleichberechtigung der Geschlechter weiterentwickelt hat – auch heute noch gültig sind: Eine Frau, die sich auf künstlerischem oder intellektuellem Gebiet entfalten möchte, muss finanziell unabhängig sein, über einen eigenen Raum verfügen, wo sie sich einschließen kann, um zu lesen und zu schreiben, aber auch über eine – wenn auch begrenzte – Zeit, in der niemand etwas anderes von ihr verlangt. Virginia Woolf sprach vom schrecklichen „Haushaltsengel“, damit meinte sie die gesellschaftliche Forderung, dass Frauen sich um die gesamte Kindererziehung kümmern, Alte und Kranke pflegen und selbstverständlich auch alle Hausarbeiten erledigen, eine Forderung, die uns introjiziert wurde, so sehr, dass wir sie häufig als unsere eigene betrachten, anstatt als das, was sie ist: ein ständiger gesellschaftlicher Zwang. Es ist unbestreitbar, dass wir, was Arbeitsrechte und Chancen angeht, große Fortschritte gemacht haben, aber es ist auch wahr, dass die von uns erlangte finanzielle Unabhängigkeit einen doppelten Arbeitstag bedeutet: Wir arbeiten, um Geld zu verdienen – die Glücklichen unter uns verdienen es mit dem Schreiben oder einer anderen selbst gewählten Tätigkeit –, aber es wird immer noch von uns verlangt, schlimmer noch, wir verlangen von uns selbst, dass wir an der Spitze von Familie und Haushalt stehen. Wenn darüber hinaus unsere Kinder zu klein sind, um zu lernen, wenn sie krank sind oder aus irgendeinem Grund nicht in die Schule gehen können, wird der Tag zur Dreifach-Belastung. Dieser Haushaltsengel ähnelt sehr dem, was die Feministinnen der sechziger Jahre „die mentale Last – mental load“ nannten, nämlich die ständige Sorge um das Wohlergehen der Familie: von der Einkaufsliste über die Impfungen der Kinder bis hin zu den Geburtstagsfesten.

Guadelupe Nettel (©Archivo CNL-INBA)

Jede Frau, die es mal versucht hat, weiß, dass man unmöglich einen Text schreiben kann, ohne sich zu konzentrieren. Manchmal wird man das nur vollbringen, wenn man aus dem Haus flieht. Mal ins Grüne, mal in einen geborgten Raum, wo über mehrere Tage hinweg der Computer oder eine Freundin, die wie wir vor den engelhaften Wesen flüchtet, unsere einzige Gesellschaft sind. Einige Kolleginnen haben mir gestanden, dass sie, um ein Buch zu Ende zu schreiben, ihre Schlafenszeit auf ein Minimum (drei oder vier Stunden pro Nacht) reduziert und dadurch ihre körperliche und seelische Gesundheit gefährdet haben. Somit ist jedes Buch, das eine Frau zu Ende schreibt – unabhängig von seiner literarischen Qualität – eine Heldentat, ein Akt der Auflehnung, ein Sieg über die Ausbeutung durch die anderen und die selbst auferlegte. Und das erklärt auch, warum diese Bücher häufig so überraschend, bedeutend sind, so voller Leben, Kenner des Schmerzes, der der conditio humana innewohnt.

Was, außer einem Zimmer für sich allein, braucht eine Frau noch, um schreiben zu können? Häuser für Schriftstellerinnen, wo wir uns nicht nur einmal in zehn Jahren, sondern täglich aufhalten können, wo man uns mit Kindern aufnimmt und diese mehrere Stunden am Tag betreut, Partner, die sich der geschlechtsspezifischen Ungleichheit bewusst sind, die uns nicht nur „bei unseren Pflichten helfen“, sondern die wie wir die Verantwortung für ihren Teil der Erziehung, der Betreuung, des Haushalts übernehmen, also für jene unbezahlte Arbeit, die gemeinhin übersehen wird. Wir brauchen ein Netz an Freunden und größere Familiengruppen, „Familienkollektive“, wie sie von einigen genannt werden, aber auch Arbeitskollektive, wo eine Solidarität unter Frauen gelebt wird, anstatt dass wir das Konkurrenzmodell unserer männlichen Kollegen wiederholen. Wir brauchen Verleger, die die Artikel von Frauen mit gerechten Honoraren und die Bücher von Autorinnen mit angemessener statt „symbolischer“ Bezahlung vergüten, und zwar im Moment der Veröffentlichung und nicht erst Monate später. Wir brauchen Buchmessen und Literaturfestivals mit Gender-Perspektive, wo unsere Bücher genauso sichtbar sind wie die von Männern verfassten.

Wir brauchen Regierungen, die sich des Werts der Kunst und der Kultur bewusst sind, die Stipendien und andere Fördermittel egalitär vergeben. Ich bin überzeugt, dass diese Notwendigkeiten früher oder später anerkannte Rechte sein werden, aber damit es soweit kommt, ist es unerlässlich, dass wir sie weiterhin mit derselben Hartnäckigkeit einfordern, mit der unsere Vorgängerinnen das Wahlrecht oder den Zugang zu den Universitäten durchsetzten, und ebenso mit derselben wilden Entschlossenheit, mit der Virginia Woolf ihre Arbeit vor allen anderen, auch vor sich selbst, verteidigte.

 

In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.

 

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Just a room of one’s own? – Schreiben hinter verschlossenen Türen

von Isabelle Lehn
(Ein Essay aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

 

Warum siehst du so ernst aus, auf deinen Autorenfotos? Hat der Verlag dich so inszeniert? Die Frage eines Studenten beschäftigt mich. In Wirklichkeit wirkst du viel lässiger! Ich muss lachen, weil er mich für lässig hält. Nein, sage ich. Der Verlag hat damit nichts zu tun. Ich allein bin für meine Bilder verantwortlich.

Warum sehen mir meine Fotos nicht ähnlich? Wäre es nicht schöner, ein lässiger Anblick zu sein? Vielleicht, antworte ich, werde ich einfach nicht gern fotografiert. Ich gebe nicht gern ein Bild ab, das mit mir verwechselt wird. Und ich werde nicht gern mit meiner Arbeit verwechselt. Ich will nicht die Frau mit den Lippen sein, die man mit einem Reh verwechselt. Alles schon vorgekommen. Ein Bambi, das für Bambis schreibt. Ich könnte lässiger aussehen, ja. Aber niemand soll denken, dass ich zu lässig denke.

Übertreibe ich ein bisschen? Ein Bild von sich abgeben. Sich einem fremden Blick überlassen, in dem man sich nicht wiedererkennt. Lieber will ich nicht sichtbar sein. Ein Bild ohne Eigenschaften, undurchlässig und schweigsam, in abweisende Farben gekleidet. Ob mein letzter Roman, der vom Scheitern eines ernstzunehmenden Lebens handelt, von seiner Autorin erzählt? Ich will ein Bild, das keine Antworten liefert.

Als Kind stellte ich mir manchmal vor, dass man mich still beobachten könnte. Heimlich, mit versteckter Kamera. Man würde sehen, wie ich wirklich war, wenn ich mich unbeobachtet fühlte: klug und witzig, lässig und wunderbar. Was für ein tolles Kind!, würde man sagen, wenn man mich endlich erkannte. Ich war ein Kind fürs dunkle Zimmer. Für die Freiheit der Einsamkeit, die Unzudringlichkeit von Schallplatten, Büchern und Hörspielkassetten, die keine Notiz von mir nahmen. Ich beobachtete, was im Fernsehen geschah. Der Fernseher sah nie zurück, er beschwerte sich nicht, dass ich starrte. Ich war glücklich, wenn man mich in meinem Zimmer vergaß.

Das Bild, das ich draußen abgab, war allerdings völlig unbrauchbar. In Gesellschaft verwandelte ich mich in ein seltsames Kind. Ich wurde still und ernst, wütend und sprachlos, weil es mir nicht gelang, den room of my own zu verlassen. Ich war wütend auf die Welt, ihre erwartungsvollen Blicke, die laut nach mir greifenden Stimmen, die dieses Kind aus mir machten.

Dass ich meinen letzten Roman schrieb, ist vielleicht auch dem Wunsch dieses Kindes geschuldet. Ein Bild abgeben, das an Ehrlichkeit grenzt, ganz egal wie fiktiv oder real es ist. Wie lebt es sich im room of one’s own, wenn man sich unbeobachtet fühlt? Was spielt sich hinter verschlossenen Türen ab?

Solange mein Zimmer nur mir gehörte, hatte ich kein Geheimnis vor mir. Ich schrieb vor mich hin und machte mir weiß, den room of my own nicht verlassen zu müssen: Niemand wird lesen, was du hier schreibst! Schreib, was du willst! In deinem Zimmer bist du sicher und frei.

Natürlich ahnte ich, dass ich mein Versprechen nicht halten würde. Ich war dabei, mir Gäste in dieses Zimmer zu laden. Mir gefiel, was ich schrieb. Es war gut und witzig, lässig und wunderbar, und wer war ich, es der Welt vorzuenthalten? Die Autorin in mir würde zu eitel sein, diesen Text nicht zu publizieren. Ich wusste es längst. Was ich hier tat, war eine große Schamlosigkeit.

Virginia Woolf sprach von der Notwendigkeit für schreibende Frauen, einen room of one’s own zum Rückzug in die Stille zu haben. Aber sie sprach auch von der Notwendigkeit, diesen eigenen Raum wieder zu verlassen. In ihrem Vortrag Berufe für Frauen aus dem Jahr 1929 benannte sie die „zwei Proben der Schriftstellerin“: Die schreibende Frau müsse die Wahrheit über ihre Erfahrung als Körper schreiben. Und „den Engel im Hause töten“, der von ihr erwartet wird.

Beide Proben handeln von der Überwindung der Scham: Der Engel im Hause muss abgelegt werden, denn er würde sich niemals schamlos verhalten. Er wäre niemals so schamlos, schreibend das Wort zu ergreifen und zu glauben, dass er etwas zu sagen hat. Er würde niemals über sich selbst und den eigenen Körper schreiben. Er würde das Haus nicht verlassen, um seine Gedanken mit anderen zu teilen. Und er würde niemals Gäste hereinbitten, wenn er nicht aufgeräumt hat. Vor allem aber würde er eins nicht: wahrhaftig schreiben.

Konnte es sein, fragte ich mich, dass auch wir an diesen Proben noch scheiterten, knapp einhundert Jahre, nachdem Virginia Woolf sie aufgezeigt hatte? Konnte es sein, dass auch ich noch immer davor zurückschreckte, ohne Scham zu berichten, dass kein Engel in meinem room of one’s own hauste, sondern eine Frau mit Fehlern und Schwächen, deren Körper ihr manchmal zu schaffen machte? Das bin nicht ich!, wollte ich jedem Satz anheften. Das bin doch ich!, schrieb ich stattdessen, Ausrufezeichen. Was ein Mann kann, das konnte ich schon lange. Oder etwa nicht?

Also gab ich dieser Frau meinen Namen. Unter meinem Namen ließ ich sie durch das Chaos führen, das sie im room of her own kuratierte. Ich ließ sie die Fenster öffnen, den Gestank herauslassen, in dem sie vegetierte, und den Müll ausstellen, den sie über die Jahre gesammelt hatte: Ihre gärende Angst vor Versagen, die Sehnsüchte, die unter ihrem Bett verfault waren, den Schmutz der Gedanken und das klebrige Selbstmitleid, die unaufgeräumte Wut, die Reste der Jugend und das Übermaß an Körperlichkeit, den gekippten Stapel aus zu hoch aufgetürmten Erwartungen. Manches davon erkannte ich wieder.

Als der Roman 2019 unter dem Titel „Frühlingserwachen“ erschien, rief er Erstaunen hervor: Mit welcher „Direktheit, Frechheit, Unverschämtheit im Wortsinne – also ohne Scham“ eine weibliche Stimme hier von sich selbst erzählte. Da waren sie also, die Proben der Schriftstellerin, denn meine Bereitschaft, mich ihnen zu stellen, löste noch immer Verwunderung aus. Es sei die „Ausräumung aller Geheimnisse, die Lüftung auch der staubigsten Ecken einer menschlichen Existenz“, fasste eine Kritikerin ihren Eindruck zusammen. Sie schien noch unentschieden, ob das wirklich notwendig war: seinen Dreck mit aller Welt teilen zu müssen.

Ich weiß nicht, ob es notwendig war. Aber dann erhielt ich Emails wie diese: „Danke für das wunderbar tröstliche, komische und abgrundtief wahre ›Frühlingserwachen‹. Danke, Danke, Danke. Es tut gut zu wissen, dass offenbar auch andere solch eine Art Leben führen. Und sei es auch nur eine fiktive Personage. Mir doch egal. Es hilft.“

Der Engel im Hause ist einsam. Er erstickt an seiner Wut, seiner Scham, dem schlechten Geruch des Versagens. Es tut gut, manchmal die Fenster zu öffnen und den room of one’s own kräftig durchzulüften. Ist das schamlos, eitel oder eine Provokation, von der Vermessung einer Welt zu erzählen, die sich innerhalb meines Lebens befindet und nicht in der Vergangenheit liegt? Ist es schamlos, wenn ich daran glauben will, dass diese Welt, die nicht von bedeutsamen Männern bevölkert wird, sondern von einer banalen Frau, anderen zumutbar und (vielleicht noch vermessener) sogar literaturfähig ist?

Mir doch egal. Es hilft.

Da ist dieser Wunsch, alle Räume eines Lebens bewohnen zu dürfen. Ich will kein Zimmer mehr verschließen müssen und vor der Welt im Geheimen halten, alle Fenster öffnen, die Türen einschlagen. Ich will mit der Axt schreiben, den Engel im Hause entleiben. Die Schriftstellerin ist frei von seiner Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Ihre Probe aber ist harte Splatter-Arbeit.

 

 

Isabelle Lehn (©Sascha Kokot)

In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.

 

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World Beyond – Yolo oder das Ende der Welt

von Katharina Hartwell

 

2020, das Jahr der Lockdowns und unfreiwilligen Heimurlaube, stellte viele vor Herausforderungen, so auch die Streaming-Dienste. Im März 2020 während des ersten strengen Lockdowns sah der Anbieter Netflix sich gar genötigt, die eigene Streamingqualität zu drosseln, um der erhöhten Nachfrage gerecht zu werden. Allerdings sind exzessives Bingen und nicht ganz unberechtigte Eskapismusgelüste wohl nicht vordergründig die Nebenwirkung eines globalen Virus, sondern ein allgemeineres Symptom der Zeit und Gesellschaft, in der wir leben. Fest steht: Streaming-Dienste wie Netflix, Amazon und Sky müssen liefern, und zwar am besten Serien, die uns gleich mehrere Stunden in ferne Galaxien, Paralleluniversen oder vergangene Epochen katapultieren. Bei der Suche nach überzeugenden – also quotenreichen – Geschichten hat sich das Spin-off als Strategie bewährt, und das, obwohl die wahren Erfolgsgeschichten bisher eher ausbleiben.

Je größer der Erfolg der Originalserie, umso größer scheinen der Druck, die Hoffnungen und Erwartungen für den parasitären Nachkommen. So zeigt es sich gerade eindrucksvoll beim einstigen Quotenwunder Game of Thrones. Über die, freundlich gesprochen, ambivalent rezipierte finale Staffel ließe sich ein eigener Text schreiben, an dieser Stelle soll nur kurz auf das dramatische Ringen um einen würdigen Nachfolger verwiesen werden. Gleich mehrere Spin-Offs hatte HBO bereits in Auftrag gegeben, noch bevor sich das vorläufige Schicksal Westeros’ im pompösen Serienfinale entschied. Ein Prequel mit Naomi Watts preschte immerhin bis zum abgedrehten Piloten voran, wurde dann aber vom Sender gecancelt. Nachdem sich über eine Millionen aufgebrachte Fans digital zusammengerottet hatten, um per Petition nach einem Neudreh der letzten Staffel zu verlangen (dieses Mal unter kompetenter Leitung!), wollte man sich bei HBO wohl keinen weiteren Fehltritt leisten.

Weitaus entscheidungsfreudiger ging es da beim Konkurrenzsender AMC zu, sodass wir im apokalyptisch anmutenden Jahr 2020 treffsicher mit einem weiteren Spin-Off des langlebigen Zombiespektakels The Walking Dead beglückt werden.

Auch hier steht einiges auf dem Spiel. Eine millionenfach unterschriebene Petition dräut zwar nicht am Horizont, doch auch auf Walking Dead – World Beyond lastet ein gewisser Erwartungsdruck, denn die dümpelnde Quoten der Ursprungsserie lassen diese ähnlich lebendig wie ihre untoten Antagonist*innen erscheinen. Die nervenzerreißende Spannung der ersten Staffeln ist bei vielen Zuschauer*innen längst müdem Ekel gewichen. Nun scheint fraglich, ob es nach Fear the Walking Dead aus dem Jahre 2015 ein weiterer Ableger wird richten können.

Ein erster Blick auf den Trailer von World Beyond legt zumindest eine gewisse Strategie nahe: Im Walking Dead-Imperium soll für jeden etwas dabei sein! Zombies in allen Geschmacksrichtungen. World Beyond schlägt also einen grundsätzlich anderen Ton an als die Originalserie, der man vieles vorwerfen kann, aber keinen befremdlichen Feelgood-Charakter. Der Cast in World Beyond ist auffällig jung, der Ton eher dramatisch als rau. High School oder vielleicht College, denkt man, erste Liebe, Pubertät. Die vereinzelt herumtorkelnden Zombies wirken wie Fremdkörper.

Aber World Beyond möchte nicht bloß ein paar launige Coming-of-Age-Geschichten erzählen, und daran lässt schon der Trailer keinen Zweifel. Gesellschaftsrelevant geht es zu in dieser besonderen Zombieapokalypse. Man wendet sich hier an und berichtet gleichzeitig von Generation Z, einer Generation junger Menschen, Erb*innen des Anthropozäns, Bewohner*innen einer real prekären Welt, die sich in diesem Jahr ganz besonders in Endzeitstimmung befindet. In jedem Fall ist die Apokalypse (ob nun durch Zombies, den Klimanotstand oder ein Virus) für die Generation Z ein sehr viel weniger abstrakteres Konzept als noch für die Generation vor ihr. 

Der Anspruch, die Zombie-Apokalypse neu zu erzählen, ist zunächst ein löblicher. Hier ist das Potenzial, jene ernst zu nehmen, die sich der Rebellion gegen die eigene Auslöschung anschließen oder Freitag um Freitag für mehr Zukunft demonstrieren. Man kann davon ausgehen, dass sich diese potentiellen Zuschauer*innen einen reflektierten Umgang mit Fragen nach Zukunft, dem Planeten, Gesellschaft und Überleben, Verantwortung und dem Menschsein wünschen. Man mag gleichzeitig bezweifeln, dass sie in erster Linie nach Action, Torture Porn und überholten Geschlechterbildern lechzen. World Beyond versucht auch gar nicht erst, es ihnen anzudrehen.

Man scheint sich dezidiert an die politisch interessierten Erb*innen der Millennials zu wenden. Kaum eine Szene, in der nicht irgendwer schreit: „We are the future!“ Oder: „We will fight for the future!“ Oder: „I live for the future!“ Auch ein flüchtiger Blick auf die Protagonist*innen zeigt, dass die Serienmacher*innen zumindest oberflächliche Marker gesetzt haben, um uns wissen zu lassen: Diese Serie erzählt im Hier und Jetzt und für eine neue Generation. Im Zentrum stehen die beiden Schwestern Iris und Hope, beide PoC, beide toughe, selbstständige Mädchen, deren Stärke sich auf unterschiedliche Weise ausdrückt. Hope ist die anarchisch Wilde, die heimlich Alkohol brennt, sich im Laderaum eines Busses aus der gesicherten Kolonie schmuggelt und ihren Glauben an die Zukunft aufgegeben hat.

Ihre Schwester Iris wird als „Madam President“ eingeführt, tatsächlich ist sie die Präsidentin der Schülervertretung in der sogenannten Campus Kolonie. Nicht ganz unwichtig vielleicht, dass die Serie ihren Lauf in einem quasi akademischen Milieu beginnt. Von Soldat*innen vor der roughen Realität jenseits der Campus Kolonie behütet, hat Feingeist Iris mit Zombies zunächst noch nicht allzu viel am Hut. Sie zieht es vor, Plakate mit aufbauenden Botschaften zu malen, sich im politischen und gesellschaftlichen Leben der Campus Kolonie einzubringen, voller Idealismus zu ihren MitschülerInnen zu sprechen und Reden über die Zukunft zu halten.

Im Walking Dead-Universum allerdings gilt: Reden ist Silber, Zombies töten Gold. Durch ein längeres Gespräch zwischen Iris und ihrer Therapeutin Dr. K., einer an die Sauerstoffflasche angeschlossenen Boomerin in den letzten qualvollen Atemzügen, erfahren wir, dass Iris sich mit ihren Plakaten und Reden auf dem Holzweg befindet. Hier scheinen Dr. K., der altersklugen Repräsentantin einer welterfahreneren Generation, Weisheiten in den Mund gelegt, die zentral für World Beyond sind. In dem wohl entscheidendsten Satz der Therapiestunde mahnt Dr. K.: „Your head is so far up the future’s ass, you’ve completely abandoned the now!“ Es sei schön und gut, über den Wiederaufbau der Gesellschaft in dieser neuen postapokalyptischen Welt nachzudenken, doch statt sich weiter für die Bewohner der Campus Kolonie aufzuopfern, solle Iris sich lieber auch um sich selbst kümmern. Malen! Auf Dates gehen! Einfach die Seele baumeln lassen.

Nach Dr. K.s Tod kurze Zeit später muss Iris einsehen, dass die Therapeutin ihr zu recht den Kopf gewaschen hat. Schluss mit dem Aktivismus, Schluss mit Plakaten und vertrauensvollen Gesprächen mit den Schüler*innen der Campus Kolonie. Iris zieht es nun hinaus, ins Zombieland, wo sie kurz vor Ende der ersten Folge endlich einem Zombie gegenüber tritt. Die selbst gebastelte Machete in der Hand, einen euphorischer Ausdruck im Gesicht wendet sie sich scheinbar an uns Zuschauer*innen und erklärt: „[…] I’m finally living for me in the now. Searching for my own truth […] It feels good.“

Im Jetzt zu leben und sich gut zu fühlen, ist erstmal das Wichtigste – ob Iris’ Suche nach ihrem Vater, der von der geheimnisvollen Civic Republic gefangen gehalten wird, nun irgendwo hin führt oder nicht, ist sekundär. Es geht vielmehr darum, zu erkennen, dass Zombies töten ein Empowerment- und Feelgood-Moment sein kann. Ein wenig überraschend offenbart sich World Beyonds eigentliche Botschaft: Es geht um Selfcare! Und so lässt sich das vorherrschende Sentiment der gefühlvollen Zombieserie gut mit einem Akronym beschreiben, das ähnlich überholt wie die Serie selbst scheint: Yolo! Oder wie die weise Dr. K sagt: „You don’t want to end up in my position and realise you haven’t used the years for yourself.“ Kein größerer Schrecken als der, am Ende seines Lebens plötzlich festzustellen, dass man nicht primär für sich gelebt hat.

Ist die Zielgruppe der Serie also etwa doch nicht jene aktivistische Generation Z, sondern all die traurigen Millennials, die vielleicht auch lieber einen Malkurs belegen oder Zombies töten würden, statt immer nur über die Klimakatastrophe, amerikanische Politik, Politik überhaupt, strukturellen Rassismus und Sexismus oder den Corona-Virus nachzudenken? Dummerweise sind gerade jene Millennials aber, die sich für mutmachenden Botschaften und einen allgemeinen Feelgood-Vibe erwärmen, tatsächlich eher im Malkurs oder lesen Eckhart Tolle, statt eine Serie, in der es doch vorgeblich um Zombiegemetzel gehen soll, zu bingen.

Wer also einigermaßen erzürnt vor dem Bildschirm sitzt, sind die Stammzuschauer*innen der ursprünglichen Walking Dead-Serie, angelockt allein durch die namentliche Anbindung von World Beyond an das Walking Dead-Universum und das Versprechen von Mooszombies. Groß ihr Unmut, wenn sie schließlich feststellen, dass World Beyond ungefähr so spannend ist wie ein ASMR Video.

Dass es AMC spektakulär misslungen ist, den Erwartungsspagat zu meistern, zeigen die diversen aufgebrachten Amazon-Rezensionen (die Serie läuft aktuell nur dort), die aus gleich mehreren Gründen mindestens so spannend sind wie ihr Referenztext. Die Gesamtwertung bezieht sich zurzeit (Stand Oktober 2020) auf zwei von fünf Sternen. Einen ersten Einblick in die kollektive Unzufriedenheit liefert die am höchsten bewertete schlecht bewertende Rezension (!) von Smackx mit dem unheilkündenden Titel: „Eine recht FEMINISTISCH wirkende Welt …“

 Zum Glück für uns Leser*innen mit eher begrenzter Aufmerksamkeitsspanne verrät uns Smackx gleich in der Überschrift den wahren Schrecken von World Beyond. Nicht Zombies, sondern „recht FEMINISTISCHE“ Protagonist*innen werden uns kalte Schauer den Rücken herunterjagen: „Starke, taffe dargestellte Frauen in Führungsrollen und eine verweichlichte, sich unterordnende Männerwelt, also wenn das nicht feministisch wirkend ist, was dann?“, fragt Smackx hier ganz kontemplativ.

Bemerkenswert ist, dass die Kritik sich auf einen Klischee-Vorwurf stützt (durchaus berechtigt, World Beyonds Figuren sind unterkomplex und überzeichnet), während sie selbst in eben diesem klischeehaften und genderstereotypischen Denken verhaftet bleibt. Die Männer sind „verweiblicht“, weil „verweichlicht“, „feminin“ weil „ängstlich“. Ein weiterer Rezensent mutmaßt gar, ihnen sei „das Testosteron ausgegangen“.

Auch von der gefürchteten „politischen Korrektheit“ ist in den aufgebrachten Rezensionen oft die Rede. Diese wird wohl primär an den beiden Hauptfiguren Iris und Hope (beide PoC), dem vorwiegend weiblichen Cast und dem schwulen Soldaten Felix (dessen frappierende Ähnlichkeit zu Walking Deads Rick Grimes das vielleicht Bemerkenswerteste an der ganzen Serie ist) festgemacht. Hier findet nun eine bedauerliche Überlappung von gesellschaftlicher, politischer Haltung und narrativer Qualität statt: Der Umstand, dass feministisch, „politisch korrekt“ erzählt wird, gilt als Beweis für die mangelnde Qualität der Serie. Tatsächlich bedingt sich diese aber bloß narrativ und strukturell. Die Figuren sind Typen, die Dialoge flach. Das hat aber nichts mit politischer Korrektheit zu tun. Auch ein schwuler Soldat, eine Schwarze Schulsprecherin, ein nerdiger Junge im Cordanzug kann und sollte komplex gezeichnet und erzählt sein. Auch diese Figuren kann man als Serienmacher*in überraschend agieren und sprechen lassen. Die Entscheidung, dies nicht zu tun, sondern in Karikaturen verhaftet zu bleiben, hat nichts mit „politischer Korrektheit“ und viel mit einem Unverständnis für ebenjene Individuen und Gruppen zu tun, die hier vorgeblich porträtiert werden sollen.

Eindrucksvoll dargestellt wird dies etwa durch das von Smackx monierte „Comming Out“ (sic!) von Felix („Ohne Quote läuft wohl nichts mehr!“, klagt Smackx). Statt gekonnt das subversive Potenzial der Figur auszuschöpfen, ist die Umsetzung dieses vorgeblich klassischen Actionheldens wie so vieles in der Serie lieblos, altbacken, ein wenig peinlich. Felix’ Background-Geschichte etwa erfahren wir durch wenig subtil eingeflochtene Rückblenden. In der zweiten Folge von World Beyond sehen wir einen sehr jungen Felix, der nach Hause kommt und von seinem aggressiven Vater, der direkt aus einem Stephen King-Film der 90er-Jahre entsprungen zu sein scheint, zur Rede gestellt wird. Der Vater sitzt an einem Tisch, einen Stapel Papiere neben sich. Noch immer sichtlich unter Schock stehend erklärt er seinem Sohn und uns, dass er an dessen Computer auf eine Reihe schockierender E-Mails gestoßen sei. Wohl zur besseren Beweisführung hat er diese gleich ausgedruckt. Warum? Vermutlich, um verstört auf sie zu deuten und sie nachher vielleicht in einem Ordner abzuheften. Ein etwas aus der Zeit gefallener Konflikt nimmt seinen Lauf und der Vater schreit, wie schon unzählige andere Väter in unzähligen anderen Filmen und Serien in unzähligen Dekaden vor ihm: „Get out!“

Jetzt kann man der Serie vielleicht nicht einmal recht vorhalten, dass sie sich entschieden hat, sich der Diskriminierung Queerer Personen in einem denkbar konservativen Milieu zu nähern. Kann ja gut sein, dass irgendwo noch Väter die E-Mails ihrer Söhne ausdrucken und ihnen zurufen, sie sollten sich aus dem Haus scheren. Aber um die cutting-edge-Problemanalyse struktureller Diskriminierung, die man von einer Serie, die sich vorgeblich an ein junges Publikum richtet, erwarten würde, handelt es sich nicht gerade.

Und dennoch fühlt sich ein nicht unwesentlicher Anteil unzufriedener Amazon-KundInnen offensichtlich durch Felix und die anderen „testosteronlosen“ Männer überfordert. Wer sich mit der Serie und ihrer Rezeption auseinandersetzt, der stößt unweigerlich auf ein komplexes und ernüchterndes Problem, das uns zurzeit wohl in den unterschiedlichsten Kontexten, auf unterschiedlichen Kontinenten, in fiktiven oder sehr realen Zusammenhängen begegnet: Die Kluft wird größer. Was einem nicht unbeträchtlichen Publikum zu progressiv, zu fortschrittlich oder, in ihren Worten, zu „politisch korrekt“ erscheint, gestaltet sich für eine andere Gruppe bereits als überholt, flach, altbacken.

Betrachtet man die Amazon-Rezension fällt zudem ein interessanter Spiegeleffekt ins Auge: So wenig wie die Serie in der Lage ist, jene Phänomene, gedankliche Strömungen und Identitäten abzubilden, mit denen sie sich vorgeblich beschäftigt, und stattdessen geradewegs an dem vorbeierzählt, was eine neue Generation umtreibt, so wenig treffend beschreiben viele der negativen Amazon-Rezensionen die massiven strukturellen und qualitativen Unzulänglichkeiten der Serie und fokussieren sich primär auf das so wahrgenommene Problem des „politisch korrekten“ Erzählens.

Dass „politisch korrektes“ Erzählen natürlich qualitativ hochwertiges Erzählen sein kann, sein muss, und es wie im Falle von HBOs Watchmen oder Euphoria auch ist, gilt es nun scheinbar immer wieder neu zu beweisen. Und es steht mehr auf dem Spiel, als bloß ein paar erzürnte Amazon Rezension

 

 

Rattenfängerin

eine Erzählung von Sonja Lewandowski 

 

Den Maulwurf fand ich im Hof. Alle Viere von sich gestreckt, lag er auf dem Beton, kein Erdhügel in Sicht, aus dem er gestiegen sein konnte. Ich steckte ihn in die Brusttasche meiner Latzhose und ließ die noch feuchte Steckdosennase herausschauen, sie sahen ja alle nichts. Mit geschwollener Brust ging ich an diesem Morgen in die Schule. Dort bahrte ich ihn in einem Schuhkarton auf, aus dem ich die gestern gebastelte Vierzimmerwohnung riss, stellte mich neben die Toiletten auf dem Schulhof und nahm in den Pausen Eintritt für einen Blick.

Der schwarze Wurf lag auf dem Bauch, darunter ein Hügel aus Wundwatte, die hatte ich aus dem Spiegelschrank meiner Mutter genommen. Die weißen Fasern quollen unter seinem Körper hervor und verfingen sich in den nach außen gedrehten Grabschaufeln. Nahm man ihn heraus, hingen ihm Wattefäden an den erdigen Krallen. Der kräftige Horn war mir vertraut. Wenn ich meiner Mutter die Schuhe und Strümpfe von den Beinen zog, griffen ihre gebogenen Fußnägel noch einmal nach mir. Lange hatte ich die häutigen Schaufeln des Tieres gehalten und mit dem Zeigefinger über die hellen Innenflächen gestrichen, die meinen so ähnlich waren. Die furchige Haut eine Karte, mit der man den Weg durch die Tunnel fand. Über die Schnauze stellte ich ein Teelicht. Eine Schachtel Streichhölzer ließ ich unangetastet in meiner Brusttasche.

Die geschlossene Kiste an den Unterleib gedrückt, lehnte ich an der Kachelwand der Mädchentoilette und wartete, bis die andern fragten, was drin sei. Auf den Deckel hatte ich ein griechisches Kreuz gemalt. Teresa kam zu mir geschlendert und fragte, warum da ein Pluszeichen draufstehe. Ich sagte, dass sie lieber fragen solle, was drin sei. 20 Pfennig. Dann hob ich den Deckel, klemmte ihn mir unter das Kinn, schob das zu Boden gerutschte Teelicht wieder zur Nasenspitze, nahm das Geld und steckte es zu den Streichhölzern in die Brusttasche. Für 50 Pfennig konnte man den Wurf in die Hand nehmen. Dann bot ich ihn an wie einen zweiten Schuh, den man jetzt noch anprobieren müsse, um herauszufinden, ob es sich gut geht, dass man auch vorne nicht anstößt, dass man weit damit laufen kann.

„Eine Mark, wenn du ihn mit auf Klo nehmen willst.“

„Warum soll ich den blöden toten Maulwurf mit auf Klo nehmen?“

„Du kannst ihn dir unten reinstecken, das bringt Glück.“

„Der ist viel zu groß. Was für ein Glück denn überhaupt?“

„Mit der Schnauze kurz, das bringt Glück, hat meine Mutter gesagt. Dann wird man schön.“

Teresa rollte das schlaffe Knäuel von der rechten in die linke Hand, den Blick starr auf den bärtigen Unterbiss.

„Ist ja eh blind, kann gar nichts sehen bei dir da unten.“

„Der ist ja auch tot. Na gut, aber fünfzig Pfennig hab ich schon.“ Teresa drückte mir das zweite Geldstück in die Hand und ging in den Vorraum der Toilette.

„Und steck ihn nicht zu tief rein, das macht dich wieder hässlich.“, gab ich ihr noch mit auf den Weg. Über die niedrigen Spiegel des Vorraums sah ich, wie sich Teresas in den Hals fliehender Unterkiefer kurz öffnete.

 

+

 

Seit 2004 saß sie vor dem Fernseher und kreuzigte sich. Vom Flur aus sah ich wie ihre Schulterblätter schlugen, wenn die Akropolis durchs Wohnzimmer leuchtete. Nur stieg sie nie aus den Polstern auf. Sie stemmte die Handgelenke nah an ihr Becken, und raffte sich auf. Der Zug würde bald beginnen.Wir standen aufgereiht wie unsere Portraits auf der Kommode im Flur. Sie fiel aus dem Wohnzimmer und fuhr mit ihren faulen Händen kurz über die Köpfe meiner Brüder, drei staubige Rahmen, und zog mir die breite Krempe hart in den Nacken. Der Filzhut hing mir jetzt bis in die albtraumgekämmten Augenbrauen.

„Schön bayerisch.“, fand sie. Dabei nahm sie das e gleich noch mit. Bayern war für meine Mutter das gelobte Land und warum sie sich gleich nach Weihnachten hinsetzte und an unseren Kostümen nähte, anstatt meinen Vater zu verlassen, uns im Rhein zu ertränken und endlich wegzugehen, wir wussten es nicht. Wir wussten es nicht und darum zogen wir uns jedes Jahr still die von ihr genähten Verkleidungen über, liefen durch die Kölner Straßen, sammelten so viele Süßigkeiten wie wir tragen konnten und brachten die Kamellebeutel in ihre Nähstube.

In Bayern lag Otto, aus Bayern kam Otto. Meine Mutter sprach häufig von Otto, der irgendwann Deutschland verließ, um König von Griechenland zu werden. König Otto hat viel für uns getan. Dass er viel für uns getan habe, sagte sie, als wir den Eurovision Song Contest gewannen, fast, und das in Istanbul. Als das Olympische Feuer wieder in Athen ankam. Als wir die Europameisterschaft gewannen, und ich fürchtete, dass sie bald auch noch ein Foto von Otto Rehhagel auf die Kommode stellen würde. Ich würde dann weiter nach hinten rücken.

Ich nahm die Flöte aus dem Mund, um sprechen zu können. „Ich will keinen Hut, ich will die Perücke, die blonde. Die Blonden kriegen immer mehr.“ Sie nahm die Mantelschnur und zog mir einen Doppelknoten an den Hals. Den roten Radmantel hatte sie zwischen zwei zu kürzenden Hosen genäht. Sie hängte ihn mir um, als würde sie mich gleich an den Karneval verheiraten, und der wäre schließlich ein guter Fang. Dann steckte sie mir die geschwisterzernagte Blockflöte in den Mund. An der Flöte hing eine mit Paketschnur an das letzte Loch gebundene Maus aus Hartgummi.

Meine Brüder klemmten in ihren Mauskostümen fest, in denen sie den Hausflur heruntergezogen wurden. Ich zog die Flöte wieder aus dem Mund. „Das sind keine Mäuse, die ich fange.“, beschwerte ich mich über ihre Verkleidung. „Ich fange Ratten.“ Meine Mutter hielt an, schaute ihre drei Kostüme an, ließ den Blick kurz auf mich fallen. Dann trat sie aus dem Hausflur auf die grölende Straße.

„Aber das Märchen –“, begann ich noch, doch sie griff schon nach meiner Jacke und zog mir den Reißverschluss feste ins Kinn. „Dann ändern wir das Märchen eben.“

Die Flöte wieder zwischen den Zähnen schob sie mich vor ihre Füße, nahm meine drei Brüder wieder an die Hände und befahl uns loszulaufen und nicht loszulassen.

Wir drückten uns über den Chlodwigplatz, dann durch eine Seitenstraße, ich kannte den Weg. Eine graue Maus an der rechten, eine weiße und eine braune Maus an der linken Hand riss sie ihre Söhne durch eine Reihe Blauer Funken, dann eine Gruppe betrunkener Marienkäfer, die so fett waren, dass sie sofort sterben mussten, würden sie auf den Rücken fallen. Ich wünschte es mir. So stolperten ich und meine Brüder unter ihrer Achsel über den Kirchplatz. Die Trommelschläge im Nacken beeilten wir uns.

Wir stellten uns an den Streckenabschnitt auf dem Severinskirchplatz, hinter uns das bronzene Schokoladenmädchen mit ihrer geöffneten Pralinenschachtel und vielleicht würde sie bald einmal fort sein und durch die Welt laufen. Vor uns die Kameras. Da wo der WDR filmte, war die Ausbeute groß. Als wir ankamen, waren die Reihen schon geschlossen. Die Menge eine dicht geknüpfte Ellbogenkette, die sich die Stadt umgelegt hatte.

Sie riss mir den Reißverschluss wieder aus dem Kinn, nahm mir die Jacke ab, damit man meinen Radmantel gut sah und schob mich mit einem leeren Beutel in die vorderste Reihe. Meine Brüder stellte sie links und rechts von mir auf. Wir würden lange hier stehen. Ich fror und blickte mich nach ihr um, aber sie ließ sich von den bunten Uniformen wieder in den Hintergrund schieben. Sie war ja ganz unverkleidet, die falsche Märchenerzählerin, und die Männer zwischen uns meinten es ernst mit ihrem Karneval.

Amüsiert begann ein ununterscheidbares Lappenclownpaar hinter mir an meinem Kostüm zu ziehen. „Dürfen wir da mal naschen?“, lachte der Rechte. An meinem Radmantel hingen mindestens dreißig weiße Schaumzuckermäuse, die sie mit rotem Garn festgenäht hatte. Die beiden angetrunkenen Clowns begannen mir die Mäuse vom Körper zu zupfen, um sie mit Kölsch verdünnt runterzuschlucken.

Mit dem ersten Kreischen der Piccoloflöten und Xylophone ließen sie von mir ab, der rechte Lappenclown spannte einen regenbogenfarbenen Schirm auf, drehte ihn um und hielt ihn über unsere Köpfe. Ich schaute nach oben in den verkehrten Schirm und hörte bald den süßen Regen prasseln. Der Februar fuhr an mir vorbei und ich sah meinen Brüdern dabei zu, wie sie die billigsten Süßigkeiten  aus den Furchen der Pflastersteine kratzten. Manche Kaubonbons hatten schon ihr Papier verloren. Sie steckten trotzdem alles zuversichtlich in ihre Beutel und ich war ein bisschen gerührt. Fleißige kleine Gastarbeiterkinder.

Zitternd drehte ich mich um, suchte nach dem Mantel auf dem Arm meiner Mutter. Ich fand sie nicht in dem Kostümwald, der mit schunkelnden Kronen in den Kamellehimmel griff. Bis zum Hals stand ich in oberschenkelhohen Stiefeln und sammelte nun selbst plattgestampfte Kaubonbons aus den Schatten der Ellbogenäste, die im Takt der Trommeln um sich stießen. Die Xylophone klirrten, die Piccoloflöten schrien, dass ich meine Zähne fest aufeinanderpressen musste, als könnte ich so mein Trommelfell verschließen. Die zwei Lappenclowns schoben sich ein wenig nach rechts. Der Linke schlug unermüdlich seine pinken Plastikkastagnetten in die Hände und als ich mich wieder bückte, um nach einem Topfschwamm zu greifen, die dutzendfach über die Menge geflogen kamen, sah ich meine Jacke an der Bordsteinkante kleben. 

Der rechte Clown stampfte zum Paukenschlag auf ihr herum. Statt nach dem Schwamm griff ich nach seiner fetzigen Haut und riss die erste stoffene Schuppe von seinem Knie, dann eine weitere und noch eine. Ich riss und riss bis der mit schwitzendem Weiß umrahmte Mund zu fluchen begann und mich mit dem freigezupften Knie noch vorne stieß. Rücklings fiel ich in den mausenen Körper meines Bruders und er war wohl gleich tot als das erste Rad über ihn fuhr.

Feivel, der Mauswanderer.

Die Stiefel stoben auseinander, die Ellbogenkette riss, die beiden Lappenclowns waren verschwunden, ihr buntes Sammelinstrument lag noch da. Ich griff in die schirmgefangenen Kamellen und stopfte so viele ich konnte in meinen Beutel. Dann zog ich meine Jacke aus der Bordsteinkante und begann sie mit einem der geworfenen Topfschwämme von den Tritten zu befreien.

 

+

 

Ich träumte immer wieder von den beiden Lappenclowns, wie sie an mir hingen und mir die Schaummäuse vom Körper fraßen. Aber es war nicht ihre verlaufene Schminke, die mich aufwachen ließ, nicht das Schmatzen, wenn sie einen Bissen von meinem Kostüm rissen und zerkauten, nicht das enervierende Kastagnettengeklapper. Bei all dem starrte ich sie unentwegt an und versuchte zu erkennen, ob sie Männer oder Frauen waren. Aber ihre Kostümköpfe, ihre ganzkörperne, unförmige Verkleidung verriet sie nicht. Und so schüttelte ich sie, bis alle Lumpenquadrate von ihnen gefallen waren und das bunte Stofflaub mir weich um die Beine lag. Ich sank immer tiefer in die sumpfende Kleidung ein und sah noch, dass da, wo ihr Geschlecht sein sollte, ein Topfschwamm hing, ein nie benutzter gelber Topfschwamm. Dann ertrank ich und trat mich wach.

 

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Bis zum Ende der zweiten Pause hatte ich neunzehn Mädchen die Schönheit geschenkt. Die Latzhose zog mir an den Schultern, schwer von den Taschengeldern, die die Mädchen mir hastig in die Hand drückten, bevor sie den Maulwurf aus seinem Wattebett hoben.

Von dem Gewicht meiner Tat nun selbst überzeugt, nahm ich gerade das Tier in die Hand, um den Brauch zu erfüllen, da stürmten zwei Jungen aus der Vierten auf mich zu, drückten mich zu Boden, dass ich in den kartonen Sarg fiel, rissen mir das Tier aus der Hand und hielten es sich abwechselnd vor die dünnen Becken. So standen sie über mich gebeugt. Ich presste meine Hände auf die Tasche meiner Latzhose. Ich fühlte meinen Atem durch die Pfennigstücke im Brustkorb gestaut. Ich starrte in die Becken der beiden und wartete bis die Freude der Jungen erschlaffte und sie das Säugetier mit einem Wurf gegen die Kacheln der Toilettenwand schleuderten. Dann griff ich nach der Schaufel, fühlte die winzige Tunnelkarte an meinen Fingern und zog das schwarze Knäuel zu mir. Mit der linken Hand griff ich nach der pfennigverbeulten Streichholzschachtel. Dann legte ich den Maulwurf zurück auf seinen Watteberg, die Wände des Kartons waren zur Seite weggebrochen. Mit zitternden Händen schob ich die Schublade auf, griff in die oberste Reihe und stieß den Zündkopf wieder und wieder gegen die schmale Reibefläche der Schachtel.

Ein roter Fleck klebte noch Wochen dort an den Kacheln und die Jungen rotzten ihre milchigsten Schleimklumpen auf den Boden davor. Die Mädchen aber gingen ehrfürchtig an dem Mahnmal vorbei, bevor sie sich über die niedrigen Becken beugten und so lange in die Spiegel schauten, bis ihnen die angelehnten Hüftknochen schmerzten und die dünne Haut dazwischen zu frieren begann.

 

 

Sonja Lewandowski lebt und arbeitet in Köln.

Fixpoetry – Ein Nachruf, den es nicht geben sollte

von Gerrit Wustmann

 

Das Literaturmagazin Fixpoetry.com gibt auf – zum Jahreswechsel wird die Redaktion eingestellt. Das ist eine traurige Nachricht für die Literaturszene. Und es wirft ein Schlaglicht auf das völlige Versagen einer Kulturpolitik, die nicht erkennt, welche Projekte unterstützenswert und wichtig sind. Ein Rückblick.

„Hamburg hat eine lebendige und vielfältige Kultur- und Literaturszene – und Hamburg hat Julietta Fix.“ Das schrieb ich 2016 als Einstieg für ein Portrait, das im Stadtmagazin Szene Hamburg erschienen ist. Zu lokal gedacht natürlich, aber das war offensichtlich dem Medium geschuldet. Korrekt wäre gewesen: Die Literaturszene hat Julietta Fix – die deutschsprachige und auch die darüber hinausreichenden Szenen. Ganz besonders aber die Lyrikszene hat Julietta Fix.

„Als ich Fixpoetry 2007 gründete, geschah das aus rein persönlichen Gründen. Ich hatte begonnen zu schreiben, einen Roman veröffentlicht und erste zaghafte Schritte in Gedichten geübt. Mir schien rein intuitiv das Netz die beste Möglichkeit, Lyrik einem breiterem Lesepublikum bekannt zu machen“, erzählt sie über die Anfangszeit. „Über die Jahre habe ich mich intensiv mit Literatur, dem literarischen Leben, der Literaturszene und der Vermarktung von Büchern beschäftigt. Heute geht es längst nicht mehr um mich und nicht mehr ‘nur’ um Lyrik. Ich habe gelernt, Autorinnen und Autoren erzählen zu lassen, Kontexte herzustellen und versuche mit Fixpoetry die Komplexität der Literaturszene auf einen Punkt zu bringen.“ 

Und das ist ihr in den vergangenen dreizehn Jahren auf zahlreichen Ebenen ziemlich gut gelungen. Was als kleines Lyrikportal im Netz begann ist heute, kann man sagen, für die Literatur unverzichtbar geworden. Hunderte Dichter*innen und Künstler*innen stellt das Portal vor, präsentiert ihre Arbeit, in einem Newsbereich werden Events, Lesungen, Publikationen angekündigt, im Feuilleton sind tausende Rezensionen, Essays, Interviews zusammengekommen und das „Gedicht des Tages“ ist sicher für viele der regelmäßigen Leser*innen so elementar geworden wie der morgendliche Kaffee. 

2019 wurde auf Juliettas Initiative hin erstmals der mit 10.000 Euro dotierte Gertrud Kolmar-Preis verliehen, ein Preis für herausragende Autorinnen. Ausgezeichnet wurde Ulrike Draesner, den zweiten Platz (4000 Euro) belegte Pega Mund, den Förderpreis (2500 Euro) erhielt Ronya Othmann.

Fixpoetry ist zu einer festen Anlaufstelle im Netz geworden für alle, die sich für die Gegenwartslyrik interessieren, die auf der Suche nach Lesestoff und kritischem Diskurs sind. Auch für mich selbst war Fixpoetry in all diesen Jahren eine Konstante. Rund 250 Beiträge habe ich dort publiziert, im (leider kurzlebigen) Fixpoetry Verlag erschien 2011 mein Buch Beyoğlu Blues, das der Auftakt für eine Istanbul-Trilogie wurde, vom ersten Band an zweisprachig, inzwischen auch in der Türkei erschienen. Es erschien Brigitte Struzyks Roman Drachen über der Leninallee, und Nähekurs von Judith Sombray und Herbert Hindringer ist einer jener Lieblingslyrikbände, die ich immer wieder zur Hand nehme – und das ist nur ein winziger Ausschnitt.

Ich erinnere mich an die Tage mit Julietta und Korinna Feierabend, mit Brigitte Struzyk, Oya Erdoğan, Peter Wawerzinek und vielen weiteren auf der Leipziger Buchmesse im März 2012, an Lesungen dort, in Berlin, in Köln. Julietta hat sich mächtig reingehängt damals, hat aus dem Nichts etwas auf die Beine gestellt. So schön das war, so frustrierend war es auch, zu erleben, wie schwierig es ist, gute Literatur an ein Publikum zu vermitteln, das über den engeren Kreis der Szene hinausgeht. Die Lesungen waren oft nicht gut besucht, bis zu einer Etablierung wäre es ein langer – und teurer – Weg gewesen, weswegen der Verlag nur kurz existierte. Ein Weg, den Julietta weitgehend aus eigener Tasche finanziert hat, und das über Jahre hinweg. Hosting, Webdesign, Autor*innenhonorare, Marketing, all das kostet Geld. Eine Menge Geld. Und Zeit. Und Nerven.

Aber wenn es am Ende funktioniert, wenn auch etwas zurückkommt, dann macht man es gern. Und das ist der Eindruck, den ich stets hatte – Julietta hätte nicht all die Zeit und Energie investiert, wenn sie es nicht gerne getan hätte. Das Projekt war ihr wichtig und, so vermute ich, es wird ihr immer wichtig sein. Aber mir ist auch in den letzten Jahren während unserer gelegentlichen Brunch-Gespräche in Hamburg eine gewisse Ermüdung nicht entgangen. Eine Ermüdung, die ich gut nachvollziehen konnte. Und die kam nicht aus dem Projekt selbst, sondern aus den Umständen. Dass eine Person allein solch ein doch ziemlich groß gewordenes Schiff auf Dauer nicht Steuern kann, dürfte sich von selbst verstehen. Die Klickzahlen waren gut, ebenso der Zuspruch des Publikums, und bisweilen haben freie Autor*innen, soweit ich weiß, gerne auch ohne Honorar gearbeitet, um Fixpoetry zu unterstützen.

„2017 wird die Webseite zehn Jahre und ich sechzig Jahre alt“, sagte Julietta bei unserem Interview 2016. „Wenn ich einen Blick in die Zukunft wagen darf, dann vielleicht mit den Wünschen, Fixpoetry auf finanziell stabilere Füße zu stellen, mit all den Autorinnen und Künstlerinnen kontinuierlich weiter zu arbeiten und neue Ideen zu entwickeln, die Literatur an die Leserinnen und Leser zu bringen.“

Aber das mit den finanziell stabilen Füßen hat letztlich nicht funktioniert. Gelegentliche Anzeigenschaltungen durch Verlage blieben ein Tropfen auf den heißen Stein. Zwar fanden sich täglich im Schnitt über 1500 Leser*innen, aber nur eine kleine Minderheit war auch bereit, via Steady ein paar Euro zu bezahlen. Das ist ein Grundproblem von Journalismus und Kultur im Netz: Zu lange wurde eine Kostenloskultur gepflegt; während man für Printpublikationen ganz selbstverständlich Geld bezahlt, erwartet man, dass im Netz alles nichts kostet und entzieht den Redaktionen und Verlagen dann auch noch die dringend benötigten Werbeeinnahmen, indem man mit Adblocker surft. Das kann auf Dauer nicht gutgehen.

Und dann gibt es da noch die Kulturämter und Kulturbehörden der Stadt Hamburg, der Länder, des Bundes, die Stiftungen, die große Töpfe mit Stipendien und Fördermitteln zu vergeben haben. Über Jahre hat Julietta Anträge gestellt. Und während der Gertrud Kolmar-Preis zwar mit öffentlichen Mitteln unterstützt wurde, bekam das Projekt Fixpoetry meines Wissens nie eine nennenswerte Förderung.

„Es ist eine Riesenkrux, dass die Kultur-/Literaturförderung – und ich meine hier besonders den Bund – immer wieder auf das scheinbar ganz Neue setzt, auf frische Ideen oder solche, die nur so aussehen. Auf der Strecke bleiben strukturelle Förderungen. fixpoetry ist ein wichtiges strukturelles Element der Lyrikszene gewesen. Herausragend wichtig war und ist eine Ergänzung des Feuilletons in Sachen Lyrik. Ein trauriger Novembertag, ein großer Verlust!“ schrieb Monika Littau, Vorsitzende der Gesellschaft für Literatur NRW, in einer ersten Reaktion auf Facebook, und sehr ähnlich äußerten sich viele Kolleg*innen in den letzten Tagen, seit Julietta Fix am Montag das Aus für Fixpoetry zum Jahresende verkündete.

Dass Fixpoetry nun die Pforten schließt, macht mich traurig und betroffen. Es wird eine Leerstelle entstehen, die sich so bald nicht füllen lassen wird. In der Vernetzung von Autor*innen und Publikum, in der Literaturvermittlung, ganz besonders in Bezug auf die Lyrik, gibt es aktuell nichts Vergleichbares. Es ist ein herber Verlust – und dass es ein Verlust aus den völlig falschen Gründen, nämlich ganz zentral der fehlenden Finanzierung, ist, ist unentschuldbar und eine kulturpolitische Bankrotterklärung.

 

Kassiber aus den Nischen des Alltags – Über Sorgearbeit vs. künstlerische Arbeit

von Jasper Nicolaisen

 

„A room of one´s own“ – Ein Zimmer ganz für sich, so lautet eine alte, aber leider keineswegs überkommene Forderung feministischer Künstler*innen. Virginia Wolf brachte in ihrem Essay von 1929 die Notwendigkeit auf den Punkt, dass Frauen für ihre Arbeit als Künstlerinnen – hier: Autorinnen – eben auch die grundsätzlichen Bedingungen ungehinderter, ungestörter Betätigung brauchen, wie sie Männer damals wie heute für selbstverständlich nehmen. Dieses „eigene Zimmer“ steht natürlich auch stellvertretend für den „Freiraum“, den ein solcher physischer Rückzugsort erst ermöglicht. Muße, Stille, Sich-Versenken-Können, Eintauchen in den Flow, Gelegenheit zur Detailarbeit, zum Verbessern, Überarbeiten, eben Raum, Zeit und Gelegenheit etwas zu tun, das keinem unmittelbaren Zweck dient.

Ein solcher Platz, eine solche Tätigkeit gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Erwartungen, die damals und allzu oft auch noch heute an Frauen gerichtet werden, nämlich die scheinbar zweckfreie Tätigkeit, die künstlerische Arbeit doch bitte abseits der täglichen Pflichten zu verrichten. Wenn alles erledigt ist, dann bitte gerne, schreibt, ihr Frauen, so viel ihr wollt, es kann ja auch was Schönes dabei rauskommen, und ein nettes Hobby hat noch keiner geschadet. Nur die Wohnung muss geputzt sein, der Einkauf gemacht, die Kinder versorgt und möglichst schon im Bett – und wenn eines aufwacht, dann bitte das Geschreibe unterbrechen, der Gatte muss sich ausruhen. Wer schon einmal hauptsächlich für die Sorgearbeit – so unser zeitgenössischer Begriff – verantwortlich war, weiß nur allzu gut: es hört nie auf, der Haushalt ist nie fertig und irgendein Kind wacht garantiert immer genau dann auf, wenn eine den Computer hochgefahren und die ersten Sätze getippt hat, wenn du denn vor lauter Müdigkeit überhaupt dazu kommst.

In meinem Fall zum Beispiel – und ich bin nicht mal eine Frau, sondern ein verpartnerter Mann, der zurzeit keiner Erwerbsarbeit nachgeht, sondern „nur“ einer freiberuflichen Tätigkeit, also noch relativ gut dran, im Vergleich mit den meisten Frauen zu Woolfs Zeit und auch heute noch – in meinem Fall tippe ich jetzt um kurz nach halb neun (abends) am Küchentisch, und mein Mann kommt rein und meckert, ich solle doch nicht immer seine Schlafhose waschen, die fehle ihm dann zur Nacht. Immerhin bringt er das größere Kind ins Bett. So kann ich schreiben, aber gleich, gegen neun, ruft jemand an, wegen meiner freiberuflichen Tätigkeit. Also tippe ich sehr schnell und achte erstmal wenig auf Schreibfehler. Meine Beiträge sind ohnehin immer legendär voll mit Schreibfehlern und Flüchtigkeitskommas. Ich habe oft keine Zeit, alles noch mal durchzulesen oder eine Nacht drüber zu schlafen.

Trotzdem schreibe ich – und nicht nur als Hobby. Für Geld, weil mir was wichtig ist, um mich auszudrücken, um an Diskussionen teilzunehmen, Zeitgenosse zu sein, um eine wichtige Seite meiner selbst zu erleben, aus Eitelkeit, for fun. Gut, dass das klappt.

Natürlich könnte ich viel mehr darum kämpfen, abends wirklich frei zu haben. Vielleicht sogar ganze Nachmittage. Tage! Wochenenden! Warum ich das nicht genug tue, also, das ist Stoff für eine Psychoanalyse oder wenigstens für einen viel längeren – ich traue mich gar nicht zu sagen – Essay, als ich ihn heute zwischen halb neun und neun schaffe. Kindheit, Konfliktverhalten, Selbstbild, man kennt es.

Natürlich könnte ich auch das, was mir im Leben am Wichtigsten ist, Schreiben, tatsächlich an erste Stelle stellen. Ich könnte mich scheiden lassen, die Kinder verlassen oder nur noch im Wechselmodell betreuen.

Tatsächlich liegt mir aber was an der Familie, auch wenn sie mich oft nervt. Das ist ja gerade die Falle, wie sie auch viele Frauen kennen. Die Sorgearbeit nervt, aber die Menschen, denen sie gilt, sind einem wichtig. Nicht immer sind diese Verhältnisse ausbeuterisch, voll Zwang, ein Gefängnis. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass mich die Familie auch als Autor weiterbringt. Sie verschafft mir Stoff, Stimmen, Dialoge, Figuren, die ich oft ziemlich eins zu eins weiterverwurste. Sie ist Hallraum, gibt mir Feedback, kritisiert und ermuntert mich. Sie gibt mir Sicherheit und schafft, bei aller Belastung, ein angstfreies Klima zum Schreiben. Was nützt mir alle Zeit der Welt, wenn ich von Ängsten und Neurosen geplagt am Schreibtisch sitze?

Ich kenne zu viele Kolleg:innen, die außer Schreiben nichts haben. Und die meisten Autor:innen rücken ja niemals in die finanziell und statusmäßig gut versorgten Ränge vor. Sie hangeln sich von Buch zu Buch, von Kleinverlag zu Kleinverlag, müssen immer wieder um Aufträge, Chancen und Wahrnehmung kämpfen. Das zehrt, wenn man irgendwann begreift, dass der Durchbruch nicht mehr kommt, dass man ewig ein:e Autor:in des Mittelfeldes bleiben wird. Wenn dann an das eigene Zimmer kein anderes anschließt, wird es schnell einsam, krank, von Süchten und Ängsten geplagt.

Manchmal habe ich sogar den Eindruck, die Familie, das Hickhack um die Sorgearbeit macht mich als Autor besser. Erstens habe ich weniger Ausreden. Ich kann es mir nicht leisten, auf Inspiration zu warten. Wenn Zeit ist, wird geschrieben. Ich schreibe prinzipiell anders als jemand, der alle Zeit der Welt zu haben glaubt. Ich blicke nicht zurück. Ich verliere mich nicht in Revisionen. Ich weiß: Texte entstehen in einer gegebenen Zeit. Sie müssen nicht perfekt sein, weil ich es mir nicht leisten kann, perfekte Texte abzuliefern. Sie dienen ihrem Zweck und fassen eine Kette von Gedanken, Gefühlen, Bildern so gut, wie ich es hier und heute abend (mir bleiben noch zehn Minuten bis neun) vermag. Wenn es nicht hinhaut, muss es der nächste Text richten. Ich erkenne auch immer wieder: weder die Leute, die mich drucken, noch die Leser:innen erwarten perfekte Texte. Gute Texte, engagierte Texte, Texte, die überhaupt da sind und fertig geworden sind, das ist mehr als genug.

So lange, bis die Zeit um ist, schreibe ich also. Zweitens muss ich mich immer wieder aufs Neue entscheiden, wie wichtig ich mich nehme, welche Rolle das Schreiben in meinem Leben einnehmen soll. Ich muss sagen: jetzt nicht. Heute Abend setze ich mich hin. Lasst mich in Ruhe. Das macht manchmal Verhandlungen nötig. Ohne Witz, ich kann bessere Figuren schreiben und ihre Konflikte schildern, weil es auch in meinem Leben nicht nur um mich geht.

Die Forderung nach dem eigenen Raum bleibt bestehen. Nicht nur, weil es vielen, vielen Frauen noch viel schwerer gemacht wird als mehr – von den vielen Vorteilen, die ich genieße, war hier noch kaum die Rede, angefangen von der warmen Küche und dem selbstverständlich funktionierenden Laptop (es wäre sonst auch noch ein zweiter und ein Handy da), bis zum nicht betrunkenen und gewalttätigen Ehemann. Auch für alle, die es so verhältnismäßig gut haben, wie ich, aus Solidarität und weil es ohne ein bisschen Ruhe eben doch nicht geht. Ich möchte (von 20:53 Uhr bis 21:01 Uhr) aber noch anmerken, dass ich die ergänzende Forderung nach der Möglichkeit, trotzdem und gleichzeitig in Beziehung zu sein, für ebenso wichtig halte.

Das Schreiben in absoluter Ruhe und Freiheit, die völlige Autonomie, das strahlende, eisige Genietum, das nur abseits der Welt gedeihen kann, ist auch ein fürchterliches Männerding. Allzu schnell wird daraus die Ausrede: ich kann jetzt nicht schreiben, ihr lasst mich ja nicht in Ruhe, ich kann mein großes Werk nicht vollenden, wenn ich mich allzu sehr auf dich einlasse, verstehe bitte, dass ich dich nicht unterstützen kann, ich bin ein wichtiger Künstler. Alles steckt darin, wenn der eigene Raum auf patriarchale Typen trifft, die maßlose Selbstüberschätzung der eigenen Kunst, die beschissene Ausrede für jedes schlechte Benehmen, weil man sich´s als Genie schuldig ist, und die ins ewige verlängerte Kindheit mit den Jungs beim Saufen und Frauenbelästigen, weil so eben das echte Künstlerleben ausschaut und man ja Inspiration braucht.

Autor:innen, die das eigene Werk etwas tiefer hängen (ohne es aufzugeben), die in Beziehung(en) sind – das muss keine klassische Familie sein, nicht hetero- oder homosexuell –, die gestresst und in Beschlag genommen sind, schreiben formal und inhaltlich anders, und ich behaupte: vielleicht nicht im absoluten Sinn besser, aber doch anders, als wir es so sattsam von den genialen Männern kennen, die außer der Großkunst nichts gebacken gekriegt haben.

Ich war gezwungen – von mir selbst gezwungen – einen kleinen Roman auf dem Handy zu schreiben, während mein zweites Kind im Tragebeutel vor meiner Brust hing, sonst war keine Zeit da. Dieses Buch ist notgedrungen kürzer, gedrängter, fetzenhafter, sicherlich unperfekter nach manchen Maßstäben, weniger geschliffen, mit weniger ausgefeilten inneren Bezügen versehen, als welche, die ich unter anderen Bedingungen geschrieben habe.

Punkt Neun. Schnell jetzt.

Aber es ist auch lebendiger, es geht neue Wege, es überrascht mich. Es ist vor allem inhaltlich und formal Ausdruck seiner Entstehungsbedingungen. So, wie wir erst heute lernen, Briefe, Tagebücher, Notizen und andere Literaturformen von Frauen neben die als  „groß“ angesehenen Romane und Stücke von Männern zu stellen, gerade weil sie nicht so sind und den dort implizit aufgestellten Ansprüchen, neun Uhr zwo, nicht genügen, uns andere Einblicke, andere Welten, okay, das Telefon klingelt, ihr wisst, was ich meine, es muss beides sein. Vielleicht sprechen solche Bücher mehr zu Leuten, die unter ähnlichen Bedingungen leben.

P.S. am nächsten Tag, kleineres Kind schläft, größeres ist in der Schule, Elterntermin aber mal wieder verpasst, peinlich: Ich sehe die Nachteile eigentlich wieder mehr. Vor allem mein Selbstbild: das Schreiben in den Nischen des Alltags lässt mich das eigene, na ja, Werk seltsam gering schätzen, ich erzähle oft nicht davon und stapele eigentlich immer sehr tief. Mir fällt es schwer, mich als „Autor“ zu bezeichnen und ich lade ungern alle meine Online-Kontakte zur Winzlesung in der Kirche von Sackdoden oder so ein als wär´s die Nobelpreisverleihung. Twitter-Diskussionen über „Autorendinge“ scrolle ich schnell weiter: ich habe da nichts verloren, ich „revise“ nicht und habe keine „beats“ und wo soll ich bitte die „draft readers“ hernehmen, die mir sagen, wie die dritte und vierte Manuskriptfassung aussehen soll, also ehrlich.

 

Photo by Ryan Wallace