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Es zählt nur die Qualität – Über ein fadenscheiniges Argument

Von Nicole Seifert

Dass es beim Büchermachen ausschließlich um Qualität gehen sollte, darin sind wir uns ja alle einig, oder? Und dass Männer die besseren Bücher schreiben auch. Ach nein, das darf man ja nicht mehr sagen. Also: Wenn Männer nun mal die besseren Bücher schreiben, dann – nee, Moment, ich fang noch mal an: „Wir machen Literatur, nicht Männer und/oder Frauen. Entscheidend ist allein die Qualität und nicht das Geschlecht. Entscheidend ist die Aussage, der Stil, da braucht es keine Genderaufsicht.“ So kann man es schon sagen. Oder?

So hat es jedenfalls Joachim Unseld gesagt und ist damit (immerhin fast als einziger) der tendenziösen Fragestellung der Literarischen Welt auf den Leim gegangen, die vor einer Woche mehrere Verlagsleute um ihre Meinung zum „aktuellen Aktionismus“ bat. Gemeint war damit der Versuch, ein größeres Bewusstsein für Geschlechterungerechtigkeit im Literaturbetrieb zu schaffen, indem man anhand quantitativer Erhebungen Verlagsprogramme analysiert: Das sogenannte Vorschauen- oder Frauenzählen.

So gut wie alle der  befragten zwölf Verleger*innen stehen der Debatte übrigens aufgeschlossen gegenüber, selbst Unseld hält sie für „wichtig und berechtigt“, auch wenn sie sich in Enthusiasmus und Umsetzung stark unterscheiden. Das zentrale Gegenargument, das sich in der Debatte hartnäckig hält, ist die von Unseld so schön auf den Punkt gebrachte angebliche Opposition von Diversität und Qualität.

Am 21. Januar veranstaltete der SWR2 in der Reihe Forum einen fast einstündigen Radio-Talk zum Thema mit Susanne Krones, Programmleiterin im Penguin Verlag, mit mir und mit Rainer Moritz vom Hamburger Literaturhaus. Auf die Frage, ob er bei den Literaturhaus-Veranstaltungen auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis achte, wollte Moritz zwar ein „ich glaube, es wurde gerade so ähnlich wie Problembewusstsein genannt“ haben, das er aber schon im nächsten Halbsatz an seine „Kolleginnen“ delegierte. Die würden schon dafür sorgen, „dass sie mit ernstem Blick zu mir in mein Büro kommen, wenn sie das Gefühl haben, dass diese Ausgewogenheit vielleicht nicht so hergestellt ist.“ Er selbst versuche, „nicht krampfhaft“ zu entscheiden und wenn er „aus literarischen Gründen“ glaube, das sei jetzt so, „dass in diesem ersten Halbahr vielleicht 60-70% Männer lesen“, weil er der Meinung ist, „dass diese Bücher besser sind, dann ist das so, dann muss man das auch durchstehen und man muss versuchen, das argumentativ zu verteidigen.“

Bei dieser Argumentation beruft sich Moritz auf die „großen Männerfiguren“ Siegfried Unseld und Michael Krüger, die hätten oft gedacht, „ohne es gesagt zu haben: so richtig große dolle Literatur können Männer doch besser schreiben.“ So ganz möchte er sich allerdings nicht auf deren Seite stellen, denn „als chauvinistisch gelten“, das wolle heute ja niemand. „Deshalb wird auch verbal zurückgerudert“, erklärt Moritz, „d.h. man will auf gar keinen Fall sagen, wir haben einfach jetzt viel bessere Manuskripte von Männern gehabt, deswegen haben wir das so gemacht. Dieses Argument werden Sie ganz selten hören, selbst wenn sie’s denken, die Verlegerinnen und Verleger, werden sie es nicht sagen.“

Wieder und wieder dieselbe Formulierung, da kommt man um die Schlussfolgerung kaum herum, dass hier wohl tatsächlich jemand glaubt, Männer schrieben die besseren Bücher. Das einzige Problem: Man darf es nicht mehr sagen. Man sollte schon so tun, als wäre man nicht sexistisch, pardon: chauvinistisch. Spätestens hier wird klar, wie halbherzig die Distanzierung von den genannten Verlegern ist. Aber sind Sexisten nicht eh immer die anderen?

Der Letzte, der sich noch traute, auszusprechen, wie es offenbar wirklich ist, war der von vielen nach wie vor hochverehrte Marcel Reich-Ranicki. Interviewt von André Müller, sagte er vor ungefähr zwanzig Jahren: „Man darf auch nicht sagen, Frauen können keine Romane schreiben. […] Frauen können Novellen schreiben, wunderbar, Frauen können Gedichte schreiben. Fragen Sie mich nicht, warum! Fragen Sie Gynäkologen!“

Wenn man nicht nachvollziehen kann, warum man Dinge so besser nicht mehr sagt, dann fehlen einem Informationen, dann hat man Zusammenhänge noch nicht verstanden. Es wäre also klug zuzuhören, was die, über die man gestern noch abfällig reden durfte, für Erfahrungen gemacht haben – einmal die andere Perspektive einzunehmen und über die eigenen Privilegien nachzudenken. Oder, wie Oliver Vogel vom S. Fischer Verlag es in seiner Antwort auf die oben erwähnte Frage an die Verlage formulierte: „Glück zu haben ist immer ein guter Grund, trotzdem nachzudenken.“

Diese Informationen finden sich beispielsweise in einigen neueren Studien zur Sichtbarkeit von Frauen in Kultur und Medien, die zeigen: Es wird eben nicht nur nach erbrachter Leistung und Qualität ausgewählt. In der Realität haben Autor*innen höchst unterschiedlichen Zugang zu Förderprogrammen, Veröffentlichungen und Auftrittsmöglichkeiten. Und um hier mehr Gerechtigkeit herzustellen, braucht es konkrete Maßnahmen.

Das, was Joachim Unseld als „Genderaufsicht“ bezeichnet, entspricht dem, was man in der konservativen Ecke gern „Sprachpolizei“ nennt. Plötzlich muss man aufpassen, man darf nicht mehr einfach abwertend über Frauen, über BIPoC oder über queere Personen reden – blöd, wo das doch immer so lustig war! Harald Staun gab im November in einem FAZ-Artikel die bestmögliche Antwort auf diese Haltung:

Natürlich sollte man aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert, aber nicht, weil sonst die Sprachpolizei kommt, sondern aus Höflichkeit, Zivilisiertheit oder auch nur aus dem Interesse, den öffentlichen Diskurs ein bisschen klüger zu machen.

Das Qualitätsargument aber macht den Diskurs nicht klüger, es ist unreflektiert und unterkomplex und im Grunde nichts anderes als ein reaktionärer Reflex.

Einer, der umgedacht hat, ist Stephen King, nachdem er für einen Tweet einen Sturm der Kritik erntete. Der Autor ist Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die entscheidet, wer im Februar einen Oscar bekommt. Aus diesem Anlass twitterte er Mitte Januar:

In der Kunst zähle nur Qualität, Diversität zu berücksichtigen, erscheine ihm falsch. Von den 12.000 Replies wiesen viele auf das Kernproblem dieser Aussage hin: Diversität und Qualität sind keine Gegensätze. Hier einen Widerspruch zu konstruieren, legt nahe, man hätte es mit einander bekämpfenden Konzepten zu tun; als sei das eine dem anderen selbstverständlich überlegen, als könne beides gar nicht zusammenfallen. Wären Qualität und Diversität Gegensätze, würde das im Umkehrschluss bedeuten, Kunst von Frauen, von BIPoC, von Queeren sei weniger gut. Wieder dieselbe Prämisse wie oben, also.

Dass seit Bestehen der Oscars nur eine einzige Frau einen Award für die beste Regie bekommen hat, dass schwarze Schauspieler*innen lange gar keine Auszeichnungen bekommen haben und dann bevorzugt für Rollen, in denen sie Sklav*innen spielten – das kann doch nur daran liegen, dass weiße Männer eben besser sind. Was auch hier wieder nicht in Erwägung gezogen wird: das nachweislich herrschende Ungleichgewicht durch schlechtere Chancen, mangelnde Sichtbarkeit und die Voreingenommenheit derer, die auswählen.

Stephen King haben die Replys zu seinem Tweet zu denken gegeben, denn knapp zwei Wochen später veröffentlichte er unter dem Titel „The Oscars are still rigged in favor of white people“ einen Artikel in der Washington Post, in dem er schrieb, er habe seine Aussage im Moment des Twitterns fälschlicherweise für unstrittig gehalten, nun habe er genauer hingesehen. Er stellt einen Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung der Academy (sehr überwiegend weiß, männlich und über 60 Jahre alt) und der Vergabe der Preise an ebendiese Kohorte fest. Er wiederholt seine „overall attitude that, as with justice, judgments of creative excellence should be blind.“ Um dann jedoch zuzugestehen: „But that would be the case in a perfect world, one where the game isn’t rigged in favor of the white folks.“

Ja, in einer idealen Welt ginge es einfach nur um Qualität. Solange man aber anerkennt, dass in unserer Kulturlandschaft nach wie vor historisch gewachsene, sexistische und rassistische Strukturen bestehen, wird man auch erkennen, dass viele Gruppen weiterhin benachteiligt sind. Und diese müssen erstmal einbezogen werden in die Auswahlprozesse, bevor man über ihre Qualität urteilen kann.

Das Qualitätsargument ist aber noch aus weiteren Gründen hinfällig: Es ist naiv und es ist unehrlich. Naiv, weil es den Anschein erweckt, Qualität setze sich naturgemäß durch – was mit der Realität des Literaturbetriebs nichts zu tun hat. Und unehrlich, weil es bei der Zusammenstellung von Programmen aller Art nie nur um Qualität geht (dazu auch dieser Text von Simon Sahner auf 54books). Es geht immer auch um Verkäuflichkeit, sowie darum, ein rundes Gesamtpaket zu schnüren – nur welche Kriterien man da gelten lässt und welche nicht, das ist eben die Frage.

Susanne Krones wies in dem SWR2-Gespräch darauf hin, dass die Verlage angesichts der Manuskriptfülle, aus der sie auswählen, alle Möglichkeiten hätten: „Wenn wir uns überlegen, welchen Bruchteil dieser Dinge wir nur einkaufen, dann lügen wir uns natürlich in die Tasche, dass wir da kein 50:50 herstellen könnten.“

Außerdem machte sie darauf aufmerksam, was passiert, wenn die Auswahl von Manuskripten anonymisiert wird und ohne Ansehen der Person stattfindet, wenn also geschlechtsbezogene Voreingenommenheit systematisch ausgeschlossen wird. Das ist der Fall beim Berliner Literaturwettbewerb Open Mike, in dessen Vorjury Susanne Krones saß. Nachdem aus mehreren hundert Einsendungen allein aufgrund der Textproben 20 Finalist*innen ausgesucht worden waren, kam man auf vier Männer und sechzehn Frauen. Ein anonymisiertes Vorauswahlverfahren gibt es auch bei den Hamburger Literaturpreisen, die in Kategorien von Comic über Übersetzung bis Roman an neun Frauen und zwei Männer gingen. Das kann passieren, wenn man das mit der Qualität einmal ernstnimmt. Lässt man die Voreingenommenheit walten, sieht es anders aus: Dann kommen Frauen auf einen Anteil von 13% aller Literaturnobelpreise oder auf 15% aller Georg-Büchner-Preise.

Anonyme Auswahlverfahren gibt es seit den Siebzigerjahren auch bei amerikanischen Orchestern, nachdem man festgestellt hatte, dass die fünf Top-Orchester des Landes einen Frauenanteil von weniger als 5% aufwiesen. Bei blind auditions befinden sich die Kandidat*innen beim Vorspiel hinter einem Wandschirm. Die Jury kann sie nicht sehen, nur hören, es geht allein um die Qualität ihres Spiels. Wissenschaftler*innen haben festgestellt, dass es durch diese Maßnahme um 50% wahrscheinlicher ist, dass es eine Frau in die Endauswahl schafft. Auf diesem Weg hat sich der Anteil von Frauen in diesen Orchestern inzwischen auf 30-40 Prozent erhöht, wie der Guardian berichtete.

Für Literaturhäuser und Verlagsprogramme dürfte so ein geschlechtsblindes Auswahlverfahren kaum umsetzbar sein, aber immerhin lassen diese Beispiele Rückschlüsse darauf zu, was wäre, wenn man die Sache mit der reinen Qualität konsequent durchziehen würde. Fast könnte man auf die Idee kommen, das Gerede davon, dass Männer eben einfach besser seien, diene im Wesentlichen der Verschleierung des Gegenteils.

Das Qualitätsargument würde so gern alle vereinen, denen Literatur am Herzen liegt, um die anderen als ideologisch Verblendete aus dem Gespräch auszuschließen. Es ist jedoch innen hohl, wie es Totschlagargumente gerne sind. Denn es gibt keine „reine Qualität“, so wie es nicht die eine, zentrale Instanz gibt, die sie unabhängig von Vorannahmen feststellen könnte. Jedes Urteil unterliegt einer Perspektive, und jedes Urteil bedarf eines Vergleichs. Qualität kann nur festgestellt werden, wenn man alle einbezieht, wenn man sich dem Vergleich stellt. Insofern ist Qualität ohne Diversität vor allem eins: fragwürdig.

 

Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin. Auf ihrem Blog www.nachtundtag.blog, der 2019 als bester Buchblog ausgezeichnet wurde, schreibt sie über das Thema Autorinnen sowie deren Literatur. Sie ist Mitinitiatorin der Aktionen #autorinnenschuber und #vorschauenzählen.

 

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Es gibt nur ein Thema: / den persönlichen Körper / und seinen unpersönlichen Untergang

Ein Nachruf von Dirk Uwe Hansen

 

Am 20.1. ist in Athen die Dichterin und Übersetzerin Katerina Angelaki-Rooke gestorben. Eine der größten griechischsprachigen Dichterinnen aller Zeiten, war daraufhin erwartungsgemäß im griechischen Feuilleton über sie zu lesen und im deutschen Feuilleton ebenso erwartungsgemäß nichts. Mag es nun daran liegen, dass sie eine Frau war (sie wär die erste nicht), eine Lyrikerin oder Griechin (anders als im Englischen finden wir auf Deutsch neben versprengten Gedichten in Anthologien nur einen einzigen gedruckten Band mit ihren Gedichten), eine Schande ist es allemal.

Nun ist allerdings hochgelobt so leicht wie totgeschwiegen und mit lebendiger Erinnerung und Wahrnehmung mag beides wenig zu tun haben. Aber was mich berührt hat, war, dass schon in der Nacht nach ihrem Tod viele viele griechischsprachige Autor*innen in sozialen Medien jeweils ein Bild und einen Text von Katerina Angelaki-Rooke posteten. Mehr nicht. So als hätte jede*r giechische Autor*in eben das von ihr im Kopf: ein Bild und einen Text, der wichtig ist. Photographien von Angelaki-Rooke gibt es im Netz mehr als genug, was es allerdings kaum von ihr gibt, sind “Autorinnenphotos” — ein*e Dichter*in mit dem klassischen zugleich nach innen und in weite Ferne gerückten Photostudioblick. Im Gegenteil: Selbst auf Photos von einer der vielen Preisverleihungen scheint sie stets jemanden anzusehen, um einen Gedanken, einen Scherz oder ein Lächeln zu teilen. Es ist unmöglich, Photos von ihr zu betrachten, ohne dass man sie gern kennenlernen und dieses Gesprächsangebot annehmen möchte.

Diese Menschenfreundlichkeit mag einer der Gründe dafür sein, dass sie für viele der jüngeren Dichter*innen in Griechenland eine so bestimmende Bezugsperson war, der wichtigere Grund ist natürlich ihre Dichtung selbst, die gekennzeichnet ist von großer Genauigkeit in der Beobachtung der physikalischen Welt, die sie in sehr eigener Weise mit der metaphysischen Welt zu verbinden weiß.

Die Augen lieben es,
sich den kleinsten Falten
der sichtbaren Welt zu widmen,
während die Werkstatt im Inneren
die Bilder zu Engeln erklärt,
oder zu Abschiedskarten
mit Pinien darauf.

Katerina Angelaki-Rooke wurde 1939 geboren. Damit gehört sie zur sogenannten zweiten Nachkriegsgeneration, einer Generation von Autor*innen also, die als Kinder die Traumata der deutschen Besatzung und des Bürgerkrieges erlebt haben, als Erwachsene die Jahre der Militärdiktatur und denen es gelungen ist, die griechische Literatur mit der europäischen Moderne zu verbinden — es ist kein Zufall, dass viele dieser Autor*innen auch Übersetzer*innen waren.

Angelaki-Rookes Familie war gut situiert, bildungsorientiert und kosmopolitisch. Ideale Voraussetzungen für eine junge Frau, die, wie sie in einem ihrer letzten Interviews sagte, sich für Literatur und Liebe interessierte, nicht aber für Luxus. Sie studierte Sprachen, reiste viel, heiratete den englischen Altphilologen Rodney Rooke, arbeitete als Übersetzerin und publizierte etwa 20 Gedichbände.

Ihre Poetik bringt sie selbst auf zwei einfache Formeln: “Die Dichtung hat keine Regeln. Regeln hat höchstens jede*r Autor*in für sich selbst” und “Damit ein Gedicht entstehen kann, muss es eine Wunde geben.”

“Ich stöbere mit der Zunge nach meiner Seele, / die mich angeblich jenseits des Lebens weiterleben lässt. …” In Katerina Angelaki-Rookes Gedichten stößt Metaphysik immer wieder auf die materiellen Voraussetzungen des Lebens, auf Leidenschaft und Leiden. Das ist keine bloße Metapher, denn sie war seit einer zu spät behandelten schweren Infektion im Kleinkindalter ihr Leben lang leidend, ein Leiden, das sie nach eigener Aussage erst zur Dichterin gemacht hat. Diese Verbindung von Leid, Leidenschaft und literarischer Umformung zeigt sich vielleicht nirgendwo so radikal und so schön wie im Zyklus der “Engelhaften Gedichte” (“Der Grenzengel Einmal / mit seinem schönen steifen Glied…”). Und immer findet sie dafür eine eigene Sprache und für ihre Gedichte eine eigene Form — und darin liegt ihre Bedeutung für die jüngeren Dichter*innen.

Die Narbe

Statt eines Sterns leuchtete eine Narbe über meiner Geburt.
Die Schmerzen, die ich durchlebte
mit meinem unfertigen Körper,
pressten mich zurück zur Dunkelheit des Anfangs.
Ich kroch auf dem Nichts,
die winzigen Finger hielten den Tod
wie ein schwarzes glänzendes Spielzeug.
Ich erinnere mich nicht,
wie es kam, dass ich blühte in der Form einer Wunde,
wie ich lernte, das Gleichgewicht zu halten
zwischen dem Eiter und meinen offenen Augen,
aber da, wo meine Mutter damit rechnete,
dass mich, wie ein Blatt auf dem Wasser,
noch vor Beginn meiner Reise der Fluss mitreißen werde,
sah sie mich plötzlich aus der Dunkelheit emporkommen.
Wer weiß, welche Verhandlungen stattfanden im Verlauf einer Nacht,
was ich gab,
was ich bekam,
worauf ich verzichtete,
was ich versprach, damit mich das Leben behielt als seine Dienerin.

War das Nötigung, Übereinkunft, Drohung?
Sollte ich dankbar sein
für das zerrissene Geschenk des Überlebens
oder rachsüchtig? Hatten sie mir befohlen,
nach oben zu sehen, oder nach unten zur Wurzel der Demut?
Welcher Demut, warum?
Was war das für eine so untragbare Last,
die mich vollkommen erschöpft hat,
noch bevor ich aufgebrochen bin?
Oder habe ich vielleicht eine andere Bürde auf mich genommen
und schleppe sie langsam und hinkend  ins Ziel?
Ich überlebte und fing zu spielen an.
Voller Vertrauen stützte ich mich auf das Gerät
und stieg die Stufen hinauf.
Auf dem Dachboden errichtete ich mein Königreich der Träume
aus ausgeschnitten Mannequins,
Florenz nannte ich diese verzauberte Stadt,
elegante Frauen und Männer mit Hut,
an der kleinen Tür nebenan war die Toilettenspülung,
die von Zeit zu Zeit wie ein Blitz hereinbrach
über die immateriellen Gewohnheiten meiner Hauptdarsteller.
Von unten stieg die Wärme dieser Welt hinauf,
die ganze Küche mit ihren Gerüchen, Geräuschen und den vertrauten Stimmen:
„Wie spät ist es? Hast du die Kartoffeln geschält?”
Die Küche war meine Phantasie aus Papier
— so früh also prägen die Pole sich aus?

(1990)
aus: Die Engel sind die Huren des Himmelreiches. Gedichte, übersetzt von Jorgos Kartakis und Dirk Uwe Hansen, Leipzig 2017

Mehr von Angelaki-Rooke kann man auf Fixpoetry lesen:

Verlassen und Fallen – Über Ali Smiths Roman „Herbst“

von Martina Kübler

Hier ist eine alte Geschichte, so neu, dass sie sich gerade erst zuträgt, sich in diesem Moment fortschreibt, ohne zu wissen, wohin und zu welchem Ende. Ein alter Mann schläft in einem Bett in einer Pflegeeinrichtung, in Rückenlage, der Kopf von einem Kissen gestützt. Sein Herz schlägt, und das Blut strömt durch seinen Körper, er atmet ein und aus, schläft und ist wach und ist nichts als ein abgerissenes Blatt auf einem fließenden Bach, grüne Adern und Blattgewebe, Wasser und Strömung, Daniel Gluck wirft seine Sinne ab, seine Zunge ein breites grünes Blatt, Blätter sprießen aus seinen Augenhöhlen, Blätter höckern (sehr gutes Wort dafür) aus seinen Ohren, Laub rankt sich durch seine Nasenhöhlen und heraus und herum, bis er ganz in Laub gehüllt ist, Blatthaut, erleichtert.
(Ali Smith: Herbst)

Große Werke der Literatur tragen den Schlüssel für ihre Lektüre bereits in sich, der Text selbst gibt Hinweise darauf, wie er gelesen, wie er verstanden werden möchte. Der Roman Herbst der schottischen Autorin Ali Smith, der als Autumn bereits 2016 auf Englisch und im Oktober 2019 endlich bei Luchterhand auf Deutsch erschienen ist, gibt der Leserin gleich mehrere solcher Schlüssel an die Hand, einen dicken Schlüsselbund, mit dessen Hilfe man sich dem schlanken Büchlein nähern soll.

Leaves/Blätter

Ein solcher Schlüssel findet sich etwa, wenn Smith eines der vielen kurzen Kapitel im letzten Drittel des Buches mit „Hier ist eine alte Geschichte, so neu, dass sie sich gerade erst zuträgt“ beginnt. Obwohl dieser Satz wie ein typischer Romananfang daherkommt, fällt er bei Smith erst spät. Sie eröffnet die Geschichte von der Freundschaft zwischen dem 101-jährigen Daniel Gluck und der Mittdreißigerin Elisabeth Demand lieber in medias res mit einem Traum, den Daniel auf seinem Sterbebett träumt, und der einsetzt, als er nackt an einem einsamen Strand angespült wird. Verschämt flieht der träumende Daniel ins Gebüsch, wo er sich ein Kleid aus Blättern fertigt, um seine Nacktheit zu verbergen – der gleiche Daniel, der währenddessen sterbend im Bett liegt und dabei wie ein zerrissenes Herbstblatt aussieht, das auf dem Wasser treibt, dessen Zunge einem grünen Blatt gleicht, und aus dessen Augenhöhlen, Ohren und Nasenlöchern ebensolche Blätter quellen.

Blätter finden sich an vielen Stellen von Smiths Roman wieder; ein Motiv, das sich leicht mit dem Romantitel Herbst in Verbindung bringen lässt. Herbst ist das erste Buch in Smiths Romanquartett, dessen Nachfolger Winter und Spring auf Englisch bereits erschienen sind. Der letzte Teil Summer folgt voraussichtlich im Sommer 2020. Ganz so einfach wie die Gleichsetzung der Blätter mit der Jahreszeit Herbst bleibt Smiths Bildsprache jedoch nicht, denn sonst würde Smith, die bereits zweimal für den renommieren Man Booker Prize nominiert war, in ihrer Heimat Großbritannien wohl kaum als „Scotland’s Nobel laureate-in-waiting“, als Anwärterin auf den Nobelpreis, gehandelt. Den Blättern kommt eine ganz andere Bedeutung zu, wenn man einen Blick in das englische Original wirft und bedenkt, dass die Geschichte im Herbst 2016 in England spielt. Es handelt sich also genau um jenen Herbst, der auf den verhängnisvollen Sommer folgte, in dem Großbritannien über Austritt aus oder Verbleib in der Europäischen Union entschied.

Leave/Verlassen

„Vote leave!“ hieß es im Vorfeld des Referendums auf Schildern und Bannern im ganzen Vereinigten Königreich. Die „Leavers“ lieferten sich Schlagabtäusche mit den „Remainers“. Am Ende stand die Entscheidung fest: „We’re leaving the EU“, sagten die Briten, und dieses Verlassen wird in Smiths literarischer Sprache durch den Gleichklang mit den „Blättern“—leaves—fest mit der Jahreszeit Herbst verknüpft, ein Schlüssel für den Zugang zu ihrem Roman, der sich also, so gut die Übersetzung auch sein mag, nur im englischen Original offenbart. Hier lautet die eingangs bereits zitierte Passage des im Hospizbett liegenden Daniels nämlich:

[H]e’s nothing but a torn leaf scrap on the surface of a running brook, green veins and leaf-stuff, water and current, Daniel Gluck taking leaf of his senses at last, his tongue a broad green leaf, leaves growing through the sockets of his eyes, leaves thrustling (very good word for it) out of his ears, leaves tendrilling down through the caves of his nostrils and out and round till he’s swathed in foliage, leafskin, relief.

Der Gleichklang der Worte „leave“, „leaving“, „leaf“, „leaves“ und „relief“ begleitet den Roman wie eine Hintergrundmelodie. Herbst gilt als der erste Brexit-Roman überhaupt, denn Smith schrieb und veröffentlichte ihn nach dem Referendum im Juni noch innerhalb des Jahres 2016. „It’s the never-ending leaf-fall“ heißt es im Text weiter, und spätestens mit diesem Fallen paart sich die Untergangsstimmung und die Hoffnungslosigkeit des britischen EU-Austritts mit dem Herbst als Jahreszeit des Fallens der Blätter, des Sterbens, des sich vermeintlich anbahnenden Todes.

Diese politische Stimmung in Großbritannien nach dem Brexit-Referendum kommentiert Smith in einigen Passagen mit großer Offenheit. „It was the worst of times, it was the worst of times“, lässt sie ihre Geschichte beginnen und stimmt damit nicht nur eine fatalistische Grundstimmung an, sondern rekurriert noch dazu auf den Anfang eines der bekanntesten britischen Romane überhaupt. Charles Dickens‘ A Tale of Two Cities, der mit „it was the best of times, it was the worst of times” beginnt, spielt vor und während der Französischen Revolution, eine Zeit des Aufruhrs und der kulturellen Zerrissenheit also. Smith stellt für die heutige Zeit eine ähnliche Diagnose: „All across the country, people felt it was the wrong thing. All across the country, people felt it was the right thing.”

Vordergründig ist Herbst allerdings kein politischer Roman; der Brexit steckt im Detail. Vorrangig erzählt Herbst von der Freundschaft zwischen Daniel und Elisabeth, eine Freundschaft, die Generationen übergreift. Als junges Mädchen freundet sich Elisabeth mit dem alten Nachbarn an, der ihr schon bald in sokratischen Dialogen das aufmerksame Lesen, das Denken und Sich-Wundern beibringt. Seine erste Frage lautet stets „Was liest du gerade?“. Daniel, der knappe siebzig Jahre älter ist als Elisabeth, hat nie verlernt, die Welt mit den neugierigen Augen eines Kindes zu sehen.

Als die Geschichte einsetzt, liegt der 101 Jahre alte Daniel bereits bewusstlos in einem Hospiz, wo Elisabeth ihn regelmäßig zum Vorlesen besucht. Smith erzählt die Geschichte der beiden in mal kürzeren, mal längeren Rückblenden, die sich, da nicht chronologisch angeordnet, eher lose zu einem großen Ganzen, einer Art virtuoser Collage zusammenfügen. So erfährt die Leserin im Laufe der Geschichte nicht nur Einiges aus dem Leben, Träumen und Erinnern der Charaktere, sondern erlebt vielmehr eine Art psychedelisches Medley der britischen und gesamteuropäischen Geschichte. In Daniels Erinnerungen zum Beispiel gibt Smith Einblicke in dessen Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg, wohingegen die Kunsthistorikerin Elisabeth in einem anderen Handlungsstrang Werk und Schaffen der in Vergessenheit geratenen britischen Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty (eine reale Figur!) wiederentdeckt. All das wird erzählt auf eine für Ali Smith typisch humorvolle und selbstironische Art, die etwa auch vor albernen Wortspielen nicht zurückschreckt und sich sogar beim Scherzen noch selbst aufs Korn nimmt: „Puns, the poor man’s currency“, heißt es, just nachdem ein ebensolcher Wortwitz gemacht wurde.

Relief/Erleichterung

Als Kind, so erfahren wir in einer weiteren Rückblende, hat Elisabeth einmal die Hausaufgabe, über einen ihrer Nachbarn ein „Porträt aus Wörtern“ zu schreiben, eine Aufgabe, für die sie den wundersamen Daniel auswählt. Mit Herbst präsentiert uns Ali Smith ein solches Wörterporträt und zeichnet damit ein vielschichtiges, leicht schrulliges, aber gleichermaßen liebenswürdiges Bild unserer britischen Nachbarn.

Leaves, vote leave, relief. Am Ende des Sterbens steht der Tod. Am Ende des Herbstes, wenn alle Blätter gefallen sind, erwartet die Leserin „relief“, also die Erlösung. Daniels Leben, dessen 101 Jahre die Höhen und Tiefen der europäischen Vision umspannen, ist am Ende des Romans jedoch wider Erwarten nicht zu Ende. „Relief“ steht hier also nicht für Erlösung, sondern für die Erleichterung, die eintritt, wenn Daniel im letzten Kapitel kurz aus seinem Schlaf erwacht, ein stattliches Mittagessen zu sich nimmt, und die Pflegekraft unverfroren anschwindelt, indem er nach seiner „Enkelin“ Elisabeth verlangt. Die Untergangsstimmung des Herbstes und die Hoffnungslosigkeit des Brexits schlagen um in eine Hoffnung darauf, dass Fremde erst zu Nachbarn, dann zu Freunden und schließlich zur Familie werden können. „Trotz Feuchte und Kälte”, heißt es am Schluss, “ist an einem Busch, der bereits abgeblüht aussieht, eine Rose weit geöffnet, noch. Sieh dir [ihre] Farbe an!”

 

Photo by Caleb S on Unsplash

Klausur

Eine literarische Erzählung von Kamala Dubrovnik in der Reihe 54stories

Hier kann man den Text auch hören

 

Todmüde liege ich im Halbdunkel und hoffe, dass die Nervenenden meiner Klitoris vielleicht irgendwann auch meine Synapsen entspannen. Nach dem achten Versuch lasse ich den Vibrator lustlos zwischen den Beinen liegen. Bin kurz eingenickt, vielleicht für ‘ne Stunde und jetzt beginnt zwischen meinen Lidern etwas zu kriechen. Ich schiebe sie auf wie die Lamellen einer Jalousie und sehe wie sich ein kleiner dunkler Fleck auf dem Bettlaken bewegt. Da ist eine! Drecksviech! Ich schlage zu und wische dann mit abgründig nach unten gezogenen Mundwinkeln den dunklen Schmierfleck vom Boden. Ich bin wirklich, wirklich müde. Eigentlich wollte ich, dass du vorbeikommst, bist wärmer als mein Bett und du vertreibst die unerträglich schlaflosen Naächte durch deine unerträglich nahe Gesellschaft. Ich ertrag dich eben nicht, das, was du sagst. Ich bin müde, ehrlich. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte dir meine Welt zu erklären und vor allem – will ich nicht. Ich glaub, ich beende es. Ist einfach zu anstrengend dieser Diplomatiemarathon. Ein Griff zum Handy und bevor ich darüber nachdenken kann, tippe ich “macht feminismus einsam” bei Google ein. Die ersten Ergebnisse lauten: 1. „Mein Feminismus hat mich beziehungsunfähig gemacht.“ 2. „Je feministischer desto unglücklicher.“ 3. „Diese Angst vor autarken Frauen nimmt bizarre Züge an.“ Wow. Warum kann da nicht stehen: 1. Der Feminismus stärkt Liebe auf Augenhöhe 2. Je feministischer, desto glücklicher 3. Mythos gelüftet. Männer haben gar keine Angst vor starken Frauen, sondern nur vor ihrem eigenen Versagen. Ach, Fuck jetzt fängt’s an zu jucken, eine hat mich erwischt. Ich werfe die Suchergebnisse aus dem Genderdungeon auf das gegenüberliegende Sofa und ganz langsam kriecht das Handy schüchtern blinkend unter meine Decke zurück. Meine Finger tippen auf dem Display herum und copy-pasten halbgare Floskeln aus den letzten Ichwilldichnichtmehrsehen-Situationen zusammen, die ihm hoffentlich verständlich machen, dass ich ihn nicht mehr sehen will. Irgendwas mit “Lieber Tim” und „passt nicht“, dann sowas wie „Distanz“ und „Alles Gute“. Gesendet.

Mein leeres Zimmer gähnt mich an und ich reiße meinen Mund weit auf und gähne zurück wie eine abgemagerte, stumme Löwin. Erschöpft und hechelnd liege ich im Schatten meiner Nachttischlampe, während ich gedanklich eine Rechnung an Tim adressiere – für emotionale Leistungen.
Ich will schlafen, ich will nicht mehr drüber reden. Wirklich nicht, ich kann einfach nicht mehr. Nein, ich hab doch gesagt ich bin müde… Mir fallen die geäderten Augen zu, Lider wie schwere Sandsäcke fallen staubig aufeinander. Und dann – kommt die Flut. Es fließt aus den Ecken und tropft von der Decke. Wellen von kleinen, dunkelbraunen Insekten schwappen an den Rand meiner Matratze, spülen über mich hinweg, decken mich zu wie ein dreckiges, braunes Laken, fließen wieder von mir herunter. Ein paar bleiben hängen, saugen sich an mir fest, dunkle Male auf meiner Haut.

Ich öffne die Augen und atme tief durch. Es kribbelt an meinem Fuß. Wenn es kribbelt kann es keine sein, die spürt man nämlich gar nicht, erst wenn sie beißen und es dann anfängt zu jucken. Jetzt kribbelt’s am Rücken…Scheiße. Schließe wieder die Augen, sehe rotes Licht und entzündete Nippel, fühle kochendes Blut, rieche Hormone, Gender Studies, Angstschweiß und spüre plötzlich alle Kerben brennen, die in meinen Stolz geschlagen wurden. Sehe Tim wie er mich irritiert anguckt, weil ich unrasierte Achseln habe und schlage die Augen auf.

Wenn ich meine Ruhe habe, heißt das ich bin alleine.

Nein, ich würde mich nicht als radikal bezeichnen. Nein, nein, keine Angst, ich bin keine von denen. Nein, ich hasse keine Männer, das hat ja auch gar nichts damit zu tun. Ja, wirklich. Ja, ich bin ja eine ganz andere Generation. Ja, total schwierig heutzutage. Ja, genau, gerade zwischenmenschlich. Doch, ich finde schon, dass man sich noch näher kommen kann. Es geht doch darum geschlechtliche Grenzen abzubauen, dann sind wir doch alle freier.

Mein Knöchel beginnt höllisch zu jucken, ich fühle ein, zwei, drei Stellen nebeneinander. Als ich mit den Fingern darüber streiche, schwellen sie an, werden heiß und rot. Ich atme durch die Zähne, kratze mich. Du? …Nein, du bist keiner von denen. Du bist weiß, zumindest mittelalt, und du hast nen Schwanz, aber du bist doch keiner von denen, ganz bestimmt nicht, wie käme ich denn darauf. Du bezahlst mein Bier, weil‘s sich so gehört, aber du bist keiner von denen. Du benutzt

“Bitch” als Schimpfwort, aber die Leute wissen ja wie du’s meinst. Du fragst dich, ob man jetzt noch flirten darf, weil es ja genau darum geht, aber du bist keiner von denen. Du guckst mir während wir darüber reden auf die Brüste, aber du bist garantiert keiner von denen. Ich weiß: Du bist was ganz besonderes.

„Sie müssen sich leider zusammen reißen und weiterhin dort schlafen.“ hat der Kammerjäger gesagt. “Die Wanzen werden von ihrer Körperwärme angelockt, ansonsten verkriechen sie sich so weit, dass wir sie gar nicht erwischen können.” Ich bin also ein Lebendköder, muss mich selber auslegen und nachher meine Stiche zählen. Ist das sein Ernst? Die Menschen können zum Mond fliegen, aber ich muss hier jeden Abend Dschungelprüfung machen, wenn ich mich schlafen lege? Der Weg des geringsten Widerstands, den ich nicht gewählt habe: Leg dich hin und lass dich stechen. Bleib reglos liegen, bis sie alle einmal rüber sind. Denk einfach an was Schönes.

Bullshit. Ich kann nichts vergessen, gar nichts. Ich kann nur tolerieren, während mich alles andere daran erinnert, wo mein Platz ist, wo ich hingehöre. Ich würde dir damit ja ständig auf deinen achsoheiligen Sack gehen, damit du es ebenfalls nicht vergisst, aber – ich bin einfach zu müde.

Ich seh’s in deinen Augen, ich bin in schwänzliche Ungnade gefallen. Du fängst an mich zu hassen. Alles, was du vorher stark und verwegen fandest, findest du jetzt – anstrengend. Das ist die Essenz der ganzen Sache. Anstrengend. Du findest es nicht natürlich oder notwendig sondern übertrieben, daher ist es so anstrengend.

Jetzt sagst du plötzlich, ich sei frustriert. Frustriert, frigide, ungefickt, misogyner Klimax. Das was mir nämlich eigentlich fehlt ist – Überraschung – ein Schwanz. Ein richtig dicker, der am Anfang wehtut, aber genau das ist, was ich brauche. Denn ohne ihn, nimmst du mich einfach nicht ernst. Du langweilst mich. Frag mich doch noch, ob ich meine Tage habe. Was ist? Traust du dich jetzt nicht mehr? Hm? Verdammt, dieses Jucken bringt mich um. Ich kratze mich leidenschaftlich am Fuß, während sich meine Augen nach innen rollen. Jetzt juckt es noch viel mehr. Und ich kann nichts dagegen tun. Dass du mich so siehst. Und ich konnte auch nichts tun, als wir beide uns letztens begegnet sind. Wir zwei, alte Bekannte, immer viel Sympathie gehabt und viel geschäkert. Ein freundschaftliches Augenzwinkern, das mir plötzlich zwischen die Beine fasst. Wie unangenehm, wenn du dich genau so daran erinnern würdest, wie ich es tue. Wie du mir ins Ohr geflüstert hast, dass ich dich lasziv angeschaut hätte. Glücklicherweise machst du das nur, wenn du betrunken bist, du merkst es dann kaum und ich denke stattdessen darüber nach, welche meiner Gesten als erotisch interpretiert hätten werden können. In deinen Augen bin ich ein notgeiles Stück, das hast du gedacht und ich hab’s gehört. Laut und deutlich. Und ich kann nichts dagegen tun, dass du mich so siehst. Nichts.

Bin nicht Mutter, bin nicht Mädchen, ich bin ledig. Mit Schlampenpotential. Die Haut an meinem Fuß ist offen, blutet ein bisschen, ich kann jetzt nicht mehr kratzen. Ich könnte dir auch all das sagen, es würde sich nichts ändern. Ich könnte deine Hand von meiner Hüfte nehmen, es würde sich nichts ändern. Ich könnte mir mit Edding Femen auf die Titten malen und dich anschreien, du würdest mich ganz genau so anschauen. Als könnte ich dir nie gefährlich werden.

Ich richte mich auf, steif wie eine Spielzeugpuppe und fühl mich ähnlich seelenlos, drehe meinen angeschraubten Kopf und sehe wie eine fette, vollgesogene Bettwanze unter meinem Kopfkissen hervor krabbelt. Du entkommst mir nicht, du Miststück. Mit einem Kippenstummel, den ich schnell aus dem Ascher fischen kann, quetsche ich das Blut, mein Blut, aus ihr heraus, und zerdrücke ihren kleinen Körper vor mir auf dem Fußboden. Ich bin angewidert. Von allem, von diesem winzigen, verwanzten Zimmer, von mir, die ich hier übernachten muss, von mir, die so müde ist, zu müde ist, um weiter zu sprechen, angewidert von meiner Schwäche, davon, dass mein Kampfgeist gebrochen scheint, weil ich nicht die Kraft besitze jeden Tag aufs Neue den “Dialog zu öffnen”, angewidert von meinem eigenen Schweigen, kann fühlen, wie ich mich selbst in die stumme Masse einfleische, meine Faust zur Hand wird und ich beinah untergehe. Beinah. Kämpfe gegen Windmühlen aus schlackernden Vorhäuten und ProLifeChristinnen. Bin so angewidert und bleibe einfach liegen.

Danke, mir geht’s gut, ehrlich. Ja, ich schaff das schon. Bestimmt. Ja, wirklich. Obwohl sie sich jede Nacht an mir festsaugen, sich von mir ernähren, von meinem Körper, meinen Brüsten, meinen Armen, Beinen, meinem Bauch und meinen Händen, geht es mir gut. Sie saugen mein Blut und verdauen es zu Überheblichkeit und Arroganz, reiben sich an mir ab, pissen überall hin, markieren ihr Revier.

Legen sich wie grausame Liebhaber jede Nacht unbemerkt in mein Bett. Tagsüber findet man sie nicht, seh’ ich sie nicht, existieren sie nicht. Hab sie eingeschleppt, hat jemand eingeschleppt, verstecken sich in Koffern, Taschen, alten Büchern, schämen sich vielleicht, legen ihre Eier zwischen die Zeilen, schlüpfen irgendwann, ganz unbemerkt.

Was, wenn ich nie wieder wirklich schlafen kann und deswegen nie wieder wirklich wach werde. Nicht mehr weiter machen kann. Wenn ich wirklich ernsthaft resigniere und dann im Petticoat und mit einem angeschminkten Lächeln in der Küche stehen muss like it’s 1955. Ja, ich weiß, aber es fühlt sich genauso an.

Tim schreibt: „Ich hab mir schon gedacht, dass du ‘ne miese Fotze bist, die einfach nur…“ Das Display wird wieder dunkel. Jaja, ist schon okay, war mein Fehler, dich nicht sofort zu blockieren.
Das Gefühl der Bestätigung drehe ich in eine dünne Zigarette und mit dem Schnippen des Feuerzeugs ist es vorbei. Ich puste den heißen Rauch in die Luft, ganz langsam und sehe dabei zu, wie sich die dichteren Wolken schnell auflösen und im gemütlichen Licht nur ein schlechter, kalter Geruch zurückbleibt. Ich weigere mich unsichtbar zu werden, mich zu verstecken, zu tarnen, parasitär zu leben, und ich weigere mich heimlich zu trauern, heimlich zu ficken und heimlich wütend zu sein. Heimlich wird vergessen. Versteckt wird übergangen. Nicht sichtbar ist nicht existent. Dann lasse ich lieber meine Achselhaare zum Fenster rauswachsen, damit alle Tims dieser Welt sie sehen und mich nicht vergessen, auch wenn ich dann „die verrückte Alte“ bin. Ich drücke auf den Einschaltknopf des Vibrators. Neuer Versuch. Einmal lange gedrückt halten und dann presse ich ihn zwischen meine Beine. Angestrengt beiße ich für Sekunden die Zähne zusammen, das Ding stottert wie ein kaputtes Auto und gibt dann endlich den Geist auf. Klar. Resigniert falle ich in die Kissen zurück und gebe auf. Es ist so weit. Ich bewege mich jetzt nicht mehr und mein Mund bleibt geschlossen bis die Erschöpfung mich hoffentlich irgendwann übermannt. In der einen Hand ein kaputter Vibrator, in der anderen eine eingerollte Zeitung zur Verteidigung liege ich da wie ein Unfallopfer. Ein verdrehter Körper, der aus dem zehnten Stock gefallen ist, und aus irgendwelchen Gründen überlebt hat. Zum Glück.

Kamala Dubrovnik ist die Hedonistin der Herzen, die Smooth Operator der Literaturszene, die Matriarchin musischer Ausschweifung. Sie ist Autorin, Sprecherin, Musikerin und Künstlerin und beschäftigt sich mit den essentiellen Themen des Lebens: Sex, Tod, Politik. 

www.kamaladubrovnik.com

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Wer hat das Gudbrandstal geschrieben?

Klima, Kunst und Erde: In diesem Gesamtkunstwerk, zu dem auch wir gehören, hängt alles mit allem zusammen.

Susanne Christensen, 1969 geboren, ist eine dänisch-norwegische Literatur- und Kunstkritikerin. Der vorliegende Text stammt aus der norwegischen Literaturzeitschrift Vagant und war ursprünglich ein Beitrag zum Kunstprojekt Framtidsruiner (Zukunftsruinen) über Orte im norwegischen Gudbrandstal. Das Gudbrandstal ist eine nahezu mythisch aufgeladene Landschaft: Vom sogenannten „Eidsvoll-Eid“ („Einig und treu, bis der Berg Dovre fällt“), den sich die verfassungsgebende Reichsversammlung 1814 schwor und damit für Norwegens Unabhängigkeit sorgte, bis zu Edvard Griegs Vertonungen des Ibsen-Dramas Peer Gynt ist es für die Ausprägung der norwegischen Nationalromantik von höchster Bedeutung.

2011 wurde Christensen zur norwegischen Kritikerin des Jahres gewählt, im gleichen Jahr erschien ihre Essaysammlung Den ulne avantgarde (Die heikle Avantgarde), 2015 En punkbønn (Ein Punkgebet), ein Buch über feministischen Punk-Aktivismus. 2019 gab sie Leonoras reise heraus, eine theory fiction über die britisch-mexikanische Surrealistin Leonora Carrington, Ökofeminismus, Klimawandel und die prekären Arbeitsbedingungen von Kritiker*innen. Derzeit ist sie Herausgeberin des Norwegischen Jahrbuchs für Kunst. Für Leonoras reise liegen ein Exposé und eine deutschsprachige Leseprobe in Übersetzung von Matthias Friedrich  vor. Das Buch sucht derzeit einen Verlag.

Die im Text mehrfach erwähnte Künstlerin und Filmemacherin Bodil Furu wurde 1976 geboren und lebt in Oslo. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich insbesondere mit den Auswirkungen des Bergbaus, der Repräsentation von Landschaften sowie den fiktionalen Dimensionen des Dokumentarischen und komplexen Narrativen.

 

1.

Ein Zug, der fast schon am Ufer entlangfährt. Genauso fühlt es sich an, mit dem Zug von Oslo ins Gudbrandstal hinauf zu reisen, etwa Richtung Lillehammer. Das ist kein langsamer Zug. Zum Monatswechsel zwischen Mai und Juni, wenn die Tour gerne zum regionalen Literaturfestival führt, tanzt ein eilig wechselndes Flimmern grüner Zweige und Wasserlichtreflexen am Zugfenster vorbei. Dieses Flimmern ist eine treffende Illustration eines sprudelnden Glücksgefühls, einer Euphorie, für mich jedoch folgt darauf blitzschnell eine Warnung vor einem herannahenden Migräneanfall. Einen Staketenzaun zu passieren, der Lichtschimmer für Lichtschimmer hervorruft, hat bei mir früher schon Migräne ausgelöst, ebenso der Anblick einer weißen Tafel, die das von draußen kommende Licht reflektiert. Konkrete Beweise gegen die schädlichen Wirkungen des Stroboskoplichts habe ich keine; bei Konzerten wende ich mich aber gerne ab und schließe die Augen.

Ein flimmerndes, sprudelndes Glücksgefühl im overdrive und eine Antwort meines Gehirns: Sehstörungen in Form eines Lichtkranzes im Augenwinkel. My own private modernism, erschaffen von meinem Gehirn, ein Vorzeichen wahnsinnigen Schmerzes, wie ein das Auge durchbohrendes Schwert. Oft trifft das Phänomen nach einer halben Stunde mit brutalem, weißem Rauschen im Sichtfeld ein. Ein tiefes Tal mit herabbrausendem Wasser in der Mitte, es liegt nahe, diese Landschaft als weiblich zu bezeichnen. Passagiere in einer energischen Blechbüchse auf dem Weg zurück, in den Geburtskanal. Auf dem Literaturfestival penetrieren Oslos Verlagsleute diese mystische Landschaft mit ihren lärmenden Rollkoffern. Die Aussichten, morgens um fünf mitten in einem Kreis lachender Hyänen im Hotel Breiseth zu enden, sind unheimlich groß.

Im Oktober 2013 allerdings fuhr ich an Lillehammer vorbei und weiter landauf- und landeinwärts. Die Station, an der ich ausstieg, hieß Harpefoss, und meine Frage lautete: Was ist ortsspezifische Schrift? Das Laub war nicht mehr grün, es war gelb, orange und rot. Eine Farbpalette, die unmittelbar weniger Migräne verursachte als die schrillen Neonfarben des Frühjahrs. Mein Job war es, in einem Loft herum zu spuken, um Mitternacht ein bisschen auf den Fußboden zu klopfen und nachts schweren Schrittes über die Treppen zu laufen. Vom Vollmond inspiriert, forderte ich die Grenzen heraus, als ich versuchte, Nicos „Janitor of Lunacy“ vom Album Desertshore (1970) mit dem schwachen Stimmchen einer Schneeeule aufzuführen. Die Vertikalität der Bergböschungen da draußen erschloss sich mir nicht. Drückte ich das Gesicht an die kühlen Fensterscheiben meiner Mansardenkammer, sah ich, wie der Mond eine Landschaft beleuchtete, die zwei Jahreszeiten zugleich zu beherbergen schien: Noch immer glühte warm der Herbst im Schoß des Tales, während der Raureif eine strenge Linie über die Baumwipfel zeichnete. Etwas da oben atmete kalt, eine Temperaturgrenze schied die feuchte Tiefe des Tales von den verfrorenen Silberfarben der Berge.

Auf ziellosen Wanderungen durch die Umgebungen und auf Expeditionen zum lokalen Kiwi-Supermarkt versuchte ich, meine Arbeit zu planen und zu dokumentieren. Aber handelte es sich hierbei um ein Werk? Sieh an, ein Lastwagen voller schwarzer Rundhölzer. Die Rundhölzer waren zu lang, die Ladefläche stand offen und bezog sich mit ihrem blauen, metallischen Rechteck auf Rothko. Wenn ich auf meine Zeit in Harpefoss zurückblicke, halte ich allerdings zwei von Richard Long inspirierte Werke für die gelungensten. Die Werke sind Spaziergänge bis an meine absoluten geographischen Außengrenzen. Harpefoss als solches ist keine wiedererkennbare Stadtkonstruktion. Das Harpefoss Hotel, ein ornamentiertes Holzgebäude im Schweizerstil von 1896, in dessen Dachkammer ich wohnte, lässt sich vielleicht als soziales Stadtzentrum beschreiben, wohingegen das Lebensmittelgeschäft Kiwi eher ein Handelszentrum repräsentiert. Auf dem Parkplatz halten die Autos, aus denen scheue Menschenkörper in Richtung des Ladens laufen und mit Tragetaschen wieder zum Auto zurück. Man ist in dieser Landschaft, wie auch in Los Angeles, ohne Wagen aufgeschmissen.

In beiden Werken wollte ich so weit wie nur irgend möglich spazieren und auf meinem Weg in einem Spiel mit meinen Umgebungen eingehen, die sowohl in aktiver als auch in passiver Hinsicht zur Formbestimmung meines Werkes beitragen sollten. Das Werk bestand aus den Linien, die unsere Fußspuren über der Landschaft zeichnen. Das erste Werk zog sich am Fluss Gudbrandsdalslågen nach unten. In diesem Gebiet waren bereits viele Arbeiten im Gange. Es ist unklar, ob diese Tätigkeit etwas mit dem Ausbau der E6 zu tun hatte, nichtsdestoweniger wurden meine Aktivitäten schon bald von Menschen bemerkt, die hier beschäftigt waren. Mit Händen und Füßen vermittelte ich, dass ich gerne am Gewässer entlanggehen wollte. Der Arbeiter, mit dem ich sprach, war in einen astronautenartigen Sicherheitsanzug eingepackt; wir kommunizierten mühevoll, doch er zeigte eine gewisse Offenheit. Bald nahm er mich in seine gelbe Maschine mit und fuhr mich durch das verbotene Gebiet. Dann setzte er mich ab, und ich hatte die Freiheit, das Werk in einer kreisförmigen Improvisation am Gewässer entlang zu vollenden.

2.

Von dem Ort aus, an dem ich dies schreibe, dem Nordwestviertel Kopenhagens, scheint es leicht, das Gudbrandstal als Natur einzuordnen, aber unberührte Natur ist es kaum, es ist Natur, die beständig von vielen Händen geknetet und geformt wird. Man kann wirklich behaupten, dass das Gudbrandstal von Henrik Ibsen (1828-1906) geschrieben wurde: Peer Gynt (1876) spielt genau hier. Dass Ibsen sein Theaterstück im Umkreis von Vinstra ansiedelte, nur sechs Kilometer von Harpefoss entfernt, hat für die Region eine große Bedeutung, sie ist Kronborg, wo Shakespeares Hamlet von 1605 spielt, nicht unähnlich. Am Gålåvatnet, Peer Gynts Geburtsort, findet jetzt jährlich das Peer-Gynt-Festival statt, mit einer Aufführung des Theaterstücks als Höhepunkt. Das Festival ist ein internationaler Publikumsmagnet, und man rechnet damit, dass es jeden Sommer ungefähr 12000 Gäste nach Vinstra lockt. 12000 Paar trampelnde Füße, die an der Landschaft mitkneten.

Die Künstlerin Bodil Furu (geb. 1976) arbeitet im Film Landscapes By The Book an einer Art Porträt des Gudbrandstals. Es handelt sich um einen dokumentarischen Film, der aber essayistisch aufgebaut ist. Ohne, dass es zu explizit hervorgekehrt wird, scheint er so etwas wie eine poetische compilation von Faktoren zu sein, die diese Landschaft beeinflussen und verändern. Die Veränderungen werden beobachtet und kommentiert von den etwa neun Hauptpersonen des Films, die sich auf ihre je eigene, spezifische Weise äußern dürfen. Der Tankwart Kristen Bjørgen, der einen afrikanischen Hintergrund hat, hieß früher Jules Kayabal, hat sich jedoch für eine Namensänderung entschieden, weil er – wie er lächelnd sagt – reinpassen will. Bjørgen und ein Freund eröffnen den Film mit der Lektüre eines Volksmärchens über Ulveig, eine Frau, die man für eine Hexe hielt, weil sie heftig gegen das neu eingeführte Christentum opponierte. Der Legende zufolge warf sie Steine auf die Sør-Fron-Kirche, weil sie das Geräusch der Kirchenglocken nicht ertrug. Im Laufe des Filmes gibt es noch mehr ähnliche Zwischenspiele älteren Wissens, dargebracht in Form von erzählten, gesungenen und aufgeführten Volksliedern und Legenden, die dadurch als Kommentar zum zeitgenössischen Gudbrandstal wiederbelebt werden. Ein wehmütiges Volkslied über Liebeskummer zum Beispiel wird mit zwei gelben Traktoren im Hintergrund dargeboten. Migration ist ein verändernder Faktor, aber hier ist es Kristen Bjørgen, der sich verändern lässt, um hineinzupassen, etwas, das er mit Freude und Dankbarkeit zu tun scheint.

Die größten landschaftsverändernden Faktoren sind indes zwei umfangreiche Bauvorhaben: Das inzwischen beerdigte Kåja-Kraftwerk hätte einen Damm quer über den Gudbrandsdalslågen zur Folge gehabt. Furu folgt der Debatte über das Wasserkraftwerk aus mehreren Perspektiven. Ein weiteres Projekt, das sich in der Entstehung befindet, ist die Verlegung der E6-Autobahn, für die die staatliche Straßenbehörde verantwortlich ist. Zwei Vertreterinnen dieser Behörde, gekleidet in neonorange Anzüge, teilen ihre Reflexionen mit uns. Am auffälligsten ist die Sprache, die sie für ihre Arbeit verwenden, sie, die professionell Geschäfte mit dem Wahrnehmbaren treiben: Unter anderem reden sie davon, „Regie“ bei Reiseerlebnissen zu führen. Genauso gut könnten sie davon reden, bei einem Theaterstück oder einem Film Regie zu führen, und wir erhalten Einblick in einen szenischen Gedankengang, der der Methode zugrunde liegt, mit der die „wilde“ Natur des Gudbrandstals inszeniert und, verglichen mit einem Blick aus dem Autofenster, angeordnet wird.

Ein weiterer Ausdruck, den die Frauen von der Staatlichen Straßenbehörde verwenden, lautet „Konsequenzen ohne Preisfestsetzung“. Dabei geht es um diejenigen Schriftsteller aus dem Gudbrandstal, die sich schwerlich berechnen lassen. Es sind keine steinblockwerfenden Hexen, sondern Steinrutsche und Überschwemmungen, die auf eine ähnliche Art die im Tal vor sich gehenden Veränderungen beantworten. Wir müssen annehmen, dass Teile hiervon, nämlich die gewaltigen Überschwemmungen von 2011 und 2013, mit weitaus größeren Erzählungen außerhalb des Gudbrandstals zusammenhängen, nämlich mit den Veränderungen des Klimas. In diesem Gesamtkunstwerk, zu dem auch wir gehören, hängt alles mit allem zusammen.

In Mangeurs de Cuivre (Copper Eaters) von 2016 behandelt Furu einige der gleichen Problemstellungen. Vom Gudbrandstal aus haben wir uns in den südöstlichen Kongo begeben, und hier entwickeln sich die Konflikte zwischen einer magischen, von Ritualen und Respekt vor der Natur geprägtem Denkweise und den an Naturressourcen interessierten Geschäftsleuten und Unternehmern als reale lokalpolitische Konfrontationen. Wo Ulveig aus dem Gudbrandstal bloß als Sage existiert, spielen Geister in politischen Diskussionen über die Verwendung des 600 Kilometer langen Kupfergürtels im Gebiet des heiligen Berges Lunsebele tatsächlich eine Rolle. Als die ausländischen Bergbaugesellschaften in der Region ankommen, entstehen mehr Jobs für die Lokalbevölkerung, doch das zieht immer mehr in die Region, sie finden nichts und entscheiden sich für die Kriminalität. Tiefgreifende zivilisatorische Veränderungsprozesse sind im Gang.

Die Unternehmer haben sich mit idealistischen – ja, oder idealistisch-kapitalistischen – lokalen Geschäftsleuten verbündet, die meinen, der schwache Staat könne die Interessen des Kongo nicht wahrnehmen. Als Ausdruck eines Nationalismus, aus Liebe zum Heimatland, entscheiden sich diese Geschäftsleute dazu, als Bindeglied zwischen den ausländischen Firmen und der Lokalbevölkerung aufzutreten. Wir sehen, wie sie in einer orangen Weste, derjenigen der Staatlichen Straßenbehörde nicht unähnlich, mit dem Vorstand der Dörfer verhandeln. Heftig mit den Armen fuchtelnd, sprechen sie zu den lokalen Ortsvorsteherinnen, die eine ausgeprägt defensive Körpersprache an den Tag legen: Dürfen wir? Dürfen wir das Land betreten? Indes ist kaum anzuzweifeln, dass Probebohrungen die Bevölkerung aus der Region vertreiben werden.

Furus Kamera observiert ruhig und offen. Diejenigen Menschen, die im Film erscheinen, betreten oft selbst die Bildfläche und verharren gerne für ein paar Minuten in absoluter Stille, ehe sie zu sprechen beginnen. Mit einer leichten, zitternden Bewegung wie von einem Atemhauch scheint die Kamera passiv-beobachtend darüber zu schweben. Die Art des Filmens ist nahezu frei von rhetorischen Attitüden, der Grad aktiver Inszenierung ist auf ein Minimum beschränkt. Ist die Kamerahaltung aktivistisch? Ja, aber sie steht im direkten Gegensatz zu den überschwänglichen Attitüden des gewöhnlichen Aktivisten.

Ganz zu Beginn von Landscapes By The Book stellt Furu uns einem Strom weißer Lämmer vor; diese wuseln einem Bauern um die Beine, der sie zu füttern versucht. Wir hören die zarten Stimmchen der Lämmer. Der Hof des Mannes wurde von einem durch heftigen Regen verursachten Steinrutsch verwüstet. Steinrutsche werden unter anderem vom Straßenbau ausgelöst, weil man diejenigen Bäume fällt, die mit ihren Wurzeln den Boden zusammenhalten. Keines seiner vierzig Lämmer hat überlebt. Gegen Ende scheinen die Stimmen der Lämmer Furus Film heimzusuchen.

Die vierzig Lämmer wirken wie indirekte Opfer des von der Staatlichen Straßenbehörde vertretenen ästhetischen Gedankengangs, eine Schlussfolgerung, die Furu zu bombastisch erscheint, in meinem Kopf jedoch widerhallt, wenn ich diese blökenden Gespensterlämmer höre. Mein eigener Spukversuch im Harpefoss Hotel im Oktober 2013 führte bloß zu einer Abendesseneinladung von der Familie, die in der Etage unter mir wohnte. Die Grübeleien über die ortsspezifische Schrift resultierten in ein paar Werken, das eine relativ geglückt, das andere nahezu gescheitert. Bei der Evaluierung des ersten Werkes war ich zufrieden mit der spontanen Zusammenarbeit, die dort eine Bruchlinie und eine Wegstrecke erzeugt hatte, wo sich am Ufer des Gudbrandsdalslågen ein spektakuläres Raupenkettenmuster erstreckte. Das zweite Werk indes erhielt eine dunklere Klangfarbe. Hier entschloss ich mich, am Harpefossen und am Solbråfossen vorbeizugehen und das Kraftwerk von Harpefossen anzusteuern. Auch hier schien es nicht unbedingt empfehlenswert, einfach durch die Gegend zu trotten. Ich wusste nicht, ob meine Wanderung gegen das Gesetz verstieß, aber diesmal beschwerte sich niemand über meinen Einbruch, und das, obwohl ich im Gebiet um das Kraftwerk herum ganz sicher gefilmt wurde.

Meine Füße sanken in die weiche Erde ein, und ich schaute auf sie herunter und nach hinten, wo sich Spuren abzeichneten. Ich schreibe, dachte ich, das da ist meine Schrift über der Landschaft. In der Nähe einer Überwachungskamera hielt ich an und versuchte, Kontakt zu ihr herzustellen: „Das ist Kunst!“, sagte ich zuerst, mich auf meine Spuren beziehend, woraufhin ich mich verbesserte: „Ist das Kunst?“ Keine Antwort, nur eine tote Kameralinse. Das Kraftwerk von Harpefossen war nicht auf Zusammenarbeit eingestellt. Es wirkte wie ein dead end, bald schon zwangen mich Wasser und Klippen auf eine Böschung, die an die E6 grenzte. Ich kletterte über die Schutzmauer. Ganz offensichtlich war hier für Fußgänger kein Platz vorgesehen. Autos fuhren in einem wahnsinnigen Tempo vorbei. Nach etwa zehn Metern kam ich heftig ins Zweifeln. War ich wirklich in Gefahr? Dieses Werk, meine Schrift, eingeklemmt zwischen der Schutzmauer und den eilig vorbeifahrenden Autos, gelangte ans Ende. Hier konnte man nicht schreiben, daher wurde das Werk aus dem schnöden Grund abgeschlossen, weil ich leben wollte.

Aus dem Dänischen von Matthias Friedrich.

Ursprünglich veröffentlicht auf der Internetseite der Zeitschrift Vagant.

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Gastbeitrag von Asal Dardan

Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gründete 1919 den Berliner Philo-Verlag mit dem Ziel, dem immer bedrohlicher werdenden Antisemitismus in Deutschland mit, wie es hieß, Aufklärungs- und Abwehrliteratur entgegenzutreten. Die zum größten Teil liberal-bürgerlichen Mitglieder des Central-Vereins glaubten an eine deutsch-jüdische Symbiose und das „Heimatrecht“ der deutschen Juden, das sie noch 1934 mit dem Philo-Lexikon – Handbuch des jüdischen Wissens zu verteidigen suchten. Dieses tausend Seiten umfassende Handbuch mit jüdischen Persönlichkeiten und Errungenschaften aus 2.000 Jahren ist im Rückblick bedrückendes Zeugnis einer Selbst- und Weltvergewisserung, wie auch des gescheiterten Versuchs, mit Kultur- und Vernunftargumenten gegen Hasspropaganda anzukämpfen. Nur vier Jahre später, wenige Wochen nach den Novemberpogromen veröffentlichte der Philo-Verlag das letzte in Nazideutschland von einem jüdischen Verlag herausgegebene Buch, den Philo-Atlas – Handbuch für die jüdische Auswanderung. Man hatte einsehen müssen, dass der Nationalsozialismus keine vorübergehende Erscheinung sein würde. Nun ging es vor allem darum, Leben zu retten und Jüdinnen und Juden die Möglichkeiten einer Zukunft außerhalb Deutschlands und Osteuropas aufzuzeigen. Die Verlagsleiterin Lucia Jacoby schaffte es selbst nicht mehr ins Exil, sie wurde 1942 nach Auschwitz verschleppt und ermordet.

Die Letzten Tage des PatriarchatsVor diesem Hintergrund wirkt nicht nur der gegenwärtig unter Konservativen beliebte Begriff der „jüdisch-christlichen Leitkultur“ zynisch, sondern auch die Annahme, man müsste sich 2018 noch intensiv mit rechtem Gedankengut auseinandersetzen, um diesem angemessen zu begegnen. So fragte etwa die Autorin Svenja Flaßpöhler letzte Woche in einem Interview, das sie dem Standard gab: „Und wie kann man eigentlich ‚gegen rechts‘ sein, wenn man das rechte Denken überhaupt nicht kennt?” Anlass dieser überraschenden Frage, die suggeriert, es handelte sich bei rechtem Denken um ein in unserer Zeit noch nicht ausreichend erforschtes Mysterium, war Margarete Stokowskis Absage einer Lesung in der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl. Publik wurden die Gründe der Absage nicht durch Stokowski, sondern durch eine Presseerklärung des Geschäftsführers der Buchhandlung. Michael Lemling konnte Stokowskis Unbehagen an dem in seiner Buchhandlung ausgestellten Regal Neue Rechte, Altes Denken schlicht nicht nachvollziehen und kommentierte: “Was wir mehr denn je brauchen, sind offene und streitbare Debatten über die kontroversen politischen Themen unserer Gegenwart. Schade, dass Margarete Stokowski es vorzieht, lieber in ihrer eigenen Echokammer zu verbleiben.” Zumindest scheint man im Gegensatz zu Frau Flaßpöhler bei Lehmkuhl zu wissen, dass im Neuen bloß das Alte steckt, das ist immerhin etwas. Aber auch hier wird Stokowski eine mangelnde Debattenfähigkeit unterstellt, obwohl es ihr vor allem darum ging, nicht aus ihrem deutlich eine politische Haltung vertretendem Buch Die Letzten Tage des Patriarchats lesen zu wollen, während im Hintergrund reaktionäre Bücher stehen. Da ist es auch völlig egal, ob Lehmkuhl eine linksliberale Buchhandlung ist oder angibt, diese Bücher aus einem Interesse an der Debatte zu verkaufen. Dem Betreiber einer Buchhandlung steht es frei, das Sortiment auszuwählen, ebenso wie es einer Autorin freisteht, die Veranstaltungsorte für ihre Lesungen zu wählen.

Die Tugendhaftigkeit der Primärlektüre

charim ich und die anderenAllerdings hat die überraschend hitzige Debatte um Stokowskis Entscheidung die Unverwüstlichkeit der irrigen Annahme, es entspräche demokratischen Werten, auch demokratie- und menschenfeindlichen Inhalten gegenüber offen zu sein, erneut sehr deutlich zutage gefördert. Es ist erstaunlich, wie tugendhaft sich etwa Fréderic Schwilden und Per Leo in der WELT oder Iljoma Mangold in der ZEIT bei ihrer Kritik an Stokowski gebärden. Es wird behauptet, dass die Gegenüberstellung von rechter Lektüre mit kritischen Texten wie in dem erwähnten Regal ausreiche, um eine aufgeklärte und ausgewogene Debatte zu ermöglichen. Doch seit wann werden Veröffentlichungen wie Finis Germania allein weil sie nicht verfassungswidrig sind als demokratisch relevante Debattenbeiträge angesehen? Und wie kann es sein, dass in einem Land mit der Geschichte Deutschlands die logischen Konsequenzen solcher Schriften nicht mitbedacht werden?

Das Problem an dieser Idee einer durch simple Gegenüberstellung ermöglichten Debatte, erkennt man, wenn man das Argument auf Medizinratgeber und impfkritische Pamphlete oder christliche und satanistische Texte ausweitet. Nicht jede These und Antithese führt zwingend zu einer Synthese, insbesondere, wenn es um gefährliche, irrational suggestive Inhalte geht. Man kann diese Bücher lesen oder verkaufen, aber das als besonders demokratischen oder aufgeklärten Akt hinzustellen, ist schon reichlich frech, insbesondere wenn man bedenkt, dass es Menschen gibt, die sich nicht aussuchen können, ob sie sich von derlei Gedankengut angegriffen fühlen oder nicht. Ihre Existenz wird relativiert, da gibt es nichts zu debattieren. Für sie ist die Exegese rechter Schriften also nicht ergebnisoffen und ein respektvoller Dialog mit Rechten entsprechend, ganz gleich wie adrett und heimelig jene auftreten, nicht möglich. Die “überraschenden Gemeinsamkeiten”, die Per Leo laut eigener Aussage im Gespräch mit Rechten entdeckt, sind ein Indiz dafür, dass er in diesen Gesprächen nicht persönlich in seiner Menschenwürde angegriffen wird. Margarete Stokowskis Absage ist in diesem Sinne auch ein solidarischer Akt, sie hat sich in der Gruppe jener verortet, die sich nicht nur angegriffen fühlen, sondern konkret angegriffen werden. Die Philosophin Isolde Charim erfasst den Kern dieses Konflikts in ihrer wichtigen Analyse Ich und die Anderen, wenn sie schreibt, dass “[d]ie wahre Demarkationslinie […] zwischen Pluralismus und Anti-Pluralismus” verläuft. Menschen, die sich also gegen rechts positionieren, sind nicht, wie es Mangold behauptet, Gleichgesinnte, sondern denken und handeln im Sinne dieses pluralistischen Verständnisses von Gesellschaft. Dabei ist Pluralismus kein Synonym für Multikulti oder Vielfalt, sondern beschreibt, dass es kein vorherrschendes Narrativ mehr gibt, das Gesellschaften zusammenhält. Pluralismus ist laut Charim keine Addition unterschiedlicher Elemente, sondern eine Beschränkung aller. Marginalisierten wurde ohnehin schon immer zugemutet, in einer Gesellschaft zu leben, in der sie sich nicht oder zumindest nicht komplett wiederfinden. Nun muss die früher als Mehrheitsgesellschaft den Ton angebende Gruppe sich ebenso einfügen und dieser Zumutung aussetzen.

Nicht jede Differenz ist pluralistisch

ich will zeugnis ablegen bis zum letzten klempererDifferenz gehört also tatsächlich zum Pluralismus dazu, aber es ist kein Verbleiben in der Echokammer, wenn man daran erinnert, dass selbst in einer pluralistischen Demokratie Meinungen und Aussagen nicht tolerierbar sind, die die tatsächliche Differenz einer Gesellschaft zum Feind erklärt haben. Man kann niemandem seinen Dünkel und seine Vorurteile verbieten, aber man muss sie auch nicht zur validen Diskussionsgrundlage erklären. Es gibt einen Unterschied, ob man “Deutschland wird von einer Umvolkung bedroht” oder “Wie können wir mit dem Zuwachs migrantischer Mitbürger*innen angemessen umgehen” sagt und diskutiert. Das wissen wir, es ist bloß die Länge eines ungemordeten Menschenlebens her, dass dieses Land die Missachtung dieses Unterschieds in all seiner mörderischen Brutalität zu verantworten hatte.

Gerade erst haben wir den 9. November begangen; ein AfD-Politiker hat sich erlaubt, mit dem rechtsextremen Symbol der blauen Kornblume am Revers an einem Gedenkmarsch in Berlin teilzunehmen. Dies wurde richtigerweise als Hohn erkannt, doch es liegt auch ein Hohn darin, an allen anderen Tagen so zu tun, als könnte man mit der AfD oder dem Antaios-Verlag so umgehen, als wären sie ideologisch nicht mit dem verbunden, weshalb wir den Verbrechen des 9. Novembers gedenken. Nichts an der Machtergreifung der Nationalsozialisten, nichts am Faschismus ist zwangsläufig oder schicksalshaft. Möchte man sich mit wirklich relevanter Primärliteratur auseinandersetzen, seien Victor Klemperer und Christabel Bielenberg empfohlen. Was die Lektüre ihrer Bücher zutage fördert, ist, dass Haltung zu zeigen tatsächlich auch eine Strategie ist, um demokratische Werte zu vertreten und nicht bloß selbstgefälliges Gebaren. Im Gegensatz dazu ist es zwecklos, rechtem Denken mit Verständnis und Gegenargumenten entgegenzutreten oder kulturellen Abgrenzungsversuchen mit einer Liste an positiven Aspekten gesellschaftlicher Vielfalt zu begegnen, so wie es etwa der Philo-Verlag versuchte. Der Pluralismus mag gleichzeitig schöne und schwierige Aspekte bergen, aber er ist, wie auch Charim schreibt, schlichtweg eine soziale Realität. Man kann diese Realität weder romantisieren noch wegdiskutieren – und beseitigen kann man sie nur mit Gewalt. Was eine pluralistische Gesellschaft also benötigt ist kein bewertendes Auseinanderdividieren, sondern ein ge- und erlebtes kollektives Wir, das es schafft, Solidarität über Pluralität hinweg zu etablieren, damit die von Charim beschriebene Demarkationslinie auch endlich als das für heutige Demokratien entscheidende Kriterium wahrgenommen wird.

Politische Solidarität trotz Differenz

Race and the Politics of Solidarity hookerDie Frage, wie das möglich ist, greift die Politikwissenschaftlerin Juliet Hooker in ihrer 2009 erschienen Analyse Race and the Politics of Solidarity auf. Darin erklärt sie, dass liberale Demokratien heute vor der Herausforderung stehen, ein neues kollektives Selbstbild zu festigen, das nicht auf präpolitischen Affinitäten wie biologischen, ethnischen und kulturellen Faktoren aufbaut. Hooker vertritt die These, dass nicht die Gleichmacherei, sondern gerade die Sichtbarmachung der Differenz zwischen den Menschen zu mehr Gerechtigkeit und politischer Solidarität führt. Solidarität ist in einer Demokratie essentiell, weil sie die Basis für politische Entscheidungen bildet, aus denen unsere Institutionen und Gesetze hervorgehen. Für Hooker ist Solidarität nicht nur das Gefühl von Sympathie, sondern eine ethische Haltung, die kultiviert werden muss. Um andere in Entscheidungen mit einzuschließen und sie als gleichberechtigte Mitmenschen zu respektieren, muss man sich nicht mit ihnen identifizieren oder sie als besonders wertvoll betrachten. Es liegt nämlich im Wesen demokratischer Gemeinschaften, dass nicht jede*r allen zusagt. Man muss sich nicht im Anderen erkennen, sondern vielmehr lernen, ihn und vor allem sich selbst mit dessen Augen zu sehen. Das findet sich auch sehr deutlich in den Überlegungen von Charim wieder, wenn sie schreibt: “Die Pluralisierung verändert unseren Bezug zu anderen, und sie verändert den Bezug zu uns selbst, die Art, wie wir uns auf uns selbst beziehen.” Die Vertreter*innen der Rechten führen einen hegemonialen Kampf, um sich dieser Veränderung zu widersetzen. Sie sind nicht Teil des Pluralismus, sondern haben sich freiwillig zu seinem Gegner erklärt. Aus diesem Grund steht für Hooker in erster Linie die Mehrheitsgesellschaft in der Pflicht, die eigene Position zu reflektieren und sich stärker vom Anti-Pluralismus zu distanzieren, denn Diskriminierungen sind nicht bloß eine Abweichung von einer grundsätzlich fairen und ausgewogenen Gesellschaftsstruktur. Im Gegenteil, sie sind unserer politischen und sozialen Realität eingeschrieben. Unsere Vorurteile schlagen sich in unseren Institutionen nieder, die wiederum unser Leben beeinflussen. Das bedeutet aber nicht, dass wir unsere Gesellschaft nicht gerechter gestalten können und müssen. Und auch wenn in Demokratien meist Einigkeit darüber herrscht, dass jedem Menschen ein würdiges und autonomes Dasein zusteht, ist es bei genauerer Betrachtung recht unklar, was das konkret bedeutet. US-amerikanische Politiker*innen beziehen sich etwa gerne auf die Unabhängigkeitserklärung, obwohl deren wohl bekannteste Formel „All men are created equal“ die Sklaverei und alle folgenden Ungerechtigkeiten nicht verhinderte. Es gibt also viel Anlass zum Streit, häufig ausgelöst durch identitätspolitische Debatten, die manche als unentbehrlich und andere als spalterisch wahrnehmen. Wenn aber das gemeinsame Ziel ist, Leben zu verbessern und eine pluralistische Gesellschaft zu schützen, dann muss auch im Kampf um dieses Ziel die Pluralität beibehalten werden. Es gilt, nicht Differenz zu harmonisieren, sondern sie anzuerkennen und nicht länger als ein Gegeneinander zu deuten. Das Gegeneinander findet nicht innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft statt, sondern zwischen ihr und ihren Widersacher*innen, denen etwa in der Debatte um Stokowski und Lehmkuhl noch immer zu viel Verständnis entgegengebracht wird. Auch wenn Harmonie schön klingt, sie verlangt Menschen oftmals ab, sich gegen ihre Neigung einzureihen oder einem höheren Ziel unterzuordnen. Sie ist also kein Indiz dafür, dass es einer Gesellschaft gut geht. „Wir müssen an einem Strang ziehen“ heißt es dann oft. Aber wer entscheidet, was das Ziel ist, was ihm dient und was nicht? Sind manche emanzipatorischen Bestrebungen wichtiger als andere? Und gibt es tatsächlich eine Hierarchie demokratischer Interessen?

Ich! Du? Wir.

desintegriert euchNatürlich steht das soziale Zusammenleben immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zu abstrakten Prinzipien. Doch nur ein politisches Einzelkind würde „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ mit Harmonie verwechseln. Welche freien und gleichen Geschwister streiten sich nicht? Wir brauchen keine Harmonie, sondern vor allem Respekt. Wer den Respekt und die Achtung vor der Würde aller Menschen verweigert, sollte stärker sanktioniert und ausgegrenzt werden. Man kann auch ohne eine direkte Auseinandersetzung erfolgreich widersprechen, nämlich indem man so wie Margarete Stokowski selbstbewusst und konsequent für das eintritt, woran man glaubt. Die Debatte mit rechts zur wichtigen demokratischen Aufgabe zu erklären und dabei die Bedenken und Anliegen kleinerer oder schwächerer Gruppen auf später zu verschieben, wenn die gute Zeit ohne Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung anbricht, ist illusorisch, weil wir schlicht anerkennen müssen, dass all dies eben keine Abweichung und Ausnahme ist. Es geht nicht darum, dass eine fiktive Mitte sich wohl fühlt, sondern möglichst alle Gesellschaftsmitglieder. Das Selbstverständnis einer genuin pluralistischen Gemeinschaft darf also nicht nur davon geprägt sein, wie sich die Mehrheit sieht und was sie möchte. Eine Lehre aus der deutschen Geschichte, die immer wieder formuliert wird, ist doch gerade, dass sich vor allem im Umgang mit Minderheiten zeigt, wie gerecht eine Gesellschaft ist. Das demokratische Wir muss immer wieder neu verhandelt werden, um konstruktiv zu sein. Max Czollek lässt das in seinem vielgelobten Buch Desintegriert Euch! anklingen, wenn er fordert, die Gesellschaft „als Ort der radikalen Vielfalt“ zu sehen. Es handelt sich natürlich um ein metaphysisches, sogar utopisches „Wir“, aber das ist das Selbstbild eines aufgeklärten, humanistischen Abendlandes ebenfalls.

Hoffnung statt Harmonie

Identitätspolitische Fragen sind nützlich, um die Interessen, Bedürfnisse und auch Verletzungen einzelner Gruppen besser zu verstehen. Aber je heftiger die Konflikte, desto schneller bleiben alle Seiten in Selbstbezüglichkeiten stecken. Dann werden die formulierten Identitäten mit der Lebensrealität von Menschen verwechselt, dabei dienen sie vor allem dazu, politisches Handeln zu ermöglichen. In der Folge richten sich Zorn und Entrüstung, die ein kraftvoller politischer Motor sein könnten, vor allem auf individuelle Verfehlungen. Da wird dann eine Buchhandlung prompt als rechts oder eine kritische Autorin als Gesinnungsterroristin diffamiert, dabei sind es nicht in erster Linie moralische Fragen, die wir diskutieren müssen, sondern strukturelle und systemische Probleme. Hooker, Charim und Czollek sehen die Probleme richtigerweise bei der Mehrheitsgesellschaft, schließlich bildet sie den Ursprung von Diskriminierung. Hooker verknüpft dies mit der konkreten Forderung, den weißen Blick sichtbar zu machen, was für sie die Voraussetzung für Veränderung ist. Czollek hingegen hat kein wissenschaftliches sondern ein in Teilen polemisches Buch geschrieben, das aber für diese Debatte genauso wichtig ist, weil er darin die Doktrin der Integration über Bord wirft, die nichts anderes ist als die Forderung, dass Menschen sich unsichtbar machen. Dennoch macht er es sich stellenweise ein wenig zu bequem, schließlich ist es eine recht privilegierte Position, auf einer Berliner Dachterrasse stehend einen Film über James Baldwin zu gucken und dabei seinen Gedanken darüber nachzuhängen, dass mehr Desintegration vonnöten ist. Der Ansatz ist sehr nachvollziehbar, gleichzeitig ist fraglich, ob eine im jüdischen Diskurs so wichtige und seit Jahrhunderten geführte Debatte wirklich auf migrantische Realitäten übertragen werden kann. Was zum Beispiel bedeutet Desintegration als Maxime im Zusammenhang mit den vom NSU Ermordeten und ihren hinterbliebenen Familien? Was bedeutet das für Menschen, denen ihr Anderssein auf den ersten Blick zugeschrieben wird, egal ob sie das für sich wählen oder nicht? Oder für jene, die aufgrund ihrer beruflichen und sozialen Verhältnisse eine Abhängigkeit von bestehenden Strukturen schlicht nicht umgehen können? Desintegration als Handlungsmöglichkeit ist wiederum ein Privileg, das nicht allen zugänglich ist. Natürlich ist es ärgerlich, dass Marginalisierte immer wieder ihre Positionen erklären und verteidigen müssen. Doch möchte man, dass eine Gesellschaft sich entwickelt, muss man akzeptieren, dass es auf allen Seiten Arbeit gibt: die einen müssen sich in Selbstreflexion und Solidarität üben, während die anderen nicht die (ebenfalls zu kultivierende) Hoffnung aufgeben dürfen. Das ist nicht einfach, aber wer Veränderung fordert, sollte daran glauben, dass diese möglich ist. Nötig ist sie allemal.

Das klingt zweifellos anstrengend und konfliktreich, aber das oftmals vorgebrachte Argument, dass die Linke sich in einem selbstgefälligen Elfenbeinturm mit Diskussionen und Zersplitterung aufhielte, während die extreme Rechte viel besser zusammenstünde und mobilisierte, basiert auf einem gravierenden Denkfehler. Die Rechtsextremen mögen in ihrer Rhetorik und Präsentation sehr anpassungsfähig sein, doch ihre totalitäre Ideologie und ihr rassistisches Menschenbild sind starr und unverändert: Neue Rechte, altes Denken. Leitkultur, Patriotismus, Nationalismus sind alles Variationen einer erstickenden Sentimentalität, die eine Demokratie davon abhält, auf ihre Menschen zu schauen und sich mit ihnen zu verändern. Eben aus diesem Grund sind die Rufe nach einem liberalen Patriotismus oder einem linken Populismus absurd. Die Rechte möchte einen Menschen kreieren, der in ihren totalitären Staat passt, während es in einer Demokratie darum geht, einen Staat immer wieder daraufhin zu prüfen, ob er noch den Menschen gerecht wird – allen Menschen.

Angela Nagle im Gespräch über Mainstream und Minderheiten (Gastbeitrag von Bernhard Pirkl und Tijan Sila)

Dieses Interview ist ein Gastbeitrag von Bernhard Pirkl und Tijan Sila. Bernhard Pirkl hat für die Jungle World auch eine Rezension zu Angela Nagles “Die digitale Gegenrevolution” geschrieben.

Die irische Kommunikationswissenschaftlerin Angela Nagle hat im vergangenen Jahr einen schmalen Band veröffentlicht, dessen Thesen es in sich haben. Vordergründig behandelt das Buch, das nun unter dem Titel “Die Digitale Gegenrevolution” (im Original: “Kill all Normies”) im Transcript Verlag erschienen ist, die vielfältigen Erscheinungsformen der amerikanischen Rechten im Internet, von Neonazis über Männerrechtler bis zu obskuren Erscheinungen wie der neoreaktionären Bewegung (NRx); dabei belässt sie es allerdings nicht, sondern nimmt auch die Linke kritisch in den Blick: Die Hoffnungen, die sich an das utopische Potential des Internets geknüpft hatten, haben sich nicht verwirklicht, und auch der Politikstil großer Teile der Linken müssen vor dem Hintergrund des Erstarkens der Rechten in den USA und Europa neu bewertet werden. Im Gespräch mit Tijan Sila und Bernhard Pirkl zieht Angela Nagle eine Bilanz über die bisherige Resonanz des Buches.
PIRKL: “Kill all Normies” war ein enormer Verkaufserfolg in den Vereinigten Staaten, das bestverkaufte Buch, das der Verlag Zero jemals herausgebracht hat. Wie erklären Sie sich diese unerwartet starke Rezeption?

NAGLE: Offenbar gab es ein sehr großes allgemeines Interesse am „Kulturkrieg“ im Internet, und ich habe einen neuen Ansatz angeboten, jenseits des üblichen Hin und Hers der verfeindeten Lager. Es wurde von Slavoj Zizek und anderen bekannten Autoren gelobt, aber es stieß auch auf viel negative Aufmerksamkeit, wobei auffällig war, dass die negativsten Reaktionen von einer relativ kleinen, auf das Internet konzentrierten Gruppe kamen. Es ist nun ein Jahr her, dass “Kill all Normies” erschienen ist, und seitdem gibt es eine unermüdliche Kampagne persönlicher Angriffe, die im Grunde fast täglich stattfinden. Was in der Hinsicht von der alt-right kam, war gewissermaßen vorhersehbar, Gemeinheiten über mein Aussehen, antisemitisches Geraune, ich sei von den „jüdischen Medien“ gesteuert und dergleichen mehr. Die Reaktion auf der Linken war in gewisser Weise schlimmer, weil sie natürlich nicht so leicht abzuwehren waren, und sie den Tenor hatten, ich wäre nicht aufrichtig und würde eine konservative Agenda verbergen. Einigen war ich zum Beispiel nicht ausreichend kritisch bzw. feindselig genug gegenüber konservativen Figuren wie Jordan Peterson, während hingegen ich das Gefühl hatte, mir Mühe gegeben zu haben, ihren Beitrag zu den „culture wars“ halbwegs sachlich und neutral darzustellen.

PIRKL: Woher kommt dieser Zwang zur Vereindeutlichung? Hat man Angst vor der Schwäche der eigenen Argumente?

NAGLE: Mein Eindruck ist, dass es sich dabei um eine Art Tribalismus handelt, der durch soziale Netzwerke verstärkt wird, und sich im gemeinschaftsstiftenden Hass auf Einzelpersonen ausdrückt. Mittlerweile ist es zum Glück fast schon so, dass etwa das „Twittershaming“ ein so großes Ausmaß angenommen hat, dass es beinahe schon egal ist, wenn man zur Zielscheibe gerät, weil die Frequenz an Kampagnen so groß ist, dass in dem Moment bereits die nächste Person ins Visier genommen wird. Ich kenne Journalisten, deren Twitter-Accounts beinahe ausschließlich von einer schier endlosen Suche nach persönlichem Fehlverhalten künden, begleitet von Forderungen nach Stellungnahmen. Ein großer Teil der Medienlandschaft scheint in einer permanenten Schleife des Bedienens unseres Bedürfnisses nach öffentlichen Bloßstellungen gefangen zu sein. Die Geschichte ist freilich voll mit Beispielen für dieses Stärken kollektiver Normen durch die genüssliche Bloßstellung von Outsidern, aber irgendwie haben soziale Netzwerke dieses Phänomen mit voller Wucht wieder salonfähig gemacht.

SILA: Inwiefern ist solches Verhalten von Nutzern sozialer Medien denn mit Subkulturen verwandt?

NAGLE: Der subkulturelle Aspekt ist ungemein wichtig. Es gibt eine Sehnsucht nach einem höheren Grad der Identifikation mit anderen – etwas, das es historisch in kleineren Gemeinschaften gab. Einerseits entspringt Gemeinschaftsbildung einem positiven Impuls, andererseits setzt die Vorstellung einer Gemeinschaft, so schön sie auch ist, einen Außenseiter voraus – eine Person, die diese Gemeinschaft dadurch definiert, indem sie nicht zu ihr gehört. Eine der interessantesten Sachen, die man bei Online-Subkulturen beobachten kann, ist dass sie davon besessen sind, ihre Grenzen zu überwachen: Wer gehört zu uns, wer nicht? Sobald neue Menschen hinzukommen, wird noch enger zusammengerückt und der Eintritt in die Subkultur wird schwieriger. 4Chan-User, die ursprünglich damit begonnen hatten, Pepe-Memes zu posten, wollten mit der Erfindung der „Rare Pepes“ der ihrer Meinung nach zu großen Verbreitung dieser Memes entgegentreten. Solche Säuberungsmaßnahmen werden immer von Diskussionen darüber begleitet, wie man sich vor Verwässerung durch den Mainstream schützen kann. Zugleich fiel mir bei den persönlichen Anfeindungen gegen mich – insbesondere, wenn sie von links kamen – der obsessive Versuch auf, einzuordnen, wohin ich politisch gehöre. Man sagte nicht, dass ich falsch läge. Man sagte vielmehr, dass ich keine linke Position verträte – oder eine ganz spezifische. Schlussendlich ging es aber nicht um mich, sondern um jene, die diese Vorwürfe erhoben und um ihren Versuch, sich abzugrenzen, sicherzustellen, dass nur bestimmte Menschen der Beschreibung der Identität entsprechen, der sie, aus welchem Grund auch immer, einen großen emotionalen Wert beimessen.

PIRKL: “Kill all Normies” ist ein Destillat Ihrer Doktorarbeit, einer feministisch orientiertem medienwissenschaftliche Untersuchung der Online-Kultur. Bei der Lektüre fällt einem folgendes Oppositionspaar auf: die männlich konnotierte Sphäre der transgressiven, avantgardistischen Subkultur auf der einen, und die als feminisiert wahrgenommene Sphäre des Mainstreams, bzw. was man dafür hält.

NAGLE: In der Tat wird der Mainstream als feminisierend empfunden. Die „Feminisierung der Kultur“ ist eines der größten Themen nicht nur der alt-right, sondern auch des weitaus größeren Milieus, das sich zum Beispiel von Jordan Peterson angesprochen fühlt, und das seit dem Erscheinen meines Buches stark angewachsen ist. Sie sehen darin einen ent-zivilisierenden Einfluss, etwas, dass sich der Kultur die Virilität entzieht. Das ist Teil der Pop-Kultur seit über einem halben Jahrhundert, wie ich auch in meinem Buch erwähne, man denke an die rebel culture der 50er Jahre, die Sorge um die abenteuerlustigen jungen Männer, die keinen Krieg mehr zu kämpfen hatten, und so weiter. Dennoch ist es nicht ganz so einfach, es gibt auch weiblich dominierte Räume im Internet, die auf eine sehr aggressive Art und Weise exklusiv sind. Mittlerweile ist das einfach ein generelles Merkmal von online-Subkulturen. Trotzdem war und ist diese Ordnung auffällig.

PIRKL: “Kill all Normies” erzählt auch eine Geschichte vom Umschlag einer Form – transgressiver Humor in Form von Memes und ähnlichem – zu tatsächlichem Handeln, auch in Form von Gewalt, man denke etwa an Charlottesville. Wie funktioniert dieser Übergang?

NAGLE: Ich möchte auf diese Frage gerne aus dem Rückblick antworten. In meinem Buch gibt es ein Kapitel, das sich mit den Cyberutopien der Linken beschäftigt, Leute wie Paul Mason hatten große Hoffnungen an das Internet geknüpft. Ironischerweise sind es heute die Rechten, die glauben, dass das Internet Trump an die Macht gebracht hat. Sie machen denselben Fehler wie die Linke, und nun müssen sie zusehen, dass ihre politischen Vorstellungen nicht umgesetzt werden. Trump handelt im Großen und Ganzen nicht radikal anders, als man es von einem republikanischen Präsidenten erwarten würde. Folglich ist die alt-right-Bewegung gegenwärtig im Zerfall begriffen, und auch die Verfallsformen ähneln dem, was man von der Linken, zum Beispiel in der Folge von Occupy Wall Street kennt: Interne Spaltungen, nicht zuletzt aufgrund ganz alter Motive wie Egos und – im Falle der Traditional Worker’s Party – Eifersucht. Die Idee, das Internet als Abkürzung zur Macht zu benutzen, hat sich als Trugbild entlarvt.

SILA: Mitglieder der Alt-Right-Bewegung sind demnach nicht die bessern Internet-Nutzer, sie waren nur besser darin, das Internet zu einem bestimmten Zeitpunkt zu nutzen.

NAGLE: Genau. Zu anderen Zeiten war die Linke besser darin. Die AltRight-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt als Trump auf die Bildfläche trat. Sie wandte sich wie er gegen political correctness und besaß den gleichen respektlosen Humor – oftmals war er ziemlich clever und lustig. Zur gleichen Zeit war die Linke in humorloser Verzweiflung erstarrt und, genau wie die Alt-Right aktuell, in Grabenkämpfe verstrickt. Die Alt-Right hatte also ideale Bedingungen, um Erfolg zu haben. Das ist nicht mehr der Fall. Eins der größten Probleme, das sie derzeit hat, besteht darin, dass soziale Netzwerke wie PayPal, YouTube, Twitter – allesamt Privatunternehmen natürlich -, sie zunehmend ausschließen. Seltsamerweise hat die Rechte darauf keine Antwort. Alle, die dazu bereit sein könnten, das Recht der Alt-Right auf freie Meinungsäußerung zu verteidigen – AltLight-Libertinäre etwa -, sind überzeugt, dass nur der Staat dieses Recht einschränken könne. Ihre einzige Antwort lautet: „Es ist ein Privatunternehmen, und du hast einen Vertrag unterschrieben, in dem steht, dass sie dich rausschmeißen können, wenn sie es wollen.“ Da sie Kapitalismus nicht als entsprechende Triebkraft anerkennen können – es muss der Staat sein -, kommen sie mit dem Problem nicht zurecht. Die Vorstellung also, das Internet würde dieser magische Pfad sein, auf dem sie in die Politik gelangen könnten, hat sich als falsch herausgestellt.

SILA: Um nochmal auf das Thema Sub- bzw. Gegenkultur zu sprechen zu kommen, das ja im Zentrum von Kill all Normies steht: Die Begriffe haben ja in der Linken eigentlich einen guten Klang. An welchem Punkt läuft es schief? Gibt es ein Problem, das sich alle Subkulturen teilen?

NAGLE: Massenkultur geht immer mit einem Paradoxon einher: Einerseits sind wir alle ein Teil von ihr, andererseits fühlen wir uns von ihr abgestoßen und möchten nicht als Teil der Masse gelten. Alle möchten entweder einzigartig oder wenigstens Teil einer kleinen Subkultur sein, die dem Mainstream feindselig gegenübersteht. Beispielhaft fürs Ganze ist der Begriff des Hipsters – niemand würde sich selbst als Hipster bezeichnen. Es ist ein Schmähbegriff für Menschen, die gerne Teil einer Subkultur wären, es jedoch nicht sind, zumindest nicht in ausreichendem Maße. Woher kommt unsere große Sehnsucht, nicht Teil des Mainstreams zu sein? Wieso widern uns Massenkultur und der Mainstream derart an, dass wir uns konstant von ihnen abgrenzen und durch diese Abgrenzung zu definieren versuchen? Diese Fragen beschäftigen mich seit Jahren. Zu welcher Art von Politik führt ein solches Denken über Kultur? Auch Konsumkonzerne versuchen, Nischenmärkte jenseits des Mainstreams zu erschließen. Wer möchte noch der Norm entsprechen, wenn selbst McDonalds sie aufgegeben hat? Niemand. Welche politischen Folgen hat solch eine Wahrnehmung von Durchschnittsmenschen, von ihrem Recht auf Würde und materiellen Besitz? Das sind Sachen, für die die Linke historisch eingetreten ist. Einerseits können Subkulturen radikal sein, andererseits können sie oftmals nur eine Nachahmung der Konsumkultur sein, die uns daran hindert, Massenpolitik zu haben, insbesondere, wenn sie uns vergessen lassen, dass der Durchschnittsmensch jemand ist, für den es sich politisch zu kämpfen lohnt.

Sieben Schwierigkeiten und einer der immer schmaler werdenden Pfade (Gastbeitrag von Selim Özdoğan)

Gastbeitrag von Selim Özdoğan / Dieser Text enstand im Rahmen des Autorensymposiums Atelier NRW und erscheint in leicht abweichender Form in Sprache im technischen Zeitalter.

 

1 Die Geschichte mit der Herkunft.

1.1

“Bin dafür, dass wir alle Leute mit reichen Eltern ein Jahr lang keine Romane veröffentlichen lassen und dann nochmal schauen, wie der Buchmarkt aussieht.”

Tweet von Matthias Warkus, 12. Juni 2018, 352 Gefällt mir Angaben, 52 Retweets.

1.2

Man kann niemandem seine Herkunft vorwerfen.

Herkunft ist kein Kriterium literarischer Qualität.

1.3

Literatur entsteht hauptsächlich in einer bildungsbürgerlichen Mitte und das wird weiterhin so bleiben.

1.4

Autoren, die eine andere soziale Klasse als die ihrer Herkunft beschreiben, kennen sie häufig aus eigener Anschauung.

1.4.1

Autoren wie Hans Fallada oder später Jörg Fauser stammen aus Elternhäusern, in denen Bildung vermittelt wurde.
Es war ihre Drogensucht, die dazu geführt hat, dass sie sich in anderen Milieus bewegt und darüber geschrieben haben.

1.4.2

Ralf Rothmann stammt aus dem Arbeitermilieu, über das er viel geschrieben hat. Er ist einer der wenigen Autoren der letzten 100 Jahre, die aus dieser Schicht kamen und anerkannte Schriftsteller wurden, ohne dass ihnen der Nimbus des Proletenhaften, des Hofnarren, des Anrüchigen anhaftete.

Autoren, die aufgrund von Tätowierungen, Hilfsarbeiten oder Hartz 4-Vergangenheit als Repräsentanten einer anderen Welt gelten, aber eigentlich aus Elternhäusern mit Bibliotheken stammen, halten wir uns immer wieder mal.

(„Wir“ meint in diesem Text nicht eine Gruppe von Personen, sondern Strukturen eines Betriebs, unabhängig davon, wer sie gerade am Leben hält oder gegen sie ankämpft.)

Vielleicht ist es eine Art Sidney-Poitier-Effekt. Man kann einem Schwarzen einen Oscar geben, um zu zeigen, dass man das ja auch tut. Und den Rest ignorieren.

1.5

Es braucht kein eigenes Erleben, um aus einem bestimmten Milieu zu berichten, doch es braucht eine Haltung. Empathie und Voyeurismus sind zwei mögliche. Dazu mehr bei 5.3.

1.6

Die Furcht vor dem Abstieg ist größer geworden in einer Welt, in der immer mehr von der Kaufkraft des Individuums abhängt, seinem Image und seinem Status.

Es hat in den letzten dreißig Jahren keinen deutschen Schriftsteller gegeben, der einen Wechsel in eine andere Schicht auch nur in Kauf genommen hätte. Wer heute drogensüchtig wird, berichtet von seinen Erlebnissen in einer Entzugsklinik in Beverly Hills. Schlimmstenfalls lebt man als akademischer Geringverdiener in einem bislang nicht gentrifizierten Viertel, stopft Löcher mit dem Geld aus Papas Tasche und versucht es als Quereinsteiger, sollte auch dieser Strick mal reißen.

1.7

Sozialer Aufstieg ist schwer.

Sozialer Aufstieg in die Literatur, ohne Ghettoromantik zu bedienen, noch schwerer.

2 Die Geschichte mit der Normsprache.

2.1

Wir erwarten, dass jede Autorin die Normsprache beherrscht. Wir betrachten es als legitim, Jargon, Umgangssprache, Mundart und Ähnliches in literarischen Texten zu verwenden, setzen aber voraus, dass diese Mittel bewusst gewählt werden.

H.C. Artmann durfte in Mundart schreiben und mit der Sprache spielen, weil wir wissen, dass er Dudendeutsch konnte.

2.1.1

Das Etikett Gastarbeiterliteratur hat man Texten aufgeklebt, die wir als authentischen Versuch der Beschreibung einer Lebenswelt wahrgenommen haben, aber aufgrund mangelnder ästhetischer Qualität nicht so richtig der Literatur zurechnen wollten. Befindlichkeitsprosa ohne künstlerischen Mehrwert.

Deutsch war meist die zweite oder dritte Sprache dieser Autoren. Wie hätten sie mit jemandem konkurrieren können, dessen Muttersprache Deutsch war.

2.1.2

Gastarbeiter. Fremdarbeiter hatten die Nazis schon belegt. Also brauchte es ein neues Wort.

Wo hat man schon mal gesehen, dass man seinen Gast für sich arbeiten lässt?

2.2

“Man,echt,Twitternazis,zum hundertsten Mal: lernt Rechtschreibung.Hört auf die Timelines anderer Leute zuzumüllen, während Ihr nichtmal „Amazon“ richtig schreiben könnt.Was ist „AMASON“?!Was ist „stärbenslangweilig“?Und was bedeutet „dir zaig ich‘s noch!“?! Echt.Löscht Euch.Danke.”

Tweet von Igor Levit, 30 August 2018, 181 „Gefällt mir“-Angaben, 11 Retweets.

Wer Sprachkompetenz bemängelt, möchte keine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern diffamieren und ausgrenzen.

2.2.1

Es ist bekannt, dass F. Scott Fitzgerald große Probleme mit der Rechtschreibung hatte. Niemand glaubt, das hätte ihn zu einem schlechteren Schriftsteller gemacht.

2.3

Über den Autor des Romans Sagt Lila weiß man nichts. Das Manuskript (handgeschrieben in Schulheften) wurde dem Verlag über einen Anwalt angeboten. Heißt es. Möglich, dass das nicht stimmt.

Es sind Fehler in diesem Roman, in dem eine Geschichte aus einem Pariser Banlieue erzählt wird. Grammatische, orthographische und Fehler im Ausdruck. Das Vokabular ist beschränkt. Doch die Auffassungsgabe des Erzählers und seine Fähigkeit, Bilder für sein Innenleben zu finden, machen dieses Buch zu Literatur.

2.4

Der Israeli Tomer Gardi hat sich dafür entschieden, ein Buch auf Deutsch zu schreiben, im vollen Bewusstsein, dass sein Deutsch sich von dem eines Muttersprachlers unterscheidet.

Einen Auszug aus dem Buch Broken German hat er 2016 in Klagenfurt gelesen. Die anschließende Jurydiskussion demonstrierte, wie sieben Menschen, die sich seit Jahren hauptberuflich mit Literatur beschäftigen, völlig unfähig sind, über einen Text zu sprechen, weil er von der Normsprache abweicht und sie vermuten dass der Autor dies auch tut.
Der Text arbeitet eindeutig mit literarischen Mitteln.

2.5

Wir beanspruchen die Deutungshoheit darüber, wer die Sprache beherrscht. Alle anderen Sprachformen neben der Normsprache werden herabgestuft.
Sprache dient als Herrschaftsinstrument.

Wir bejammern die Verrohung der Sprache, die Anglizismen, die fehlenden Artikel, die Verkürzungen, die Auslassungen, die Vulgarität, die Unfähigkeit, einen geraden Satz zu bilden, der womöglich auch noch mehrere Nebensätze hat.

Wir übersehen dabei, dass Texte über literarische Qualitäten verfügen können, auch wenn sie von Menschen geschrieben wurden, deren Sprache nicht Normdeutsch ist.

2.6

Sprache ist lebendig, das heißt, sie verändert sich ständig. Sie lebt von der Vielfalt. Die Deutungshoheit über sie haben zu wollen, schränkt die Lebendigkeit, die Vielfalt nicht ein, verwehrt aber anders Sprechenden und Schreibenden den Zugang zur Literatur.

2.7

Ohne die Eintrittskarte Normdeutsch kommst du nicht rein. Egal, wie viel du von Dramaturgie verstehst, von Dramatisierung, von Metaphern, vom glaubhaften Abbilden von Innenwelten, von Spannung, von Tragik, von Komik, von Psychologie, von Figurenführung, von Aufbau, von Komposition, von Mehrdimensionalität von Texten.

3 Die Geschichte mit den Kritikern.

3.1

Es braucht viel Lektüre und viel Zeit, um Kritikerin zu werden.

Wie jeder, der eine Arbeit macht, die in der Öffentlichkeit sichtbar ist, möchte die Kritikerin Anerkennung: Für ihr Urteil, für ihr literarisches Verständnis, für ihren Blick für das Handwerk, für ihre Expertise.

Sie ist allerdings nur Expertin innerhalb ihres Lektürehintergrundes. Außerhalb kann sie keine sicheren Urteile fällen.

3.1.2

Der Kritiker könnte bei der Beurteilung des Textes Unsicherheit einräumen. Würde sich damit aber sein hart erarbeitetes Expertentum quasi selbst absprechen.
Stattdessen wird er wahrscheinlich weiterhin die gewohnten Kriterien anwenden. Zum Beispiel das Beherrschen der Normsprache. Die Referenzen an den Kanon.

3.1.2.1

In den 60er-Jahren hat es den Versuch gegeben, Phänomene der Popkultur in der Literatur zu verarbeiten und Hierarchien aufzuweichen. Zum Beispiel unseren Dünkel gegenüber Comics.

In den 90er-Jahren verschoben sich die Inhalte der Popliteratur. Während man in den 60ern versucht hatte, die Literatur für neue Bereiche zu öffnen, nutzte man in den 90ern die neu gewonnenen Bereiche dazu, sich abzugrenzen, indem man Geschmacksurteile fällt. Auf einmal ging es darum, warum man nicht Tina Turner hören konnte, und nicht darum, dass Pop insgesamt nicht minderwertig war.

Der Kritiker ist ebenfalls ständig damit beschäftigt, Grenzen zu ziehen, zwischen gut und schlecht, zwischen Sprachkompetenz und mangelnder Kenntnis, zwischen authentisch und konstruiert, zwischen preiswürdig und unterhaltungsverdächtig.

Natürlich gefällt ihm die neuere Popliteratur besser.

Natürlich gefallen ihm Grenzen, weil sie Selbstverortung vereinfachen.

3.2

Die Kritik bescheinigt gerne Authentizität, wenn Texte in einem anderen sozialen Milieu spielen als jenem, in dem die Kritiker sich bewegen. Was in der Regel auch jenes ist, aus dem sie stammen. Die Geschichte mit der Herkunft gilt für Autoren und Kritiker gleichermaßen.

Es ist das eine Mal, dass sie als Experten außerhalb ihres Fachgebietes in Erscheinung treten. Siehe dazu auch Punkt 6, die Geschichte mit der Authentizität.

4 Die Geschichte mit den Pförtnern.

4.1

Der erste in der Familie, der studiert, geht in der Regel nicht nach Biel, Hildesheim oder Leipzig, um Literatur zu studieren, sondern versucht es mit BWL, Jura oder Medizin.

Menschen, die glauben, man sei da frei in der Wahl, sind in der Regel nicht von einem Wertesystem in ein anderes gewechselt und nicht in der Lage, die Schwierigkeiten zu sehen.

4.2

Ich habe nie eine dieser Schreibschulen von innen gesehen, aber ich kenne einen Absolventen ganz gut und einige andere leidlich. Viele sind am Ende nicht Autoren geworden, sondern Literaturvermittler unterschiedlichster Art: Lektoren, Redakteure, Veranstalter, Kritiker.

Gebiete, auf denen man mehr Deutungshoheit gewinnt als mit dem Verfassen von Romanen. Und weniger Gefahr läuft, in die akademische Prekariatsblase zu rutschen.

Das muss nicht das Motiv für die Entscheidung gewesen sein, nicht Autor zu werden, doch diese Entscheidung hilft – ob man will oder nicht –, bestehende Machtstrukturen weiter fortzuschreiben.

4.3

Das Beste, was eine Lehrerin tun kann, ist sich selbst überflüssig zu machen. Schüler heranzubilden, die ihr in nichts nachstehen.

4.4

Das Klügste, was eine Institution tun kann, ist sich der eigenen Bedeutung zu vergewissern.

Genau wie ein Kritiker.

Weder Institutionen noch Kritiker sind bestrebt, sich selbst überflüssig zu machen.

4.4.1

Institutionen brauchen sich selbst nicht überflüssig zu machen, weil sie immer Nachschub bekommen. Es liegt in der Natur jeder Schule, Schüler in ein Wertesystem einzugliedern, das sie selbst miterschafft. Ein Lehrer kann diese Werte in Frage stellen, die Institution selbst kann das nicht.

4.5

Maren Kames, Hildesheim-Absolventin, hat ein Vorwort für eine jährlich veröffentlichte Hildesheimer Anthologie geschrieben, das dort jedoch nicht veröffentlicht wurde.

Darin schreibt sie: Ich habe in Hildesheim übers Schreiben nichts gelernt.

Und: Wenn ich sage, ich wisse nichts im Schreiben, es finde sich oft Nichts und selten Stabiles, meine ich das nicht weinerlich, sondern nüchtern.

Dazu später mehr in 7, der Geschichte mit dem Vorwissen.

Was auch immer die Verantwortlichen dazu bewogen haben mag, das Vorwort abzulehnen, Souveränität und die unerschütterliche Überzeugung von der eigenen Wichtigkeit können es nicht gewesen sein.

4.6

Der Literaturagent ist ein Zwischenhändler. Einer, der eine Vorauswahl trifft, die möglicherweise weder im Interesse der Verlage noch der Lesers ist. Wer weiß das schon so genau?

Er ist ein weiterer Schleusenwärter, der die Möglichkeit hat, den Aufstieg eines Autors zu erschweren, der aufgrund seiner Herkunft wenig Kontakte zum Kulturbetrieb mitbringt.

4.7

Wessen Vater mit Programmleitern von Verlagen essen geht, braucht sich um 4.6 nicht zu sorgen.

5 Die Geschichte mit dem Personal.

5.1

Hat Selim nicht aufgepasst? Da ist doch lauter Personal aus den unteren Schichten in den Romanen der letzten Jahre. Der goldene Handschuh, Hool, Ellbogen, um nur drei der bekannteren zu nennen.

5.2

Hans Fallada schreibt zu Wer einmal aus dem Blechnapf fraß:

Nicht aus Freude am Abenteuerlichen, nicht als echte Milieuschilderung wirklicher ‚Unterwelt‘ wird der Roman geschrieben, sondern um zu zeigen, wie der heutige Strafvollzug und die heutige Gesellschaft den einmal Gestrauchelten zu immer neuen Verbrechen zwingt.

Der Autor interessiert sich nicht für die Kriminalität, sondern für seine Figuren und die Strukturen in der Gesellschaft. Er führt seine Figur nicht vor, lässt ihr ihre Würde.

5.3

In den neueren Romanen interessiert die Figur aus der Unterschicht meist als Delinquent. Pow, da hat er jemandem in die Fresse geschlagen. Wups, da hat sie jemand auf die Gleise geschubst. Ach, da hat er wieder viel getrunken, wie die Unterschichtler es halt so tun, und ist dann brutal geworden.

Es gibt ein voyeuristisches Element, ein Ausstellen von Figuren ohne jegliche Empathie, eine Bestätigung von Klischees.

5.4

Das Personal aus der Unterschicht interessiert nicht als ein Nebenprodukt, das diese Gesellschaft nunmal hervorbringt, sondern als eine Art Freak, der aus der Art geschlagen ist, ohne dass jemand etwas dafür kann, und den man nun bestaunt.

5.5

Mir fällt nur ein Roman ein, der eine Unterschicht nach der Jahrtausendwende beschreibt, ohne voyeuristisches Interesse und ohne Absicht, die Lust am scheinbar Authentischen zu befriedigen. Man Down von André Pilz, ein Roman, in dem Kriminalität das Nebenprodukt der Bedingungen ist, die die Mehrheitsgesellschaft diktiert.

André Pilz ist den wenigsten ein Begriff.

6 Die Geschichte mit der Authentizität.

6.1

Die Kritik bescheinigt Romanen, deren Personal keine Privilegien besitzt, gerne Authentizität. Woher sie die Vergleichsmöglichkeit hat, um diese Bescheinigung auszustellen, bleibt schleierhaft. Und warum das ein Kriterium für Literatur sein sollte, auch.

6.2

Senthuran Varatharajah sagt dazu:

Authentizität als literarisches Kriterium […] ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment.

6.3

Wolf Wondratscheck hat Karasek mal mit Prügeln gedroht. Nein, hat er nicht. Er hat nur gesagt, er bedaure, dass sie Zeiten vorüber sind, in der man derlei Dinge (einen Verriss für Einer von der Straße) vor der Tür unter Männern regelt. (Diese Zeiten hat es natürlich nie gegeben, selbst Hemingway hat keine Kritiker geschlagen, sondern nur Kollegen.)

6.4

Ich haue gerne jedem aufs Maul, der nochmal was von authentisch faselt, wenn er einen Roman bespricht, in dem Menschen vorkommen, mit denen er nie redet.

6.5

Der Ausdruck im Gesicht eines Menschen, der gerade hart geschlagen wurde, ist immer authentisch.

6.6

Ich war seit 25 Jahren nicht mehr beim Boxtraining, traue es mir nicht mehr zu und versuche Gewalt zu vermeiden, wo immer es geht.

Aber die bloße Androhung wirkt schon authentisch, oder?

7 Die Geschichte mit dem Vorwissen.

7.1

Leonard Cohen zitierte häufiger den kanadischen Dichter Irving Layton, der gesagt hat: Zwei Eigenschaften sind für einen jungen Dichter von größter Bedeutung – Arroganz und Unerfahrenheit.

7.2

Sagt Lila (siehe 2.3) wurde in Schulhefte geschrieben und war möglicherweise nie für eine Veröffentlichung gedacht. Zumindest war die Veröffentlichung unwahrscheinlich, sofern es sich nicht um einen Marketingzug handelte.

7.3

Kreativität entsteht auch aus Unwissen. Unwissen darüber, wo die Grenzen liegen. Unwissen darüber, was die richtige Technik ist. Unwissen darüber, wie ein Text eigentlich funktioniert.

7.4

Unwissen darüber, wie die betrieblichen Strukturen aussehen. Unwissen darüber, wie Preise, Stipendien und Ehrungen vergeben werden. Unwissen darüber, wo die richtigen Schaltstellen sind.
Diese Art von Unwissen ist sicher hinderlich, aber sie geht Hand in Hand mit dem Unwissen, wie schnell man zermahlen werden kann. Dieses Unwissen macht Mut und zwingt einen, mit eigenen Augen nach Optionen zu suchen, und bietet mehr Möglichkeit, Strukturen zu hinterfragen, weil man sie erst mühsam erlernen muss.

7.5

Ich habe den Eindruck, jeder der Autoren, die heute auf den Markt drängen, kennt sich nicht nur bestens aus mit seinen Bedingungen, mit Preisen, Stipendien, hilfreichen Beziehungen, den Schreibschulen und Selbstvermarktung, sondern auch mit literarischen Techniken, mit Autorenwerkstätten, in denen an Texten geschmiedet wird, bis sie jegliche Hitze verloren haben.

7.6

Das Wissen, das erworben wird, ist im Hinblick auf die Literatur eine Illusion. Siehe 4.5

Siehe auch die acht Regeln von Kurt Vonnegut zum Schreiben, die mit dem Nachsatz enden, dass große Schriftsteller dazu neigen, all diese Regeln zu brechen.

7.7

Ohne das Wissen kann man heutzutage kaum noch einen Vertrag bekommen.

8 Die Geschichte mit der eigenen Biographie.

Meine Großmutter väterlicherseits hat erst nach ihrem 40. Lebensjahr zu lesen und zu schreiben gelernt. Es war ihre einzige Möglichkeit, Kontakt zu halten mit meinem Vater, der in Deutschland Gast war, aber trotzdem arbeiten musste. Meine andere Großmutter war Analphabetin. Meine beiden Großväter nicht. Oder irgendwie schon. Denn sie hatten Lesen und Schreiben gelernt, bevor die lateinische Schrift in der Türkei eingeführt wurde.

Ich bin in den 70ern aufgewachsen, in einer Zeit, in der man mit einem durchschnittlichen Gehalt noch eine Familie ernähren konnte. Meine Eltern haben beide gearbeitet, wir waren nicht reich, wir hatten aber mehr Geld als die meisten in unserer Nachbarschaft.

Mein Vater hat immer gesagt: Lesen bildet. Und: Für Bücher gibt es immer genug Geld in diesem Haus.

Wir hatten vielleicht 40, 50 Bücher daheim und ich habe meinen Vater fast täglich mit einer Zeitung in der Hand gesehen, aber selten mit einem Buch. Er behauptete, früher viel gelesen zu haben, und die Sätze, die er manchmal zitierte, fand ich später bei Dostojewskij, Hamsun und London.

Ich durfte mir so viele Bücher kaufen, wie ich wollte. Von denen, die im großen Supermarkt bei den Schreibwaren auslagen. Als ich das erste Mal eine Buchhandlung betrat, war ich 13. Ich hatte einen Ausweis für die Stadtbücherei, war aber schon auf der weiterführenden Schule, als ich feststellte, dass es nicht nur den Bus der Bücherei gab, der einmal die Woche kam, sondern auch noch eine Niederlassung direkt im benachbarten Stadtteil.

Niemand lenkte oder beeinflusste mich in meinem Lesen. Meine Eltern wussten nicht, was ich las. Sie wussten auch sonst so einiges nicht. Sie konnten mir nicht bei den Hausaufgaben helfen. Sie konnten mir keine Wörter erklären, die ich nicht kannte.

Aber es war nicht nur die Sprache, die fehlte. In dem Viertel, in dem wir lebten, gehörten Diebstähle im Kiosk, frisierte Mofas, heimlich rauchende Kinder, beim Fußballspielen zerschossene Fenster und Prügeleien zum Alltag. Manche Eltern schwankten auf den Schulfesten in der Grundschule, weil sie zu viel getrunken hatten.

Ich sah, wie Freunde geschlagen wurden, weil ihr Ball unter ein fahrendes Auto geraten und geplatzt war. Ich lernte, Verkäufer abzulenken und was Hausverbot bedeutete. Ich musste Kölsch wenigstens verstehen, weil es wichtig war zu wissen, wann man beschimpft wurde.

Ich lernte Dinge, die man lernt, wenn man in so einem Viertel lebt.

Doch alles, was ich über Literatur wusste, hatte ich aus den Büchern, die ich las.

Ich lernte Fremdwörter mit einem Taschenlexikon, das ich mir dafür kaufte, weil ich begriff, dass es mir der Zugang zur Literaturwelt erschweren würde, wenn ich Wörter nicht verstand.

Ich wusste, es gibt Manuskripte und Verlage machen daraus Bücher. Ich ahnte, dass man in Literaturkreisen Fremdwörter kennen muss. Damit war mein Wissen über den Literaturbetrieb erschöpft.

Ich schickte mit Anfang zwanzig Manuskripte an Verlage. In manchen Büchern stand die Verlagsanschrift drin, die Adressen anderer Verlage fragte ich in der Buchhandlung nach.

Vor der ersten Veröffentlichung bekam ich dutzende Formbriefe als Absagen, einige davon mit dem handschriftlichen Vermerk, dass der Titel toll sei. Die Absagen frustrierten mich nicht. Siehe 7.1, Unerfahrenheit und Arroganz.

Ich entwickelte den Ehrgeiz, von jedem deutschsprachigen Verlag eine Absage zu erhalten. Jedem. Ich denke, man bekommt eine Ahnung von meiner Ahnungslosigkeit.

Als später mein erster Roman erschien und sich alle im Verlag freuten, weil ich eine positive Besprechung in der NZZ hatte, wusste ich nicht, was die NZZ war und warum alle wegen einer Zeitungsrezension so aus dem Häuschen waren.

Ein Buch hatte zum nächsten geführt, ich war durch Buchhandlungen und die Regalreihen in der Bücherei gestolpert, ich hatte nie Rezensionen in Zeitungen gelesen oder gar von Literaturbeilagen gehört. Ich bezweifle, dass ich von den beiden Messen wusste.

Heute erscheint mir der Weg, den ich gegangen bin, völlig unwahrscheinlich. Ich bin dankbar, dass ich den Worten und ihrem Klang so weit folgen konnte.
Vielleicht unterschätze ich das Internet, jemand wie ich könnte sich heute ausführlich informieren. Vielleicht hat jede Zeit ihre eigenen Schwierigkeiten, so wie jeder Autor seine eigenen Schwierigkeiten hat. Vielleicht ist der Zustand des heutigen Literaturbetriebs auch nur ein Ausdruck der zunehmenden Kommerzialisierung, die alle Lebensreiche erfasst hat.

Aber ich weiß, dass Literatur Grenzen überwinden kann. Ich weiß, dass Grenzen überwinden Bewegung bedeutet.

Ich bedaure, dass die Unwahrscheinlichkeit dieser Bewegung heute größer scheint, als sie es damals für mich war.

Astronauten von Sandra Gugic

Die bevorzugte Bewegung des Astronauten ist das Schweben. Diese Art der Fortbewegung ist lautlos und schwerelos und Traumfabrikmaterial. Aber vielleicht ist es auch ein wenig träge, ein wenig dröge, ein wenig vorhersehbar, immer dieses Geschwebe, ohne jemals fallen zu können. Die Astronauten von Sandra Gugic schweben nicht. Sie trudeln, sie stolpern, sie taumeln und straucheln. Und aus sechs von diesen haltlosen Existenzen im Universum hat Sandra Gugic ein sehr lesenswertes Buch gemacht.

646In einem stickigheißen Sommer in einer Stadt, die sich nach Wien anfühlt, treiben die Protagonisten episodenhaft umeinander und aneinander vorbei. Darko und sein wutgetränkter Kumpel Zeno umgarnen die unnahbare Mara, die unaufhörlich Origami-Füchse faltet und eine Affäre mit dem taxifahrenden Schriftsteller Alen beginnt, der wiederum Darkos Vater ist und der sich von seinem Polizistenfreund Niko entfremdet, der wiederum immer wieder auf den Kleinkriminellen Alex trifft und sich dem Junkie unerklärlich verbunden fühlt. Dieser lose, höchstens blassrote Handlungsfaden wird abwechselnd in sechs Stimmen erzählt, sodass am Ende nicht wirklich etwas zusammenpasst, sondern sechs Ichs ihre zersplitterte Sicht auf etwas schildern, das man am Ende vielleicht ein gestrandetes Mutterschiff nennen kann.

Sandra Gugic schreibt in einer Sprache, die traumwandlerisch sicher die richtigen Stimmungen trifft und dem Geschehen in der Stadt und in den Köpfen immer mit einer lakonischen Distanz begegnet, der ihre angeschlagenen Astronauten vor der Rührseligkeit bewahrt.

Minuten, Stunden später wird das Geknutsche und Gefummel vor dem Springbrunnen losgehen, auf dem Parkplatz und zwischen den Säulen. Von drinnen dringen Fetzen von Paartanz-Musik nach draußen, sittsamer Ausgleich zum allgemeinen Treiben bleibt dieVerwendung von Französisch und Englisch als Party- konversationssprachen, und immer neue Erinnerungsfotos vom Abheben und Abstürzen und den Aggregatzuständen da- zwischen, an die sich keiner erinnern wird. Dazwischen liegt die steinerne Grenze zwischen Casino und Park, der Gebäu- dekomplex des Theaters, das Zeno nur einmal von innen ge- sehen hat. Eine Aufführung derRäuber,in die uns eine Jugend- arbeiterin mitgenommen hatte, der alte Schinken aufgepimpt als Gangballade, mit Rap und Breakdance, und Zeno und ich, als alberner Gegensatz dazu, aufgebrezelt in Hemd und Krawatte im Parkett.

Man kann Sandra Gugics Debütroman vielleicht vorwerfen, dass sich die Stimmen ein wenig zu sehr gleichen, dass selbst der gekränkte Bürgerschreck Zeno noch besonnen erklärt, warum er mit dem Luftgewehr auf Passanten und Golfspieler ballert. Das Buch federt seine Schläge oft durch kunstvolle Wortpolster ab und wirkt deshalb eher wie von einer einzigen Stimme erzählt.

Trotzdem entfaltet Sandra Gugics Stil einen gewaltigen Sog, der 199 Seiten mit Lichtgeschwindigkeit im Kosmos verschwinden lässt. Astronauten reiht sich in eine ganze Serie von aktuellen Büchern ein, die sich nicht festnageln lassen, keine klare Position beziehen, sondern ihre Protagonisten fast vorsichtig und großzügig umkreisen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass so viele Texte im zeitgenössischen Universum uns so meinungsstark mit Absolutheitsmegaphon anschreien möchten. Ein Roman ist ein langsames Medium. Lang geschrieben und langsam gelesen, packt er vieles ins Ungesagte. Der Rückzug ins Verkraftbare, viele kleine Geschichten, viele Möglichkeiten anstatt einer großen geschlossenen Erzählung sind eine zur Zeit auffällig häufig genutzte Strategie, der sich auch die Autorin dieser Zeilen außerordentlich verbunden fühlt. Vielleicht hat sie auch deshalb die trudelnden Astronauten so gern gelesen. Kein Autopilot, der irgendwo hinführen muss.

[Rezension von Saskia Trebing]

Amity Gaige – Schroders Schweigen

An „Schroders Schweigen“ von Amity Gaige ist erstmal alles falsch. Wie bei einem Rezept, bei dem man jede einzelne Zutat nicht mag. Ähnlich wie Rote Beete und pochierte Eier lösen auch „herzerwärmende“ Vater-Tochter-Geschichten und „erfrischend ehrliche“ Weisheiten aus Kindermündern einen leichten Ekel in mir aus. Und bei Amity Gaige wird es noch schlimmer. „Schroders Schweigen“ ist eine Scheidungsgeschichte (wir waren doch so glücklich, aber du hast dich verändert). Es ist eine Gangstergeschichte (all diese Dinge tun Menschen aus Verzweiflung und Liebe). Und um die Sammlung von seichten Erfolgsromanklischees zu vervollständigen, hat der Erzähler auch noch seine deutsche Herkunft verschleiert und sich eine falsche Identität zugelegt (ein wenig Geschichtswürzmischung mit DDR und Mauerkräutern).

Aber manchmal nimmt man eben widerwillig den ersten Löffel, oder die ersten Seiten, und stellt erst überrascht, dann euphorisch fest, dass es großartig schmeckt.

Denn an „Schroders Schweigen“ von Amity Gaige ist absurderweise alles richtig. Die Autorin aus North Carolina hat aus hinreichend bekannten Zutaten ein berührendes Buch zubereitet, das sowohl bei Jack Kerouacs „Unterwegs“ als auch bei Nabokovs „Lolita“ genascht hat.

Ihre Hauptfigur Eric Schroder erzählt die Geschichte mit einem Brief an seine Ex-Frau (auch dieser nur halbinnovative Kunstgriff sei ihr verziehen). Er will ihr erklären, warum er nach der Trennung ihre sechsjährige Tochter Meadow entführt hat – oder warum zumindest alle Welt glaubt, dass er das getan hat. Für  Schroder sieht die Lage ein wenig anders aus. Es waren doch nur ein paar Tage Ferien mit seinem Zuckerstückchen, eine Ausfahrt, die ein wenig aus der Form geriet, die aber unerlässlich für die Vater-Tochter-Bindung war.

Amity Gaige hat mit Eric Schroder eine starke Erzählstimme erschaffen, die zwischen unbekümmertem Charme und depressivem Selbsthass schwankt. Man geht diesem attraktiven Hochstapler immer wieder ins Netz, obwohl vom ersten Kapitel an klar ist, dass seine Existent auf einem Betrug beruht. Seit einem Ferienlager in seiner Schulzeit lebt er zwei Leben. Aus dem deutschen Immigrantensohn Erik Schroder, schüchtern und mit entlarvendem Akzent, das Ö ging an der US-Grenze verloren, wurde durch ein einfaches Anmeldeformular der amerikanische Adelsspross Eric Kennedy.

Auch der weitere Lebensweg verläuft nicht gerade solide, doch Kennedy-Schroder ist ein Rattenfänger. Immer wieder überzeugt er sein Umfeld von seinen edlen Absichten. Und in seinen wildnaiven Rechtfertigungsschlenkern kann er sogar dem Leser erklären, warum sein samstäglicher Badeausflug mit seiner Tochter plötzlich zur Flucht quer durch die USA mutiert.

Dass Meadow das wahrscheinlich eloquenteste Grundschulkind ist, das mir seit langem zwischen die Buchdeckel gekommen ist, macht die Sache noch komplizierter. „Das Gehirn ist da, wo das Eis gemacht wird“, sagt sie als mit drei gerade Lesen lernt. Zum einen will man diesem schmerzhaft schlauen Kind seinen verspielten Vater gönnen. Dass er sie hilflos vergöttert steht außer Frage. Auf der anderen Seite macht ihre Wachheit die Erfahrung der „Entführung“ umso schlimmer. Dass Eric sie am kanadischen Grenzübergang in den Kofferraum stopfen will, kann Meadow nicht so schnell verzeihen. Am Ende dieser emotionalen Verfolgungsjagd steht Schroder entblößt vor seinem Publikum, das nun, wie die Jury am Gericht, über ihn und seine Taten richten muss.

In Amity Gaiges dritten Roman lernt man eine komplexe Figur zu mögen, die man vielleicht nicht unbedingt mögen sollte. Und man hat plötzlich ein Buch verschlungen, das man eigentlich nie lesen wollte.

Saskia ist Studentin, freie Journalistin und Kunstvermittlerin in unterschiedlichen Prozentsätzen. Im Bloggen ist sie genauso erfahren wie Amity Gaige.

Saskia ist Studentin, freie Journalistin und Kunstvermittlerin in unterschiedlichen Prozentsätzen. Im Bloggen ist sie genauso erfahren wie Sibylle Lewitscharoff.