Was treibt Andy Warhol in einem Stuttgarter Kaffeehaus? Draußen nur Kännchen, sogar für Jim Morrison? Und warum habe ich eigentlich noch nie etwas von Sibylle Lewitscharoff gelesen, einer Autorin, für die mein geschätzter Freund und Blogbetreiber Tilman die beschwerliche Reise von Münster ins hessisch-sibirische Bad Hersfeld zurücklegen würde (wenn sie ihm denn auf seine Interviewanfrage geantwortet hätte)?
Diese gestapelten Fragen haben dazu geführt, dass ich mir in Zwischenjahreszügen und –flügen Lewitscharoffs Roman „Consummatus“ zu Gemüte führte. Sagen wir es so: Ich würde für dieses Buch keine Weltumrundung auf mich nehmen. Aber eine anregend kurvige Gehirnrundfahrt ist es schon. Das Buch von 2006 folgt den wodkatriefenden Gedankenschleifen von Ralph Zimmermann, einem mittelalten, mittelinteressanten Geschichtslehrer, der sich jeden Samstag im schwäbischen Spießercafé Rösler die Lichter ausschießt. Das Spannendste an „Ralphi“ – mit peha und i – ist seine Begleitung. Denn Ralphi sieht Tote, eine ganze Menge davon. Während dieser Umstand die meisten von uns in einen eher unentspannten Geisteszustand versetzen würde, hat sich der Erzähler längst an seine körperlose Gesellschaft gewöhnt. Neben den rührkuchenkauenden Hausfrauen bevölkern auch seine Idole Andy Warhol, Jim Morrison und Edie Sedgwick das Samstags-Lokal. Die klaustrophobisch deutsche Heinrich-Böll-Örtlichkeit rückt plötzlich absurd nah an Warhols Factory und den rauschhaften New-York-Glamour der 70er.
Unter den Toten, die wie durchsichtige Insekten in Lederjacken an den Tischen und Wänden kleben, ist auch Zimmermanns Ex-Freundin und Ex-It-Girl Joey (ein Schelm, wer Nico dabei denkt). Diese vor Wut und Sarkasmus tropfende Rockfurie war sein Kurzzeitticket ins Rampenlicht. Endorphineruptionen und Hippie-Inseln, bis er Joey aus Versehen mit dem Tourbus überfuhr und zurück in sein Geschichtslehrerdasein geparkt wurde.
Dieser Ansatz einer Handlung schält sich erst nach und nach aus Ralphis trägen Säufergedanken heraus. In seinem Kopf kreisen Leben und Tod und Gott und Frühstückseier. Immer wieder wird der Erzähler von den Toten unterbrochen, die sich genötigt fühlen, Ralphis Wodkathesen richtig zu stellen. Sie tun das im Buch in verblichen zartgrau abgesetzter Schrift, blasse Geisterbuchstaben auf den beigen Seiten. Die Idee dieser Off-Stimmen ist durchaus elegant, und ohne die lakonischen Kommentare aus dem Totenreich wäre Zimmermanns pathetische Litanei mit Mythenglasur und Bibelkrümeln wohl über 240 Seiten nicht zu ertragen. Doch auch so stellt sich nach der Hälfte des Buches eine gewisse Ermüdung ein, wenn die Hauptfigur ein wenig zu sehr im Selbstmitleid zergeht und zwischen Kaffeekännchen und Wodkagläsern die großen Fragen des Lebens malträtiert. Selbst die Café Hall of Fame der Toten kann bei den Gedanken ihres Diesseits-Gefährten kaum Begeisterung aufbringen. Wir lernen, dass man als Wiedergänger ein wenig blasser und gleichgültiger wird. Andy Warhol sagt fast gar nichts mehr und Jim Morrison drückt sich wie ein ungezogener Schuljunge in der Küche herum. Den Resten der geliebten Joey scheint ihr entgleisender Ex-Ralphi sogar ein wenig peinlich zu sein. Und auch ich als zwar erschöpfte, aber lebendige Leserin fühlte mich erleichtert, als der Protagonist schließlich im Stuttgarter Schneetreiben verschwindet. Erlösung oder Delirium, man weiß es nicht so genau. Aber zumindest wird der allzu bedeutungsschwangere Gedankenpfad zwischen der Ewigkeit und der Pop-Art-Factory zuverlässig von den schwäbischen Schneeflocken überdeckt.
Saskia ist Studentin, freie Journalistin und Kunstvermittlerin in unterschiedlichen Prozentsätzen. Im Bloggen ist sie genauso erfahren wie Sibylle Lewitscharoff.