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Aber nur dieses eine Mal

Tobias Premper war bereits vor fünf Jahren bei der ersten Lesung von 54stories in Berlin dabei. Im März diesen Jahres erschien der Nachfolgeband seiner Notizen “Das ist eigentlich alles”. Aus “Aber nur dieses eine Mal” präsentieren wir mit freundlicher Genehmigung des Steidl Verlages einen Auszug.

18. Notizbuch

 

Er würde nicht in der Lotterie gewinnen und auch keine wohlhabenden Leute kennen lernen, die seine Kunst sammeln und ihn damit über die Zeit retten. Er würde kein Glück mit den Frauen haben und keine Karriere machen. Aber das sollte ihm erst später aufgehen, viel später, eigentlich erst dann, als es schon zu spät war.

 

Gestern, am 10.6.2010, ist Sigmar Polke gestorben. Ich male alle oberen rechten Ecken schwarz.

 

Traum: Mein Zahnarzt hat einen Playmobil-Tick und füllt mir mit allen möglichen Plastikteilen die Zähne. Er sagt: »Das hält besser, das hält besser.« Jetzt zieht er mir den angeschlagenen Schneidezahn und setzt dafür ein Playmobil-Pferdebein ein, das er sauber abschleift und weiß lackiert.

19. Notizbuch

 

Er sagte seinem Verleger, er würde seine Texte nicht vor Publikum in irgendeinem Literatur- oder Theaterhaus vortragen; in einer Höhle, ja, oder im Wald vielleicht.

 

20. Notizbuch

 

Ich beginne ein weiteres missglücktes Notizbuch.

 

Meine Freiheit nimmt zu mit den Worten, die ich schreibe, aber auch das Fremde und die Furcht.

 

Jetzt ist es dunkel geworden und still. Die Welt beginnt zu mir zu sprechen, und ich lege das Notizbuch beiseite und lausche ihr.

 

21. Notizbuch

 

Ein Mann seilte sich von seinem Privatzeppelin ab und trat auf ein Krokodil, das ihn aus traurigen Augen ansah. Dann verschwand der Mann im Dschungel.

 

22. Notizbuch

 

Vor mir ging ein Mann mit zwei Tüten in den Händen. Dann öffnete er eine Luke im Boden, ließ erst beide Tüten und dann sich selbst in das Loch fallen. Ich schloss die Luke wieder und blieb noch etwas darauf stehen, um sicherzugehen, dass er nicht mehr hinauskam.

23. Notizbuch

 

In der ganzen Gegend nur ein einziges Schild: Haltestelle Bahnhof. Als der Bus kommt (kein Abfahrtsplan und der Bus auch ohne Fahrtziel an der Stirnseite), frage ich den Fahrer, ob er auch zur Fähre nach Hiddensee fahre. »Ich fahre überall hin. Endstation, Ankunft in einer Stunde.«

Im Bus ruft ein Junge, der ganz hinten sitzt, zu einem Mädchen, das ganz vorne sitzt: »Hannaaaaaaah, Hannaaaaaaaaaaaah!« Und als sich Hannah umdreht und lächelt, ruft der Junge: »Komm bloß nicht her, bleib, wo du bist!«

 

24. Notizbuch

 

Habe mich gefragt, wo eigentlich meine Freunde hin sind, und als ich dann in einem Hauseingang stand, habe ich auf dem Klingelschild den Namen »Daumenlang« gelesen. Ja, dachte ich, das könnte ein neuer Freund werden.

 

25. Notizbuch

 

Der Traum des Bahnrestaurant-Mitarbeiters, den er kurz vor der Ankunft in Berlin einem Kollegen offenbart: det Beste is, eener säuft für zweehundert und zahlt dreihundert.

 

Ein Buch (auch dieses Notizbuch) in dem Moment, in dem man das Interesse daran verliert, einfach fallen lassen.

 

“Aber nur dieses eine Mal” von Tobias Premper ist im März 2020 bei Steidl, Göttingen erschienen und kostet EUR 18,-

Beitragbild von noslifactory

Quo Vadis deutscher historischer Roman – ein Appell für mehr Mut

eine Kolumne von Nadine Paque-Wolkow
Leseflaute. So kann man das Gefühl nennen, wenn man vor den prall gefüllten Regalen im Buchladen steht und trotzdem keine Lust hat zu lesen. Ich kenne dieses nagende Gefühl gut, denn es begleitet mich seit Jahren, wenn ich mir die Verlagsvorschauen für deutsche historische Romane anschaue. Und das ist schade, denn eigentlich liebe ich dieses Genre, seit meine Mutter mir mit zwölf – vielleicht etwas verfrüht – Ken Follets Die Säulen der Erde in die Hand gedrückt hat. Seitdem bin ich immer auf der Suche nach neuen, spannenden Geschichten aus der Vergangenheit, aber der deutsche Buchmarkt macht es mir wirklich nicht leicht.

„Eine starke Frau, die ihren Weg geht“, so ist das gängige Verkaufsargument für einen nennenswerten Teil der veröffentlichten Bücher in diesem Segment und ich habe von all den „starken Frauen“ im Laufe der Jahre gelesen: Von den Wanderhuren und Hebammen, den Bierbrauerinnen und Silberschmiedinnen. Aber mit der Zeit wurde mir klar, dass mir diese Art von Büchern einfach nichts gibt und ich habe lange versucht herauszufinden, was es ist, was mich an diesen Geschichten von vermeintlich „starken Frauen, die ihren Weg gehen“ so stört und warum ein großer Teil des deutschen Buchmarktes einfach nicht mehr für mich schreibt.

Es war damals halt so
Die inhaltliche Grundlage dieser Bücher ist fast immer dieselbe. Die Heldin ist eine schöne, weiße, unschuldige, aber gewitzte junge Frau. Sie hat große Pläne und Hoffnungen. Meist träumt sie davon einen bestimmten, meist schon im Titel des Romans angekündigten, Beruf zu ergreifen. Das ist aber Frauen untersagt. Oder sie will das Geschäft des Vaters übernehmen, aber auch das bleibt ihr zu Anfang verwehrt, weil die Protagonistin eben eine Frau ist. Dann kommt es aus heiterem Himmel zu einem Unglück, weswegen die Protagonistin alles verliert und sich von ganz unten wieder hocharbeiten muss.
An sich ist gegen diese Plotstruktur nichts einzuwenden. Wir alle wollen Erfolgsgeschichten lesen, in denen der/die Held*in Hindernisse überwindet und am Ende triumphiert. Das Problem mit diesen Geschichten ist, dass die Triebfeder des Ganzen meist Gewalt an Frauen ist. Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt an Frauen sind so ein großer Teil von historischen Stoffen und so eine treibende Kraft für die einzelnen Geschichten, dass Verlage sie sogar schon auf den Rückencovern erwähnen, um so für das Buch zu werben.
Immer muss die Heldin Schreckliches erdulden, wird in Erzählungen, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit spielen, gern und oft als Hexe denunziert, dann über mehrere Kapitel gefoltert und/oder sehr plastisch „geschändet“, um schließlich von der Gesellschaft verstoßen zu werden. Das diese Szenen in den seltensten Fällen im gebotenen Maße aufgearbeitet werden, versteht sich von selbst. Warum sollte man sich diese Mühe auch machen – denn meist findet die Protagonistin am Ende den Mann fürs Leben, der alle ihre schlimmen Wunden mit Liebe heilt.
Jede Kritik am Aufbau dieser Geschichten wird mit dem Argument „es war damals eben so“ erstickt. So als wäre sexualisiere Gewalt gegen Frauen ein Problem von damals. Schlimmer noch, es normalisiert Vergewaltigung, weil es andeutet, dass die Leute damals es eben nicht besser gewusst haben. Natürlich wussten auch die Menschen im Mittelalter, dass Vergewaltigung Unrecht ist, aber sie ist für viele Autor*innen immer noch ein Stilmittel, um das Zeitalter als „finster“ und „rückständig“ darzustellen. So verlegt man beispielsweise auch die Hexenverfolgung vom 16./17. Jahrhundert ins Mittelalter oder reproduziert immer wieder die Legende des „ius primae noctis“ – dem „Recht der ersten Nacht“ eine Praktik, die historisch nicht eindeutig belegt ist, einfach nur, um noch mehr Gründe zu haben die Protagonistin zu quälen.
Denn die Heldin muss da durch. Sei es (sexualisierte) Gewalt, Zwangsheirat oder Folter – die Welt dieser Romane ist ein Scherenschnitt aus Schwarz und Weiß. Alle Männer sind grundsätzlich darauf aus der weiblichen Hauptfigur Gewalt anzutun. Es sind wahlweise widerliche Typen, die sich nie waschen, Läuse und keine Zähne mehr haben, oder sie haben eine Machtposition inne, die sie schamlos ausnutzen, um sich der Protagonistin aufzudrängen. Insgesamt kennzeichnet das Buch sie deutlich als „die Bösen“. Ihnen gegenüber steht der einzige Kerl, in den die Protagonistin sich verliebt. Er ist relativ schnell ausgemacht, denn er ist der einzige Mann, der sich wäscht und genauso moderne Ansichten vertritt, wie die Protagonistin.
Denn das eigentliche Ziel unserer Heldin ist nicht die Silberschmiede oder das Kaufhaus des Vaters zu übernehmen, sondern zu heiraten und Kinder zu bekommen, damit man so die jeweilige „Saga“ noch über ein paar Generationen weiterführen kann. Der Mann ist also die Belohnung für alles, was der Protagonistin davor passiert ist.

Ein Buchmarkt, der nicht für mich schreibt
Wenn man mich fragen würde, was ich mir vom deutschen Buchmarkt im Allgemeinen und für historische Romane im Speziellen wünschen würde, ist es: Mehr Mut. Mehr Mut Geschichten zu erzählen, die sich nicht in die bequeme, biedere Hängematte der Familiensaga legen. Geschichten, die einem roten Faden folgen, Geschichten die wirklich etwas zu erzählen haben und nicht ihre Grundidee in aufgebauschtem Drama und Essensszenen zu ersticken.
Ich will nicht immer nur Heldinnen sehen, die normschön in den Augen der Leser*innen von heute sind. Gertenschlank, mit wallendem lockigen Haar bis zum Hintern und üppigen Busen und natürlich sind alle weiß, cis und heterosexuell. Denn wenn Autor*innen dann mal den Schritt gehen und nicht heterosexuelle Figuren in ihre Geschichten einbauen, wird es meist sehr schnell ganz finster.
Denn auch hier werden meist schädliche Tropes reproduziert. Vor allem queere Männer sind meist Antagonisten und ihr Schwulsein muss als Grund für ihre Verbrechen herhalten. Oder sie sind die als unmännlich markierten Figuren, die man bitte nicht ernst nehmen soll. Diese Figuren haben meist keinen eigenen Plot und sind in den allermeisten Fällen nur dazu da, um zu leiden. Ein Happy-End ist für nicht heterosexuelle Figuren nicht vorgesehen. Man könnte ausführlich darüber schreiben, dass lesbische Figuren grundsätzlich ganz ausgeklammert werden oder dass bi/pansexuelle nur vorkommen, um zu zeigen, wie unersättlich sie sind und dass man mit ihnen nie eine Beziehung eingehen kann, aber das würde den Rahmen sprengen. Das was mit nicht heterosexuellen Figuren in historischen Stoffen passiert ist keine Repräsentation, es ist schädlich. Liebe Autor*innen, Verlage und Leser*innen: Habt mehr Mut. Die Welt ist groß, die Geschichte der Menschheit ist bunt und vielfältig und sie ist überall. Ich würde euch mit all meinem Geld bewerfen, wenn ihr mir diese Geschichten geben würdet. Ich höre oft das Argument, dass es unrealistisch wäre, und dass es im europäischen Mittelalter eben keine BIPoC gegeben habe, oder dass man damals eben nicht „schwul sein durfte“. Dabei gab es immer nicht weiße Menschen in Europa und immer Menschen die nicht cis/hetero waren. Und dann diskutiert man mit Leuten, die es realistisch finden, dass eine Frau magische Hände hat, aber ein schwuler Protagonist ist historisch nicht korrekt.
Ich diskutiere auch auf Twitter lang und breit mit Autor*innen und Leser*innen warum das Genre sich nicht bewegt und jeder schiebt dem anderen die Schuld zu. Die Leser*innen wollen das doch, sagen die Autor*innen und die Verlage: es wird doch gekauft. Gleichzeitig wundert man sich, warum man nur so schwer neue Leser*innen generiert und das Genre stagniert.
Ich für meinen Teil werde nie müde mehr von meinem Lieblingsgenre zu fordern. Geschichten, die nicht auf dem Leid von Frauen aufbauen. Geschichten von und über marginalisierte Gruppen, am besten von Own Voice Autor*innen, man wird ja wohl noch träumen dürfen.

Finger-Flanerien – Digitales Theater als theatrales Game

von Felix Lempp

 

Ich bin aufgeregt. Nicht nur, weil mein erstes Theatererlebnis seit Wochen bevorsteht, sondern vor allem, weil ich so gar nicht weiß, was auf mich zukommt. Der Ort, an dem ich mich zehn Minuten vor Vorstellungsbeginn und mit aufgeladenem Smartphone einzufinden habe, ist mir zumindest gut bekannt: Gespielt wird heute in meinem Wohnzimmer. machina eX werden sich rechtzeitig bei mir melden, hat der freundliche Bot angekündigt, bei dem ich mich zuvor über die Messenger-App Telegram für einen Termin des durch aktuelle Ereignisse inspirierten kooperativen Wohnzimmer-Games Lockdown angemeldet habe. So warte ich jetzt also auf das, was machina eX mit mir vorhaben. Ein ungewohntes Gefühl. Denn der normale Ablauf eines Theaterbesuchs ist – zumindest im Stadt- und Staatstheater – meist doch weitestgehend berechenbar.

Ich kaufe eine Karte, bin zur vorgeschriebenen Zeit am vorgeschriebenen Ort, setze mich und hoffe vielleicht noch, dass die Regisseurin der heutigen Inszenierung keine Publikumspartizipation eingebaut hat, in deren Verlauf ich auf die Bühne gezogen werde. Aber wie oft kommt so etwas schon vor? Und selbst wenn: Sollte das Publikum tatsächlich einmal einbezogen werden, geschieht dies doch meist in einer vertrauten Form. Das Licht im Publikumsraum geht an, ein*e Zuschauer*in wird auf die Bühne geholt und muss dort eine meist sehr genau vorgegebene Aufgabe erfüllen, bevor sie oder er wieder in das Dunkel des Parketts entlassen wird. Wo der Einbezug des Publikums jenseits dieses konventionalisierten Musters erfolgt, ist es oft nicht weit bis zum Theaterskandal, wie 2006 die Geschehnisse um Gerhard Stadelmaiers Notizblock am Schauspiel Frankfurt zeigten.

Natürlich gibt es inzwischen auch am Stadttheater immersive Formate, die das Eintauchen des Publikums in die theatrale Situation genauso zum Programm erheben, wie sie ihm weitgehende Gestaltungskompetenzen für das gemeinsame Erlebnis einräumen. Meist handelt es sich dabei um spezifische Kooperationen, wie beispielsweise 2017/18 die zwischen dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg und dem dänisch-österreichischen Performancekollektiv SIGNA, das für die Hansestadt die Performance-Installation Das halbe Leid entwickelte. Dabei konnten sich interessierte Über-18-Jährige für zwölf Stunden ein Bett in einer heruntergekommenen Hamburger Fabrikhalle mieten und während dieser langen Zeit das Ungemach eines leidenden Mentors oder einer leidenden Mentorin teilen. Aber solche Produktionen bleiben doch Ausnahme in einem Theatersystem, in dem schon aus historischen Gründen die meisten Häuser über eine große Guckkastenbühne verfügen, die nun einmal bespielt werden will. So sitzt man im Dunkeln des Parketts also doch recht komfortabel und sicher – sicher sowohl vor performenden Übergriffen aus dem Bereich der Bühne als auch vor der künstlerischen Verantwortung für den Vorstellungsverlauf.

 

Digitale Schnitzeljagd

Aber heute ist das anders. Die ungewöhnliche Genrebezeichnung “kooperatives Wohnzimmer-Game” macht bereits klar, dass bei LOCKDOWN gespielt wird – und zwar nicht für mich, sondern von und mit mir. Denn Projekte an der Grenze zwischen Theater und Spiel sind die Spezialität des Medientheaterkollektivs machina eX. Das Team, das aus den kulturwissenschaftlichen Studiengängen der Universität Hildesheim hervorgegangen ist, hat seit 2010 verschiedenste Projekte verwirklicht, die vielleicht als Gamifizierung des Theaters – oder als Theatralisierung des Gamings – bezeichnet werden können. Ihr Erkennungsmerkmal ist  ein genau konstruierter Aktionsraum, in den die Spieler*innen geführt werden, um Rätsel zu lösen und Aufgaben zu bewältigen, was machina eX zu den Begründer*innen der Live-Escape-Games in Deutschland macht. Ihr Projekt 15 000 Gray von 2011, das ihnen verschiedene Preise und Festivaleinladungen einbrachte, geht den ersten kommerziellen Angeboten derartiger Spiele in Deutschland deutlich voraus.

Zugang zu diesen konstruierten Aktionsräumen verschafft mir heute in Zeiten des titelgebenden Lockdowns keine Eintrittskarte, sondern mein Smartphone. Die Idee, dessen theatrale Potenziale zu erkunden, ist nicht neu. Laut eigener Aussage schuf die Gruppe Rimini Protokoll mit ihrem Theaterprojekt Call Cutta 2005 „the world’s first mobile phone theatre“. Geführt von einer körperlosen Stimme aus dem indischen Callcenter erkundeten dabei Theatergänger*innen ihre Umgebung; außer für Kolkata wurde das Projekt auch für Berlin entwickelt. Die so Angeleiteten erhielten nicht nur eine neue Perspektive auf Stadt und Stadtgeschichte, sondern versuchten auch, die Person am anderen Ende des Hörers kennenzulernen. Ich aber werde heute weder angerufen noch auf einen Stadtspaziergang an der frischen Luft mitgenommen. Stattdessen erklärt mir eine kurze Telegram-Nachricht grob die technischen Spezifika des Wohnzimmer-Games – um zu lernen, wie ich andere Nachrichten zitiere und die Chat-Einladungen fremder Nummern akzeptiere, werden mir „5 bis 10 Minuten“ zugestanden. Dann geht es auch schon los.

Zu Spielbeginn finde ich mich mit meinen zwei Mitspieler*innen in die Telegram-Gruppe einer Düsseldorfer WG versetzt, in der wir von Chris begrüßt werden. Der ist laut seiner Bio „Food Lover, Robot Lover, Traveler at heart“ – und, wie ich schnell herausfinde, ein Bot. Kein Mensch kann so schnell tippen wie er uns Bilder der WG, Fragen nach dem momentanen Befinden, Erzählungen von den kulinarischen Höhepunkten der letzten Tage und Sprachnachrichten über nervige „Telkos“ auf den Bildschirm ballert. Bald ist die Aufgabe klar, die wir in den nächsten zwei Stunden bewältigen müssen: Unsere Mitbewohnerin Tess ist weg! Und wir sollten sie möglichst wiederfinden. Während meine zwei Mitstreiter*innen und ich also Telefonate führen, Düsseldorf auf noodlemaps näher kennenlernen, Rechenaufgaben lösen und Papierschnitzelcodes dechiffrieren, um unseren Bot Chris mit immer neuen Erkenntnissen, Stichworten, Fotos und Richtungsanweisungen zu füttern, entfaltet sich tatsächlich das Gefühl von Schnitzeljagd, welches wohl auch Besucher*innen in die analogen Escape Rooms treibt.

Ist also LOCKDOWN nur ein digitaler Knobelspaß? Selbst wenn, böte das Spiel in Wochen, in denen wir alle vermehrt Zeit in den eigenen Wohnzimmern verbringen, doch zumindest die nicht zu verachtende Möglichkeit digitaler Stadterkundungen durch Finger-Flanerie auf dem Smartphone-Screen. Dass aber an dem als „kriseninspirierte[-] Spontanproduktion“ angekündigten Projekt mehr dran sein könnte, deutet schon seine Rahmung an. So entstand das Smartphone-Spiel als eine Koproduktion von machina eX mit dem Forum Freies Theater (FFT) Düsseldorf und wurde im Zuge des Online-Symposiums ON/LIVE – Das Theater der Digital Natives veranstaltet. In diesem Sinne steht LOCKDOWN zumindest mittelbar in einem Theaterkontext und nicht zuletzt der Selbstanspruch von machina eX, „an der Schnittstelle von Theater und Computerspiel“ zu forschen, erlaubt die Frage: Was an der digitalen Schnitzeljagd nach Tess ist eigentlich theatral? Wo ist das Theater im Game?

 

Getauschte Rollen

Die sich an diese Fragen unmittelbar anschließende Überlegung, was Theater eigentlich ist, kann  spezifisch höchstens für einen konkreten historischen Zeitpunkt innerhalb einer konkreten kulturellen Konstellation beantwortet werden. Als Minimaldefinition bietet sich aber die Beschreibung des theatralen Ereignisses als unwiederholbare künstlerische Erfahrung an, die verschiedene Menschen in räumlicher Ko-Präsenz und damit auch Gleichzeitigkeit nicht nur machen, sondern teilen. Bedingt wird diese Erfahrung durch Austauschprozesse, beispielsweise zwischen Darsteller*innen und Publikum oder auch zwischen einzelnen Zuschauer*innen. Egal zu welcher Zeit oder in welchem Raum, Theater ist nicht zuletzt eine künstlerische Kommunikationsform. Die Ausgestaltung dieser theatralen Kommunikation erfolgt in den Institutionen, an die die meisten Menschen beim Begriff ‚Theater‘ denken, oft auf sehr ähnliche Weise. Schauspieler*innen auf der Bühne spielen, Zuschauende im Publikumsraum schauen. Wie aber, wenn sich das Verhältnis umkehrt?

Es ist diese Umkehrung der Kommunikationssituation, die in den Arbeiten von machina eX programmatisch inszeniert wird. In ihrer Übertragung der Ästhetik und Mechanik von digitalen Point-and-Click-Adventures in den analogen Raum macht das Medientheaterkollektiv die Zu-Schauer*innen zu Mit-Spieler*innen. Die Verantwortung für das Gelingen des Abends liegt damit nicht auf der Bühne, sondern bei den Besucher*innen selbst, die sich nicht zurücklehnen und eine Aufführung an sich vorüberziehen lassen können, sondern aktiv zur Fortentwicklung des Geschehens beizutragen haben.

Auch in den Projekten von machina eX gibt es dabei oft professionelle Darsteller*innen, doch ihre Rolle ist eine andere: Sie entwickeln das im Spiel angelegte Narrativ ohne Impulse von den Spielenden nicht weiter und verweigern meistens darüber hinaus auch improvisierte Kommunikation. Stattdessen warten sie mal mehr, mal weniger geduldig auf die Problemlösungsangebote der Besucher*innen. Diese werden so zu Spieler*innen nach einem ihnen unbekannten Drehbuch und dabei von den Darsteller*innen sogar noch beobachtet. Die theatralen Rollenverhältnisse haben sich umgekehrt. Eine Verweigerung von Aktivität wird somit unmöglich, ähnlich wie in den Performances von SIGNA finden sich die Mitspieler*innen als aktiver Bestandteil der Inszenierung in die Pflicht genommen. Doch anders als bei Projekten der dänisch-österreichischen Performancegruppe, in denen meist eine Heerschar von Schauspieler*innen das Publikum (teils sogar wörtlich) an die Hand nimmt und ihm durch vielfältige Kommunikationsangebote ein Eintauchen in die so detailliert inszenierte Welt ermöglicht, erscheinen die theatralen Raumentwürfe von machina eX – und hier möchte ich der Selbstbeschreibung der Gruppe widersprechen – nicht im eigentlichen Sinne immersiv, sondern gescriptet.

Durch den derart vorgezeichneten Ereignisablauf des gamifizierten Theaters werden die Mitspieler*innen auf die Kommunikation untereinander zurückgeworfen, die im Publikumsraum während der Aufführung sonst kaum eine Rolle spielt, ja sogar sanktioniert wird. Strukturiert ist diese Kommunikation nicht von den raumgewordenen Konventionen der Guckkastenbühne, die den rezeptiv-aufmerksamen Kunstgenuss einfordern, sondern durch die Logik des Spiels. Ein meist von Anfang an bekanntes Ziel muss durch kooperatives Problemlösen Schritt für Schritt erreicht werden. So entwickelt sich nach und nach das in der Inszenierung angelegte Narrativ. Dass dieser Prozess aber nicht nur als Gamifizierung des Theaters, sondern zugleich auch als Theatralisierung des Games gelesen werden kann, liegt in der körperlichen Ko-Präsenz der Mitspieler*innen begründet, die in ihrem Handeln das unwiederholbare Ereignis gemeinsamer ästhetischer Erfahrung hervorbringen. Damit lösen machina eX auch ihren Anspruch ein, Kunst an der Schnittstelle zwischen Theater und Computerspiel zu machen. Ihre Theater-Games sind Versuchsanordnungen, die die gängige Strukturierung der theatralen Kommunikation genauso wie aktive und passive Rollenverteilungen teils auflösen, teils umkehren – und damit hinterfragbar machen.

 

Mit-Spielen statt Zu-Schauen

Aus dieser Perspektive gewinnt auch das kooperative Wohnzimmer-Game LOCKDOWN nochmals an besonderem Reiz. Denn in rein ästhetischer Betrachtungsweise ergeben sich zunächst durchaus Fragen bezüglich der Konzeption des Projekts. So besteht vielleicht der größte Gewinn der Arbeiten von machina eX normalerweise in der Übertragung von Handlungslogiken und Ästhetiken der Gaming-Welt ins Analoge. Die penibel eingerichteten Spiel-Räume vermitteln das Gefühl, in eine verfremdete Welt einzutreten, deren Funktionsweisen und Kommunikationsregeln man eigentlich nur aus dem Computerspiel kennt. Im Falle von LOCKDOWN wird diese Ästhetik aber ungebrochen im digitalen Raum belassen, was der Versuchsanordnung auf den ersten Blick einiges an Potenzial nimmt. Und doch stellt das Wohnzimmer-Game letztlich eine Radikalisierung der Strukturierung theatraler Kommunikation dar, wie sie machina eX in ihren analogen Produktionen inszenieren. Denn die Darsteller*innen, die im analogen Raum wie Bots auf bestimmte Stichwörter oder Handlungen der Spieler*innen reagieren, sind hier tatsächlich programmierte Nicht-Spieler-Charakter (NPCs), deren schematische Reaktion auf die Ansprache im Chat gar nicht den Versuch aufkommen lässt, die weitergehende Kommunikation mit ihnen zu versuchen.

Der einzig mögliche Austausch ist damit der zwischen den drei Mitspieler*innen, welcher letztlich auch über den Spaß am theatralen Erlebnis entscheidet. Nur wenn die drei wirklich gemeinsam an der Lösung des Rätsels um Tess arbeiten, nur wenn sie sich über den Inhalt der einzeln geführten Telefongespräche und Chat-Unterhaltungen austauschen, haben die Spielenden eine Chance, am Ende der zwei Stunden die ganze Geschichte zu verstehen. Bleibt diese Kommunikation aus oder wird sie auf ein Minimum beschränkt, endet die Veranstaltung wie ein durchhetztes Computerspiel: Den Regeln und Zielvorgaben nach irgendwie erfolgreich, aber ohne ein eigentliches Erleben der Geschichte, die die Spielmechanik vermitteln sollte. Dass einen solchen Ausgang keine mit dem idealen Ablaufskript vertrauten Darsteller*innen mehr retten können, ist das Risiko, das eine Abgabe der vollen Verantwortung für das theatrale Ereignis an die Spieler*innen mit sich bringt.

Ob die Erfahrung theatraler Publikumsermächtigung dieses Risiko wert ist, muss jede*r potenzielle Mitspieler*in selbst für sich entscheiden. Auch am 17.05.2020 darf Tess nochmals gesucht und hoffentlich gefunden werden, zusätzliche Termine sind geplant (und werden von 54Books auf Twitter bekanntgegeben). Potenzielle WG-Mitbewohner*innen sollten sich jedoch über eines im Klaren sein: „Ich bin aber nicht im Theater, um mitzumachen. Ich gehöre nicht zum Theater“ – die Möglichkeit, die Haltung einzunehmen, mit der der große Gerhard Stadelmaier 2006 den Abbruch seines Theaterabends in Frankfurt begründete, haben Spielende von LOCKDOWN nicht. Belohnt werden sie mit der vielleicht ganz neuen Erfahrung, Verantwortung für das theatrale Ereignis nicht nur scheinbar, sondern in aller Konsequenz zu tragen, von Zu-Schauenden zu Mit-Spielenden zu werden.

 

Photo by Gilles Lambert on Unsplash

 

Der Corona-Effekt: Die Angst vor dem anderen

von Nikola Richter

 

Es ist die Zeit der Spaziergänge. Auf den Gehwegen, in Parks, Wäldern, an Kanälen und Flüssen flanieren Menschen, einzeln oder zu zweit, auf jeden Fall in Kleingruppen, und versuchen, an die frische Luft zu kommen, die eigenen vier Wände zu verlassen und sich nicht zu berühren. Die Innenstädte sind seit Wochen merkwürdig leer und ruhig. Dort, wo sonst Touristenbusse in Schlange stehen und ihre Dieselmotoren laufen haben, ist nun Platz. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Städten erkunden ihre eigenen Altstädte und Sehenswürdigkeiten, zumindest von außen.

Im Lustgarten auf der Museumsinsel in Berlin, wo sonst vor Reisenden kein Durchkommen ist, kann man gerade gemütlich in der Sonne sitzen. Und auf dem verwaisten Gendarmenmarkt hat eine Nachbarin mit ihrer Tochter Federball gespielt. Wir sind mit unserer Familie die Treppen zum Konzerthaus hoch- und heruntergerannt, zur sportlichen Ertüchtigung, neben uns eine Arabisch sprechende Mutter mit drei Kindern. Die Stadt empfängt ihre Bewohner! Im Görlitzer Park wird nicht gegrillt, sondern gepicknickt, geschlafen, gelesen, und im Treptower Park sehe ich oft Tai-Chi- oder Yogagruppen, Eltern mit Kindern, gemütlich gehende ältere Leute.

Wer kann, ist jetzt viel draußen.

Aber sobald es auf einem Gehweg enger wird, passiert etwas: Ich habe es schon oft erlebt, dass ich beim Flanieren die mir Entgegenkommenden abscanne, überlege, in welche Richtung sie ausweichen, und dass ich dann in einem großen Bogen um sie herumlaufe, je nach Bedarf. Eine ältere Dame, die das auch so machte, musste neulich laut lachen und rief mir zu: „Wir laufen Slalom!“ Ja, Corona kann uns auch erheitern. Wir schauen uns in die Augen und nehmen den anderen wahr, der uns vielleicht begegnen könnte. Jedoch liegt die Betonung auf dem vielleicht. Denn das Vielleicht ist ja das Problem. Wir nehmen die anderen wahr, damit diese anderen uns eben NICHT begegnen. Damit sie uns fernbleiben und nicht berühren und uns vielleicht nicht anstecken.

Wenn Jogger, deren Zahl auch genauso zugenommen hat wie die der Spazierenden, so dass der Eindruck entsteht, Joggen sein das neue Clubben, wenn diese Jogger, und es sind vor allem männliche Jogger, sich also von hinten nähern, höre ich schon ihren Atem, ihr Keuchen. Und ich hoffe inständig, dass sie mir nicht in den Nacken hauchen werden, wie Corona-Vampire, sondern dass auch sie in ordentlichem Bogen um mich herumlaufen werden. Was sie leider nicht immer tun. „Die Hölle, das sind die anderen“, lautet ein Zitat aus  Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft und derzeit ist das deutlicher als sonst. Die anderen sind potenzielle Ansteckungsrisiken, eigentlich immer schon, aber jetzt besonders.

Ich lebe in einem Haushalt mit zwei Kindern, einem Schul- und einem Kindergartenkind und die potenziellen Ansteckungsrisiken durch die anderen sind uns, wie allen, die jeden Tag öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen aufsuchen, wohlbekannt. Wie oft kommen wir Eltern morgens zu der Kita oder nachmittags zum Hort und können uns an Schildern erfreuen, die informieren:  „Wir haben Hand-Fuß-Mund, Masern, Brechdurchfall und Läuse in der Einrichtung.“ Dann betritt man beherzt die angekündigt durchseuchte Luft, knuddelt sein Kind, redet mit den freundlichen Betreuerinnen und Betreuern und geht nach Hause.

Seit Corona, seit der Schul- und Kitaschließung, in der nun neunten Coronawoche, die auch zwei Wochen Osterferien enthielt, hatten wir keine Erkältung, keine Krankheit mehr zu Hause. Ja, die anderen sind immer eine Ansteckungsgefahr, und auch ohne Corona sollten kranke Kinder zu Hause bleiben und auch ohne Corona sollten Schulen mit ordentlichen Sanitäranlagen ausgestattet sein, wo es Seife und Papierhandtücher gibt, sollte das Reinigungspersonal auch Klinken desinfizieren. Einfach, damit nicht alle ständig krank sind. 

Ein guter Corona-Effekt: Jetzt sind wir also fast immer zu Hause und seitdem gesund.

Wir sehen in den Nachrichten, wie das Virus funktioniert, wie es sein Überleben und seine Weiterverbreitung organisiert und wie die Behörden und Expertinnen und Experten Ratschläge zur Eindämmung und Kurvenabflachung geben. Wie sich diese mikroskopisch kleine Kugel, die mich in der Vergrößerung auch immer an einen Kugelfisch denken lässt, durch den Atem, durch Tröpfchen von Wirtsperson zu Wirtsperson übertragen lässt. So unsichtbar und so mächtig. So mächtig, dass die Angst vor Corona geschafft hat, was sonst bisher niemand geschafft hat: bessere Luft, klare Sternenhimmel, Drosselung von Abgasen durch stillgelegte oder weniger arbeitende Industrien, weniger Flug- und Autoverkehr, mehr Fahrräder auf den Straßen – so dass derzeit auch schon temporäre Fahrradwege auf Auto-Fahrspuren eingerichtet wurden.

Weniger Konsum, weil weniger Konsummöglichkeiten. Mehr Bewusstsein für das, was wir wirklich brauchen und was unter dem Wort „Systemrelevanz“ zusammengefasst wird. Mehr Wissen darum, dass in den systemrelevanten Berufen wie Pflege, Bildung und Kinderbetreuung sowie Einzelhandel zu 80 Prozent Frauen arbeiten. Corona ist ein Stachel der Erkenntnis. Viele, mit denen ich spreche, wünschen sich jetzt und p.C., post Corona, eine Anpassung unserer Lebensorganisation anhand dieser Erkenntnisse. Mehr grüne und vielfältig, nicht monokulturell bepflanzte Naherholungsflächen, mehr Zeit füreinander, also mehr Home Office und Teilzeit, eine bessere Entlohnung der systemrelevanten Tätigkeiten und auch hier mehr Teilzeitjobs, mehr kleine Geschäfte als riesige Malls, mehr Spielstraßen, klare und sichere Radwege, beruhigten Verkehr, mehr regionale Landwirtschaft statt globale Handelsketten, die ja, und darüber müssen wir auch sprechen, ein Grund für globale Pandemien sind.

Brauchen wir alles immer jetzt und gleich und sofort? 

Oder reicht auch weniger übermorgen und vielleicht?

Trotz all dieser positiven Effekte ist der auffälligste Coronaeffekt aber einer, der politisch hochbrisant ist. Es ist die Angst vor dem anderen, die Corona auslöst. Die sich im extremsten Fall in Grenzschließungen äußert. Diese Angst verhindert genau das Gute, das möglich wäre, also dass wir solidarischer werde und zueinander stehen. Diese Angst bewirkt das Gegenteil: Dass wir uns voneinander körperlich fernhalten, sogar entfernen, uns nicht umarmen, berühren, die Hand geben dürfen. Großeltern dürfen und wollen ihre Enkelkinder und sonstigen Familienmitglieder nicht sehen. Jugendliche dürfen ihre Freundinnen und Freunde nicht sehen oder zum Sport und Spielen treffen. Nachbarn nur von Tür zu Tür miteinander sprechen. Sterbende und Schwerkranke dürfen kaum noch Besuch empfangen und sind einsam am Ende. Trauerfeiern finden unter schweren Auflagen statt. Isolierte sind jetzt noch Isolierter. Es fehlt das Haut an Haut. 

Natürlich wird versucht, ein Miteinander digital herzustellen und das ist auch gut und man sieht auch hier, dass diese Mittel und Wege bisher in vielen Bereichen, insbesondere in Bürojobs und in der Lehre sehr stiefmütterlich behandelt wurden. Wie viele Online-Konferenztools haben wir mittlerweile ausprobiert und teilweise exzessiv: Ich nehme an meinem Tanzkurs jede Woche per Zoom teil, sehe meine Tanzlehrerin in ihrem Wohnzimmer und alle Schlafzimmer und Flure meiner Tanzkolleginnen.

Die Grundschulklassenlehrerin lädt über einen Elternvertreter die Klasse ebenfalls zu Zoom ein. Sie selbst darf es nicht tun, da dieses Programm Sicherheitsrisiken enthält und so die Teilnahme keine schulverpflichtende ist. Lehrerinnen und Lehrer haben selten (oder nie?) berufliche E-Mailadressen von ihrer Schule und dazu gehörige Video-Konferenztools oder Cloud-Zugänge, wo man geordnet Material zum Lernen hinterlegen könnte, jeder mogelt sich jetzt gerade so durch, je nach Fähigkeit, Ausstattung und Motivation. Mit den Großeltern und anderen Verwandten sprechen wir auf Skype, was aber auch ein zweistündliches Installationstelefonat benötigte. Ostern haben wir eine familiäre und bis zu den Paten reichende Osternacht per Jitsy gefeiert, mit dem Effekt, dass eine Tante für ein Stunde „eingefroren“ war, was sie aber nicht störte, da sie uns zwar nicht gut hörte, aber sah. Und das war für sie schon etwas. Die Kinder verabreden sich nicht mehr zum Spielen sondern zum Telefonieren oder Facetimen.

Wir gingen auf Distanz. Wir sind auf Distanz.

Das Symbol dieser Angst vor den anderen ist die Maske. Kannten wir sie eher als Verkleidungsutensil beim Fasching, als zeitgenössisches Symbol für die Luftverschmutzung in meist asiatischen Großstädten oder als ein Utensil aus dem möglichst steril arbeitenden Krankenbetrieb z.B. in der Chirurgie ist sie nun zu einem begehrten Alltagsprodukt geworden. Zunächst lief der Verkauf mit medizinischen Masken über Online-Shops so gut an, so dass sich einige eine goldene Nase verdienen konnten. Dann hörte man von gigantischen Maskenbestellungen der Bundesregierung. In Krankenhäusern wie in der Charité fingen Mitarbeiter an, Masken und Desinfektionsmittel zu entwenden. Ich habe Berichte von Pflegerinnen gelesen, die ihre Masken mehrmals nutzen müssen, weil es zu wenige gibt. Kioske in Berlin, die die Grundbedürfnisse der Bevölkerung wohl am besten im Blick haben, bieten derzeit neben den Dauerbrennern Alkohol, Zigarette, Schoko nun auch Masken und selbstverständlich Klopapier an. 

Die Maske ist nun also ein Alltagsgegenstand geworden. Bei uns hängen selbstgenähte Masken am Schlüsselbrett, damit man sie für den Einkauf nicht vergisst mitzunehmen. Menschen mit Nähmaschine fertigen sie für ihre Freundinnen und Freunde, verkaufen sie per Facebook oder auf Plattformen für Selbstgemachtes wie auf Dawanda oder von Hand zu Hand unter Bekannten. Der Second-Hand-Laden Vintage Berlin verkauft durch das Fenster. Die Buchhandlung Leseglück in Kreuzkölln bietet an der Kasse Masken an, die eine Kundin herstellt. All dies ist eigentlich eine schöne Geschichte über Nachbarschaftshilfe, Tauschgeschäfte, kleine Ökonomien, Kiez-Kulturen, Handwerk, etwas, was wir viel mehr bräuchten und was sich den großen Monopol-Ökonomien mit Ideenreichtum und Freundlichkeit entgegenstellt.

Die Masken sind so beliebt, dass man sie schon überall in Selfies einbaut. Ich möchte daher sehr laut rufen: Bitte keine Masken-Fotos mehr. Wir haben schon genug davon gesehen! Die Maske ist schon zu einem Fashion Statement geworden. Die Farbe wird passend zum Outfit gewählt oder sie besticht durch ein besonderes Muster. In Kreuzberg habe ich sogar schon Aufnäher dort entdeckt, wo der Mund sein müsste, die Masken rufen uns zu: „Fck Corona“, „Fck Nazis“ oder zeigen eine herausgestreckte Rolling-Stones-Zunge. 

Ich frage mich, was passiert, wenn wir vom anderen nur noch die Augen sehen? Sind Augen, wie man so sagt, der Spiegel der Seele? Werden wir gut darin werden, in den Augen der anderen zu lesen? Das wäre dann noch ein erfreulicher Corona-Effekt. Doch: Kommen wir uns mit Maske überhaupt so nah, dass wir uns in die Augen sehen könnten? Werden wir hinter der Maske überhaupt noch lächeln, wenn es keiner sieht? Oder werden wir gut darin, leichte Wellenbewegungen auf dem Stoff als Mimik zu lesen? Oder bleiben wir schlicht auf 1,5 Meter Abstand?

Werden wir uns nach Corona wieder die Hände schütteln?

Werden wir uns erschrecken, wenn wir einen fremden Mund sehen?

Wie werden uns wieder näherkommen?

 

Photo by Volodymyr Hryshchenko on Unsplash

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (13)

Dies ist der dreizehnte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12)

Das mittlerweile über 150 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

Woche 9: 4. Mai bis 10. Mai

4.5.2020

Marie Isabel, Dunfermline

Meiner älteren Nachbarin ist langweilig. Sie sieht traurig aus, als sie mir meinen Teller (ich hatte ihr frischgebackene Ingwerkekse vor die Tür gestellt) über den Gartenzaun reicht. Wie mir stehen ihr die Haare zunehmend zu Berge. Sie vermisst ihre Unabhängigkeit. Allein einkaufen zu gehen. Alte Freundinnen zu besuchen, die weiter weg wohnen, so, wie sie es jedes Jahr macht. Eine von ihnen hatte am Telefon gesagt, dass sie Glück hätten, weil sie an das Alleinsein gewöhnt seien. “Wie aber geht es jetzt denen, die gerade jemanden verloren haben? Ich erinnere mich noch gut daran, wie das bei mir damals war.” –– Andere Frauen, mit denen ich mich austausche, erleben den Lockdown auch als positiv. Mehr Zeit für den Garten, das Kind. Das Leben entschleunigt. Trotz neuer Herausforderungen, wie der digitalen Lehre, oder, im Gegenteil, der Abwesenheit von Berufstätigkeit, weil frau in den bezahlten Urlaub geschickt wurde. –– Im Deutschlandfunk kommentiert ein Soziologe, dass es zwei Gruppen von Menschen gebe: jene, die den Lockdown fast unerträglich finden und jene, die sich darin nicht nur eingerichtet haben, sondern sogar wohl fühlen. Ich befinde mich irgendwo dazwischen, denke ich erst, erkenne aber dann, dass ich einem Selbstbetrug aufsitze, denn was mir wirklich zunehmend fehlt, ist Bewegungs-, Reise-, Interaktionsfreiheit. Nicht Freiheit in einem abstrakten, wie auch immer idealen oder idealisierten Sinne, sondern ganz praktisch. Spezifisch die Freiheit, meine Familie zu besuchen. –– Dazu passt die verstärkte Polizeipräsenz, die mein Mann und ich auf unserem wochenendlichen Spaziergang bemerken. Fünf Polizeiwagen auf Streife in einem Zeitraum von zwei Stunden (wohlgemerkt am Stadtrand). Das ist nicht normal. Das ist einfach nur neu. Und es bereitet mir enormes Unbehagen. Da kann ich verstehen, warum andere, gerade frisch eingezogene Nachbarn, zumindest in ihren Garten immer mal einen Gast einladen, oder zwei. Oder dass es mittlerweile Untergrund-Friseur-Netzwerke gibt. Oder Menschen, die dagegen aufbegehren, nachts nicht mehr unterwegs sein zu dürfen, dabei wollen sie doch nur Sternschnuppen beobachten. Unter Einhaltung aller Abstandsregeln, versteht sich. Langweilig ist mir übrigens nicht. Oder vielleicht doch.

5.5.2020

 

Sarah, München 

“Ihr habt ja noch so viel Zeit,” sagt meine Schwiegermutter. Ich verstehe nicht gleich. “Für mich ist ein Jahr leider viel.” Sie hat sich bisher nicht ein Mal beklagt. Nicht über Einsamkeit, nicht über die Angst zu erkranken, nicht darüber, dass sie nicht mehr zum Chor gehen kann und nicht ins Theater. Gleichbleibend fröhlich liest sie den Kindern über Facetime vor, plaudert über Hochbeetbau, unsere Katzen und die Fortschritte ihrer Bohnen, die sie auf ihrem kleinen Balkon gepflanzt hat. “Für mich ist ein Jahr recht viel.” Erst jetzt wird mir klar, was der Corona-Lockdown für sie bedeutet. Sie ist Mitte 70. Noch fit, wie man so schön sagt. Aber die Jahre, in denen sie reisen kann, Radfahren, ihre Enkel zu Besuch haben, sind gezählter als unsere. 

Was Corona nimmt, ist so unterschiedlich. Die letzten Jahre in Bewegung. Den Jugendlichen die Chance auf Parties und sorglose Saufereien am Baggersee, oder wo auch immer. Den Kindern ihre Spiele mit anderen Kindern. Den Eltern die Zeit, durchzuatmen, den Künstlern nimmt sie die Bühne, uns allen die Gemeinschaft. 

 

Fabian, München

Man dürfte sich ja vermutlich nicht vorstellen, dass es sich bei den ordinären Top-Manager-Darstellern von Ihro Gnaden Systemrelevanz in Too big to fail-Manier der deutschen Kraftfahrzeugsherstellungs- und -vertriebs-Industrie um genau die Knalltüten handelt, die man sich wiederum vorstellt, wenn man sie im Wirtschaftsteil der meisten größeren Zeitungen Förderprogramme aus der konjunkturpolitischen Steinzeit fordern liest, weil – es ist ja durchaus plausibel, dass diesen Typen qua Position gewissermaßen und in Verpflichtung den qua Gewohnheit et al. berechtigten Dividendenausschüttungsinteressen ihren Aktionären gegenüber jeglichem Handeln gegenüber, das sich als zeitgemäß vernünftig aufgreifen ließe, die Hände gebunden sind; und natürlich hängen Arbeitsplätze dran, und Existenzen.

Oder es ist so banal wie’s klingt, dass, sie beim Fußball, die Paradigmatik der institutionellen Interessen, für die sie stehen, ihnen die Alternativlosigkeit der Positionen, die sie vertreten, so gehörig und nachhaltig ins Bewusstsein gehämmert hat, dass es selbst beim besten Willen nicht mehr möglich ist, in andere, wahlweise kreative Richtungen zu denken.

 

6.5.2020

 

Nabard, Bonn

Bis vorhin kannte ich Yahya Hassan nicht. Ich wusste nicht wer er war und was er für viele bedeutete. Was er schrieb noch woran er litt. Welche Vergangenheit er besaß noch welche Zukunft er wohl besessen wird. Er ist tot. Und jetzt lese ich einige seiner Zeilen. Sie sind brutal, ehrlich. Erschreckend. Für mich manchmal abstoßend. Hat er wirklich seine Geschichte erzählt? Seine Realität? Ich glaube ich kenne einige “Yahya Hassans” in meinem Umfeld die nicht diesen Mut haben wie er es hatte und sich so öffentlich zur Schau zu stellen. 

Wieso muss der Tod eines Schriftstellers mich von dieser Pandemie ablenken? Oder die Brandanschläge wohl verübt von einer rechtsextremen Terrorgruppe die letzten Tage in Bayern? 

Ich hab kaum Zeit gehabt mich diesem Tagebuch zu widmen, die Pandemie beginnt sich jetzt erst zu lockern doch die Krankenhäuser sind voll mit Patienten mit Covid 19. 

Bald habe ich frei, dann widme ich mich wieder Hafez und seiner Lyrik. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Kiefern knacken leicht im prallen Sonnenschein. Jemand schiebt einen leeren Rollstuhl über den Golfplatz. Hier patrouilliert keine Polizei, also wird auf dem Gras geruht, zumeist abseits der Greens, mit Ausblick auf die Landschaft ringsum. Es schneit Blütenblätter. Ungestörter Löwenzahn wächst kniehoch. Glockenblumen klimpern violett. Die Vögel sind fleißig und in der Mehrzahl. Kurze Hosen, Sonnenhüte, Hundehalter, Hundelose. Ein seltsames Paradies, aus der Zeit gefallen, surreal, das überall aufquellende Leben, die Farbigkeit, während die Tage im Lockdown immer weniger scharf abgegrenzt scheinen, auch kürzer irgendwie. Fühlt sich so Ewigkeit an? Bäume stehen gelassen da. Lange Sicht. Offiziellen Angaben zufolge ist die Insel in Sachen Todeszahlen im weltweiten Vergleich nun fast an der Spitze angekommen. Rekorde, die niemand brechen will. Es sei zu früh für klare Erkenntnisse, heißt es dazu während der Prime Minister’s Question Time im momentan fast leeren Unterhaus. Bei manchem hohlen Wort hört man den Nachhall jetzt ganz deutlich, da die Zwischenrufer, Rauner und Schreihälse auf beiden Seiten fehlen. Die Frage, wie Lockerungen aussehen könnten, schwebt im Raum, jetzt, wo wir gerade mal einen halben Schritt vom Abgrund entfernt sind, vielleicht, wobei wahrscheinlicher ist, dass niemand so genau weiß, wo wir eigentlich stehen. Zurück auf dem Golfplatz der fehlende Fluglärm, der noch reduzierte Autoverkehr, Stimmen, die weit tönen, ein Mutterruf, ein Wiehern, ein Elsternschrei, Klanglandschaft vergangener Jahrzehnte. Vielleicht wird sie wiederkehren, wenn wir uns vortasten ins Danach. Kann man im Paradies wachsen? Das sollte so sein, denn sonst wäre es eher eine Form der Hölle. Jetzt zumindest ist Entwicklung möglich, über vertraute Verhaltens- und Denkweisen hinaus, nicht immer leicht, schmerz- oder klaglos, warum auch, nicht ohne Enttäuschungen, warum auch, aber selbst in diesen ewigen Zeiten bleibt Veränderung die Regel, und warum sie nicht zum Positiven wenden, wo es nur geht, nach Herzenslust? Zufriedenheit zulassen. Genuss. Liebe. Lachen. Großzügigkeit. Überlegen, worüber es sich wirklich zu streiten lohnt. Was sich ändern muss. Endlich. Gelassenheit üben und gleichzeitig Entschlossenheit. Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit, Gerechtigkeit… Vielleicht schaffen wir es ja so doch irgendwann in ein Paradies. Diesseits. Manchmal, denke ich, als ich den Weg nach Hause einschlage, muss man einfach nur stehen bleiben, um das eigene Herz schlagen zu hören.

 

Fabian, München 

Ach, die Aufmerksamkeiten fesseln sich doch selber, oder ein paar Viertelstunden in der Sonne vorm Weg nach Hause blenden eine ganze Reihe anderer Dringlichkeiten aus, oder drängen Sie zur Seite, oder drei Viertelstunden am Platz vorm Brunnen, sichere fünf bis sechs viertel Stunden, bevor schätzungsweise der warme Schein der fast schon abendlichen Frühlingssonne vorüber gezogen gewesen wäre – und die schweigsameren Pausen zwischen den Gesprächsthemen waren angenehm kurz, scheint mir, angenehm, insgesamt, ohne dass wesentlichere Unbehaglichkeiten sich einnisten können zu haben scheinen. 

 

Berit, Greifswald

Es ist schön, wie manche Stimmen hier schreiben, dann wieder für eine Weile verschwinden, wieder auftauchen, andere sind ganz regelmäßig da. Ich lese euch alle gerne, mag es, wenn ich sehe, wie andere zeitgleich im Dokument unterwegs sind, schreiben, verbessern, Sätze umstellen. Es ist eine besonders Intimität gemeinsam in einem Dokument zu schreiben, dabei zu sein, wenn andere ihre Gedanken entwickeln.

Die Regelungen in Mecklenburg-Vorpommern wurden gelockert und ich habe ein Ferienhaus am Strand gebucht – ein verlängertes Wochenende in der letzten Maiwoche. Wir schauen uns gerade oft die Bilder des Strandes im Internet an, Vorfreude ist etwas schönes. Eines meiner Kinder hat sogar schon ein Namensschild für das Ferienhaus gemalt.

Nun hoffe ich, dass uns die gefürchtete zweite Viruswelle keinen Strich durch die Rechnung macht. Diese kleine Reise war ein Trost für uns, denn es ist immer noch schwer zu akzeptieren, dass wir diesen Sommer nicht in Island verbringen können. Menschen, die wir sehr lieben, werden älter, der Sommer war für uns ein lange geplante Möglichkeit viel gemeinsame Zeit zu verbringen. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen können? Ich habe Angst, dass etwas auf Island passiert und wir nicht schnell dort sein können, festhängen in Deutschland.

 

7.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Was genau Anfang nächster Woche südlich der Grenze zwischen Schottland und dem Rest der Insel passieren wird, weiß noch niemand (BJ soll am Sonntag eine Ansprache halten, hach, wie freuen wir uns alle darauf). Was jedoch relativ sicher ist: Der Lockdown in Schottland wird zunächst andauern, wohl für mindestens drei weitere Wochen. Vielleicht lässt man uns ein wenig länger oder häufiger vor die eigene Haustür, um unseren sportlichen Aktivitäten nachzugehen, aber damit dürfte es dann auch schon erledigt sein. Ich hatte, merke ich, sehr auf Lockerungen gehofft. Dabei ist klar, dass die jetzige Entscheidung nicht zuletzt mit Blick auf die Datenlage vernünftig ist (Schottland scheint etwa zwei Wochen hinter dem Süden her zu hinken, was die Ausbreitung des Virus angeht). Dennoch: Es ist, als ob vor dem inneren Auge ein Rollo mit Karacho runter kracht. Der ersehnte Horizont, der sich vorsichtig geöffnet hatte, verschwindet, geschwind, aus dem Blickfeld. Draußen scheint die Sonne. Drinnen künstliches Licht. Nur gut, dass ich um die wechselhafte Natur des inneren Wetters weiß. 

 

Rike, Köln 

der motorradunfall in der abendsonne neben einem frühen grünen roggenfeld. das kann auch passieren. der körper reagiert auf den anblick mit tränen. was möchte ich von diesem tag behalten? dankbar für die picknickdecke im richtigen moment, 100% polya-irgendwas. wie viele jahrzehnte sie mich überdauern wird. die decke ist eine schildkröte oder ich bin für sie ein hundeleben, oder sie wird vielleicht 4 menschenleben alt. morgen esse ich mit s. ein frühstück an einem ungewohnten ort. “lockerungsmaßnahmen.”

 

8.5.2020

 

Rike, Köln 

Sich die hände eincremen ist gut. Mit einem mittagsschlaf den tag scheiteln in 2 hälften ist gut. Über etwas schlafen hilft. Kritik in angebrachten dosen hilft. Stopp sagen, wenn es zu viel ist auch. Ich will in die welt brüllen an die mächtigen idioten, die angekurbelte wirtschaft hat zu diesem totalen unfall geführt. Wie könnt ihr das nur wieder verlangen. Ich muss gar nichts ankurbeln. Ich will dass ihr menschen rettet und nicht konzerne, damit die vielleicht offiziell durch arbeitsplätze menschen gerade mal etwas geld  zum überleben geben. Menschen wollen leben und wirken. man kann das auch arbeiten nennen. sie müssen nicht zwangsläufig in einer fluggesellschaft arbeiten dafür. Eine fluggesellschaft könnte auch eine andere art von gesellschaft sein. Das fliegen der gesellschaft hat dazu geführt, dass sich die vorsilbe vor der -demie geändert hat. und 10 milliarden soll es geben für lufthansa, und 8 milliarden fehlen für die finanzierung eines impfstoffs. die verhältnismäßigkeit ist verbrecherisch. Ich will niemand von denen umbringen, ich will nur mundtot machen die idiotischen mächtigen in den institutionen. „the full weight rests with those people who control the institutions.“ und gleichzeitig: die verantwortung liegt genau so bei mir. Das nebeneinander ist im vergleich absurd aber gleichzeitig ist es so. 

9.5.2020

 

Rike, Köln 

ich schicke mama die schokoeier von ostern mit der alkoholfüllung in einem unversicherten päckchen zurück und lege ihr eine schokolade dazu, die eigentlich meine lieblingsschokolade ist, von der ich nicht weiß, ob sie sie mag. Vielleicht werden wir uns die kommenden monate immer wieder brieffreundinnenmäßig unsere lieblingssüßigkeiten höflich vor und zurück schicken. Was stand in ihrem brief? Ich habe sie gefragt, was das grausamste ist, was sie jemals getan hat. Die antwort war liebenswürdig. Morgen ist muttertag. Ich hoffe, die eier sind nicht auf meinem antwortbrief explodiert. ich hatte mir mühe gegeben. 

 

Viktor, Frankfurt

Das fühlt sich nicht gut an. Gerate immer häufiger in Gespräche, in denen es nur darum geht, dass es mit dem Virus gar nicht stimmen kann, er sei nur die “kleine Schwester” der Grippe (warum eigentlich Schwester?), er sei nicht tödlicher und das alles könne gar nicht stimmen, und wir werden entmündigt, und der wirtschaftliche Schaden …, und die wollen doch eine Impfpflicht einführen … und …

Ach, manchmal schweige ich. Aber wenn es Menschen sind, denen ich nahe stehe, wenn sie Dir WhatsApp-Nachrichten mit YouTube-Videos irgendwelcher “Naturheilkunde-Sender” schicken –  man ist das alles anstrengend. 

Es gibt einerseits einen riesigen Informationsbedarf, andererseits wenden wohl nicht wenige Menschen ihre Zeit dafür auf, sich bei den K. Jebsens dieser Welt zu informieren, statt unterschiedliche etablierter Medien heranzuziehen, zu vergleichen und auch die Kritik wahrzunehmen, die sich darin wiederfindet. Ich weiß nicht, wie man dieses Paradoxon auflösen kann. 

Was mir auffällt:

  1. Persönliche Situation wird unreflektiert auf die gesellschaftliche Situation übertragen, bzw die gesellschaftliche Situation wird mit der persönlichen Brille bewertet;
  2. Berechtigte Zweifel an einzelnen Anti-Corona-Maßnahmen werden als Argument genutzt, alle Maßnahmen anzuzweifeln;
  3. Diffuse Ängste treiben die Menschen, und ausgerechnet die eine Person, die am heftigsten mit mir diskutiert, hat sich am wenigsten an irgendwelche Regelungen gehalten.

Ich bin ziemlich ernüchtert, ich fürchte, das Selbstbild einer Wissensgesellschaft ist ein Wunschbild. Oder ein Trugbild. Wunschbild wäre noch okay, Wunsch heißt, wir streben es an. Trugbild ist gefährlich.

 

Slata, München

Ich wollte etwas zum heutigen Feiertag, zum Tag des Sieges über den Faschismus schreiben, genauer, über das faschistische Deutschland, eine witzige Sache eigentlich, sich in Deutschland gegenseitig zu gratulieren, die Welt von Deutschland befreit zu haben, und dann noch eine Rezension zu Yahya Hassans Gedichten, und ein eigenes Gedicht beenden und Notizen vorbereiten, am Montagmorgen mit einem neuen Disskapitel beginnen, die Hausaufgaben für nächste Woche ausdrucken und sortieren, die Hausaufgaben für diese Woche abfotografieren und hochladen bei OneNote für die Lehrerin, eine Runde Kinderyoga nach der neuen CD machen, ein paar Kapitel Pettersson und Findus lesen, die Gurkenpflanze vom Balkon reintragen, den Hamsterkäfig saubermachen, im Keller nach Topfuntersetzern suchen, und es ist Samstagabend und ich gehe mir die Haare färben.

 

Nabard, Bonn

23:12Uhr, Samstag Abend. Iftar liegt hinter uns und niemand macht anstanden nochmal raus zu wollen. Niemand ruft an und fragt ob wir noch ein Eis von McDonald’s wollen. McFlurry mit Daim hab ich letztes Jahr Samstags gegönnt. Mit Redu und Ahmad kurz in der Moschee vorbei geschaut, bisschen Spiritualität gesammelt und dann ins Karizma. Ein Shisha-Kopf geraucht und  Tee getrunken. 

Stattdessen ein leeres Glas vor mir, Drake tönt aus den Kopfhörern, es skippt gleich zu Sampha’s Part. “Don’t think about it too much, too much, too much…”  September 2013, fast sieben Jahre ist das her. Was macht das mit euch wenn ihr Lieder und sie sich immer noch so anhören als wären sie gestern erschienen? Die gleiche Gänsehaut, das gleiche Gefühl. Ich glaube ich bin eh immer jemand gewesen der zu viel Emotionen beim hören der tunes gesteckt hat als andere. 

Was machen wir eigentlich diesen Sommer? ES sollte mein letzter Sommer als Student sein. Ohne lernen, ohne Doktorarbeit, ohne Seminare oder Praktika. Auf Station buckeln und nach Feierabend an den Rhein oder Hofgarten. Das wird wohl nix. R ist bei 1.1, in den nächsten Tagen wird es steigen. Schön war’s.

 

10.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Stell Dir vor, es ist langes Wochenende und keiner merkt es. Oder vielleicht doch. Aber nicht, weil sich alle Welt in Freizeitaktivitäten ergeht. Oder vielleicht doch. Der Reihe nach: Freitag, VE-Day‚ Tag der Befreiung (seltsamer Name). Da geht es ja eigentlich um Erinnerung. Demgegenüber entblödet sich mancher, die Situation im Mai 1945 mit der im Mai 2020 zu vergleichen. Stichwort ‘Nullstunde’ (https://www.hessenschau.de/kritik-an-bouffier-text-ueber-kriegsende-und-corona-pandemie,kritik-bouffier-8mai-100.html). Am Morgen ist auf BBC Radio Four vom Krieg gegen das Virus die Rede, nur diesmal in unmittelbarer Parallelsetzung zum Zweiten Weltkrieg. Da hilft nur Ausschalten. Kritische Stimmen zu derartigen Nebeneinanderstellungen finden sich auf beiden Seiten des Kanals. Hohn, Spott und Verachtung ziehen auf der Insel zudem VE-Streetparties auf sich, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. 

Am Samstag, 9. Mai, lese ich dann von Demonstrationen in Deutschland, auf denen neben Verschwörungstheoretikern, Rechten, Linken und Impfgegnern, je nach Ort, auch jede Menge andere Menschen zugegen zu sein scheinen. Das sind allerdings Peanut-Probleme, schaut frau beispielsweise nach Belarus, ein Land, über das Europa sowieso viel zu wenig redet. Dort hält die Regierung doch gleich mal locker die jährliche Militärparade ab, von sozialer Distanz hier (wie auch sonst übrigens) keine Spur: Was ein guter Diktator sein will, lässt sich so eine Gelegenheit ja nicht entgehen. Wie es um die Bevölkerung dort wohl gerade steht?

Heute endlich die lang ersehnte Botschaft des Premiers Johnson, die von vorsichtigen Lockerungen spricht, diese aber gleich wieder relativiert und die Zuhörer:innen verunsichert. Die Kritik lässt nicht lange auf sich warten. Einig ist sich das vereinte Königreich momentan überhaupt nicht. Während Wales, Nordirland und Schottland weiterhin im Lockdown sind und der Slogan unverändert lautet: ‘Stay at home’, hat England jetzt ein neues Motto, von dem keiner genau weiß, was es bedeuten soll: ‘Stay alert’

… Was wiederum an die endlosen Pandemie-Werbeslogans erinnert, die einem momentan u.a. aus dem Fernsehen (auf Twitter, Facebook, Instagram, etc., kann man den Werbebannern der Pandemie-Warner eh nicht entwischen) entgegenschallen. Plötzlich auf dem Bildschirm auftauchende Videoaufnahmen von ‘Durchschnittsbürgern’, die per Skype, Zoom, WhatsApp etc. ihren Freund:innen und Angehörigen in gefühlsduseliger Weise ‘Mut machen’. Alternativ: Wohlfühlzeit daheim. Dagegen sind die erstaunlich schnell auf den Covid-Modus umgeschwenkten kommerziellen Werbespots ja fast noch erträglich, oder zumindest unfreiwillig komisch. 

Soviel zum langen Wochenende.

 

Fabian, München

Die Stadt hat ihren Lärm wieder. War nur eine Frage der Zeit, aber von Seiten des Fußgängers ist die Unabdinglichkeit, mit der die Leute ihre Kraftfahrzeuge und ganz sicher und ganz ohne Absicht in Blechlawinen konzentriert durch die Straßen bewegen, ungeachtet der zweifellos, in jedem einzelnen Fall triftigsten Gründe, doch etwas ärgerlich. Die relative Ruhe, in der man sich ein paar Wochen lang und häufig unbehelligt von der motorisierten Überzahl durch die Stadt bewegen konnte, hatte schon etwas für sich, auch wenn man sich dann besser nicht vorstellen mag oder sollte, dass für viele der Vorüberlärmenden jeder in den letzten Monaten notgedrungen nicht zurückgelegte Kilometer mit realen Verlusten in direktem Zusammenhang steht, und jetzt will’s einem, wie zum Trotz, oder aus Trotz, vorkommen, als müsste die Bewegung durch die Stadt innerhalb einiger Tage stellvertretend für die Verluste der vergangenen Wochen einstehen – aber vermutlich liegt’s bloß am Lärm; oder demgegenüber an der kurzfristig gesteigerten Sensibilität.

 

11.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Eigentlich wollte ich von dem Stromausfall heute morgen erzählen, der anscheinend von einem Schwan verursacht wurde, der mit seiner Frau um die Ecke in einem Teich lebt und gerade, wenn alles gut geht, Nachwuchs erwartet (die Nachbar:innen haben bereits Wetten abgeschlossen, wann es denn soweit sein soll), heute morgen aber (wohl nicht zum ersten Mal), eine unangenehme Begegnung mit einer Stromleitung hatte, wobei zum Glück ein älterer Nachbar den Funkenflug beobachtete, hineilte, dabei selbst (glücklicherweise ohne sich zu verletzen) stürzte, das Tier betäubt vorfand, über seine Tochter per Telefon eine örtliche Tierschutzorganisation mobilisierte, die jemanden schickte, der den Schwan inspizierte und wieder zum Teich zurück trug, wobei er bemerkte (der Mensch, nicht der Schwan), dass er (der Schwan, nicht der Mensch) etwas zu schwer sei und die Nachbarschaft doch fortan lieber kein Brot sondern eher Haferflocken, Salatblätter etc. füttern solle, ansonsten ginge es dem Tier aber bis auf einige verlorene Federn gut, woraufhin jetzt am Teich zwei kleine Schilder hängen (verfertigt von der Tochter des älteren Herrn und Vogel-Erste-Hilfe-Leisters), auf dem die neue Schwanendiät erklärt wird – ob die ebenfalls ansässigen Enten und Möwen, etc., sich über die Diätmaßnahmen freuen, bleibt abzuwarten. 

Okay.

Worüber ich aber im Grunde auch gerade schreiben wollte (bevor mir der Schwan mental dazwischen kam), sind die diversen Corona-Archive, Corona-Museen und andere Formen der Aufzeichnung und Sammlung von Alltagsbeobachtungen, fotografischen Zeugnissen, Objekten, Texten (wie diesem kollektiven Tagebuch), extra begründete Webseiten für Gedichte und andere literarische Formen (wie etwa ‘Briefe aus dem Lockdown’) zum Thema Pandemie/Lockdown, die erwarteten (oder befürchteten) Corona-Romane, Radiobeitragsserien zum Thema ‘Alltag in der Pandemie’, und sicher ließe sich hier noch manches ergänzen (von den notwendigen Links zu den diversen Projekten ganz zu schweigen, aber sie haben sich, grenzübergreifend, derart multipliziert, dass einem langsam der Kopf schwirrt, fängt frau erst einmal an, auf diese Dinge zu achten). Abgesehen davon ist es grundsätzlich spannend, dass das Festhalten des Augenblicklichen, Vergänglichen, sozusagen das Mitschreiben von Geschichte, während sie sich ereignet, oder zumindest in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Geschehnissen (trotz aller erwartbaren, oft praktischen oder medialen Bedingungen geschuldeten zeitlichen Verschiebungen), in allen erdenklichen Kunst- sowie anderen Formen und Zeugnissen gerade eine solche Blüte erlebt, und ich frage mich, in welcher Relation das steht zur Geschwindigkeit unserer medialen Welt wie erfahrenen Lebenswirklichkeit, zu unserem Bewusstsein von chronistischem Schreiben und dessen langfristiger Bedeutung, und natürlich zu dem Bedürfnis, den Überblick und vielleicht zumindest die Illusion von Kontrolle zu behalten, wenn (vorübergehende?) Veränderung so schnell vonstatten zu gehen scheint. Dass dieses Tagebuch hier nicht nur seinerseits in anderen Medien  reflektiert, sondern zudem bereits Forscher:innen wie Student:innen als Anschauungs- und Diskussionsobjekt diente, ist Teil dieses Phänomens, dieses zeitnahen, fast gleichzeitigen Verfertigens und Analysierens von Zeitdokumenten. Hier (note to self und alle anderen) bitte weiterdenken.

Im Wartesaal der Weltgeschichte – (Digitales) Zeitbewusstsein in der Pandemie.

von Carla Kaspari

 

Seit Termine und Uhrzeiten vielfach dem metaphorischen Stillstand der Welt zum Opfer gefallen sind, nimmt man sich auch der Zeit wieder ausführlicher an. Sonst maßgeblich in ihrer Funktion zur Taktung des überfrachteten Alltags wahrgenommen, rückte sie in Lockdown-Zeiten anders in den Mittelpunkt: Sie stand still, teilweise wurde das Gefühl für sie völlig verloren, hin und wieder nutzte man sie ausgiebig, sie wurde totgeschlagen oder ihr aktuelles Dasein mit einem Loch verglichen.

Auch abseits prä-pandemischer Achtsamkeits-Trends leben viele Menschen ohne kulturelles Angebot, Kneipen oder Reisen zunehmend im Hier und Jetzt, haben endlich mal wieder Langeweile oder geben sich ganz einfach dem hin, was sie als Zeit empfinden. Fest steht: Unsere derzeitige Gegenwart, die uns nicht wie sonst bildstark in den Fingern zerrinnt oder ein breites Angebot an Zerstreuung liefert, bietet Gelegenheit, auch in Bezug auf sie selbst innezuhalten und ihre akute Beschaffenheit genauer in den Blick zu nehmen. Nur wie?

Für Hans Ulrich Gumbrecht, Romanist mit Hang zur Gegenwart, ist sie vor allem eins: breit. In ihr, so konstatiert er in mehreren seiner Werke zum Thema[1], laufen die Vergangenheit, die uns dank ihrer minutiösen elektronischen Speicherung überschwemme, und die bedrohliche, da unangenehm ungewisse Zukunft, zusammen. Dieses Zusammenlaufen könne nicht mehr als eindimensionale Zeitinstanz; auch nicht mehr als Übergang zwischen vergangenem und zukünftigem Moment gedacht werden.

Stattdessen definiert sich sein, schon vor Corona entwickeltes, Jetzt, als chronotopisches Wirrwarr, als breites Spielfeld der Gleichzeitigkeiten, auf dem sich Ansätze in die Zukunft und in die Vergangenheit tummelten und nebeneinander eine Art hoch bewegter Stagnation erzeugten. Nicht – wie andere populäre Gegenwartsdiagnosen –  als punktuell, flüchtig oder einzigartig beschreibt Gumbrecht sie, sondern als gut gefüllten Wartesesaal der Weltgeschichte. Unser Jetzt komme nicht aus der Abgrenzung zum Vorher oder Nachher und erst recht nicht aus sich selbst, sondern speise sich immer aus der Latenz, der ereignisleeren Verzögerung.

Wie die Zeit an sich, ist auch das, was als Gegenwart empfunden wird, zunächst nicht fassbar. Als flüchtiger Zustand kann unser Jetzt, wenn überhaupt an oder mithilfe ästhetischer Darstellung artikuliert werden. Schon immer bieten sich vor allem Erzähltexte durch ihre inhaltliche Ausrichtung  – man denke bespielsweise an den Zeitroman – und ihre formalen Eigenheiten an, ein bestimmtes Zeitempfinden auszudrücken: Wie wird Zeit erzählt? Wird sie gerafft oder gedehnt? Wie wirkt sich der Text auf mein Zeitempfinden aus? Das digitale Zeitalter hat den Vorteil, keine expliziten Erzählgenres mehr zu brauchen. Da das Internet an sich textbasiert ist und in Chats, auf Blogs oder diversen Social Media Plattformen beinah in Echtzeit kommuniziert, geschrieben und so eben erzählt wird, bietet es direkten Einblick in die ästhetische Darstellung unseres Jetzt.  

 Gumbrechts Diagnose traf so bereits vor der pandemischen Gegenwart überraschend eindrücklich auf digitale Textproduktion und ihre Erzählweisen zu. Man denke beispielsweise an den Kurznachrichtendienst Twitter in seiner Lesart als simultane Erzählwelt: Diese, zu großem Teil aus präsentischen Miniaturerzählungen bestehend, kann auf dem Spielfeld der Plattform ziemlich genau als das latente Nebeneinander diverser Jetzt-Zeiten gelesen werden, das er als breite Gegenwart definiert.

Nun, da das westliche Leben noch mehr als sonst in den digitalen Raum rückt und die ereignisleere Verzögerung so präsent wie nie ist, scheint sich dieser Eindruck zu verstärken. In Zeiten, in denen jede und jeder gleichzeitig bei Instagram live geht, online Corona-Tagebücher schreibt, 25 Tweets pro Stunde absetzt oder seinen Alltag in diversen Gaming-Welten verbringt, sind Erzählformate des Internets als Kommunikations- und Ausdruckswerkzeug mehr denn je gegenwärtig. Im diffusen Zeitnebel werden sie zu einem wichtigen Strukturmerkmal unsere Gegenwart, und mehr: Fast könnte man so weit gehen, das öffentliche Leben und seine Jetzt-Zeit aktuell beinahe vollständig in den digitalen Raum und seine Erzählungen verlagert zu sehen, die sich in Echtzeit ablesen lassen und Gegenwart so minutiös dokumentieren, dass sie greifbar wird wie selten.

Der bildliche Wartesaal der Weltgeschichte, in dem sich unsere Gegenwarten tummeln, wird so für viele zumindest virtuell Realität. Ästhetische Artefakte in Form von Chatverläufen, Twitter-Timelines, Instagram-Stories oder Fortnite-Sessions lassen sich als eindrucksvolle Inaugenscheinnahme unseres Jetzt lesen. Auch das stand für Gumbrecht übrigens schon vor der Krise fest: Artefakte, das seien keine historischen Ideen mehr, sondern nur noch Resultate menschlicher Kommunikation.

 

[1] Vgl. beispielsweise Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt a. M. 2010 oder Gumbrecht: Präsenz. Berlin 2012. 

 

Photo by Lukas Blazek on Unsplash

Der Gefangene der Freiheit

Ein Essay von Christian Johannes Idskov, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich

 

Am 30. April kam die Nachricht von Yahya Hassans Tod. Der Dichter wurde nur 24 Jahre alt. Dieser Essay wurde am 03. März fertiggestellt und war als Beitrag für die erste diesjährige Vagant-Ausgabe mit einem Thementeil über Ungleichheit und soziale Absicherung geplant. Wir veröffentlichen ihn an dieser Stelle ungekürzt und unverändert.

 

Wie konnte das geschehen? Weshalb musste es ihm so ergehen? Vielen in Dänemark erschien Yahya Hassan lange als schwer zu verstehender Fremder. Doch jetzt, da man die Umrisse seines Lebenswegs erkennt – vom unangepassten jugendlichen Kriminellen zum landesweit bekannten Dichter und später zum Gewaltverbrecher in Isolationshaft und Drogensüchtigen im Entzug –, ist man dennoch schwerlich überrascht. Hatten wir, die wir ihm in den letzten sieben Jahren mit Hilfe der Medien folgten, wirklich etwas Positiveres erwartet? Eine glückliche Entfaltung? Ein geborgenes und sicheres Leben? Stattdessen hat Yahya Hassans gesellschaftlicher Aufstieg die Vorurteile der Öffentlichkeit scheinbar bestätigt: dass man den Jungen vielleicht aus dem Brennpunkt, nicht aber den Brennpunkt aus dem Jungen entfernen kann. Bereits im Debütband schien er zu wissen, dass sein Schicksal besiegelt war: „MEINE PORNOSEELE MEINE GELDSEELE MEINE GEFÄNGNISSEELE / NEHMT MICH RUHIG GEFANGEN“.

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Natürlich war es Yahya Hassan, der sagte: „Ich verstehe ihn.“ Es ist das Jahr 2015, zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Debüts, und Yahya Hassan ist auf dem Höhepunkt seines Starstatus. Der Mann, von dem der junge Dichter spricht, heißt Omar Abdel Hamid El-Hussein. Der Terrorist, der am 14. und 15. Februar 2015 in einem der größten Terroranschläge in Dänemarks Geschichte den Journalisten Finn Nørgaard und den jüdischen Türsteher Dan Uzan erschoss sowie fünf Polizeibeamte verletzte – bevor er in einem Schusswechsel mit dem Sondereinsatzkommando der Polizei selbst auf offener Straße getötet wurde.

Yahya Hassan brachte El-Husseins Verbrechen keine Sympathie entgegen – „natürlich sollte man so einen Idioten bekämpfen“, sagte er der Zeitung Politiken in der Zeit nach dem Anschlag (20.05.2015) –, doch wenn man heute die Äußerungen des Dichters liest, ist ein Zweifel unmöglich: Yahya Hassan sah in dem drei Jahre älteren Omar eine Schicksalsgemeinschaft.

In ihrer Kindheit lebten beide in Flüchtlingslagern im Mittleren Osten, sie wuchsen in sozial benachteiligten dänischen Wohngebieten auf und waren in gewalt- und bandenkriminellen Milieus aktiv. Yahya Hassan lief Omar El-Hussein niemals über den Weg, aber sie beide waren junge, wurzellose Kleinkriminelle, die das Gefühl hatten, ihr Dasein befände sich außerhalb der eigenen Kontrolle: „Wie ich steckte auch er ganz unten in der Gesellschaft fest. Die palästinensische Situation erzürnte, der Rechtsruck in Europa verwirrte ihn.“ Und Yahya Hassan sagte auch: „Er beging Verbrechen, während er boxte und seine Leidenschaft und sein Talent zu finden versuchte. Ich machte Verbrechen wieder gut, während ich einen Gedichtband schrieb. Er verlor seinen Boxkampf und machte mit der automatischen Schusswaffe weiter. Ich hatte das Glück, veröffentlicht zu werden.“ Zum Schluss fügte er an: „Ich sagte nicht, dass ich als Terrorist geendet wäre, aber ich hätte in einem ähnlichen Umfeld festgesessen.“

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Liest man heute YAHYA HASSAN (2013), seinen ersten Gedichtband, ist der Eindruck auf vielerlei Arten ein anderer als beim Erscheinen im Oktober 2013. Die Gedichte haben nichts eingebüßt, im Gegenteil, sie wirken hemmungsloser und komplexer. Kann man sagen, dass sie unabhängiger von der Welt geworden sind? Vielleicht dürfen sie sich erst jetzt als Lyrik offenbaren.

Damals, 2013, ließ sich das Debüt unmöglich von der politischen Debatte getrennt lesen. Viele betrachteten den Gedichtband als Augenzeugenbericht aus einem Brennpunkt, den zu betreten nur wenigen gestattet war. Der Grund dafür war einleuchtend. Zwei Wochen vor der Veröffentlichung hatte Yahya Hassan einen gewaltigen Aufruhr verursacht, als er im meistgelesenen Interview in der Geschichte der Zeitung Politiken (05.10.2013) von einer Unterschichtenkindheit erzählte, die geprägt war von Gewalt und Vernachlässigung: „Ich habe einen verfickten Hass auf die Generation meiner Eltern.“ Wie so viele andere Einwandererfamilien kam seine eigene in den Achtzigerjahren nach Dänemark. „Wir, die Ausbildungen abgebrochen haben, wir, die kriminell geworden und wir, die zu Pennern geworden sind, wir wurden nicht vom System vernachlässigt, sondern von unseren Eltern. Wir sind die elternlose Generation“, sagte er.

Zu dieser Zeit hatte der junge Dichter im Fernsehen und in Zeitungen eine ganze Menge zu erzählen. Er erzählte vom Leben in einem Brennpunkt mit einer „durchgängigen sozialen Verderbtheit“ und einer „moralischen Heuchelei ohnegleichen“. Seine Geschichten handelten von einer neudänischen Unterschicht, kontrolliert von gewalttätigen Vätern, die willig waren, den Koran zu rezitieren, in die Moschee zu gehen und „Heilige zu spielen“, wohingegen sie gleichzeitig kein Problem damit hatten, „das Sozialsystem auszutricksen und zu betrügen“, wie Hassan es im Politiken-Interview ausdrückte.

Heute lässt sich schwer übersehen, wie der erst 17-, 18-jährige Dichter nahezu eigenhändig andere Maßstäbe für eine vollkommen festgefahrene Debatte über Brennpunkte, Geflüchtete und den Islam in Dänemark setzte. Die Kritiker der Rechten hatten in den vergangenen Jahren durchgehend moniert, es käme zu einem Kampf zwischen den Kulturen, weil radikale Muslime die Freiheitsrechte einschränken würden, wohingegen die Linke die Kritik an der kulturellen Begegnung ablehnte und die Fahnen der Toleranz hisste, wenn sie Einwanderungsprobleme nicht gerade äußerst wohlwollend als ein Klassenproblem beschrieb. Der Wertekonflikt der dänischen Nullerjahre hatte eine neue Hauptperson bekommen. Nach der Veröffentlichung von YAHYA HASSAN waren die meisten sich einig, dass es in betroffenen Einwanderermilieus Probleme gab, die jetzt auf einmal – blitzartig – unmöglich zu ignorieren waren.

Aber was ist mit den Gedichten? Hatten die etwas mehr zu erzählen? Zuvorderst waren sie von einer an subjektzentrierte Lyrik erinnernden Verbrecherattitüde angetrieben, die mit einem singenden, zornerfüllten Koranvokal und überraschenden, provokanten Bildfindungen das Einwanderermilieu mit sozialer Unterdrückung und patriarchaler Gewalt verkoppelte: „FÜNF KINDER IN AUFSTELLUNG UND EIN VATER MIT KNÜPPEL / VIELFLENNEREI UND EINE PFÜTZE MIT PISSE“, lauteten die ersten Verse. Geschichten von Barbarei in intimsten Zusammenhängen waren es, die an mehreren Stellen den Gedichtband dominierten, und die Rechte guckte auf den jungen Dichter und sagte: Seht, wir haben es ja gewusst! Die Kultur der Muslime sei eine Kultur der Gewalt, die die unantastbare Freiheit des Individuums nicht verstehe. Und die Linke sagte: Vergesst es! Die Konzentration von Geflüchteten und Armut in Wohnblöcken schaffe soziale Probleme, die wiederum Gewalt und Vernachlässigung erzeugten. Nur von der muslimischen Minderheit wurde er nicht gelobt. Als er kurz nach der Veröffentlichung seine Gedichte im Odense-Vorort Vollsmose vortragen sollte, geschah dies mit Polizeiaufgebot, Helikoptern in der Luft und Live-Übertragung im Fernsehen. Ganz Dänemark war dabei, aber als der junge Dichter in den Wohnblock zurückkehrte, saß in den Zuschauerrängen des Saals fast niemand mit muslimischem Hintergrund. In Schweden schrieb die Dichterin Athena Farrokhzad in einer Besprechung des Buches (Aftonbladet, 17.03.2014), es gebe Themen, über die man ganz einfach nicht schreiben könne, wenn man aus einer muslimischen Minderheit komme. „Es fühlt sich unmöglich an, sie einer überwiegend weißen Öffentlichkeit zu schildern.“

Farrokhzads Kritik führte zu einer großen Debatte über die verschiedenen Erfahrungen von Minoritätsgruppen und wie diese literarisch umgesetzt und, nicht zuletzt, mit den weißen Mitmenschen diskutiert würden. Yahya Hassans Gedichtband war allerdings viel mehr als eine Kritik an der patriarchalen Gewalt- und Schnorrerkultur der neudänischen Unterschicht oder ein „Geschenk an die Dänische Volkspartei“, wie Farrokhzad meinte. Es war ein Buch, das bereits im ersten Gedicht den Blick vom sozialen Elend in den Wohnblöcken in Aarhus Vest auf einen Mittleren Osten mit Drohnen, Krieg, Flüchtlingslagern und Zerstörung lenkte. Es zeichnete die gesamte Reaktionskette nach, die der sozialen Katastrophe in Dänemark zugrunde lag. Kurz, die Gedichte waren die Antwort einer zornigen neuen Stimme: Hier stellte er die kriegsführenden Dänen vor die Konsequenzen ihrer politischen Handlungen. Geschichte und Globalisierung suchten nun diese naive Nation mit dem zornigen, jungen Dichter als Opfer und Boten heim. Bitteschön, Dänemark, hier habt ihr mich, eines der vielen kriegsgeschädigten Kinder des Mittleren Ostens!

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Die Vorstellung, dass Yahya Hassan sich bereits im Alter von siebzehn Jahren dazu berufen fühlte, sich selbst als Prophet zu porträtieren, ist unglaublich. Überall in seinem ersten Buch findet man diesen singenden Verkündungsdrang, ganz so, als wäre er endlich hier, Gottes ungezogene Sohn, der nächste falsche Messias, er, der sich vom Glauben entfernt hat: „DOCH SIEHE WAS SATAN HINTERLASSEN HAT / EINE EWIGE FLAMME AUS SEINER HÖLLE“. Yahya Hassan stellt sich selbst als Nachkommen vom Urmenschen der Zivilisation dar. Wieder und wieder beschreibt er sich als „Höhlenbewohner“, einen halben Mohammed, den gewöhnlichen Menschen des islamischen Glaubens, der jeden Tag versucht, aber dennoch niemals wünscht, die Offenbarung zu erlangen und sich als Allahs besonders Auserwählten zu zeigen. Wie Jesus trägt er die Leiden seines Volkes. Er ist ein exilierter, staatenloser Palästinenser mit einer gefährlichen Vaterbeziehung, ein zorniger, junger Mann, gefangen zwischen verschiedenen Identitäten. Kurz: ein Prophet mit vielen Identitäten.

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Mit am Interessantesten an Yahya Hassan sind seine Versuche, sich immerzu von den Fesseln, die ihn gefangen nehmen wollten, loszureißen. Auf paradoxe Art ist er immer gewesen, was sich die liberale Gesellschaft für das moderne Individuum erträumt hat: Er hat gegen seinen sozialen Hintergrund und sein Erbe aufbegehrt, den kulturellen Verbindungen, die ihm bei Geburt mitgegeben wurden, ist er ausgewichen, ebenso hat er sich einer rücksichtslosen und unbedingten Neuerfindung hingegeben: ja, größtenteils allen Arten der Befreiung, die wir aus der spätkapitalistischen Gesellschaft kennen.

Rückblickend ist es überhaupt nicht schwer, Yahya Hassan als das zu sehen, was Friedrich Nietzsche als „Legionär des Augenblicks“ bezeichnete. Der junge Dichter trat in einen Leerraum hinein, den vor ihm nur die wenigsten gesehen hatten. Obwohl sich auch hier die dänische Einwanderungsdebatte nicht überhören ließ, war sie auch im Pausenmodus. Der junge Dichter wollte sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite versöhnen. Er hatte die Gemeinschaften der Gesellschaft nicht aufgegeben, sondern meinte, sie selbst gestalten zu können. Anders ausgedrückt, Yahya Hassan sah die Möglichkeit, sich selbst in einem postrevolutionären Vakuum zu manifestieren, das zu  diesen nietzscheanischen Augenblickslegionäre gewesen ist: Emigrant*innen, Initiator*innen, Redakteur*innen, Dichter*innen, Scharlatan*innen und politischen Aufrührer*innen gehört hat. Personen, die sich selbst als Vorhut der Geschichte begreifen. Die, die das Chaos nicht fürchten, sondern davon zehren.

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Bei einer derartigen Manifestationskraft lässt sich nichts dagegen einwenden, dass sich Yahya Hassan eine Zeitlang als Politiker versuchte. 2014 wurde er Sprecher der Nationalpartei, gegründet von den Brüdern Kashif Ahmad, Aamer Ahmad und Asif Ahmad. Für die erste Pressekonferenz bemächtigte sich der junge Dichter der Bühne, als handele es sich um einen Gedichtvortrag. Vierzig Minuten lang las er aus einem politischen Manifest mit Ausrufezeichen und wütenden Schlachtrufen:

Wir sind keine bürgerliche Partei. Wir sind eine Partei der Bürger*innen und haben die Mitte eingenommen, um uns in Richtung der Vernunft vorzuarbeiten. Wir sind eine Plattform für unabhängige Stimmen, die nicht in die Mikrofone der Banken schreien. Die nicht in die Mikrofone der Waffenhändler*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamist*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamophoben schreien. Wir sind Dänemark.

Die Idee der Partei war, die politische Landschaft zu zersplittern und denjenigen Parteien, die in ihrer Ideologie verstaubt wirkten, den Rang abzulaufen. Es ging darum, den Einwanderern des Landes ein neues politisches Gesicht zu geben, doch zugleich hatte die Partei keine Angst, dort anzusetzen, wo eine Zerstörung des langweiligen gesellschaftlichen Erbes am meisten wehtat. Unter anderem wollte die Nationalpartei Geflüchteten verbieten, in die Brennpunktviertel der Großstädte zu ziehen, stattdessen sollten sie im Rest des Landes verteilt werden – ein Vorschlag, den die bürgerlichen Parteien 2018 mit der Linken an der Spitze beinahe eins zu eins mit Ja durchsetzten und der von Rune Lykkeberg, dem Chefredakteur der Zeitung Information, als endgültige Kapitulation vor den Sozialdemokraten bezeichnet wurde (02.03.2018). Das sogenannte Brennpunktpaket ist von der UN scharf kritisiert worden.

Yahya Hassans Karriere als Politiker sollte jedoch jäh enden. Weniger als elf Monate später wurde der Dichter aus der Partei geworfen, nachdem er unter Drogeneinfluss Auto gefahren war. Bis dahin war es zu mehreren Zwischenfällen gekommen, einige davon aufgezeichnet in seinem persönlichen Facebook-Livestream, in dem der junge Dichter Nachrichten an alle Personen aus dem Bandenmilieu schickte, die ihm anscheinend nach dem Leben trachteten. Während er eine kugelsichere Weste trug, sagte er zu Allan Silberbrandt, dem Nachrichtenmoderator des Senders TV2: „Die Sache ist die, dass ich der Partei und meinem Vorsitzenden zu einem frühen Zeitpunkt des politischen Prozesses klargemacht habe, dass ich eine Person bin, die bedroht wird und sich auf der Straße mit Leuten prügeln muss.“ Auf halbem Weg aus dem Studio setzte er seinen Monolog fort, ohne sich vom Moderator unterbrechen zu lassen: „Mit euch hab ich nichts mehr zu bereden. Wie es ums Land steht, hab ich schon gesagt. Fickt euch mit eurem bürgerlichen Wischiwaschi und euren ganzen Lügengeschichten. Intrigen anzetteln könnt ihr gegen mich und meinen Schwanz, so viel ihr wollt. Mein Schwanz ist beschnitten und schön. Dir noch ‘nen guten Abend, ich mag dich wirklich gern, und grüß Pia [Kjærsgaard, frühere Vorsitzende der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, A. d. Ü.].“ Via Facebook schickte er einen letzten Gruß: „Ab heute Abend schreibe ich nur noch Gedichte und Todesanzeigen.“

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Wenn man über Yahya Hassan spricht, ist eine Trennung von Maske und echtem Leben sinnlos. Größenwahn, knallharter Zynismus und Übertreibungskunst waren von Beginn an tragende Elemente seiner Selbstdarstellung – ganz gleich, ob es um seine lauthals vorgetragenen Gedichte, zügellosen Fernsehauftritte oder temperamentvollen Videos in sozialen Medien geht. Yahya Hassan ist auch ein Kind der modernen Technologie- und Informationsverbreitung. Er wurde sowohl verfolgt als auch verehrt, aber die öffentliche Ordnung hat er selbst zuerst gestört: Er hat gegen seine Herkunft aufbegehrt, sich aber niemals irgendeiner Art von dänischer Identität untergeordnet. Er hat die Autoritäten um sich herum niemals akzeptiert, aber er wollte sich auch nie etwas für sich selbst aufbauen. Er war, wie der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk es formulieren würde, zur Freiheit gezwungen. Man könnte ihn als einen Gefangenen der Freiheit bezeichnen. Einen vaterlosen, staatenlosen Palästinenser ohne Furcht vor oder Vertrauen auf die großen Gemeinschaften. Er hat versucht, die Verbindungen zu seiner Vergangenheit zu kappen, allerdings ist es ihm nie so recht gelungen, sich in seinem neuentdeckten Freiheitsparadies einzufinden. Als er noch auf dem Vormarsch war, ließ er sich beinahe als revolutionären Gesellschaftswandler betrachten, der versuchte, das Leben eines ganzen Milieus zu verbessern. Jetzt, da er den Kampf gegen seine eigene Vergangenheit verloren zu haben scheint und Gefängnisstrafen wegen Gewalttaten verbüßt hat sowie in der forensischen Psychiatrie behandelt worden ist, fragt man sich, ob überhaupt irgendwer imstande war, ihm zu helfen oder sein Leben zu verbessern. Yahya Hassan ist selbst zum Bild des sozialen Elends Dänemarks geworden. Der dänische Traum ist eine Lüge. Selbst für die Talentiertesten gibt es keinen leichten Weg aus dem Brennpunkt hinaus.

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Als die dänische Premierministerin am 01. Januar ihre Neujahrsansprache hielt, erzählte sie, sie glaube an eine Gesellschaft, in der jeder Mensch eine grundlegende Verantwortung für sein eigenes Leben trage. Aber sie sagte auch, dass wir dem Einzelnen nicht die komplette Verantwortung überlassen könnten. „Wenn die Kindheit bestimmt, was im späteren Leben passieren wird, dann ist das Muster immer noch zu stark und die Gemeinschaft zu schwach.“

Mette Frederiksen erinnerte insbesondere an die Kinder, die es am allerschwersten haben. Kinder, die zu Hause Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben. Der Ministerpräsidentin zufolge sei es jetzt an der Zeit, die Berührungsangst aufzugeben: „Wir müssen als Gesellschaft sichtbar werden. In Zukunft müssen mehr Kinder als heute ein neues Zuhause finden können. Und die Bedingungen für Kinder in Familien und Hilfseinrichtungen sollen noch viel stabiler sein.“

Es waren Kinder wie Yahya Hassan, von denen sie sprach.

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Im Laufe der Jahre haben sich viele auf Yahya Hassans Kritik am Brennpunktmilieu versteift, aber weitaus weniger haben sich seiner Schilderungen der unmenschlichsten Seiten des Wohlfahrtsstaates angenommen. Leicht lässt sich sein Gedichtdebüt als Reise durch die dänische Sozialhilfe beschreiben. Nach etwa einem Drittel des Buches lernt man dieses engmaschige Netz aus Aufenthaltsorten, Jugendeinrichtungen, Erziehungsbeiständen, Gefängnissen, Urinproben und Pädagogen kennen, die als Türsteher für einen mit seinem Leben unzufriedenen Teenager agieren.

Natürlich ist Yahya Hassan die Hauptfigur dieser Anti-Bildungsreise, auf der sich alles drum herum als anonyme und einengende Ausübung von Macht beschreiben lässt. In diesem System macht er keine hilfreichen Erfahrungen, erlebt nichts Positives, bis zu dem Punkt, an dem er einer neuen und ungewöhnlichen Kontaktperson begegnet, die ihn auffordert, zu schreiben und ihn auf die Spur der Literatur bringt. Kurze Zeit darauf stiehlt Yahya Hassan eine Kiste Bücher, und darin findet er den ersten Band von Karl Ove Knausgårds autofiktionalem Romanzyklus. Die Literatur, nicht die Sozialbehörden, werden zu seiner Rettung. Glaubt man dem Gedichtband, dann findet er seinen Weg ins Leben hier.

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Die Arbeiterliteratur ist reich an Geschichten, die zeigen, dass der Versuch, etwas an den Bedingungen der Schwächsten zu ändern und sie bloßzustellen, ein ungeheuer feiner Balanceakt ist. Noch 2016 musste sich der französische Autor Édouard Louis nach der Veröffentlichung seines Debütromans Das Ende von Eddy (Seuil, 2014) schwere Anschuldigungen gefallen lassen. In der Essaysammlung Etter i saumane. Kultur og politikk i arbeidarklassens hundreår (Unter die Lupe genommen. Kultur und Politik im Jahrhundert der Arbeiterklasse; Gyldendal Norsk Forlag, 2016) bezeichnete Kjartan Fløgstad Louis‘ Kindheitsschilderungen des postindustriellen Nordfrankreichs als „klassistisch“. Fløgstad zufolge machte sich Louis der Klassenverachtung schuldig, wobei das Bürgertum die „Erlösung“ sei, die Reise aus der Arbeiterklasse hingegen der reinste „Aufstieg in den Himmel“. Fløgstads Kritik, auf die Édouard Louis später in Morgenbladet antwortete, war geradezu das Echo einer Debatte, die zwei Jahre zuvor in französischen Medien stattgefunden hatte. Hier wurde Louis genauso angeklagt, klassistisch zu sein und die Arbeiterklasse in eine Kategorie mit „Natur“ und „Barbarei“ gesteckt zu haben. Fløgstads Einwände gegen Louis unterschieden sich also nicht allzu sehr von Hassans Kritik an der neudänischen Unterschicht.

Von intellektueller Seite wurde Yahya Hassan vor allem von Athena Farrokhzad kritisiert. Beging Hassan ein Sakrileg, dann lag das der schwedischen Dichterin zufolge nicht daran, dass seine Beschreibungen der Gewalt in den muslimischen Milieus unzutreffend waren. Sie meinte bloß, er hätte mehr Umsicht beweisen sollen. Kurz, die solidarische Perspektive hätte vor dem Befreiungskampf einer einzelnen, männlichen Person of Color Vorrang haben müssen. Die Frage, wie eine neudänische Unterschicht sich am besten vor der herrschenden (weißen) Klasse schützen sollte, ging Farrokhzad eher von der kollektivistischen als von der individualistischen Seite an.

Dass Yahya Hassan niemals des Klassismus beschuldigt wurde, liegt hauptsächlich daran, dass er zu keiner Zeit vorgab, das Kulturbürgertum biete irgendeine Erlösung. Als wir ihn sechs Jahre nach Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes in YAHYA HASSAN 2 (Gyldendal, 2019) wiedersehen, hat er die Türen zum dänischen Kulturparnass eingetreten. Diesmal läuft die Reise durch die Institutionen der Gesellschaft in die entgegengesetzte Richtung. Das Buch beginnt mit Gedichten, in denen er auf dem Weg zu seinem Lektor im Verlag Gyldendal im Zentrum Kopenhagens ist. Er übernachtet im Bett des Journalisten Martin Krasnik, weil er sich nicht frei bewegen kann, und er steht unter ständigem Polizeischutz. „Prämien-Perker“ [Anm. d. Ü.: Das unübersetzbare Wort „Perker“, zusammengesetzt aus „perser“ und „tyrker“, ist eine rassistische Bezeichnung für Menschen mittelöstlicher oder arabischer Herkunft], so heißt das erste Kapitel des Buches, in dem er sich in einen Samtanzug kleidet, die Königin besucht und als Politiker und öffentlicher Debattenteilnehmer durch die Lande reist. Er spricht nicht mehr mit seinen Verwandten, sondern auf Versammlungen und fühlt sich von oben und unten, von allen Seiten beständig unter Druck gesetzt. Genau hier bricht die Vergangenheit wieder durch: „ICH WERDE GERADE ZWISCHEN ZWEI MACHTSTRUKTUREN ZERQUETSCHT (…) ICH STRÄUBE MICH MIT ARMEN UND BEINEN“. Er erzählt, die Anzüge hingen wie „SCHLAPPE LEICHEN“ über dem Ständer. Er „SCHLÄNGELT SICH UM DIE GESELLSCHAFT HERUM“ und schrumpft zu „IMPULS UND INSTINKT“. Er ist auf „UNTERGANGSFORTSCHRITT MIT DER MENSCHHEIT“.

Zeichnet das erste Buch einen Aufstieg von ganz unten in die Gesellschaft hinauf, dann stürzt Yahya Hassan im zweiten vom Gipfel hinab. Yahya Hassan beschreibt den totalen Niedergang, menschlich und sozial, durch ein System bürgerlicher Codes, staatlicher Institutionen und Kontrolle. Doch was er im ersten Buch erlebt, ist weder besser noch schlimmer. Aus den ehrwürdigen Geschäftsräumen des Gyldendal-Verlags geht er in einer rasenden Geschwindigkeit, die ihm selbst nicht einleuchtet, an den Kartoffelreihenhäusern der Østerbro-Sternchen bis in den Brennpunkt, das Gefängnis und die Psychiatrie. „ICH NAHM DAS WORT IN MEINE OHNMACHT“, schreibt Yahya Hassan an einer Stelle. Und an einer anderen: „ICH SÜNDIGTE WIDER DIE VERBESSERUNG MEINES WESENS“. Wie in seinem Debüt besteht ein deutlicher Kontrast zwischen ihm und der Gesellschaft, die immer durch fremde Instanzen repräsentiert wird, welche ihn in Schach zu halten versuchen: Polizei, Banden, Richter*innen, Gefängniswächter*innen, Psychiater*innen, Ärzt*innen, Medien und Verlage. Yahya Hassan ist ständig auf der Flucht vor der Gesellschaft – vor ganz oben wie auch vor ganz unten. Er ist an den Wurzeln ausgerissen, findet aber außerhalb des Brennpunkts anscheinend zu nichts irgendeine Verbindung. Er ist zu einem zornerfüllten und enttäuschten Touristen geworden, der sich apathisch und verantwortungslos zu allen um sich herum verhält: „ICH GLAUBE NICHT AN MEIN LACHEN / ICH GLAUBE NICHT AN MEIN SCHLUCHZEN / DANN LAUFE ICH UMHER UND RÄUSPERE MICH LEICHT / MAL SCHREIBE ICH GEDICHTE MIT GEBROCHENER HAND / IN EINER SPRACHE DIE NACH UND NACH ÜBERLADENER IST ALS MEINE MUTTERSPRACHE / MAL SCHIESSE ICH LEUTE AB / DIE NICHTS VERSTEHEN AUSSER SCHÜSSEN / MAL GEHE ICH FRÜH INS BETT / UM AUFZUSTEHEN FÜR NICHTS / MAL TRAINIERE ICH / UM WIEDER UMGENIETET ZU WERDEN / MAL HABE ICH NOCH EINEN WINTER ÜBERLEBT / UM NOCH EINEN SOMMER HINTER GITTERN ZU VERBRINGEN / MAL VERFLUCHE ICH WER FÜR MICH BETET / UND FINDE FRIEDEN IM NAMEN MEINES FEINDES“.

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In Yahya Hassans Gedichten gibt es keinen Ort, wo er sicher und geborgen ist. Ruhe findet er einzig und allein im Schicksal, wobei er weder vor den Repressalien der Götter noch des Vaters oder der Sozialbehörden Furcht empfindet. Zusammen liefern Yahya Hassans zwei Gedichtbände den Eindruck eines Menschen, der alles geopfert hat, aber dennoch zum Untergang in einer Gesellschaft verdammt war, die ihm niemals helfen konnte. Er ist das Symptom eines Problems, welches der Wohlfahrtsstaat nicht greifen und daher nicht beheben kann. Er demonstriert die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Wohlfahrtsstaates. Die letzten Verse in YAHYA HASSAN 2 klingen wie ein Punkt, der erst noch gesetzt werden muss: „GELDSTRAFEN HAFT UND GEFÄNGNIS PRALLEN AN MIR AB / NICHT WEIL ICH UNGEEIGNET BIN ZUR STRAFE / SONDERN WEIL ICH ZU SEHR GEEIGNET BIN DAFÜR“.

 

Die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN (2013) stammen aus Annette Hellmuts und Michel Schlehs deutscher Fassung (Ullstein 2014), die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN 2 (2019) von Matthias Friedrich.

Christian Johannes Idskov, 1989 geboren, studierte Literaturwissenschaften in Odense und Kopenhagen. Er ist Kritiker für die Zeitung Politiken und Online-Redakteur der skandinavischen Kulturzeitschrift Vagant.

Matthias Friedrich, 1992 geboren, studierte Kreatives Schreiben in Hildesheim und Skandinavistik in Greifswald. Er übersetzt norwegische Literatur, u. a. von Svein Jarvoll und Thure Erik Lund, und arbeitet gerade an Leif Høghaugs Roman Kælven (Arbeitstitel: Der Kälberich), der voraussichtlich 2021 erscheint.

Der Essay wurde ursprünglich auf der Internetseite der Zeitschrift Vagant veröffentlicht.

Geschichten der Seuche – Vier Sachbücher zur Pandemie

von Susanne Wedlich

Das öffentliche Interesse an Erregern und Epidemien war vermutlich nie größer und Mikrobenliteratur jeglicher Art hat neuerdings Massenappeal. Die Auswahl an Sachbüchern ist groß: in dieser Sammelrezension wird es um vier Werke zu den Grundlagen der Epidemiologie, den Gefahren neuer Erreger, den Schrecken der „Spanischen Grippe“ und zur Vision einer pandemiefreien Zukunft gehen.

Für die meisten von uns ist es eine neue Erfahrung, als Gesellschaft einem Erreger fast hilflos ausgeliefert zu sein. Dabei besteht das eigentliche Novum doch eher darin, dass uns dieses Trauma bislang erspart geblieben war. Die Geschichte der Menschheit war immer auch eine Geschichte der Seuchen, auch wenn unser kollektives Gedächtnis dieses Motiv fast schon aus den Augen verloren hatte.

Das ändert sich jetzt und literarische Wiedergänger wie Boccaccios Decamerone werden als brandaktuelle Lektüretipps gehandelt, während das Interesse an Sachbüchern zu Erregern und Epidemien wahrscheinlich nie größer war – auch bei mir. Als Biologin und Wissenschaftsjournalistin ist mir die Materie grundsätzlich vertraut. Neu ist aber die akute Dringlichkeit der Lektüre mit der Hoffnung auf ein viel tieferes epidemiologisches Verständnis als bisher.

Sehr viel mehr wäre nicht zu erwarten, richtig? Wie sollte das Wissen um historische Ausbrüche helfen, wenn ein ganz neuer Erreger unser Leben umkrempelt? Was würden die Kenntnisse um frühere Quarantänen bringen, wenn sich derzeit die Lage in Deutschland nicht einmal mit der Situation in Italien vergleichen lässt? Wie faktenfixiert und falsch das gedacht war, zeigte allerdings die Lektüre jedes einzelnen der vier Bücher, um die es hier gehen soll.

Denn jetzt fehlte der gewohnte geistige Sicherheitsabstand. Sachbücher zu Seuchen hatte ich bislang anscheinend wie Krimis gelesen, also als höchstens theoretisch relevant, letztlich aber unendlich weit weg. Nun geht alles unter die Haut, historische Auswüchse lesen sich zum Verwechseln aktuell und für das Werk eines sonst hochgeschätzten Autors hätte meine Geduld fast nicht ausgereicht.

Den Anfang macht der schmale Band Seuchen von Kai Kupferschmidt. Der Wissenschaftsjournalist berichtet oft über Ebola und andere Epidemien, hält auch jetzt ein internationales Publikum in Sachen COVID-19 auf dem Laufenden. Sein Buch ist die Notfallapotheke für epidemiologisch interessierte Leser: Corona-bedingt sind viele der Fachbegriffe und Konzepte jetzt zu hören und zu lesen. Hier werden sie noch einmal klar und angenehm schnörkellos auf den Punkt gebracht.

Das Terrain ist abgesteckt, wird von dem amerikanischen Wissenschaftsautor David Quammen in Spillover auf über 500 Seiten aber ungleich tiefer umgepflügt. Wie springen Erreger auf den Menschen über? Warum treten diese Zoonosen immer häufiger auf? Und was macht sie so gefährlich? Quammen beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesem Thema und hat selbst schon Forscher bei der Suche nach neuartigen Erregern und ihren natürlichen Reservoirs begleitet.

Dazu gehören Expeditionen in den kongolesischen Regenwald, auf chinesische Wildtiermärkte oder ins Hinterland von Bangladesch – um möglicherweise infizierte Fledermäuse zu jagen. Quammen hat unglaublich viel zu erzählen und zieht seine Geschichten frei nach Agatha Christie als Whodunits auf: Welcher Erreger hat´s ausgelöst und welches Tier ist sein Handlanger, äh, natürlicher Wirt? Die Rolle der Schnüffler übernehmen natürlich die wagemutigen Forscher.

Quammen macht dabei viel richtig, erzählt vor allem Wissenschaft nicht linear. Stattdessen räumt er neben den Erfolgsgeschichten auch den Irrungen und Wirrungen auf dem Weg dahin viel Platz ein. Es ist also sicher der aktuell angespannten Lage geschuldet, dass ich den sonst so verehrten Autor hier streckenweise eher gnadenlos weitschweifig denn als begnadeten Erzähler empfand und auf die eine oder andere launige Anekdote gern verzichtet hätte.

Widerstand ist aber zwecklos und weil in der Fülle der Details grandiose Geschichten stecken, habe ich mich ab der Hälfte des Buches lieber Quammens mäanderndem Erzählfluss anvertraut. Der führt in die Seitenarme der Seuchengeschichte mit unbekannteren Erregern wie dem Hendravirus, macht aber auch lange bei den großen Stationen wie Cholera, HIV und SARS Halt.

Die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney wiederum fokussiert in 1918. Die Welt im Fieber auf die Spanische Grippe, eine Pandemie, die den Planeten in mehreren Wellen überrollte und bis zu 100 Millionen Menschenleben gefordert haben könnte. Spinneys wunderbares Werk beschränkt sich nicht auf den Westen, sondern dokumentiert unter anderem auch Ausbrüche in Australien, Brasilien und China.

Warum hat diese „beinahe vergessene Katastrophe“ kaum Spuren in unserem historischen Bewusstsein hinterlassen? Es habe keine Sieger gegeben, die Geschichte hätten schreiben können“, schreibt Spinney: „Nach einer Pandemie gibt es nur Besiegte.“ Und Nutznießer, ließe sich ergänzen. Denn Seuchen leisten damals wie heute Verschwörungstheorien und xenophoben Ressentiments Vorschub.

So hält US-Präsident Donald Trump hartnäckig an seiner Formulierung vom Chinese virus fest. Im Internet wird der Erreger zuweilen auch zur menschengemachten Biowaffe ernannt, eine Behauptung, die in den vom Krieg zerrütteten Ländern auch über die Grippe von 1918 kursierte, wenn sie nicht Ländern wie Spanien, Deutschland und Brasilien zugeschrieben wurde – trotz oder gerade wegen ihres bis heute nicht eindeutig geklärten geografischen Ursprungs.

Furchtbar modern liest sich auch ein Magazinartikel von 1918, wonach Behörden die Gefährlichkeit der Krankheit übertreiben würden, die „nur alte Menschen“ dahinraffe. Und ein Historiker befand in Bezug auf die Influenza, dass demokratische Strukturen für die Kontrolle einer Pandemie nicht besonders hilfreich seien, weil unterschiedliche Belange konkurrieren würden. Denn wer sich für „eine blühende Wirtschaft einsetzt, höhlt zwangsläufig die Gesundheitsfürsorge aus.“

Eine Szene aus Spinneys Buch schließlich überlagert sich besonders schmerzlich mit dem Bild, das in meinen Augen wie kein anderes für COVID-19 steht: So wie kürzlich Militärfahrzeuge in dunkler Nacht die Toten aus Bergamo holen mussten, stauten sich 1918 zweihundert Särge auf einem New Yorker Friedhof, weil die Gräber nicht schnell genug ausgehoben werden konnten. Die Grippe hatte eine spezifische Gruppe von Einwanderern außerordentlich hart getroffen: die Italiener.

Alles Vergangene ist jetzt und alles Ferne ist nah. Kein noch so großer räumlicher oder zeitlicher Abstand in den Erzählungen kann mehr Distanz schaffen. Das gilt, wenn Kupferschmidt am Anfang von einem kleinen Jungen in Westafrika berichtet, der im Dezember 2013 mit als Erster einer Ebola-Epidemie zum Opfer fiel. Das gilt auch, wenn Nathan Wolfes The Viral Storm (auf deutsch Virus: Die Wiederkehr der Seuchen) in Thailand beginnt, wo im Dezember 2003 ein anderer kleiner Junge an der neu aufgetretenen Vogelgrippe starb.

Der amerikanische Virologe Wolfe skizziert in seinem Buch ebenfalls historische Ausbrüche, hat den Blick aber fest auf die Zukunft gerichtet. Denn er arbeitet an einer Utopie, die angesichts unserer aktuellen Lage fast unvorstellbar scheint: Wolfe möchte ein Virenfrühwarnsystem einrichten. Als globales Immunsystem soll es das Auftreten neuer und bereits gefürchteter Erreger antizipieren oder wenigstens so schnell registrieren, dass eine großflächige Ausbreitung verhindert werden kann.

Für eine pandemiefreie Zukunft müssten biologische und digitale Daten aus verschiedenen Quellen integriert werden: Wo sind die Menschen? Was sorgt sie? Womit sind sie infiziert? Wohin bewegen sie sich? Mit wem stehen sie in Kontakt? Große Populationen können und sollen nicht überwacht werden. Stattdessen setzen die Forscher auf Menschen, die aufgrund ihres Standorts oder ihres Verhaltens ein hohes Infektionsrisiko tragen.

Zu diesen viralen Wachposten gehören etwa all jene, die im zentralafrikanischen Regenwald Primaten und andere Wildtiere jagen, zerlegen und essen. Über deren Blut und andere Körperflüssigkeiten kommen sie mit neuartigen Mikroben in Kontakt, die möglicherweise im Menschen ausharren und irgendwann ausbrechen können. Über Routinekontrollen in lokalen Labors sollen diese biologischen Zeitbomben künftig aber aufgespürt und entschärft werden.

Neben der biologischen Überwachung könnten digitale Daten viral chatter vermelden, also potenziell krankheitsbezogene Auffälligkeiten. Alarmierend wäre beispielsweise die lokal gehäufte Recherche von schweren Symptomen im Netz. Die Nutzungsmuster mobiler Geräte lassen außerdem Kontakte zwischen Menschen nachvollziehen. Das sind Daten, die auch jetzt schon in Bezug auf COVID-19 und die freiwillige soziale Isolierung der Bevölkerung ausgewertet wurden.

Das ist umstritten, aber gibt es eine Wahl? Wolfe zufolge können wir bei Ausbrüchen vorerst nur hektisch reagieren, schnell Impfstoffe und Medikamente entwickeln sowie unser Verhalten ändern. Und wer würde hier widersprechen? Doch die Frequenz der Ausbrüche könnte noch zunehmen, weil uns unsere globalisierte Lebensweise verwundbar macht. So exquisitely susceptible to pandemics sei unsere moderne Gesellschaft, schreibt Wolfe, also ganz außerordentlich anfällig für Pandemien.

Erstmal losbauen, bitte! – Arbeitsbedingungen im Literaturbetrieb

Eine Kolumne von Jasper Nicolaisen

Bücher schreiben ist manchmal wie Fertighäuser bauen. Die Arbeitsbedingungen sind aber bedeutend schlechter.

Ich freue mich! Eine Mail von der Agentur, dass es zwar jetzt in Corona-Zeiten schwierig sei, überhaupt noch Manuskripte zu verkaufen, dass aber einer der beiden infrage kommenden Verlage nach Lektüre von Exposé und Textprobe gern das ganze Manuskript hätte – na, sagt die Agentur, bisschen viel des Guten, so hundertzwanzig Seiten werden es doch fürs Erste auch tun.

Ich freue mich, ehrlich. Es ist gut, dass die Agentur am Ball geblieben ist, es ist schön, dass ein Verlag sich interessiert, es wäre eine sehr große Freude, wenn das lang überlegte Buch Wirklichkeit werden würde. Und doch spüre ich einen Hauch von Müdigkeit. Es fällt schwer, die Hände auf die Tastatur zu legen. Ich hab´s halt schon so oft erlebt und stand so oft bei anderen daneben. Gefällt uns super, sagen die Verlage. Schreiben  Sie doch bitte erstmal das ganze Buch. Ohne dass wir irgendwas zusichern oder unterschreiben. Dann sehen wir weiter. Vielleicht – sehr oft – haben wir dann doch keine Lust mehr auf das Buch. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre und nicht unseren Erwartungen entspricht. Ganz im Gegenteil, es ist super. Aber. Es gibt unvorstellbar viele  „Abers“. Es passt nicht ins Programm. Es ist nicht wie die anderen Bücher. Es ist zu sehr wie die anderen Bücher. Ich hatte vergessen zu sagen, dass wir dieses Jahr gar kein Geld mehr haben.

Und nicht nur das. Oft ging es danach noch weiter mit der Unsicherheit. Gekauft haben wir es zwar, aber es wird doch nicht veröffentlicht. Veröffentlicht wird es zwar, aber ein Werbebudget haben wir dieses Jahr leider nicht mehr. Wir haben es zwar veröffentlicht und auch beworben, aber es hat sich nicht verkauft. Oder 15% zu wenig.

Aber schicken Sie gerne mal wieder was. Top-Autor, gerne wieder. Wenn Sie wieder mal was haben, immer her damit! Sie schreiben ja so toll. Ich bewundere Ihre Arbeit. Nicht böse sein, gell?

Ich muss dazu sagen, dass es sich bei meinem geplanten Projekt – und allen anderen, die ich auf diese Weise habe scheitern sehen –, um marktgängige Unterhaltungsliteratur handelt. Um konfektionierte Ware, die streng definierten Genre- und Stilvorgaben folgt. Wenn ein Verlag von so einem Projekt ein (bereits mit einer Agentur rundgeschliffenes) Exposé und eine längere Textprobe bekommt, weiß er zu 99%, wie das fertige Buch aussehen wird.

Wir reden hier nicht von hoch individuellen, experimentellen Romanen, die ohnehin nur ein Nischenpublikum interessieren – Nischenpublikum, das bedeutet in diesem Fall, ein paar tausend Leute. Solche Bücher, die in der Regel bei Kleinverlagen erscheinen, bedürfen tatsächlich einer sorgfältigen Prüfung und es ergibt Sinn, hier das ganze Manuskript anschauen zu wollen. Zum einen, um beurteilen zu können, was einen da erwartet, zum anderen, weil kleine Verlage solche Projekte oft mit purer Begeisterung in die Welt hieven. Von der nächsten dreibändigen Elfensaga oder dem x-ten Regionalkrimi muss ich als Verlagsmitarbeiter nicht unbedingt restlos begeistert sein. Er muss funktionieren, er muss stimmen, er muss seine Funktion erfüllen. Wenn ich hingegen weiß, dass ein Roman selbst im besten Fall nur die Büromiete für das nächste Buch einbringt, muss ich ihn schon wirklich lieben.

Fein. Dafür bekomme ich als Autor*in auch die Betreuung mit Begeisterung, die Freiheit, einer kreativen Vision zu folgen, die erst mal vielleicht nur ich und die Lektorin verstehen, den Drive, dass die tausend Leute, die dieses Buch lieben werden und es bloß noch nicht wissen, in mühevoller Kleinarbeit davon überzeugt werden.

Aber ich spreche hier von dem Buchäquivalent zu einem Einfamilienhaus in Fertigbauweise. Ich habe übrigens nichts gegen solche Bücher, im Gegenteil. Ich bin sehr für Bibliodiversität. Es soll möglichst alles geben: das wirre Experiment ebenso wie den Badewannenschmöker, die kalte Entzauberung ebenso wie die Wiederverzauberung der Welt nach einem beschissenen Arbeitstag. Hätte ich Dünkel gegenüber Unterhaltungsliteratur, würde ich wohl kaum welche schreiben wollen. Nein, mein Punkt ist folgender:

Um bei dem Beispiel mit dem Fertighaus zu bleiben: Wenn ich den Grundriss kenne und mich überzeugt habe, dass die Baufirma ähnliche Häuser hier und da schon mal auf eine Wiese gestellt hat, dann sollte ich mich entscheiden können, ob ich das Haus auch will oder nicht oder ob wir vielleicht am Grundriss noch ein bisschen herumradieren müssen, bis es für mich passt. Dann muss ich mindestens eine Anzahlung leisten, damit die Bagger anrücken.

Was allzu oft geschieht, ist aber, dass gerade große Publikumsverlage mit breitem Programm bis zur Drucklegung und darüber hinaus wirklich jedes Risiko auf die Schreibenden abwälzen wollen. Es heißt dann gewissermaßen: Bauen Sie doch bitte schon mal los. Wir zahlen noch nicht, wir gucken erst mal. Haben Sie vielleicht auch blaue Fenster? Geht es doch unterkellert? Meine Tante wünscht sich ein Schloss. Zelte sind ja jetzt sehr gefragt, gerade wegen der Heizkosten … Leider, leider richten wir an der Stelle jetzt doch ein Naturschutzgebiet ein. Oh, meine Vorgängerin hat leider nicht bedacht, dass wir ja gar kein Geld zum Bauen haben. Pech aber auch. Nichts für ungut. Gerne wieder. Wenn Sie mal wieder was anzubieten haben … Ihre Häuser sind die schönsten! Bauen Sie doch gleich mal wieder los, gleich da drüben. Vielleicht diesmal so im Mid-Century-Stil, das soll jetzt sehr gefragt sein …

Gründe dafür gibt es viele. Zum einen sind große Verlage auch nur Firmen mit vielen Abteilungen, die sich alle rechtfertigen müssen. Vom Layout bis zum Vertrieb will jeder noch irgendwie mitreden, um zu zeigen, dass es gerade auf ihn besonders ankommt und dass die anderen ohne ihn verloren wären. Hinzu kommt die tiefe Unsicherheit, die die Branche seit geraumer Zeit erfasst hat. Niemand weiß so richtig, wie es mit Büchern weitergeht. Die gesamte Mittelklasse, sowohl an Verlagen als auch im Programm, was die Auflagen angeht, wurde weggespart. Es gibt zunehmend  ganz groß und ganz klein. Jedes Buch muss Bestseller sein, es gibt kaum noch Spielräume für Titel, die so mäßig gehen.

Und hier unterscheidet sich eben die Buchbranche nicht von allen anderen Produktionszweigen. Der Nimbus der großen Kunst verschleiert oft den Blick dafür, dass die Kulturindustrie auch nur eine Industrie ist, und Autor*innen ihre Arbeitskraft verkaufen wie Kassierer*innen und freiberufliche Therapeut*innen. Und wie in allen Feldern wird das Produktionsrisiko so weit wie möglich nach unten durchgereicht. Die Produktion wird ausgelagert, und wenn alles schief geht, gehen zuerst die Zulieferer pleite, nicht die große Player.

Das alles soll nicht larmoyant klingen. Mich zwingt niemand, Bücher zu schreiben und sie verkaufen zu wollen. Und immerhin habe ich Angebote, kann ich mich verwirklichen, wie es andere nicht dürfen. Aber es sollte doch festgehalten werden: Das Verwirklichen ist allzu oft nur der Zuckerguss auf dem recht bitteren Gebäck der Produktionsverhältnisse, die beim Schreiben nicht anders sind als anderswo.

Als Franz K. aus unruhigem Fieberschlaf erwachte…

… fand er sich in einem neuen Staat wieder

von Florian Keisinger

Der folgende Text ist das Resultat der Lektüre von Rainer Stachs lesenswerterKafka-Biographie in drei Bänden, an der Stach insgesamt 18 Jahre gearbeitet hat und die zwischen 2002 und 2014 im S. Fischer Verlag erschienen ist. Zudem gibt es die Bücher auch in einer limitierten Gesamtausgabe im Schuber, inklusive eines Zusatzbandes „Kafka von Tag zu Tag. Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse“ und eines historischen Stadtplans von Prag, auf dem sich die Stationen im Leben Kafkas anschaulich nachvollziehen lassen. Einschließlich der Ereignisse während des endgültigen Zusammenbruchs des Habsburgerreiches im Oktober 1918 und der Ausrufung des tschecho-slovakischen Staates, wovon Kafka jedoch, trotz unmittelbarer Nähe, kaum etwas mitbekommen haben dürfte.

Am 30. April 1918 kehrte Franz Kafka aus Zürau nach Prag zurück. In Zürau, einem kleinen Ort in Westböhmen, hatte er, vom Kriegsdienst freigestellt, acht Monate zusammen mit seiner Schwester Ottla auf deren Gut verbracht. Neben Sonnenbaden und dem Verfassen von Aphorismen („Zürauer Aphorismen“) hatte er sich dabei vor allem der Gartenarbeit gewidmet – und sich endgültig von seiner Langzeitverlobten Felice Bauer getrennt.

Dem vorangegangen war ein Blutsturz am Morgen des 17. April 1917, der nicht nur den Beginn einer tödlichen Lungentuberkulose markierte, sondern Kafka auch zu einem lange hinausgezögerten Doppelentschluss veranlasste: Zum einen, das Projekt Ehe ein für alle Mal zu begraben; zum anderen, seine Tätigkeit als Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt zu beenden (Den ersten Entschluss hielt er nicht lange durch, kurze Zeit verlobte er sich erneut; der zweite scheiterte am Widerwillen seiner Vorgesetzten und wurde in einen mehrmonatigen Erholungsurlaub umgewandelt).

Bei seiner Rückkehr fand er Prag in einem Zustand vor, der das Resultat seiner eigenen Phantasie hätte sein können: Militärischer Zusammenbruch und politische Auflösung kennzeichneten das Stadtbild; es drohten Hungersnot und Bürgerkrieg. In großer Eile (und mit Weitsicht) hatte Kafkas Vater Hermann den familieneigenen Galanteriewarenladen gegen ein unscheinbares Mietshaus eingetauscht; als deutschstämmige Juden galt es vorsichtig zu sein im überbordenden Taumel tschechischer Nationalisten.

Hinweise darauf, dass Kafka selbst die Entwicklungen mit Sorge verfolgte, finden sich indes nicht. Während der umtriebige Max Brod in die Rolle des Politikers schlüpfte und als Mitglied des neu geschaffenen „Jüdischen Nationalrates“ die Interessen der jüdischen Bevölkerung vertrat, schien Kafka die Ereignisse mit gleichmütiger Distanz zu verfolgen. Die Nachmittage, so erfährt man von seinem Biographen Reiner Stach, verbrachte er im Prager „Institut für Pomologie, Wein- und Gartenbau“, wo er lernte, einen Schrebergarten fachmännisch zu betreiben; außerdem nahm er Hebräisch-Unterricht und war wieder in die elterliche Wohnung eingezogen.

Dort ereilte ihn am 14. Oktober ein hohes Fieber; er hatte sich, wie viele andere auch, mit der Spanischen Grippe angesteckt. Zu den Merkmalen der Krankheit zählte, dass sie gerade die scheinbar Gesündesten und Vitalsten in der Alterskohorte der 20- bis 40-Jährigen am härtesten traf; Kafka war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Allein in Prag erlagen in den Oktoberwochen 1918 etwa 200 Menschen am Tag der Pandemie, rund 15 Prozent der Bevölkerung galten als infiziert; wer rasch und richtig versorgt wurde, dessen Überlebenschancen lagen bei 97 Prozent. Schulen, Kinos und Theater waren geschlossen, Krankenhäuser und Leichenhallen überfüllt, der Beginn des Wintersemesters verschoben; Menschenansammlungen galt es zu meiden, was in Zeiten von Staatszusammenbruch und Revolution leichter gesagt als getan ist.

Während Kafkas Fieber auf über 41 Grad anstieg und er in einen Zustand des Deliriums verfiel, in dem ein Organversagen nicht ausgeschlossen war – zumal sich auch noch eine Lungenentzündung eingestellt hatte –, spielten sich direkt vor seinem Fenster historische Szenen ab. Die letzten verbliebenen einsatzfähigen (und einsatzwilligen) Kontingente der einst mächtigen k.u.k.-Armee brachten ihre Truppen in den Einfallstraßen rund um den Altstädter Ring in Stellung; es zirkulierten Gerüchte, laut denen die Ausrufung eines unabhängigen tschechischen Staates unmittelbar bevor stehe. Doch handelte es sich dabei um Fehlinformationen, weswegen sich die Menge gegen Abend auflöste und auch die Soldaten – zum letzten Mal in der jahrhundertelange Geschichte Habsburgerreiches – wieder abzogen. Von der endgültigen „Liquidation des alten Staates“ sprach tags darauf das „Prager Tagblatt“.

Wieviel Kafka von alledem mitbekommen hat, ist nicht bekannt; ob und inwiefern es ihn überhaupt berührt hätte, schwer zu sagen. Vermutlich hätte er sich, wie schon im August 1914, diskret unters Volk gemischt und den Tumult schweigend beobachtet.

14 Tage später, am 28. Oktober 1918, wurde im Prager Gemeindehaus der tschecho-slowakische Staat ausgerufen. Mit Gegenwehr war aufgrund der mittlerweile nahezu vollständig eingetretenen Implosion des österreichisch-ungarischen Staates nicht mehr zu rechnen.

Kafka hatte zu diesem Zeitpunkt das Schlimmste überstanden und befand sich auf dem Weg der Genesung. Allerdings sollte es zwei weitere Wochen dauern, bis er wieder soweit bei Kräften war, das Haus zu verlassen.

Was ihm in diesen Wochen des Oktober 1918 widerfahren war, hätte er sich selbst kaum besser ausdenken können: Als Bürger der Habsburgermonarchie war er in einen unruhigen Fieberschlaf verfallen, um als Bewohner der neuen tschechischen Demokratie wieder zu erwachen. Den für den Herbst des Jahres 1918 so zeittypischen Widerstreit zwischen Körper und Geschichte, Pandemie und Politik, der die Erfahrungen von Millionen Menschen in Europa prägte – wobei die Pandemie in der öffentlichen Aufmerksamkeit deutlich hinter den politischen Ereignissen rangierte, zumindest im mittleren und östlichen Europa –, Kafka erfuhr ihn am eigenen Leib.

Wobei die Pandemie, das gilt es der Einordnung halber zu betonen, in der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen (und im diametralen Gegensatz zur Corona-Situation des Jahres 2020) deutlich hinter den politischen Ereignissen rangierte, insbesondere in den Gesellschaften des mittleren und östlichen Europas, die am gravierendsten vom Ende des Krieges betroffen waren. Dies verdeutlicht ein Blick in die Zeitungen, deren Berichterstattung sich vor allem mit den Folgen des Krieges und den daraus resultierenden revolutionären Zuständen auf den Straßen befasste. Beiträge zur parallel grassierenden Spanischen Grippe rückten da in den Hintergrund; sie finden sich überwiegend auf den hinteren Seiten der täglich mehrfach erscheinenden Tagespresse. Hinzu kommt, dass die Sensibilität der Menschen nach den Erfahrungen von vier Jahren Krieg und Zerstörung gegenüber Krankheit und selbst Tod eine andere war als heute; zumal gegenüber einer Krankheit, die zwar weltweit mehr Menschenleben forderte als der Ersten Weltkrieg (was jedoch erst im Rückblick so richtig deutlich wurde), von der sich jedoch auch die überragende Zahl der Infizierten binnen weniger Wochen wieder erholte.

Kafka war hier keine Ausnahme. In seinen Aufzeichnungen finden sich keine Hinweise darauf, dass er seiner Ansteckung mit der Spanischen Grippe eine übermäßige Bedeutung beigemessen hätte. Seine Pflege erfolgte zu Hause und durch die Familienangehörigen, von denen sich glücklicherweise keiner ansteckte. Und auch in der Rückschau schien sich das Ereignis rasch verflüchtigt zu haben. Als er sich wenige Jahre später, im April 1924, zur Behandlung seiner Tuberkulose, die mittlerweile auch auf den Kehlkopf übergegriffen hatte, in ein Wiener Krankenhaus begab, hat er bei der Anamnese die Erwähnung der Vorerkrankung aus dem Oktober 1918 schlicht vergessen.

Dennoch erwiesen sich die Langzeitfolgen der Spanischen Grippe für Kafka letztlich als fatal. Und nicht nur historisch, sondern auch persönlich markierte der Oktober 1918 für ihn eine tiefgreifende Zäsur. Finanziell hatte er fast sein gesamtes Vermögen mit Kriegsanleihen verloren, weswegen ihm die für nach dem Krieg erträumte Existenz als freier Schriftsteller verwehrt blieb (sofern er den Mut zu diesem schon mehrfach verschobenen Schritt überhaupt aufgebracht hätte). Gesundheitlich vermochte er sich nie vollständig zu erholen. Die Schwächung des Körpers in Folge der Spanischen Grippe hatte die nur scheinbar geheilte Tuberkulose zurückgebracht; sie sollte ihn nicht wieder loslassen. Sechs Jahre später, ein spätes Opfer der schwersten Pandemie des 20. Jahrhunderts, wird er ihr 40-jährig erliegen.

Beitragsbild von Anthony DELANOIX