Autor: Simon Sahner

Literaturwissenschaftler und Doktorand der Neueren deutschen Literaturgeschichte am GRK1767 - Faktuales und fiktionales Erzählen in Freiburg im Breisgau.

Ein Zimmer für sich allein, seine Fenster / Writer’s Rooms

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein Zimmer für sich allein, seine Fenster

von Isabel Zapata (übersetzt von Angelica Ammar)

I.

Im Oktober 1928 sprach Virginia Woolf an zwei Colleges der Universität Cambridge, dem Girton College und dem Newnham College, über Frauen und Literatur. Die Vorträge waren so erfolgreich, dass sie im Jahr darauf unter dem Titel Ein Zimmer für sich allein bei Hogarth Press veröffentlich wurden, dem Verlag, den die Schriftstellerin mit ihrem Mann Leonard gegründet hat.

Häufig unerwähnt bleibt, dass diese Vorträge in Colleges gehalten wurden, die weiblichen Studenten vorbehalten waren, Woolf sich also an ein rein weibliches Publikum gerichtet hat. Was ein Großteil der spanischen Übersetzungen jedoch nicht berücksichtigt, das englische Pronomen one (‚man‘) wird in ihnen mit der männlichen Form uno übersetzt, mit der man sich im Spanischen an ein gemischtes Publikum richtet, und nicht mit der weiblichen Form una. Wie anders wäre es wohl auch im Deutschen, statt ein ums andere Mal man denkt (im Spanischen: uno piensa) frau denkt (una piensa) zu lesen – schließlich ist es Virginia, die denkt. Es wäre sehr anders, zumindest für diejenigen unter den Leserinnen, die sich Gedanken über eine ideale Umgebung fürs Schreiben und die Rolle anderer Frauen in unserem künstlerischen Projekt machen.

Isabel Zapata (©El Imparcial)

Auch wenn die Hindernisse, die eine Schriftstellerin zu überwinden hat, von ihren jeweiligen Lebensumständen abhängen, die wiederum häufig auf ihr Geschlecht zurückzuführen sind, haben Frauen doch meistens mit materiellen Grundvoraussetzungen zu kämpfen, die den Schaffensprozess

beeinträchtigen: Finanzielle Sorgen, ständige Unterbrechungen durch häusliche Pflichten und das schwere Gewicht eines hauptsächlich männlichen Literaturkanons behindern den kreativen Impuls. Um diese und andere Schwierigkeiten zu überwinden und eine eigene Stimme zu entwickeln – und ihr Gehör zu verschaffen – muss eine Frau, so Woolf, „über Geld und ein eigenes Zimmer verfügen, in dem sie schreiben kann“. Ein eigenes Zimmer, würde ich hinzufügen, das nicht nur vier Wände, einen Schreibtisch und einen Stuhl beinhaltet, sondern auch die Möglichkeit, einen freien und bereichernden Dialog mit anderen Frauen aufzunehmen. Das berühmte Zimmer könnte dann weibliche literarische Tradition heißen, und seine Fenster gehen auf neue Zimmer hinaus, in denen andere Frauen lesen, schreiben und in einer Gemeinschaft denken.

II.

Alle Vorstellungen, die ich hinsichtlich der Umstände und des Zwecks von literarischem Schaffen hatte, wurden umgeworfen, als meine Tochter Aurelia im Februar dieses Jahres geboren wurde. Mit ihr überrollte mich nicht nur eine ungekannte Lawine aus Geschrei und Exkrementen, es kam auch eine Pandemie, die das Leben eines ganzen Planeten von Grund auf veränderte. Im öffentlichen Raum nicht mehr präsent zu sein, hat unseren Blick auf soziale Kontakte und Privatsphäre verschoben und uns dazu gebracht, neue Brücken der Kommunikation zu errichten.

Während meiner Wochenbett-Quarantäne, auf die die Covid-Quarantäne folgte, wurde ich eingeladen, eine Schreibwerkstatt mit Fokus auf dem Muttersein zu betreuen. Ich war mir erst nicht sicher, ob ich zusagen sollte. Ich hatte noch nie eine Schreibwerkstatt geleitet, erst recht nicht virtuell. Wie sollte ich über einen Bildschirm eine Verbindung zu anderen Frauen herstellen? Was konnte ich, verletzlich und zerbrochen, wie ich mich fühlte, einer Gruppe Fremder beibringen? Diese Ängste zu ignorieren, war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe: Vom ersten Samstagvormittag an hat die Werkstatt ihr ursprüngliches Ziel weit übertroffen, sie wurde zu einem Fenster meines eigenen Zimmers.

Unter welchen Umständen und mit welcher Absicht wird heutzutage Literatur geschrieben? Ich weiß nicht, ob meine Erfahrung mit der Schreibwerkstatt eine so komplexe Frage beantwortet, doch mit anderen Frauen über Themen zu sprechen, die uns betreffen – die bittersüße Mutterschaft, das Aufziehen von Kindern als politisches Manifest, die Kraft unserer Geschichten –, haben mich darin bestärkt, dass die Literatur, die mich interessiert, in der Gemeinschaft entsteht, auf Dialog, Freundschaft und Miteinander basiert. Und dass Verbundenheit ein seltsames Phänomen ist, das ungeachtet der physischen Distanz entstehen kann.

III.

Ursula K. Le Guin schreibt am Ende ihres Prologs zu Words Are My Matter, dass viele Menschen ihre beiden Hauptbeschäftigungen für unvereinbar halten könnten: Mutter von drei Kindern und Schriftstellerin zu sein. Nachdem sie eingestanden hat, dass es nicht einfach war, beiden Aufgaben gleichzeitig gerecht zu werden, versichert sie jedoch, dass sie alles andere als unvereinbar sind. „Im Gegenteil, jeder Bereich nährte und unterstützte den anderen so tiefgreifend, dass sie für mich im Rückblick untrennbar geworden sind.“

Mir, die ich als Frau schreibe oder zu schreiben versuche, mit allen Schwierigkeiten und Vorteilen, die es beinhaltet, machen diese Worte von Le Guin Hoffnung. Es geht mir weniger darum, mich von meinem Muttersein abzulösen, um zu schreiben, als darum, im Häuslichen einen fruchtbaren Raum für meine Kreativität zu finden. Die Gespräche mit anderen Frauen wurden zu einem zentralen Element in diesem Prozess. Mehr denn je haben sie heute einen Raum in meinem Zimmer.

 

Writer’s Rooms

von Mithu Sanyal

Zwei Werke haben meine Haltung zum Schreiben maßgeblich geprägt:

Das eine ist Virginia Woolfs Essay A Room of One’s Own, ihre Unabhängigkeitserklärung von den Ansprüchen der Welt, nein – ganz im Gegenteil – ihr Anspruch an die Welt, Nimm mich und mein Schreiben ernst, auch wenn ich eine Frau, BIPOC, arm, was auch immer bin. Gib mir einen Raum, an dem mein Schreiben die erste Priorität ist.

Das andere ist ein Selbstporträt von Weegee, der auf einem Schemel vor dem aufgeklappten Kofferraum seines Chevy sitzt und in seine Reiseschreibmaschine hineinhackt, als könnte ihn nichts davon abhalten. Es ist Nacht, in der einen Hand hält er eine Taschenlampe, aber was er zu Papier bringen muss, ist roh und dringend genug, dass er trotzdem schreibt.

Ich habe diese Bilder damals nicht zusammen bekommen: Virginia Woolf in ihrem Zimmer für sich allein und Weegee an der Autobahn des Lebens. Inzwischen weiß ich, dass Literatur in den Ritzen der Zeit entsteht, wenn ich von meinem Laptop aufstehe oder Gemüse einkaufe und ganz viel davon im Auto. Geschichten und Charaktere müssen nicht erfunden werden, sie sind da, die Arbeit ist, sie aufzuschreiben und aus etwas Lateralem und Lebendigem, etwas Lineares und immer noch Lebendiges zu machen, und für diese Arbeit brauche ich einen Raum für mich allein, Zeit für mich allein, wenn das Kind im Bett und alles Essen gekocht und mein innerer Zensor durch den Zeitdruck ausgeschaltet ist.

Mithu Sanyal (©Regentaucher-Fotografie)

Aber was ich vor allem brauche, ist eine Deadline. Einen Verlag, eine Zeitschrift, eine Person, die auf meinen Text wartet. Wenn ich vor der Entscheidung stehe, in den Park zu gehen oder zu schreiben, dann hält mich nur die Sehnsucht einer anderen Person am Laptop. Und das Wissen darum, dass es dort draußen Menschen gibt, für die dieser Text relevant sein wird. Die mit ihm in Kommunikation treten werden. Literatur ist nichts für die Schublade, nichts für den leeren Raum. Schreibende brauchen einen Resonanzraum. Texte brauchen einen Resonanzraum.

Zum Glück lesen Menschen Bücher. Menschen lesen Bücher, so wie ich Bücher lese, damit ihre Seele gerettet wird, um zu fühlen und sehen, dass es möglich ist, dieses andere Leben zu leben. Dass andere Menschen sich über ähnliche Dinge Gedanken machen und dass es noch ganz andere Dinge gibt, über die wir uns Gedanken machen können, und noch ganz andere Gedanken.

Der Schmerz der Corona-Krise war, dass ich mich dadurch von meinen Erinnerungen abgeschnitten fühlte, von meinen Phantasien, von der Person, die ich war. Als Autorin schürfe ich in meinem Körpergedächtnis nach den goldenen Nuggets von konzentrierter Intensität, wenn alles zusammen kommt und eine Erfahrung plötzlich beginnt zu leuchten: die blaue Milch der Kindheit, der Geruch von Sonne auf der Haut eines anderen Menschen, die von der freundlichen Feuchtigkeit eines dünnen Schweißfilms bedeckt ist. Doch wann immer ich nun zu meinem happy place, meinem inneren writer’s room, ging, war dort ein rot-weißes Flatterband, das signalisierte: Betreten verboten.

Zu diesem Zeitpunkt begann ich eifersüchtig auf die Charaktere in meinen Geschichten zu werden, weil sie Dinge tun durften, die ich um jeden Preis vermeiden musste, mehr noch, sie durften davon träumen. Während wir als Gesellschaft unser Träumen auf einen Zeitpunkt nach der Krise vertagen sollten. So als würden uns Träume, Visionen, (U)Topien, nicht helfen, an das andere Ende der Nacht zu gelangen.

Und das ist der dritte Raum, den Texte brauchen, den Raum der Utopie, an dem es nicht darum geht, wie wir uns an dem Faktischen abarbeiten, sondern welche Welt wir erschaffen wollen. Zusammen.

Wir brauchen Geschichten. Geschichten haben mich gerettet, als ich keinen sicheren Ort hatte, aber ich kann verdammt noch einmal bessere Geschichten erträumen, wenn ich nicht die ganze Zeit damit beschäftigt bin, zu überleben.

 

In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.

 

Photo by Eryka on Unsplash

Keine weiten Felder – Deniz Ohdes “Streulicht”

von Simon Sahner

 

Mit acht Schlägen auf die Bass Drum, die klingen wie das Wummern einer Maschine, beginnt der Song Iron Man der Band Black Sabbath. Dann fängt Ozzy Osbourne an, den Mann aus Stahl zu beschreiben: „Has he lost his mind, can he see or is he blind – nobody wants him, he just stares at the world.“ Der fünfzig Jahre alte Song passt (fast zu gut) in die Welt der Erzählerin aus Deniz Ohdes Debütroman Streulicht (Suhrkamp). Wenn das Album der britischen Heavy-Metal-Band am Abend im Partykeller bei ihrem Schulfreund Pikka in Dauerschleife läuft, muss sie an die schwieligen Hände ihres Vaters denken, der im nahen Industriepark arbeitet.

Das Umfeld, in dem die Coming-of-Age-Geschichte der namenlosen Erzählerin spielt, wirkt nicht unvertraut: eine Kleinstadt irgendwo in Deutschland, ein Fluss fließt, eine Fabrik verdeckt den Horizont und am Abend sitzen die Jugendlichen mit Sixpacks auf der Brücke. So einfach macht es uns der Roman aber nicht. Der Vater der Erzählerin ist ein  Industriearbeiter, ihre Mutter ist als junge Frau aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Dadurch gerät die erzählende Figur in eine Position intersektionaler Marginalisierung. Christian Baron hat im Imagevergangenen Jahr in Ein Mann seiner Klasse beschrieben, wie ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, das Gewalt, Verwahrlosung und Vernachlässigung durch Familie und Gesellschaft ausgesetzt ist, seinen Weg aus diesem Umfeld findet. Die Protagonistin in Streulicht wächst auf den ersten Blick in ähnlichen Umständen auf. Vater und Mutter streiten viel und manchmal kommt es zu Gewalt. Dann muss sie zum Großvater, der in der Wohnung im Erdgeschoss wohnt. Die Wohnung ist oft schmutzig, Hausaufgaben macht sie, während nebenher Talkshows laufen, und der Vater muss nachts aus der Kneipe abgeholt werden. Doch zu diesen Umständen, in denen die Erzählerin aufwächst, kommt zusätzlich die Diskriminierung, der sie aufgrund der Herkunft ihrer Mutter und des Vornamens, den ihre Eltern ihr gegeben haben, ausgesetzt ist.  All diese Lebensumstände signalisieren für die deutsche Mehrheitsgesellschaft einen bestimmten Platz, an den die Erzählerin gehört. Dass sie an diesem Ort aber nicht bleibt, davon handelt Streulicht.

Warum bist du hier?

Die symbolische Verbindung zwischen dem hart arbeitenden Vater und dem Song von Black Sabbath (die Band bestand selbst aus ehemaligen Stahlfabrikarbeitern) erscheint also naheliegend. Es besteht aber eine zweite, subtilere symbolische Verbindung zur Erzählerin, die  dafür umso stärker ist. Osbourne beschreibt den Iron Man aus einer Außenperspektive, wer oder was ist diese Gestalt, has he thoughts within his head, hat er eigene Gedanken, why should we even care, warum sollten wir uns um ihn kümmern, nobody wants him, he just stares at the world, niemand will ihn, er starrt nur die Welt an, in die er nicht gehört.

Wie der stählerne Mann im Song fühlt sich die Erzählerin immer fehl am Platz. Ein Teil der Gesellschaft scheint allein von ihrer Existenz überrascht zu sein. Als Tochter einer türkischen Mutter und eines Vaters aus der Arbeiterklasse fällt sie durch alle Raster, insbesondere durch die des Erziehungs- und Bildungssystems. Besonders eindrücklich wird das, als die Erzählerin feststellt, dass es keinen Scout-Schulranzen zu kaufen gibt, auf dem ihr Vorname steht – fast als wollte ihr das System Bildung von Beginn an vermitteln, sie gehöre nicht hierher. Dabei ist das Problem gar nicht, dass es in der Vorstellung dieses Systems keinen Platz für intersektional marginalisierte Menschen wie die Erzählerin gäbe, die Irritation entsteht erst, als sie den für sie vorgesehenen Platz nicht einnimmt. Jedes Mal, wenn sie sich vor dem Bildungssystem rechtfertigen muss, wird ihr die Frage nach dem Warum gestellt. Woran hat es gelegen, dass sie nicht weiter kam, warum waren die Noten so schlecht, warum musste sie erst den Umweg über die Abendschule gehen und warum hat sie nicht einfach lauter gesprochen? Erst langsam wird beim Lesen klar, dass die eigentliche Frage, die hinter all den anderen steckt, die Frage ist: Warum bist Du hier?  Warum bist Du hier am Gymnasium, an der Uni, hier, wo jemand wie du nicht hingehört?

Die einzige Erklärung, die Lehrer*innen, Schulrektor*innen und anderen Vertreter*innen des Bildungssystems in den Sinn kommt, ist die teilweise Verleugnung der Identität der Erzählerin. Denn, wenn sie als Tochter einer sogenannten Migrantin und eines Arbeiters eine Bildungshürde überwindet, erklärt man ihr jedes Mal freudig, dass sie wohl nicht so sei wie die Anderen. In den Augen des Systems ist sie durch ihren Bildungsaufstieg nicht mehr Repräsentantin der Anderen; der Menschen nämlich, die aufgrund von Bildungsdiskriminierung diesen Punkt meist gar nicht erst erreichen können. Die Protagonistin schafft diesen Weg einem System zum Trotz, das ihr vom ersten Tag an klar gemacht hat, dass allein ihr Name schon ein Zeichen dafür ist, dass dieser Ort nicht für sie vorgesehen ist.

Kinder mit Namen im Lesebuch

Der Widerstand, den das System für die Erzählerin bereithält, wird umso deutlicher dadurch, dass Ohde ihr zwei Kontrastfiguren gegenüberstellt, deren Weg durch die Bildungsstufen niemals in Frage steht. Mit Pikka und Sophia, zu deren Hochzeit die Erzählerin am Beginn des Romans wieder in ihren Heimatort kommt, ist sie zwar befreundet, abgesehen vom gemeinsamen Wohnort könnten die Lebenserfahrungen jedoch unterschiedlicher nicht sein. Pikka, dessen Vater eine Führungsposition in einer Firma im Industriepark hat, wird zunächst in die Dachwohnung bei seinen Eltern ziehen, dann später in das bereits gekaufte Hinterhaus und einen ähnlichen Job bekommen wie sein Vater. Während Pikkas Vater den Prototyp des mittelständisch erfolgreichen Angestellten verkörpert, ist Sophias Mutter als die perfekte Hausfrau gezeichnet, immer ordentlich, engagiert im Ort und stets freundlich, und genauso wird ihre Tochter einmal sein. Sophia ist diejenige, die gemeint ist, als die Lehrerin am ersten Schultag verkündet, in der Klasse gebe es jemanden, die den gleichen Namen habe wie eine Figur aus dem Lesebuch. Damit sind die beiden Freund*innen der Erzählerin aber auch ein Pikka und eine Sophia, sie stehen exemplarisch für die Gruppe der Kinder aus behüteten Mittelschichtsfamilien, in denen alle klassisch deutsche Vornamen haben wie Anna, Julia, Sabrina, Sandra und eben Sophia. Namen, die auf Scout-Schulranzen stehen und die Figuren in Grundschullesebüchern tragen. Der Name der Erzählerin bleibt im gesamten Roman ungenannt.

In dieser Beispielhaftigkeit der Figuren Pikka und Sophia liegt auch eine der wenigen Schwächen in einem ansonsten hervorragenden Debüt. Dabei geht es nicht um die Plausibilität der Figuren, auch nicht grundsätzlich um ihre Freundschaft mit der Erzählerin, sondern um die erzählerische Diskrepanz zwischen der ausdifferenzierten Persönlichkeit der Erzählerin und der Schablonenhaftigkeit der Kontrastfiguren. Pikka und Sophia sind Abziehbilder, Klischeefiguren, die Erzählerin dagegen eine detailliert gezeichnete Person. Sie ist kein Beispiel, eben weil diese Figur zwischen allen Stühlen sitzt, weil sie im Keller von Pikka Black Sabbath hört und Gin Tonic trinkt und Abitur macht und mit Cansu im Auto vor der Abendschule kifft; weil sie beim Karneval dabei ist, von Sophias Eltern eingeladen wird und trotzdem niemand außerhalb ihrer Familie versteht, warum sie eben doch nicht dazugehört und ihr rassistische Begriffe nachgerufen werden. Erst langsam erkennt sie Zusammenhänge, die anderen nicht einmal auffallen. Warum die Disziplin, die sie sich in der Schule aneignen musste, sie als Studentin zur Außenseiterin macht, dass nicht alles, was erwartet wird, auch verpflichtend ist und was das Lesen der ZEIT in der Öffentlichkeit für einen Effekt hat. Deniz Ohde hat ähnlich wie Olivia Wenzel in 1000 serpentinen angst (Rezension hier) mit ihrer Erzählerin eine glaubhafte Figur geschrieben, die niemanden außer sich selbst repräsentiert, an deren Lebensweg aber viel ablesbar und vieles deutlich wird, das über sie hinaus weist.

Besonders tritt dabei in Streulicht hervor, wie rassistische Diskriminierung und Stigmatisierung ablaufen, die sich nicht vordergründig in Hass und Gewalt äußern, sondern ganz nebenbei. Offener Rassismus ist in Streulicht oft eine dräuende Angst vor Neo-Nazis in Springerstiefeln und Verunsicherung durch die Anschläge zu Beginn der 90er Jahre. Diese Form der rassistischen Gewalt schwelt aber die meiste Zeit im Hintergrund des Alltags der Erzählerin. Nur einmal berichtet die Erzählerin von einem Kind, das sie direkt mit einem rassistischen Begriff beschimpft, aber auch das bleibt nur angedeutet. Ständig präsent in der Erzählung ist aber das Bewusstsein im Alltag vorsichtig sein zu müssen, besser alles genau zu wissen, als nachfragen zu müssen – am besten nicht aufzufallen. Die Erzählerin erkennt, dass Unwissen bei ihr etwas anderes bedeutet als bei Sophia, sie ist diejenige, die gefragt wird, ob deutsch ihre Muttersprache sei, sie wird im Studium für eine Erasmus-Studentin gehalten und betont irgendwann selbst, sie sei nicht so wie andere mit türkischem Elternteil. Und dabei wird ihr wiederholt vor Augen geführt, dass dieser Rassismus gerade für sie doch kein Problem sein sollte, eben weil sie ja nicht so sei wie die Anderen. Das ist vielleicht das Schmerzhafteste an diesem Roman. Er zeigt, dass allein die Existenz der Erzählerin als Tochter einer türkischen Mutter und eines deutschen Vaters aus der Arbeiterklasse mit Abitur eine Provokation zu sein scheint.

Coming-of-Age mit Brüchen

Ähnlich wie mit der Erzählerin verhält es sich mit dem Roman. Er verweigert sich vielen Einordnungen, die auf den ersten Blick nahe lägen – für ihn ist das gut. Als Referenzen wurden im Vorfeld oft die französischen Autor*innen Annie Ernaux, Didier Eribon und Edouard Louis genannt, die ähnlich wie Ohde das Überwinden von Klassengrenzen beschreiben, auch Christian Barons Debüt fällt – wie bereits genannt – in diese Kategorie. Doch spielt bei Ohde eben noch das Thema rassistischer Diskriminierung hinein und damit ist Streulicht wie gesagt auch in der Nähe von 1000 serpentinen angst von Olivia Wenzel.

Mehr als die hier genannten, ähnlichen Romane ist Streulicht aber strukturell ein fast klassischer deutscher Coming-of-Age-Roman, in dessen Struktur aber geschickt Brüche eingefügt sind, wodurch die Position der Protagonistin im gesellschaftlichen Gefüge noch einmal deutlicher zum Tragen kommt. An einer der stärksten Stellen des Romans erkennt die Erzählerin das selbst, als sie sich anhand von Teenie-Filmen vorstellt, wie ein Sommer ihrer Jugend aussehen könnte, und feststellt, dass es diesen Sommer für sie nicht gibt:

Nichts daran wäre der charmanten Außenseiterrolle der Mädchen aus den Filmen gleichgekommen, Nichts daran wäre Sophia gleichgekommen, die mit mir auf der Bühne gestanden hatte und sich identifizierte mit dieser Rolle, die Füße auf dem weichen Teppich, an ein Kissen gelehnt auf der Fensterbank. Es waren ungefährliche Veränderungen. Es waren süße Verwirrungen auf weiten Feldern. Es war ein bauchfreies Top und eine sanfte Bräune, die sie tragen würde am Ende des Sommers […].

Durch dieses Bewusstsein für Erzählungen und wen sie repräsentieren, das sich durch den gesamten Roman zieht und ihn dadurch nebenbei auch zu einem Kommentar auf eine bestimmte Sorte von deutschen Coming-of-Age-Geschichten macht, wird Streulicht zu einem hervorragenden Debütroman. Deniz Ohde hat die stilistische Sepia-Melancholie weiter Sommerfelder durch die sprachliche Kühle grauen Industrieschnees ersetzt und damit die Geschichte einer deutschen Jugend erzählt.

Deniz Ohde hat auf Spotify eine Playlist unter dem Titel Streulicht zusammengestellt, die neben dem Song Iron Man, der im Roman selbst vorkommt, eine Vielzahl an Songs enthält, die die Stimmung des Romans aufnehmen, die Handlung kommentieren können oder für die Autorin aus anderen Gründen zu dem Roman gehören. Der Mix, der von Black Sabbath über Cardi B, Tocotronic und bis zu den NoAngels reicht, wird abgeschlossen mit Everything is Everything von Lauryn Hill. Fast jede Zeile des Songs scheint wie für den Roman gemacht, doch vier Zeilen stechen heraus: It seems we lose the game / Before we even start to play / Who made these rules? / We are so confused.

 

Photo by Feliphe Schiarolli on Unsplash

Erschöpfungsfeuilleton – Über journalistische Ohrwürmer

von Simon Sahner

 

Es gibt Songs, die will man immer wieder hören. Man kennt jeden Ton des Intros, jede Zeile der Strophen und den Refrain kann man in jedem Zustand noch mitsingen. Auch wenn es oft nicht die besten Songs sind, haben sie immer wieder den gleichen positiven Effekt – sie machen Spaß. Anders verhält es sich mit einer bestimmten Sorte Meinungsäußerungen im Feuilleton. Auch hier gibt es die Klassiker, die alle kennen, man hat sie in jedem Wortlaut schon einmal gehört. Ihre Ressentiments sind zu anstrengenden Ohrwürmern geworden, die man nicht mehr los wird, und doch wird auch hier der immer gleiche Refrain wiederholt. Während der Song, den alle auf einer Party mitsingen können, die eingeschlafene Fete noch einmal herumreißt, ist die ständig wiederholte Feuilletonmeinung ein Sedativum für die Debattenkultur.

Der Debatten-Ohrwurm ist ein beliebtes Instrument, um für Gesprächsstoff zu sorgen und um Zeitungsseiten, Homepages und Sendezeit mit etwas zu füllen, das nicht nur mit Sicherheit für Aufmerksamkeit sorgt, sondern das auch leicht und schnell herzustellen ist. Einer dieser Gassenhauer ist etwa die Herabwürdigung der Debatte im Internet – ein Diskurs, der nicht in etablierten Zeitungen wie FAZ, ZEIT oder Süddeutschen stattfindet, sondern auf Blogs und in Sozialen Netzwerken. Der Publikationsort diskreditiert scheinbar die Debatte unabhängig davon, wer sie führt. Auch die Frage, ob das deutsche N-Wort gesagt werden sollte oder ob eine bestimmte Bezeichnung für Schaumküsse rassistisch ist, sind häufige Themen. Ein besonders gutes Beispiel ist im weitesten Sinne der Diskurskomplex der sogenannten Identitätspolitik. Adrian Daub hat vor einiger Zeit in der FAZ dargelegt, wie vorhersehbar und repetitiv die zahlreichen journalistischen Kommentare zu Identitätspolitik tatsächlich sind. Einzelne Fälle werden “mosaikartig zu einem großen Panorama bedrohter Meinungsfreiheit und hypersensibler Jugend” zusammengesetzt. Man könne, so Daub, bei jedem dieser Texte Bingo spielen, welcher aus der überschaubaren Zahl der vermeintlichen Skandale als nächstes Beispiel herangezogen wird. Skandale, die sich teilweise beim näheren Hinsehen als gar nicht so skandalös entpuppen.

Besonders gut lässt sich das, was Daub beschreibt, in der NZZ beobachten. Nachdem Donald Trump im November 2016 zum Präsidenten der USA gewählt worden war, schrieb Mark Lilla in der NZZ von den Jugendlichen die im College ermutigt würden „ihre Selbstfixierung weiterhin zu pflegen – durch Studentengruppen ebenso wie durch Fakultätsmitglieder und Administratoren, deren einzige Aufgabe es ist, sich mit “Diversitätsfragen” zu befassen und diesen noch mehr Gewicht zu verleihen.“ Nicht einmal ein Jahr später fragte Lilla erneut in der NZZ rhetorisch ob es verwundere, dass „Studenten des Facebook-Zeitalters eine Vorliebe für Kurse haben, in denen es um ihre Identitäten und um Bewegungen geht, die zu diesen in Bezug stehen? Und ebenso wenig überrascht es, dass sich viele universitäre Gruppierungen anschliessen, die ebenfalls derartige Ziele verfolgen.“ Und nicht einmal ein weiteres halbes Jahr später erklärte Frank Furedi schon wieder in der NZZ die Identitätspolitik vor allem zur Spaltung der Linken. Dieser Reigen an Texten zu dem Thema zieht sich in kurzen Abständen bis in die Gegenwart. Die Wiederholung dieses repetitiven Grundtenors, der Antidiskriminierungsbewegungen unter dem Label der Identitätspolitik Spaltung vorwirft oder sie zu Feinden der Freiheit erklärt, ist besonders in der NZZ augenfällig.

Es gibt aber tatsächlich erschreckend viele dieser stetig wiederholten, vermeintlich streitbaren Meinungsäußerungen: Sei es die Frage, ob angesichts sogenannter Gendersternchen die Ästhetik der deutschen Sprache zugrunde gehe, sei es die Befürchtung, dass aufgrund eines sensibleren Umgangs mit der Darstellung sexualisierter Gewalt Romane wie Vladimir Nabokovs Lolita heute nicht erscheinen dürften (warum es sich bei dieser Sorge um einen Fehlschluss handelt, hat unter anderem Johannes Franzen in der FAZ erläutert). Oder die Behauptung, es gehe bei der Veröffentlichung von Literatur nur um Qualität und nicht auch immer wieder um patriarchale Machtstrukturen.

Das Muster ist und bleibt bei jedem Thema und seiner Wiederholung das gleiche: Aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und kulturellen Verschiebungen sehen sich Vertreter*innen einer etablierten Haltung bedroht und unternehmen den Versuch, die Veränderung zu diskreditieren. Dabei werden Strohmann-Thesen und Popanze entworfen, die oft entweder auf unbegründeten Vermutungen, Generalisierungen oder auf Vorurteilen beruhen und eine Drohkulisse entwerfen, die einer differenzierten Betrachtung selten standhält. Die Identitätspolitik sei die Spanische Inquisition im neuen Gewand, Diskriminierungs- und Traumasensibilität zerstörten die Kultur und das Internet banalisiere den Umgang mit Literatur. Gleichzeitig trägt aber die Strategie des steten Tropfens, der den Stein höhlt, dazu bei, dass die Debattenkultur ermüdet und die wirklich wichtigen Fragen, die all diese Themen berühren, in den Hintergrund gedrängt werden, weil gegen ressentimentgeladene Grundlagenpolemik vorgegangen werden muss.

Der Begriff Ressentiment als Lehnwort aus dem Französischen ist ein Anhaltspunkt, um einem weiteren Zweck dieser Meinungsäußerungen auf den Grund zu gehen. Das Ressentiment, das wörtlich übersetzte Gegengefühl, steht für eine ablehnende Haltung, die vorrangig auf einer emotionalen Ebene stattfindet und zunächst einmal keine belegbare Basis hat. Es ist das diffuse Gefühl, dass einem etwas nicht geheuer ist und man der Sache ablehnend gegenübersteht, ohne, dass man argumentativ sicher begründen könnte warum. Auf eben diese Emotion zielen die meisten dieser Beiträge. Manche von ihnen beruhen sogar selbst darauf. Sie sprechen ein Ressentiment in einem bestimmten Teil der Leser*innenschaft an und umranken es mit vermeintlichen Belegen und scheinbar gut begründeten Argumenten. Damit handelt es sich hierbei nicht nur um diskursermüdende Ohrwürmer, sondern auch um die schriftliche Rechtfertigung von Ressentiments, die als vermeintlicher Beleg für ihre Berechtigung in der Debatte herhalten.

Wenn diese als Debattenbeiträge getarnten Herabwürdigungen so offensichtlich unbegründet, leicht zu widerlegen und oft nur polemisch sind, wieso dann jedes Mal wieder verbal dagegenhalten und so selbst zur Wirksamkeit dieser aufmerksamkeitsökonomischen Strategie beitragen? Das schlichte Ignorieren kann jedoch auch keine grundsätzliche Lösung sein, denn gerade ihre ressentimentbestätigende Wirkung ist im Umgang mit ihnen relevant. Große Pressemedien mögen auf dem absteigenden Ast sein, eine nennenswerte Reichweite haben sie dennoch weiterhin und mit dieser Reichweite werden auch die oben genannten leeren Polemiken und Vorurteile verbreitet und im Diskurs festgesetzt. Ein Widerspruch und eine Klarstellung sind also trotz allem oft Vonnöten.

Und dennoch ist die Reaktion auf diese Ohrwürmer der Debatte ein Dilemma, ein performativer Widerspruch in sich, denn das Entlarven des Ressentiments als solches, verschafft diesem erneut Aufmerksamkeit. Dahinter verbirgt sich das bekannte Prinzip Don’t feed the troll, denn auch wenn die Beiträge in renommierten Medien erscheinen, sind sie doch meist kaum etwas anderes als elaborierte Äußerungen von Debattentrollen, die den Diskurs torpedieren und dabei kulturelles Kapital bei einer bestimmten Gruppe erwirtschaften wollen. Remo Grolimund hat aber schon vor einigen Jahren in einem längeren Beitrag für Geschichte der Gegenwart dargelegt, warum es mit einem simplen Gebot den Troll nicht zu füttern, nicht getan ist. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Debatten gelagert, an zu verschiedenen Punkten befinden sich Diskurse und nicht jeder Troll ist gleich. Es bedarf hingegen, so Grolimund, einer differenzierten Einschätzung der Situation und des jeweiligen Trolls, bevor man reagiert oder eben nicht.

Lohnt es sich jedem Beitrag aus dem Anti-Identitätspolitik-Sperrfeuer der NZZ zu widersprechen? Vermutlich nicht. Es sind inzwischen so viele, dass der einzelne dieser Beiträge kaum noch auffällt und hier ist tatsächlich zu erahnen, dass es um reine Aufmerksamkeit geht. Muss jedes Mal widersprochen werden, wenn kleine Sterne in Texten für den Untergang des kulturellen Abendlandes herhalten müssen? Es kommt darauf an, wer sie äußert und wie und in welchem Kontext. Und muss nun auch zum x-ten Mal erklärt werden, dass die differenzierungsfreie Frontstellung von Debatten im Internet und in etablierten Pressemedien nicht haltbar ist? Auch hier kommt es darauf an, wer sie äußert, aus welchen Gründen und in welchem Rahmen. Ein beachtlicher Teil dieser Debatten-Ohrwürmer ist die Wiederholung von Meinungen aufgrund mangelnden Wissens oder fehlender Erfahrung. Und dem zu widersprechen kann sich lohnen.

 

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Der amerikanische Deutsche – Zum Geburtstag von Carl Weissner

von Simon Sahner

 

Der deutsche Undergroundautor, Übersetzer und Literaturagent Carl Weissner (1940–2012) war kein guter Schriftsteller. Das liegt nicht zuletzt an seinem Anspruch an das eigene literarische Schreiben: „Eigentlich will ich einen permanenten Overload erzeugen, so dass man dauernd angespannt ist und denkt, jeden Augenblick fliegt die Sicherung raus.“ Man merkt Carl Weissners literarischen Texten diese Haltung an. Insbesondere die kurzen Erzählungen der 70er Jahre zeugen in erster Linie vom sprachlichen und inhaltlichen Übermut des Autors, dem alles andere aufgeopfert wird. Die Hauptsache ist, dass es knallt. Da wird „eine Bombe von einem Joint“ geschwenkt, jemand ist „schwul wie die Nacht“, ein anderer „kotzt ins Goldfischglas“ und das allein auf wenigen Seiten.

Hätte Weissner, der heute 80 Jahre alt geworden wäre, nur die wenigen experimentellen Arbeiten mit der Cut-up-Methode aus den späten 60ern (vor allem in Zeitschriften, die fast nur noch in Archiven zu finden sind), ein paar Short Stories in den 70ern und gegen Ende seines Lebens noch drei Bücher bei kleinen Verlagen veröffentlicht, er wäre vermutlich nicht mal eine Fußnote in der deutschen Literatur nach 1945 geblieben. Sein schmales Werk ist von einem literarischen Standpunkt her kaum beeindruckend, auch wenn er als Mitherausgeber im Vorwort der Zeitschrift Gasolin 23 (alle Ausgaben) das eigene Literaturverständnis zum non plus ultra erklärte. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass diejenigen, die am lautesten verkünden, die Literatur revolutionieren und von den Fesseln der Konvention befreien zu wollen, auch tatsächlich gute Literat*innen sind. Nicht selten sind es schlicht der Furor, mit dem altes über Bord geworfen wird, die sprachliche und thematische Provokation und die demonstrative Erneuerung, die dafür sorgen, dass Rebell*innen im Literaturbetrieb und dem Feuilleton Aufmerksamkeit bekommen und auch noch Jahrzehnte später bekannte Namen sind. Das ist per se auch nicht verwerflich, der literarische (und literaturhistorische) Mehrwert eines Werkes bemisst sich nicht grundsätzlich an den Wertungsmaßstäben, die Kritiker*innen anlegen. Doch vermutlich hätte bei Carl Weissner nicht einmal der laute Widerstand gegen den Literaturbetrieb ausgereicht, um ihm Nachruhm zu sichern.

Dass er dennoch einen festen Platz in einem bestimmten Bereich des literarischen Feldes in den letzten fünfzig Jahren einnimmt, hat zwei Ursachen: Erstens hat er einen Teil des amerikanischen literarischen Undergrounds und der Beatliteratur als Herausgeber und Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften in Deutschland und den USA (Klactoveedsesteen 1965–1967, San Francisco Earthquake 1967/68, UFO 1971/72 und Gasolin 23 1973–1978) publiziert und als erster in einer adäquaten Form übersetzt. Dabei brachte er unter anderem große Teile des Werks von William S. Burroughs ins Deutsche und machte quasi im Alleingang Charles Bukowski in Deutschland bekannt. Zweitens war Weissner vermutlich derjenige im deutschen Literaturbetrieb, dem die amerikanischen Größen der Beat- und Undergroundliteratur am meisten Respekt zollten und den sie am ehesten als einen von ihnen anerkannten. Deswegen umwehte sein Auftreten immer die Aura eines lässigen Amerikaners – ein Umstand, der ihm vermutlich selbst bewusst war und von ihm unterstützt und am Leben erhalten wurde. Weissner inszenierte sich in seinen Texten als Kenner der https://i1.wp.com/www.verlag-reiffer.de/wp-content/uploads/2020/02/9783945715673.jpg?resize=205%2C335&ssl=1amerikanischen Szene, als Insider und authentischer Berichterstatter. Unser Mann im amerikanischen Underground sozusagen. Jetzt ist anlässlich seines 80. Geburtstags der Band Aufzeichnungen über Außenseiter mit gesammelten Reportagen und Essays erschienen, die  genau das bezeugen wollen. Bereits der erste Satz im ersten Text der Anthologie, Buk Sings His Ass Off, mit dem Weissner Charles Bukowski dem deutschen Lesepublikum 1970 vorstellte, rückt nicht nur den amerikanischen Schriftsteller, sondern allen voran auch Weissner selbst ins Blickfeld:

Ich hatte mit Bukowski schon einige Jahre Kontakt, ich kannte ihn aus unzähligen Briefen, aus seinen Büchern, aus seinen Manuskripten die er mir für Klacto/23 schickte, und als ich ihn im Sommer 1968 zum ersten Mal in Los Angeles besuchte, hatte ich auch die „Bukowski-Legende“ kennengelernt.

Bevor Weissner überhaupt näher auf das eigentliche Thema seines Textes eingeht, erfahren die Leser*innen erst einmal, wie gut er Bukowski kennt; so gut nämlich, dass er Briefe und Manuskripte von ihm bekommt und ihn besucht hat. Auch in Weissners Vorwort zu Bukowskis Gedichtband Gedichte, die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang steht nicht nur der Dichter, sondern auch sein Übersetzer selbst im Zentrum des Interesses. Im Ton einer Kurzgeschichte erzählt Weissner darin von seiner ersten Begegnung mit Bukowski.

Weissners Essays und Reportagen sind ebenso wie seine kurzen Erzählungen, die oft eher wie faktuale Erlebnisberichte wirken, immer auch demonstrierte Augenzeugenschaft. In seinen Notizen aus anderthalb Jahren in den USA, die sich ebenfalls in der Anthologie finden, stößt man auf große Teile der amerikanischen Gegenkultur der 60er Jahre: Weissner besucht spontan Allen Ginsberg, der in der Nachbarschaft wohnt, schaut auf einer Lesung von Diane Di Prima im Greenwich Village vorbei und geht bei den Dichter*innen auf der Lower East Side von Manhattan ein und aus. In Last Exit to Mannheim aus der ersten Ausgabe von Gasolin 23 geht der Ich-Erzähler, der unverkennbar Weissner selbst ist, mit dem Beat-Verleger Lawrence Ferlinghetti auf eine Party, auf der unter anderem Janis Joplin und Linda Kasabian, ein Mitglied der Manson Family, anwesend sind und fährt dann noch mit Bukowski zu Ferlinghettis Haus, der neben der Band Canned Heat wohnt. In Die Eingeschlossenen von der Lower East Side lebt er mit dem Beat-Dichter Ray Bremser zusammen und in einem Interview mit einer amerikanischen Zeitschrift sagt Weissner über diese Zeit: „I was living in the neighborhood, on the Lower East Side, East 6th and Avenue C, and my roaches were the same as theirs.“[1]

Aus all dem spricht immer auch ein gewisser Stolz darüber, dass viele seiner amerikanischen Vorbilder für ihn zu guten Bekannten und Freund*innen wurden. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Weissner das Stereotyp der amerikanischen Lockerheit mit dem der deutschen Gründlichkeit und Ordnung verband. In seinem Nachlass finden sich ordentlich geführte Notiz- und Adressbücher, unzählige offizielle Korrespondenzen mit deutschen Verlagen, in denen er Angelegenheiten seiner amerikanischen Freund*innen vertrat, detaillierte Übersetzungsmanuskripte mit Anmerkungen und Unterlagen aus fast fünfzig Jahren als Literaturagent, Übersetzer und Herausgeber. Wie sehr diese Akribie und Gründlichkeit auf der anderen Seite des Atlantik geschätzt wurde, davon zeugen etliche Briefe: Jack Kerouacs Tochter Jan bittet ihn um Hilfe, Ray Bremser gibt ihm uneingeschränktes Veröffentlichungsrecht, Allen Ginsberg besteht teilweise allein auf ihn als Übersetzer und Charles Bukowski bittet ihn um Hilfe bei der Steuererklärung und ist prinzipiell davon überzeugt, dass er ohne Weissner nicht überleben würde: „Without Carl I would be dead or near dead or mad or near mad, or driveling into a slop pail somewhere, mouthing gibberish.“[2]

Diese Aussage von Bukowski klingt vielleicht übertrieben, aber man darf nicht unterschätzen, wie viel Weissner für den amerikanischen Dichter nicht nur als enger Freund, sondern auch als Agent in beinahe ganz Europa und Südamerika und vor allem als Übersetzer ins Deutsche getan hat. Bei Weissners Übersetzungsarbeit für Bukowski etwa handelte es sich um ein annähernd symbiotisches Verhältnis zwischen den beiden. Während Weissner durch seine Übersetzungen einen deutschen Bukowski erfand und dem Amerikaner damit in Deutschland größeren Erfolg bescherte als in den USA, sorgte Bukowski mit seinem Werk dafür, dass sich Weissner einen Platz in der Literaturgeschichte sichern konnte. Entscheidend für die Popularität Bukowskis in Deutschland war nicht zuletzt der Umstand, dass Weissner alle Fäden in der Hand hielt und Bukowski ihm gleichzeitig auch freie Hand im Umgang mit seinen Texten ließ. Das führte dazu, dass Weissner eine deutsche Version des Werkes von Bukowski nach eigenen Vorstellungen schaffen konnte, die sich nicht immer ganz mit dem Original deckte, die aber in Deutschland einen außerordentlichen Erfolg hatte und immer noch hat.

Der Duktus der deutschen Übersetzungen durch Weissner erinnert gerade in den frühen Jahren manchmal an das sogenannte Schnodderdeutsch der Synchrondrehbücher von Actionkomödien mit dem Schauspieler-Duo Bud Spencer und Terence Hill, wobei Weissners Bukowski oft wie Terence Hill klingt: „Die Uhr funktionierte noch, der alte Wecker, Gott sei’s gescheppert,“ heißt es da in Weissners Übersetzung, während bei Bukowski lediglich steht „the clock was working, the old alarm clock, god bless it“. Ein anderes Mal fürchtet Bukowskis Erzähler „demands on the soul or anything like that“ von seiner Freundin; statt „Anforderungen an das Seelenleben“ hat er bei Weissner aber Angst vor „Fisimatenten von wegen Seele und so.“

Es sind diese Veränderungen im Tonfall einer fingierten Mündlichkeit, die aus einer lakonischen Erzählstimme einen schnoddrigen Jargon machen, der in den extremsten Fällen den Charakter des Originals eklatant verändert. Charles Bukowskis Erzählerfiguren sind oftmals lakonische, manchmal vulgäre Männer, die angesichts eines Lebens am Rande der Gesellschaft resignieren. Nach einem langen und harten Arbeitstag äußert einer von ihnen: „I got out of what remained of the suit and decided that I’d have to move again.“ Weissner macht aus dieser Resignation angesichts der Lebensumstände eine scheinbar sorglos übermütige Rastlosigkeit: „Ich pellte mich aus dem, was von der Klamotte noch übrig war, und beschloß, daß ich mal wieder die Tapete wechseln musste.“ Doch nicht nur der Tonfall der Erzählstimme verändert sich, sondern auch die Haltung. Nicht, dass Charles Bukowski als feministischer Autor bekannt wäre, eher im Gegenteil, aber aus „some beautiful woman“ auf Deutsch „ein elegantes Flittchen“ zu machen, verstärkt den Sexsimus noch einmal deutlich.

Angesichts dieser Beispiele kann man von einem deutschen Bukowski sprechen. Interessant ist aber, dass viele andere Übersetzungen durch Carl Weissner, beispielsweise von William S. Burroughs‘ Naked Lunch oder Allen Ginsbergs Howl tatsächlich sehr gute Übertragungen sind, die einen deutschen Soziolekt als Äquivalent für die amerikanische Szenesprache des Originals aufweisen und die Wirkung dieser Texte besser in einen anderen Sprach- und Kulturraum versetzen als es andere Übersetzer*innen geschafft haben.

Warum also bei Bukowski dieser überzogen lässige Jargon? Es bleibt Vermutung, aber vieles deutet darauf hin, dass Weissner Bukowski zu nahe war, um ihn ebenso professionell übersetzen zu können, wie er das bei Burroughs und Ginsberg tat. Auch diese beiden kannte Weissner gut, aber das Verhältnis zu Charles Bukowski überragte die unzähligen anderen Freundschaften, die Weissner in die USA pflegte. Die Korrespondenz zwischen den beiden umspannte beinahe drei Jahrzehnte und dutzende Briefe pro Jahr. Die Zuneigung und emotionale Nähe, die darin zum Ausdruck kommen, zeugen von einer engen Verbundenheit, die weit über das professionelle Verhältnis zwischen Übersetzer/Agent und Autor hinausgeht. In Das Ende des Suicide Kid, dem vielleicht besten und sicher persönlichsten Text in Aufzeichnungen über Außenseiter, beschreibt Weissner die Beerdigung Charles Bukowskis, auf der er 1994 selbst einer der Sargträger und Redner war. In diesem und anderen Texten über seinen Freund zeigt sich, wie sehr er Bukowski als Mensch und als Schriftsteller verehrte. Seine Übersetzungen können als Versuch angesehen werden, diesem übermächtigen Autor und Freund gerecht zu werden, einen Ton zu finden, der das transportieren sollte, was Weissner in Bukowski sah: Einen Mann,

der weiß, daß er auf der Kippe steht: jeder Satz kann sein letzter sein, aber der Ton bleibt cool, gelassen, konzentriert; beinahe ereignislose Stories, die mancher nicht für berichtenswert halten würde; entnervende Stories, die mancher andere lieber verdrängen würde […]: alltägliche Stories vom Leben in einer Stadt, die er einmal „die größte bewohnte Ruinenlandschaft der Welt“ genannt hat. 

Während sich dieser coole Ton bei Bukowskis aber in Lakonie und Reduktion ausdrückt, wird er bei Weissner zum schnoddrigen Plaudern. Die Lässigkeit, die daraus entsteht, ist eine andere, eine demonstrative Nonchalance, wie man sie eben in den synchronisierten Rollen eines Terence Hill findet. Der amerikanische Charles Bukowski wirkt im Original eher wie die Figuren von Bud Spencer: wortkarg, sarkastisch und manchmal lakonisch.

Vom ökonomischen Standpunkt eines Literaturagenten hat Carl Weissner dann jedoch alles richtig gemacht. Die Romane, Gedichte und Erzählbände Bukowskis haben sich in den Übersetzungen von Weissner mehrere Millionen Mal verkauft. Dass Carl Weissner heute zu seinem 80. Geburtstag, acht Jahre nach seinem Tod, Ehrungen, eine Anthologie, diesen und andere Texte erhält, hängt mit diesen Übersetzungen und den zahllosen anderen zusammen. Ambros Waibel schrieb in einem Nachruf für Weissner, es sei einfacher zu fragen, wen aus der “US-Avantgarde” er nicht übersetzt und herausgegeben habe – die Übersetzungen reichen von J. G. Ballard bis Frank Zappa. Aber auch seine Vorzeigefunktion als Deutscher unter Amerikanern ist ein Grund für die anhaltende Bekanntheit und zeigt beispielhaft, dass Nachruhm im literarischen Feld nicht immer etwas mit schriftstellerischem Können zu tun hat. Carl Weissner, das war der Amerikanistikstudent in Heidelberg, der von Burroughs in der Heidelberger Altstadt besucht wurde, der für Literaturzeitschriften in den USA arbeitete, der Bukowski Briefe schrieb und mit ihm in seiner Mannheimer Wohnung trank, Weissner war der, den Ginsberg als seinen Übersetzer wollte, der mit Janis Joplin feierte und mit Sean Penn den Sarg von Bukowski trug. Die Texte in der Anthologie Aufzeichnungen über Außenseiter zeigen daher vor allem eines: Es gibt viele Gründe, warum Carl Weissner bekannt und interessant ist, sein literarisches Werk ist nur einer davon, vermutlich der geringste.

 

Übersetzungen:

[1]„Ich lebte in der gleichen Gegend auf der Lower East Side, Ecke East 6. und Avenue C, und meine Kakerlaken waren dieselben wie ihre.“

[2] „Ohne Carl wäre ich tot oder wenigstens fast; oder verrückt oder jedenfalls beinahe verrückt; oder ich würde in irgendeinem Abwassereimer rumsabbern und unverständliches Zeug labern.“

 

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Privilegien und Effekthascherei – Der Zeitgeistjournalismus des Magazins “Tempo”

von Simon Sahner

 

Ende des Jahres 2006 berichtete der Spiegel unter dem Titel Das Ich-ich-ich-Magazin über eine ungewöhnlich umfangreiche (fast 400 Seiten) Sonderausgabe des Magazins Tempo, das es zu diesem Zeitpunkt seit bereits zehn Jahren nicht mehr gab. Auf dem Cover dieser Sonderausgabe prangte ein Porträt von Kate Moss, auf dem sie mit laszivem Blick über die nackte Schulter in die Kamera schaut, eine Zigarette hängt zwischen den Lippen. Die langen Haare sind zerzaust. Der Titel kündigt an: “Endlich! Die Wahrheit”. Ich erinnere mich sehr genau an dieses Cover, zudem an eine kontrastreiche Fotostrecke von einem oberkörperfreien Lukas Podolski; außerdem an ein Bild, das über hunderttausend Zigaretten zeigte, die Helmut Schmidt in den letzten Jahren geraucht haben soll, und an eine aufsehenerregende Aktion, die zahlreiche Prominente hinters Licht führte.

Mit 17 Jahren fand ich das damals alles sehr spannend, es entsprach mehr oder weniger dem, was mich interessierte. Keine Ahnung hatte ich allerdings davon, dass es sich bei dem Heft um eine verspätete Sonderausgabe einer der legendärsten Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte handelte: Tempo, das Magazin, das von 1986 an für zehn Jahre den Zeitgeist der Bundesrepublik journalistisch nicht nur prägen, sondern bestimmen wollte. Es war das Magazin, bei dem nicht wenige heute bekannte Medienmacher*innen ihre Karriere begannen und bei dem Autor*innen, die heute für einen Teil der Gegenwartsliteratur prägend sind, ihre ersten Schritte machten: Christian Kracht, Sibylle Berg, Moritz von Uslar, Eckhart Nickel, Maxim Biller und Tom Kummer.

Die inhaltliche und stilistische Schlagrichtung des selbsterklärten Zeitgeist-Magazins Tempo lässt sich gut in den Worten des damals 27 Jahre alten ersten Chefredakteurs Markus Peichl erklären, der 1985 die Notwendigkeit einer Publikation wie Tempo zu begründen versuchte:

Weil der Wiener so schön war, aber nicht schön genug, Weil der Spiegel beeindruckend viel Gehirn hat, aber beängstigend wenig Gefühl. Weil der Stern mal toll war, es aber anscheinend nicht mehr sein will. Weil Cosmopolitan viel Sex hat, aber nicht genug Erotik.

Damit ist auch die Ausrichtung des Magazins grob benannt. Die Menschen, die diese Zeitschrift vorwiegend machten, und diejenigen, die sie lasen, dürften ungefähr der gleichen sozialen Gruppe angehört haben: junge Männer, meist ledig, mit gutem Schulabschluss und überdurchschnittlichem Einkommen, urban und viel auf Reisen, politisch eher nicht engagiert und vor allem auf den eigenen materiellen und sozialen Erfolg bedacht. Ihre Interessen lassen sich zusammenfassen mit: „private Zufriedenheit, beruflichen Erfolg, Freizeit, Fitness, soziales Umfeld und Konsum.“

So umreißt Kristin Steenbock die Tempo-Redaktion und ihr Publikum in ihrem Buch Zeitgeistjournalismus, das sich der Vorgeschichte deutscher Popliteratur widmet und insbesondere das Magazin Tempo, seine Leser*innenschaft und seinen Anspruch, eine Generation abzubilden, näher betrachtet. Das entscheidende Attribut lautet dabei postheroisch. Während der Popkultur der 60er/70er Jahre ein heroischer Selbstanspruch im Sinne eines Widerstands attestiert werden kann, zeichneten sich Tempo und die Popliteratur der 90er Jahre durch eine postheroische Haltung aus, die durch einen zunehmenden Bedeutungsverlust von Subkulturen und eine Verbindung von Popkultur und Konsum entstanden war. Dabei kam es zu einer „Lösung des Popdiskurses vom linksalternativen Deutungsmonopol“ und zu einer Ablehnung des linken ebenso wie des konservativen Kulturverständnisses. Daraus entstand ein Generationsgefühl, das nicht mehr durch das gemeinsame Erleben politischer Ereignisse erzeugt wurde, sondern durch kollektive Konsum- und Freizeiterfahrungen. Anhand der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum zeigt Steenbock auf, wie Tempo durch Stil, Themensetzung und Darstellungsweise vor allem in Bezug zu den vier Bereichen einen Zeitgeist affirmierte und gleichzeitig erzeugte.

Nähert man sich diesem Zeitgeist über diese vier Kategorien, dringt man in ein Umfeld vor, das aus der Perspektive aktueller Diskurse anmutet wie der dunstig unangenehme Locker Room des Journalismus. Hier findet auch Steenbock das Kernproblem des verallgemeinernden Begriffs Zeitgeist mit Blick auf Magazine wie Tempo, die zwar für sich in Anspruch nehmen, die Grundhaltung einer Generation zu repräsentieren, und dabei auch vorgeben, wie man zu leben habe, aber eben in Wahrheit nur einen kleinen Teil dieser Generation repräsentieren können und vor allem auch wollen. Die Autorin stellt  fest: „[D]as Zeitgeistkonzept dient dazu, kulturelle Ausdrucksweisen eines Teils der westdeutschen Jugend als generationsspezifisch zu inszenieren.“

Dass die grundlegende Haltung, die durch Tempo vermittelt wurde, in der zweite Hälfte der 80er Jahre eben nicht repräsentativ für die Generation der damals 20- bis 40-jährigen war, machte 1989 Willi Winkler in der Zeit deutlich, der selbst nach Alter und Bildungsstand genau das Umfeld vertrat, über das Tempo eine Deutungshoheit beanspruchte:

Nichts kann so kompliziert sein, als daß es sich nicht im feinen Layout abbilden ließe, nichts zu kostbar, als daß man es nicht sofort zum letzten Schrei ausrufen konnte. Tempozeigt, wie lustig es ist, jung und dumm zu sein.

Winklers Kritik ist nicht zuletzt auch eine Abgrenzung von dem Generationsgefühl, das Tempo konstruieren wollte. Und das ist durchaus verständlich. Was nämlich angesichts der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum sehr schnell deutlich wird, sind die Sicherheit und das unerschütterliche Selbstverständnis als Diskursbeherrscher, mit denen eine Gruppe junger Redakteur*innen hier eine äußerst privilegierte Lebensweise bewusst in Textform und Ästhetik gegossen hatte. Dabei steht eine perspektivische Norm im Mittelpunkt, die davon ausgeht, dass der Leser, der die Generation repräsentieren soll, männlich, heterosexuell, normschön und von der eigenen Intelligenz überzeugt ist. Das Andere, das die Ausnahme bilden soll, offenbart sich in den Titelzeilen, die auch Steenbock zitiert: „»Leben Schwule besser?« (August 1994), »Ficken Dumme besser?« (Juli 1986), »Warum Mädchen schlauer sind« (Juni 1995), »Dicke sind schärfer« (Oktober 1986).“ Was eine wissenschaftliche Arbeit nicht so deutlich sagen kann, lässt sich in Steenbocks Buch zwischen den Zeilen lesen: In diesen Formulierungen drücken sich nicht einfach eine andere Zeit und Gesellschaft aus, sondern vor allem ein grundsätzliches Überlegenheitsgefühl des weißen, gut situierten, heterosexuellen Mannes. Die meisten anderen Perspektiven werden vernachlässigt. Noch 2006 stellte Reinhard Mohr angesichts der Jubiläumsausgabe im Spiegel fest, das Team aus 63 Personen (davon 8 Frauen) hinter der Sondernummer wirke wie ein „einziger großer Männnerfreundeskreis.“ Es verwundert daher auch wenig, dass man über Journalismuskreise hinaus außer Sibylle Berg kaum eine Autorin des Magazins heute noch beim Namen kennt.

Kein Bock auf Konsequenzen

Diese Sicherheit über die eigene Diskursmacht lässt sich an die postheroische Haltung, die Steenbock in diesem Generationsverständnis ausmacht, zurückbinden. Der entscheidende Faktor dieser Haltung ist vor allem eine grundlegende Abkehr von allem, was sich die 68er-Bewegung auf die Fahnen geschrieben hatte. Das Resultat dieser Entwicklung zeigte sich schließlich in Florian Illies’ Generation Golf, seinem retrospektiven Manifest der 80er/90er Jahre: „Es wirkte befreiend, dass man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern befand, auch öffentlich albern nennen konnte.” Dabei ging es tatsächlich weniger darum, dass man die Ziele der vorangegangenen Student*innenbewegung prinzipiell abgelehnt hätte, sondern darum, dass man, salopp gesagt, keinen Bock mehr auf die damit verbundenen Konsequenzen hatte. Ein gutes Beispiel, um das zu illustrieren, ist die Haltung zum Feminismus, die sich nicht nur in der 1994 von Johanna Adorján, Rebecca Casati, Christian Kracht und Eckhart Nickel verantworteten Liste der „97 nettesten Mädchen Deutschlands” und Ratschlägen „wie man sie (vielleicht) kriegt”, ausdrückt.

Vor allem in einem Persönlichkeitstest in der Tempo-Ausgabe vom Mai 1987, den Steenbock mit Blick auf das darin vermittelte Frauenbild analysiert, offenbart sich eine problematische Perspektive auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Unter der Ausgangsfrage „Müssen Sie Ihr Leben ändern?“ kommen die nicht genannten Testentwickler*innen zu dem Schluss, dass alle Frauen, die sich weniger Softies wünschen, Pornographie toll finden, sich in erotischer Unterwäsche nicht lächerlich finden und Kinder wollen, ihr Leben möglichst nicht ändern sollten. Den anderen hingegen wird gesagt: „Der Feminismus ist ein Durchlauferhitzer. Wer ihn wirklich verstanden hat, braucht ihn nicht mehr.“ Der perfide Twist dieser Erkenntnis steckt in dem impliziten Vorwurf an Frauen, den Feminismus nicht verstanden zu haben, wenn sie der Ansicht sind, die Gleichberechtigung sei noch nicht erreicht. Die Haltung, die hier Ausdruck findet, ist also kein offener Antifeminismus, sondern vielmehr eine implizit antifeministische Unlust, die eigenen Privilegien infrage zu stellen, was unter anderem hieße, von einem bestimmten Frauenbild Abschied zu nehmen. Deswegen erklärt man die feministischen Ziele kurzerhand für erreicht.

In diesem vorauseilend erklärten Postfeminismus spiegelt sich auch die grundsätzliche Problematik einer postheroischen Haltung, die Steenbocks Arbeit leider nicht ganz auf den Punkt bringt, obgleich diese Erkenntnis durchaus erkennbar wird. Wenn man generell davon ausgeht, dass gesellschaftliche und politische Probleme überwunden sind, muss man sich auch nicht mehr damit aufhalten, die eigenen Privilegien kritisch zu betrachten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Postheroismus führte in Tempo zu einem Grundtenor, in dem man grundsätzlich mit jedem Thema Spaß haben oder, wie Steenbock es in ihrem Fazit ausdrückt, alle Verbindlichkeiten vermeiden kann.

Das ist auch genau das Problem des New Journalism in der Ausformung, auf die sich auch große Teile der Tempo-Redaktion beriefen und die Bernhard Pörksen wie folgt beschreibt: „radikale Subjektivität, notfalls unter Verzicht auf thematische Relevanz, ein Aktualitätsbegriff, der sich nicht allein über die Zeitdimension definiert, die dominante Präsenz des Autors, des journalistischen Ichs.“ (Pörksen, 308) Der New Journalism hat nun durchaus die journalistische Landschaft bereichert, allerdings  legitimiert er auch eine Schreibweise, die sich vor allem aus Privilegien speist und Effekthascherei erzeugt. Gerade in der Tempo konnte man feststellen, wie schnell diese journalistische Vorgehensweise in Selbststilisierung kippen kann und dem meist männlichen Reporter vor allem die Möglichkeit bietet, eigene Devianz und Wagemut zur Schau zu stellen.

Überstolze Selbstauskünfte – New Journalism in der Tempo

So auch in der Tempo-Reportage Ballern wie blöd von Christian Kracht, für die er 1995 ins afghanisch-pakistanische Grenzland reist, dort in einer Waffenfabrik verschiedene Schusswaffen und Granaten ausprobiert und schließlich zu dem Fazit kommt, Schießen sei wie Kartoffelchips essen, man bekomme nicht genug davon (Dezember-Ausgabe 1995). Nicht allein der Titel des Textes offenbart, dass es hierbei weniger um eine informative Reportage aus einem volatilen Umfeld geht, sondern vor allem darum zu zeigen, wie mutig und spektakulär der Reporter des Magazins ist. Dafür spricht auch die Bildunterschrift, die stolz verkündet: „Der TEMPO-Reporter bläst alles weg.“ Eine ähnliche Fremdscham erzeugt die Begeisterung des Tempo-Reporters Helge Timmerberg für den Gonzo-Journalismus und dessen berühmtesten Vertreter Hunter S. Thompson (der zeitweise selbst für Tempo schrieb). Ein Gonzo-Journalist, schreibt Timmerberg 1987 in der Tempo, zeichne sich dadurch aus, dass er es ablehne so „zu tun […], als habe er noch nie ‘ne Nutte gefickt, wenn Prostitution sein Thema ist, als habe er noch nie seiner kleinen Schwester die Schokolade weggenommen, wenn er über Gewalt gegen Frauen berichtet.“ In seiner Autobiographie Die rote Olivetti (2016) berichtet Timmerberg dann unter anderem davon, dass er in den 90er Jahren von der Bunten 30.000 Mark für Reportagen bekam, die er unter Drogeneinfluss schrieb, und irgendwann wie sein Vorbild Thompson in Havannah im Hotel wohnte und dort weiter für die Bunte arbeitete. Neben einem ethisch auf mehreren Ebenen problematischen Verständnis von Journalismus, offenbart sich in diesen Beispielen auch das unangenehme Pathos, das mit einem Teil des New Journalism einhergeht. Dabei wird weniger einer subjektiv-teilnehmenden Beobachtung Ausdruck verliehen, sondern der Reporter ergeht sich vor allem in der Inszenierung eines bestimmten Männlichkeitskitsches.

Man könnte angesichts dieser Reportagen und überstolzen Selbstauskünfte auch sagen, dass junge, privilegierte Männer viel Geld dafür bekamen, dass sie unter dem Deckmantel des Journalismus über den eigenen Drogenkonsum und verantwortungsloses Verhalten schrieben und dafür auch noch zu Helden verklärt wurden. Dieser Eindruck verfestigt sich auch bei den Schilderungen der ehemaligen Tempo-Reporterin Bettina Röhl, die rückblickend berichtet, wie junge Reporter und Redakteure extra nach Hamburg eingeflogen und wie „kleine Stars“ behandelt wurden. Unter ihnen befand sich unter anderem Maxim Biller, dem man in Tempo regelmäßig Platz für 100 Zeilen Hass gewährte. Über Hunter S. Thompsons Arbeit für Tempo weiß Röhl zudem zu erzählen, dass manchmal Redakteurinnen in die USA fliegen mussten, um dem vermeintlich genialen Journalisten im Kokainrausch die Hand zu halten, damit er seine Kolumne schreiben konnte.

Der Weg von Tempo zu Popliteratur

All das findet in Kristin Steenbocks Arbeit höchstens am Rand oder zwischen den Zeilen Erwähnung, was angesichts der erklärten Perspektive und vor allem aufgrund der Standards einer wissenschaftlichen Arbeit auch kaum verwunderlich und per se kein Manko ist. Dennoch wünscht man sich, dass auf diverse Fragen, die sich bei der Lektüre ergeben, detaillierter eingegangen würde. Unter anderem irritiert die mehrfache, unkommentierte Erwähnung, dass die Tempo-Redaktion der Partei Die Grünen nahegestanden habe, was angesichts der dargelegten Inhalte und Haltungen mindestens verwunderlich ist. Auch ein ausführlicher Exkurs dazu, wie sich die Mitarbeiterinnen der Zeitschrift zu dem sexistischen Frauenbild verhielten, wäre angesichts des Fokus auf den Bereich Gender interessant gewesen. Hier wären an manchen Stellen ein paar kurze Abzweigungen vom eng gefassten Kernthema der Studie hilfreich, um diese Bereiche zusätzlich zu erhellen.

Steenbock legt ihren Schwerpunkt vor allem darauf herauszuarbeiten, wie aus der Verquickung von literarischem Journalismus, New Journalism, Pop(musik)journalismus und Boulevardpresse in der Tempo die Grundlagen für das entstanden, was in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zur deutschen Popliteratur erklärt wurde. Und das gelingt sehr gut. Sie macht diese Bezüge unter anderem an zwei literaturkritischen Texten von Christian Kracht fest, in denen er Andreas Neumeisters Roman Ausdeutschen (1994) und Uwe Timms Kopfjäger (1986) rezensiert. An beiden Texten zeigt Steenbock, wie Kracht die üblichen Grenzen einer Rezension überschreitet und stattdessen beinahe selbst literarisch die Bücher, ihre Autoren und sich selbst in Szene setzt, wodurch bereits Anklänge an seine späteren Romane erkennbar sind. In ihrem Fazit kommt sie zu dem Schluss, dass die Popliteratur, die häufig „von der transatlantischen Übertragung der Beatliteratur im Deutschland der späten 1960er Jahre her rekonstruiert“ wird, zusätzlich noch aus einer anderen Quelle gespeist wurde: dem New Journalism in Zeitgeistmagazinen wie vor allem Tempo. Damit rekonstruiert sie in dieser informativen und gut recherchierten Studie einen wichtigen Bereich, der bisher in der Betrachtung der deutschen Popliteratur um 2000 häufig vernachlässigt wurde. Wie elementar die Geschichte des deutschen Zeitgeist-Journalismus der 80er/90er Jahre und insbesondere der Tempo für Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass etliche der Mitarbeiter*innen bis heute heute bei renommierten Verlagen veröffentlichen.

Zeitgeistjournalismus heute

Fragt man sich über Steenbocks Studie hinaus, wie Zeitgeistjournalismus im Jahr 2020, fast ein Vierteljahrhundert später, aussieht und wo man vielleicht Einflusslinien von Tempo findet, stößt man fast automatisch auf den Lifestyle-Journalismus der deutschen Ausgabe des Magazins Vice, die für sich mit dem Slogan Unbequemer Journalismus wirbt. Gerade mit Blick auf Vice fällt auf, wie sich hier die thematischen Schwerpunkte und die Haltung dazu gegenüber Tempo verlagert haben, nicht aber der stilistische Grundtenor der Berichterstattung. Sexuelle Diversität, Drogenkonsum und linkspolitische Themen machen bei Vice das Gros der Texte aus, wodurch gesellschaftlich relevanten Themen Aufmerksamkeit zukommt. Damit einhergehend fällt auch bei Vice eine starke Tendenz zum Spektakulären und Reißerischen auf; eine Tendenz, die sich aber, wie im Falle der Undercover-Reportage bei “Kollegahs Alpha Armee”, zuletzt durchaus auch mit journalistisch hochwertigen und dennoch zeitgeistrelevanten Reportagen verbindet, vielleicht eine Tendenz vom Postheroischen zurück zum Heroischen. Allerdings stehen New-Journalism-Reportagen wie der Selbsterfahrungsbericht einer Vice-Reporterin, die 24 Stunden allein auf einer Berghütte verbrachte, dem Friseur-Besuch von Eckhart Nickel in der Tempo-Ausgabe vom Februar 1996 an überaufgeregter Erkenntnislosigkeit in Nichts nach.

Eine andere Schiene des Einflusses ist vielleicht weniger offensichtlich, aber dahingehend aussagekräftiger, wie sich Zeitgeist heute in den Medien zeigt. Dieser Weg führt über die Late-Night-Show von Harald Schmidt und seinem Autor*innenteam zu dem Satire-Journalismus mit Aufklärungsanspruch eines Jan Böhmermann. Der schrieb, genau wie Pop-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (der für ein Tempo-Engagement zu jung war, 2006 aber an der Sonderausgabe mitarbeitete) einst als Gag-Autor für die Harald-Schmidt-Show und arbeitete außerdem lange Jahre mit der Autorin aus dem Tempo-Umfeld Sibylle Berg zusammen. (Es sei am Rande erwähnt, dass sich eine weitere Gemeinsamkeit darin zeigt, dass Böhmermann wie auch die meisten ehemaligen Tempo-Autor*innen beim Verlag Kiepenheuer & Witsch beheimatet ist.) Im Neo Magazin Royale zeigte sich über die letzten Jahre, wie journalistische Arbeit am Zeitgeist in der Tradition der Tempo heute aussehen kann. Ebenso wie das Neo Magazin (Royale) zwischen 2013 und 2019 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, brachte die Tempo einen strukturellen und thematischen Aufbruch in ein altes System und versuchte sich auch an satirischen Coups, die denen ähnelten, die Böhmermanns Sendung teilweise über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt machten. 1987 schlug die Tempo-Redaktion Bürgermeistern Arbeitslager für HIV-Infizierte anhand von Bauplänen des KZ-Sachsenhausens vor und in der Sonderausgabe 2006 bot man mehreren Prominenten und Politiker*innen eine Ehrendoktorwürde für eine Nationalakademie an, in deren Statuten sich Zitate aus Hitlers Mein Kampf  und dem Wahlprogramm der NPD befanden.

Während Diedrich Diederichsen für die 80er/90er Jahre einen postheorischen Zeitgeist ausmachte, liegt es nahe in den letzten Jahren wieder eine Verschiebung zum Heroischen zu erkennen: Die Popularität klarer Bekenntnisse gegen Rassismus, Sexismus und generell gegen jegliche Form der Diskriminierung und die Aufmerksamkeit für diese Themen sind nicht nur positive Entwicklungen, sondern sie entsprechen auch einem Zeitgeist, der politische und gesellschaftliche Haltung innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus wieder aufs Tapet gebracht hat. Eine Sendung wie das Neo Magazin Royale war dabei unter heroischen Vorzeichen, strukturell aber ähnlich wie Tempo vor etwa 30 Jahren, sowohl Profiteur als auch Katalysator dieser gesellschaftlichen Stimmung in einem urbanen und formal gut gebildeten Teil der 20- bis 40-jährigen Bevölkerungsschicht. Gleichzeitig zeigte sich aber auch im Umfeld der Show von ZDF-Neo, dass es sich in erster Linie um ein Abstecken des Zeitgeistes von vorrangig jungen, privilegierten, weißen Männern handelte. Man kann daher vielleicht von Glück sagen, dass sich der Zeitgeist der sozialen Schicht, die Tempo machte und las, in den 2010er Jahren in eine positive Richtung entwickelt hat, sodass diese Art der Arbeit am Zeitgeist beim Neo Magazin Royale wenigstens eine anti-diskriminatorische Richtung eingeschlagen hat.

Vor 14 Jahren hingegen traten Teile der alten Tempo-Redaktion zusammen mit Gesinnungsgenossen wie Benjamin von Stuckrad-Barre und Ulf Poschardt selbst noch einmal an, um den Zeitgeistjournalismus à la Tempo ins 21. Jahrhundert zu wuchten. Das zumindest war das erklärte Ziel des fast 400 Seiten starken Magazins, das ich 2006 in die Hände bekam oder das, wie es im Spiegel hieß, den Leser*innen auf den Schreibtisch „krachte”. Was an dem Heft im Nachhinein vor allem auffällt, ist die konsequente Selbstzentriertheit, von der aus hier auch eine erweiterte Tempo-Redaktion auf die Welt blickte: „33 Wahrheiten” will man verkünden und auf 13 Seiten wird mit dem Prinzip Top oder Flop über zahllose Menschen von Jassir Arafat über Claus Peymann, Thomas Bernhard und Lady Di bis hin zu Westbam in jeweils zwei Sätzen ein Urteil gefällt. Sogar Maxim Biller durfte nochmal mit 100 Zeilen Hass ran. Außerdem listete man auf, was in den zehn Jahren seit 1996 passiert war und was in den kommenden zehn Jahren bitte passieren sollte, ganz so als sei Tempo tatsächlich der Mittelpunkt des bundesrepublikanischen Denkens, für den man sich seit 1986 hielt – selbsterklärte zeitgeistige Diskursmacht eben. Angesichts des personell langen Arms von Tempo in die Gegenwart, wünscht man sich da, dass der Tempo-Gründer Peichl mit seiner Aussage im Editorial der Sondernummer recht behält, dass es etwas wie Tempo „so nicht mehr gibt und gar nicht mehr geben kann.”

 

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Auf der Suche nach Uchronia – Von Zeit und Chemotherapie

Der gelbe Fleck auf dem Laken meines Bettes verursacht mir Übelkeit. Das Gelb löst ein Geruchsempfinden aus, das ich mir mit großer Wahrscheinlichkeit einbilde. Die Farbe erinnert mich an die träge glänzende Flüssigkeit, die zur Zeit manchmal von einem Beutel in mich hinein tropft, aber es muss der Überrest einer Mahlzeit sein, Currysauce von gestern vielleicht. Auf den weißen Bezügen ist alles deutlich sichtbar: jedes Haar, jeder Spritzer Blut, jeder Soßenfleck, Schweiß, Erbrochenes. Alles ist sofort zu erkennen. Auf der Decke, auf dem Betttuch, auf dem Kopfkissen entsteht in kleinen Flecken eine Chronologie der letzten Tage. Meine Mutter hat früher gescherzt, man könne auf meiner Kleidung die Speisekarte erkennen, ich kann meine Krankenhausakte auf dem Bettlaken lesen.

Es ist 7.45 Uhr, noch etwa 15 Minuten. Wenn um 9 Uhr kein*e Ärzt*in da war, frage ich nach.

Acht Monate, fünf Wochen, 16 Tage, drei Tage, 72 Stunden, 4 Stunden…

Diese Zeitangaben stehen für Intervalle, die in meinem Leben vor etwas mehr als zwei Jahren eine Bedeutung hatten. Damals war ich in Chemotherapie. Sie begann am 2. Oktober 2017 oder hätte beginnen können. Ich weiß dieses Datum nicht, weil es mein Leben verändert hat oder weil es der Beginn von acht langen Monaten war. Ich weiß dieses Datum, weil der nächste Tag der 3. Oktober war und an einem Feiertag nichts passiert. Es verstrich einfach Zeit. Schon am zweiten Tag im Krankenhaus bekam ich eine Ahnung davon, um was es in den nächsten Monaten am meisten gehen würde: Zeit. Es passierte einen Tag lang nichts, Zeit verging, wie so oft in den darauffolgenden Monaten, ohne, dass ich sie bestimmen konnte.

Ein großer Teil der Zeit, die ich während dieser acht Monate erlebte, war das, was Helga Nowotny einmal in einem Essay als unbesetzte Zeit beschrieben hat: Die Zeit, die man durchlebt, während man unfreiwillig wartet. Das Gegenteil davon ist der Titel ihres Textes: Eigenzeit. Der größte Teil meiner Chemotherapie war keine Eigenzeit, sondern Zeit, auf deren Inhalt ich keinen Einfluss hatte.

Krebs als psychische und körperliche Erfahrung lässt sich kaum objektivieren, es ist ein in höchstem Maße individueller und subjektiver Prozess. Die Kämpfe, die man ausfechten muss, die Sorgen, die durchgestanden werden, die Schmerzen, die man erträgt, und die Angst, die mit all dem verbunden ist, sind Bestandteile einer Gesamterfahrung, die man nicht allgemeingültig beschreiben kann. Alles davon hat für jede*n eine eigene Schwere, eine eigene Leichtigkeit, ein eigenes Gefühl. Meine Therapie wurde von dem Verhältnis von unbesetzter Zeit zu Eigenzeit bestimmt. Und ich tat alles dafür, dieses Verhältnis in einer Balance zu halten, die ich ertragen konnte.

Im Rhythmus bleiben

Zeit wurde in diesem Sinne zum entscheidenden Faktor dieser Monate, die ich in bestimmten Intervallen zu denken und zu leben begann. Wenn einer der Zeitabschnitte durcheinander kam, wenn Zeit stehen blieb, geriet ich in Panik. Meine Chemotherapie musste für mich wie ein regelmäßig tickendes Uhrwerk vorangehen. Genau wie bei einem solchen mechanischen Apparat mussten Kleinigkeiten derart aufeinander abgestimmt sein, dass sie schließlich dazu führen, dass etwas mit einer exakten, regelmäßigen Geschwindigkeit voranging. Jeder Vorgang musste in einem bestimmten Tempo vonstatten gehen, damit er den nächsten im richtigen Moment anstieß und diesen wiederum in Bewegung versetzte. Nur so konnte der vorgesehene Rhythmus der Behandlung, in dem sich Krankenhausaufenthalte mit unterschiedlich langen Pausen, die ich zuhause verbringen konnte, abwechselten, erhalten bleiben.

Ich verfolgte alles peinlich genau.

Wenn ich mittwochs in Krankenhaus kam, dann konnte das nur geschehen, weil meine weißen Blutkörperchen einen bestimmten Wert aufwiesen. War ich dann im Krankenhaus, musste mir am Abend ein Tropf mit Flüssigkeit gegeben werden, damit am nächsten Tag mit der Gabe des Medikaments begonnen werden konnte. Je nachdem, um welches Medikament es sich handelte, floß die gelbe oder rötliche Flüssigkeit vier oder 72 Stunden durch einen Zugang in der rechten Brust in meinen Körper. Dann mussten nach vier Stunden wieder mehr Kochsalzlösung und manchmal ein zusätzliches Medikament alle acht Stunden gegeben werden, damit das Gift wieder aus dem Körper gespült wurde. Ich behielt jeden dieser Schritte genau im Auge, erinnerte Pflegekräfte an bestimmte Vorgänge, schrieb mir jeden Blutwert auf und achtete darauf, dass die Zeit im Takt blieb. Ein Ausscheren hätte das Uhrwerk gestört. Wenn das Uhrwerk seinen Dienst tat, konnte ich am Sonntagmorgen das Krankenhaus verlassen.

Ich grabe meinen Kopf in das weiße Kopfkissen und warte. Jetzt ist das Blut auf dem Weg. Es wird abgeholt und ins Labor gebracht. Dort wird es untersucht und die entscheidenden Werte werden gemessen, die dann auf dem Bildschirm in der Pflegestation erscheinen. So lange liege ich hier. Es ist Sonntag, alle diese Vorgänge dauern länger. Ich betrachte und fühle meine Handinnenflächen, sie sind trocken, gleichzeitig ist mein Gesicht aufgequollen von mehreren Litern Flüssigkeit. Ich kann das spüren. Alles fühlt sich falsch an, Haut ist nicht mehr Haut, Haut stört. Ablenkung ist alles. Seit 7 Uhr habe ich drei Folgen Gilmore Girls geschaut. Jede davon eine dreiviertel Stunde. Währenddessen kam ein Pfleger zum Blutabnehmen und das Frühstück wurde gebracht. An solchen Tagen im Krankenhaus rechne ich Zeit in Serienfolgen. Beruhigt bin ich, wenn die Länge der übrigen Folgen einer Serie bis zu meiner Entlassung reicht. Noch war kein*e Ärzt*in da, es ist nach 9 Uhr.

Das alles Entscheidende in diesen Abläufen war, dass ich grundsätzlich nach vier Tagen das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Das setzte ich von Anfang durch – sofern es medizinisch vertretbar war, wollte ich sonntags nach Hause. Nur so konnte das Verhältnis von unbesetzter Zeit und Eigenzeit so bleiben, dass ich es ertragen konnte. Die Sehnsucht nach Eigenzeit wurde zum alles bestimmenden Gefühl und Eigenzeit hatte ich nur in meiner eigenen Wohnung. Dort war mein Uchronia – mein Eigenzeitort.

Das seltsame Gefühl weißer Handtücher

Uchronia ist in der christlichen Theologie ein Jenseitszustand losgelöst vom Druck der Zeit. Für mich war Uchronia der Ort, an dem ich so viel Zeit wie möglich verbringen wollte. Auch im Krankenhaus konnte ich meine Zeit weitgehend selbst füllen, aber dort war ich nicht der Herrscher über mein eigenes Uchronia, die Zeit, die ich dort verbrachte, war unbesetzt, sie war bestimmt von Faktoren, die ich nicht kontrollieren konnte.

Der Kontrollverlust fing mit dem Geruch an, der mir beim Betreten des Stockwerkes meiner Station, entgegenschlug. Ein stehender Geruch, unveränderlich, schal und gleichzeitig eindringlich, zusammengesetzt aus Gerüchen von notdürftig warmgehaltenem Essen, von Desinfektionsmitteln und parfümfreier Seife, von heiß und mit geruchlosen Waschmitteln gewaschener Wäsche und von Körpergerüchen. Es ist ein Geruch, der entsteht, wenn vermeintlich Geruchloses mit warmen Gerüchen und stehender Luft vermischt wird. Jedes Stockwerk des Klinikgebäudes roch anders, die meisten in meiner Wahrnehmung besser als ‚meines‘. Hatte ich ein Einzelzimmer, riss ich sofort beide Fensterflügel auf, selbst in den Wintermonaten. Von den Mahlzeiten, mit denen die Station beliefert wurde, hielt ich mich so weit wie möglich fern und bestellte mir stattdessen Essen von Lieferdiensten. Das war bald so bekannt, dass Pfleger*innen neugierig fragten, was es denn heute bei mir gäbe.

Wie sehr das Empfinden an Orte geknüpft war, zeigte sich auch durch die Zustände von Übelkeit und Erbrechen, nur im Krankenhaus war mir übel und das körperliche Unwohlsein viel stärker. Dabei genügte ein Geruch, ein Farbton oder gar die Maserung des Tisches neben meinem Bett, die ich sehen konnte, dass mir ein Gefühl den Körper hinaufstieg, das Übelkeit auslöste. Sogar das Licht war mir unangenehm, kalt und grell oder zu fahl, strahlte von den weißen Wänden ab. Weiß wurde zur unerträglichen Nichtfarbe. Noch heute fühlen sich weiße Handtücher seltsam an. Das Unerträglichste aber war, dass ich in der Zeit im Krankenhaus nicht entscheiden konnte, wann ich alleine war.

Während ich die vierte Folge der Serie am heutigen Vormittag schaue, verdeckt der Bildschirm meines Laptops meinen Zimmernachbar. Er liegt in seinem Bett und starrt die Decke an. Vorhin saß seine Frau an seinem Bett. Ich habe versucht beide zu ignorieren, mein Kopf so nah am Bildschirm, dass ich lediglich erahnt habe, dass noch andere Menschen im Zimmer sind. Allein sein. Schweigen können. Reden können, oder weinen. Der gestrige Abend war einer der schlimmsten. Dieser plötzliche Drang niemanden sehen zu müssen, niemanden hören zu müssen, nicht die Anwesenheit von verfallenden Körpern spüren zu müssen, stattdessen die Wand anschreien zu können. Panik. Nicht aus Angst, nur aus dem drängenden Wunsch heraus, allein zu sein, keinen Menschen sehen zu müssen.

Der Ort, an dem ich all das kontrollieren konnte, an dem ich allein sein konnte, der Ort, an dem ich Zeit bestimmen konnte, war meine Wohnung – mein Uchronia. Jede Stunde in meiner eigenen Wohnung war wichtig. Und elementar war, dass ich diese Zeit zelebrieren konnte. Von dem Moment des Betretens meiner Wohnung an fühlte ich mich wohl. Etwas fiel ab von mir, etwas in mir kam zur Ruhe. Die Tage und Stunden dort wurden so wichtig, dass ich sie bewusst nutzen wollte. Ich begann mir den Wecker auf 6 Uhr morgens zu stellen, obwohl ich keinerlei Verpflichtungen hatte. Der Wunsch danach, so viel bewusst erlebte Zeit in meiner Wohnung zu verbringen, wie ich konnte, wurde zum alles andere überragenden Zweck meines Handelns. Ich stand mehrere Stunden früher auf als sonst, im Winter lange bevor die Sonne aufging, machte das Radio an, kochte Tee, ging Duschen und setzte mich mit einem Buch oder meinem Laptop auf meinen Sessel, legte die Füße hoch und las, surfte im Netz, schaute eine Serienfolge oder einen Film, schrieb etwas und draußen begann langsam der Tag. Die Nachrichten im Radio strukturierten den Morgen, der Verkehr vor den Fenstern wurde lauter und flaute gegen halb 9 wieder ab. Wenn ich dann nach Stunden auf die Uhr sah und bemerkte, dass es erst 10 Uhr am Vormittag war, überkam mich eine unendliche Erleichterung darüber, dass es immer noch so früh am Tag war. Das Gefühl der angenehmsten Ruhe in diesen Monaten empfand ich, wenn mir klar wurde, wie viel Zeit ich immer noch in dieser Wohnung vor mir hatte.

Es ist in der Mitte der fünften Folge Gilmore Girls an diesem Vormittag, als die Tür aufgeht und eine junge Ärztin hereinkommt. Mehrmals habe ich an der Pflegestation nachgefragt und vorher versucht abzuschätzen, wann ich jemandem auf die Nerven gehen würde. Jedes Mal hieß es, die diensthabende Ärztin wäre noch unterwegs, meine Blutwerte sähen aber gut aus. Die Angst und die Erleichterung lösen sich in diesen Stunden ab. Ich weiß, ich darf heute gehen, wenn… wenn alles so ist wie immer, wenn die Ärzt*innen mir vertrauen, wenn kein*e Ärzt*in Autorität auf die falsche Art und Weise beweisen will. Ich warte. Meine Tasche habe ich längst gepackt, nur der Laptop ist noch draußen, ich brauche ihn, um Serienfolgen zu schauen, um Zeit zu messen und zu beschleunigen. Ich höre kaum, was die Ärztin sagt. Ich weiß genau, was ich tun muss, worauf ich achten muss, wann ich welche Tablette nehmen muss, wie meine Leukozyten und Thrombozyten sein müssen, ich funktioniere wie ein Uhrwerk und ich kenne meinen Körper, spüre, wie es mir geht. Als ich die Station verlasse, beginnt wieder die Zeit, die ich selbst bestimmen kann.

Raum und Zeit für sich allein

„Ein Zimmer für sich allein“ ist für Virginia Woolf die Voraussetzung, damit eine Frau große Literatur schaffen kann, und nie habe ich ansatzweise so gut verstanden, was damit gemeint sein könnte, wie in dieser Zeit. Während sich Woolf als Frau in einer Gesellschaft, die ihr nicht die Zeit und den Raum ließ, um zu schreiben, ein eigenes Zimmer wünschte, wollte ich einfach nur eine Tür, die ich hinter mir schließen konnte. Hier zeigt sich, wie sich Ort und Zeit auf eine bestimmte Art verbinden. Woolfs Sehnsucht nach einem Zimmer für sie allein, bezieht sich nicht nur auf die räumliche Ebene sondern auch auf eine zeitliche. Eine Tür hinter sich schließen zu können und einen eigenen, abgeschlossenen Raum zu haben, dessen Erscheinung und Nutzung man selbst bestimmen kann, bedeutet in diesem Fall auch eigene Zeit zu haben – die Parameter des Zeitverlaufs selbst bestimmen zu können. Ein Zimmer für sich allein ist auch eine Zeit für sich allein.

Die Möglichkeit sich durch einen eigenen Raum Zeit für sich selbst zu verschaffen entsteht für mich auch durch das Internet mit seinen sozialen Netzwerken und seinem permanenten Zugang zu Büchern, Filmen und Ablenkungen. Oft wird gesagt, das Internet raube uns Zeit, vielleicht – mir verschafft es oft Zeit, die ich selbst bestimmen kann. Die Welt des Internets ist die digitale Erweiterung meines Zimmers für mich allein. Die Öffnung eines Raumes, den ich schließen kann, wenn ich es will und den ich öffnen kann, wann immer ich ihn brauche. Gleichzeitig kann ich allein sein. Vor dem Bildschirm sieht dich niemand mit deinen privatesten Emotionen – manchmal ist das gut so, manchmal muss das genauso sein.

Auch jetzt noch, zwei Jahre nach Ende der Therapie, denke ich in diesen Mustern. Diese acht Monate haben mein Gefühl für Zeit und mein Bedürfnis nach Eigenzeit grundsätzlich verändert. Ich verbringe mehr Zeit in meiner Wohnung oder einfach alleine, mir geht es gut in dieser Zeit, ich bin nicht einsam oder traurig, auch weil ich meinen Raum um mich herum jederzeit um das Internet erweitern kann. Ihn mit den Stimmen von Menschen füllen kann, mit Bildern und Tönen. Immer dann, wenn ich es brauche oder ertragen kann.

Die Vorstellung einen langen Tag vor mir zu haben, an dem ich keinen anderen Menschen sehen muss, aber dennoch kommunizieren und mich mit anderen im digitalen Raum umgeben kann, wann immer ich will, beruhigt mich.

Am deutlichsten spüre ich dieses Bedürfnis, wenn die Nachsorgetermine anstehen. Etwa eine Woche davor beginne ich Zeit wieder stärker bestimmen zu wollen – ich will mir Eigenzeit verschaffen. Jede Stunde, die ich in vier Wänden, deren räumliche und zeitliche Parameter ich beherrschen kann, verbringen kann, wird dann wieder sehr kostbar. Ich verfalle in meine Muster aus der Therapiezeit, stehe früh auf, zelebriere den Morgen, koche ausgiebig, lese, schreibe und schaue Filme und Serien. Ich schaffe mir Raum und Zeit – meinen Raum und meine Zeit. Mit jeder Stunde, die der Kontrolltermin näher rückt, werden die Zeiträume, die ich auf diese Weise mit Bedeutung auflade, kleiner. Ist es am Beginn der letzten Woche vor der Untersuchung noch ein beruhigendes Gefühl sieben lange Tage vor sich zu haben, so ist es am Morgen des letztes Tages davor, ein guter Gedanke zu wissen, dass ich noch ein paar Stunden in meiner Wohnung habe – die Eigenzeiträume, die ich genießen will, werden kürzer. Nach den Untersuchungen erfüllt ein ausgedehntes Eigenzeitgefühl die nächsten Monate – bis es wieder die letzte Woche vor dem Termin ist. Auf die Emotionen dieser Woche hoffe ich bald verzichten zu können. Das Gefühl von Eigenzeit würde ich gerne behalten, es fühlt sich gut an.

Diskursives Feuerwerk – Olivia Wenzels “1000 serpentinen angst”

Es ist nicht leicht, sich Olivia Wenzels Prosa-Debüt 1000 serpentinen angst zu nähern, obwohl es sich um einen Roman handelt, den man trotz seiner knapp 350 Seiten schnell gelesen hat. So weit gespannt ist das Netz aus Themen, das die Autorin knüpft, dass man beim Sprechen darüber nie genau weiß, wo man mit seinen Betrachtungen anfangen soll, weil man fürchtet einem wichtigen Punkt nicht gerecht zu werden. Gleichzeitig spürt man, dass dieser Roman Leser*innen herausfordern will, weil Wenzel Bereiche miteinander in Verbindung bringt, die zwar alle in der deutschen Gegenwartsliteratur präsent sind, jedoch nicht vereint in einer Figur. Das führt dazu, dass die Themenfülle beinahe kognitive Dissonanz auslöst.

Wie komplex die Perspektive ist, aus der hier vor dem Hintergrund von Diskriminierung und derzeitigen Identitätsdiskursen erzählt wird, zeigt sich etwa in dem Moment, als die namenlose Protagonistin angesichts ihres sexuellen Begehrens für eine andere Frau, realisiert, dass sie dadurch in „die nächste marginalisierte Randgruppe“ fallen würde. Sie wurde als eines von

zwei Zwillingskindern einer weißen Frau aus der DDR und eines schwarzen Mannes aus Angola in den zerfallenden Sozialismus der 80er Jahre hineingeboren und wuchs mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrem Bruder in die turbulenten Wendejahre hinein, erlebte Rassismus und Hass, aber auch die Kämpfe der eigenen Mutter mit dem Staat, der Erziehung und sich selbst. Jetzt, nach dem Suizid ihres Bruders auf einem Bahnsteig, leidet die Protagonistin unter einer Angststörung und muss sich in ihrem Leben neu zurechtfinden. Da erscheint die Aussicht, sexuelle Lust für eine Frau zu entwickeln, der Protagonistin wie eine zusätzliche Möglichkeit wegen ihrer Identität Ausgrenzung und Diskriminierung zu erfahren. Durch biografische Zufälle gerät die Protagonistin in ein Cluster aus Identitätsfragen, die jeweils mit verschiedenen Formen von Diskriminierung in Verbindung stehen.

Das Problem mit der Banane

Wenzel, die wie ihre Protagonistin als Tochter einer weißen Frau und eines schwarzen Mannes in der DDR geboren wurde, betont, ihre namenlose Figur sei nicht sie selbst, sondern eine düstere Variante von ihr, die ähnliche Dinge erlebt habe. Autofiktional sei das Buch aber dennoch. Letztlich ist nicht von Belang, ob man den Roman autobiografisch, autofiktional oder rein fiktional liest. Die Autorin erzählt differenziert und reflektiert von einem Leben, das sich in seiner ganzen Komplexität in Diskurse der Gegenwart einschreibt, über subjektive Erfahrungen hinausweist und dabei doch individuell bleibt. Dabei zeigt sich exemplarisch, wie komplex die mehrfache Diskrimierungserfahrung der Protagonistin in der deutschen Gegenwartsgesellschaft ist, als sie erklärt, was für sie das dreifache Problem mit dem Essen einer Banane ist: Sie als schwarze Frau aus der ehemaligen DDR kann nicht einfach eine Banane essen, ohne, dass sie in ein assoziatives Gefüge aus Rassismus, Sexismus und sogenannten Ossi-Witzen gerät. Diskriminierung ist intersektionell und dies wird an dem Bild mit der Banane auf drastische Art deutlich.

Im Zentrum dieses Netzes aus zugewiesenen und tatsächlichen Identitäten steht das Schwarzsein. Hier zeigt sich die ganze Stärke der Erzählstimme, die großen Teilen des deutschen Literaturbetriebs wiederholt die eigene normierte Perspektive aufzeigt. Das geschieht schon durch die selbstverständliche Markierung von Personen als weiß – so simpel und für die deutschsprachige Literatur so ungewöhnlich ist das, dass es jedes Mal auffällt. Immer wieder kehrt Wenzels Protagonistin gewohnte Blickrichtungen um, verdreht Verhältnisse, indem sie Bilder entwirft, die vorurteilsbehafteten Vorstellungen widersprechen:

Zwei blonde Frauen schneiden Dönerfleisch vom Spieß und backen Fladenbrot auf; hinter der transparenten Plastiktheke warten vier Kundinnen mit Kopftuch auf ihr Essen. Drei blasse, rotblonde Deutsche kommen nach Dienstschluss in eine Anwaltskanzlei, um zu putzen; alle deutsch-senegalesischen Angestellten sind bereits weg.

Beim Lesen von 1000 serpentinen angst wird in diesen Momenten schmerzhaft bewusst, wie einseitig die Perspektive großer Teile deutscher Gegenwartsliteratur ist. Wie stark ausgeprägt diese Einseitigkeit ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Olivia Wenzel selbst erst erkennen musste, wie tief eingefressen diese Normierungen ins literarische Bewusstsein der deutschen Schreibenden und Lesenden sind. Auch Wenzel hat jahrelang nach eigener Aussage in ihre Theaterstücke nur weiße Figuren geschrieben, bevor ihr dieser blinde Fleck in ihrem eigenen Schreiben bewusst wurde. Dadurch, dass die Hauptfigur des Romans wiederholt eigene Verstrickungen in Dynamiken von Privilegien, normierten Perspektiven und Identitätsdiskursen erkennt und reflektiert, wird der Text auch zu mehr als einer Anklage gegen eine weiße Mehrheitsgesellschaft.

Anders privilegiert

Denn die nicht-weiße Erzählerin erkennt, dass auch sie im Verhältnis zu anderen privilegiert ist und etwa reisen kann, im Gegensatz zu den Frauen ihrer Familie nur dreißig Jahre zuvor. Genauso wird ihr bewusst, dass sie in den USA das Gefühl einer starken und stolzen Black Community nur deshalb genießen kann, weil die Entwicklung einer solchen Gemeinschaft nötig und möglich war, weil sie einen gewissen Schutz vor Diskriminierung und rassistischer Gewalt bot:

Und plötzlich begreifst du: Diese warme Community schwarzer Menschen, hier in den USA, ist nur möglich, weil sie jahrhundertelang zum Überleben nötig war. […] Du kannst dankbar sein, dass du willkommener Gast in dieser Gemeinschaft bist, eine Touristin dieser auf Schmerz gewachsenen Blackness.

Dadurch dass an dieser Stelle implizit unterschiedliche Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen gegenübergestellt werden, wird hervorgehoben, dass es sich bei schwarzen Menschen natürlich nicht um die homogene Gruppe handelt, als die sie von weißen Menschen oft dargestellt wird.

Dass Olivia Wenzel diese Fülle an Themen und Perspektiven inhaltlich zusammen halten kann, liegt auch daran, dass im Zentrum all dessen ein erzählendes Individuum steht, das durch eine ganz persönliche Geschichte dem Diskursfeuerwerk des Romans ein festes Zentrum verschafft. Im Kern ist der Roman der Kampf einer jungen Frau, die mit dem Selbstmord ihres Bruders und dem gestörten Verhältnis zu ihrer ebenfalls mehrfach traumatisierten Mutter zurechtkommen muss. Im Ringen mit den eigenen und familiären Traumata gewinnt die Figur Konturen, die über ihre Zugehörigkeit zu gesellschaftlich diskriminierten Gruppen hinausreichen. Die Leitfrage, der sich dieses Individuum immer wieder stellen muss, ist „WO BIST DU JETZT?“ Das ist sowohl räumlich als auch psychologisch gemeint: Wo stehst du als Person, wo befindest Du Dich in Deiner Suche nach Halt im Sturm aus Traumata, Identitätsfragen und Beziehungen zu anderen Menschen.

Fragmente und offene Enden

Während der Versuch einer individuellen Verortung der Protagonistin dem Roman einen inhaltlichen Halt gibt, ist es dieses Frage-Antwort-Spiel, das den formalen Rahmen dafür schafft, dass der Autorin diese Themenfülle nicht strukturell entgleitet. Olivia Wenzel, die bisher vor allem für das Theater geschrieben hat, hat nun einen Roman vorgelegt, der sich beinahe ideal für eine Bühnenadaption eignet, da sie große Teile ihres Debüts als Dialog der Protagonistin mit einer übergeordneten Instanz strukturiert hat, die beobachtet, Fragen stellt und Hinweise gibt. Wer diese Stimme ist, die mit der Protagonistin im Gespräch steht und teilweise auch selbst auf deren Fragen reagiert, wird nicht klar. Vielleicht stecken in ihr Bestandteile der Protagonistin, ihres verstorbenen Bruders, ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Freundin Kim; oder es ist ein undefiniertes gesellschaftliches Außen, das sich im Kopf der Figur im Gespräch manifestiert. Neben diesem (Zwie)Gespräch mit einer übergeordneten Instanz, ist der Roman durchzogen von kürzeren und längeren Text- und Dialogfragmenten, die sich erst langsam und im Verlauf des Lesens in das chronologische und personelle Gefüge des Gesamttextes einordnen. In dieser dialogischen und chronologischen Zersplitterung ist der Roman auch formal ein Abbild seiner Protagonistin, deren Identität und Persönlichkeit aus ebenso vielen Fragmenten und offenen Enden besteht und gleichzeitig ein individuelles Zentrum besitzt.

Vor einigen Tagen lobte Julia Encke in der FAZ die literarischen Debüts von Christian Baron, Paula Irmschler und Cihan Acar als drei Romane, die „so etwas wie Bestandsaufnahmen jenes Landes, in dem wir leben, aus völlig unterschiedlichen Außenseiterperspektiven“ seien. Sie handelten „von jungen Menschen, die zu etwas dazugehören wollen, aber nicht so genau wissen, zu was oder wie sie es anstellen sollen. Drei Deutschland-Romane, die für unsere Selbstverständigung ein Glücksfall sind.“ Olivia Wenzels Roman muss in genau dieser Reihe wichtiger Debüts des literarischen Frühjahrs auch genannt werden, denn ihr Perspektivenreichtum und ihr Mut, erzählerische Formen ebenso aufzubrechen wie normierte Lesegewohnheiten, erzählen mindestens genauso viel über unser Land und die Fragen, mit denen sich die deutsche Gesellschaft auseinandersetzen muss, wie die genannten Romane. Wenn nicht mehr.

Würgers Würste – Geschichte einer Obsession

Dies ist die Geschichte eines Reporters und seiner Obsession. Einer sehr stereotypen Obsession. Es geht um nichts anderes als um die Wurst. Aber der Reihe nach. Schon Otto von Bismarck soll angeblich den Satz gesagt haben: “Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“ Doch wie es bei etlichen Zitaten, die historischen Persönlichkeiten zugesprochen werden, der Fall ist, so muss man auch hier feststellen, dass es sich leider nur um eine Legende handelt.

Der Journalist und Romanautor Takis Würger hingegen hat wirklich eine besondere Vorliebe für Würste, man könnte gar sagen eine Besessenheit.

Als Reporter ist er angewiesen auf sprachliche Bilder, die ein Gespür für die Szenerie vermitteln. Und Würger sieht es so: Reporter*innen werfen „ihre Protagonisten in die Wurstmaschine, ob sie [wollen] oder nicht, weil die Wurstmaschine der einzige Weg zu einer Reportage ist.“ Dieser Satz aus Würgers Porträt der amerikanischen Reporterin Lisa Taddeo vom 04. Januar 2020 irritiert erst einmal. Woher diese seltsame Metapher? Wenige Tage später ein weiteres Porträt aus Würgers Feder, diesmal über die Bestsellerautorin Rita Falk, die Krimis schreibt, die in kleinbürgerlichen deutschen Dörfern spielen, der Titel: Wurstliteratur. Kann das Zufall sein? Nur wenige Tage darauf sprach Würger im Podcast Quatschen mit Soße der Zeitschrift Essen & Trinken über seine „Gier nach Currywurst“ . Es ist kein Zufall! Eine Recherche im Zeitungsarchiv verrät: Würste und Würger – das gehört zusammen.

Die Wurst – eine absolute Metapher?

Kaum ein anderes Lebensmittel ist so sehr eine Metapher für Deutschsein. Vielleicht ist es das Grobe, das in dem Akt des Pressens von zermahlenem Fleisch in die Haut steckt, vielleicht aber auch das Eingeengte der Wurstmasse in der Haut, die wenig elegante Form oder der Klang des Wortes allein: Das tief im Hals ansetzende U, das in den Konsonantencluster aus zwei Reibelauten und einem Verschlusslaut übergeht – aus irgendeinem Grund ist die Wurst das stereotype deutsche Lebensmittel schlechthin. Und um die metaphorische Kraft weiß Takis Würger natürlich. Wie hier in der Reportage Mein Monat mit den Menschen von Clausnitz:

„Was also bleibt an Erkenntnis nach einem Monat im Erzgebirge? Es gibt kein Nazidorf. Es gibt nicht den Clausnitzer, der für alle steht. Das Einzige, was alle, die ich traf, gemeinsam haben, ist, dass sie Wurst mögen.“

Die Wurst ist hier die Gemeinschaft erzeugende Vorliebe, das überparteiliche Lebensmittel, nicht nur Nazis essen Wurst, alle Menschen in Clausnitz mögen Wurst. Der letzte Satz weist, so meint man, über die Reportage hinaus, er scheint sagen zu wollen: Du darfst deutsch sein, das macht dich noch nicht zum Rechtsradikalen – du bist gut wie du bist, iss Wurst.

Für Takis Würger ist die Wurst die perfekte Metapher, die absolute Metapher. Und Hans Blumenberg hatte Recht mit seiner Feststellung, dass manche Metaphern eine Semantik weit über das hinaus gewonnen haben, für das sie einmal standen. Absolute Metaphern geben „einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität.“ Und so hält es Takis Würger auch mit der Wurst:

„2 Gläser Nutella, 2 Gläser selbstgekochte Erdbeer-Rhabarber-Marmelade, 1 Büchse grobe Leberwurst, 1 Stück Speck, 1 Büchse Mandarinen, 1 Tube Senf, 1 Blutwurst, 2 Ritter Sport, 1 Brief. Es ist ein Karton gefüllt mit Deutschland. Sommerkorn schreibt seiner Mutter in einer E-Mail: Danke für das tolle Paket. Du weißt doch, dass ich keine Blutwurst esse.“

Der Soldat in der Reportage Das verschwundene Bataillon bekommt ein Fresspaket seiner Mutter und Würger erkennt zielsicher die metaphorische Qualität dieser Situation. Es ist ein Paket, das für Deutschland stehen soll, für Heimat, und wir sehen sofort, dass das Entscheidende nicht die anderen Lebensmittel sind (sie alle können in irgendeiner Form für Deutschland stehen) – was die Metapher funktionieren lässt, was die Metapher absolut macht, sind die Blutwurst und die Leberwurst. Wie auch in der Ablehnung der Blutwurst durch den jungen Soldaten vielleicht auch eine Ambivalenz zu seiner Aufgabe als Repräsentant und Verteidiger einer deutschen Kultur steckt.

Überall Würste

Hier offenbart sich auch die Vielzahl unterschiedlicher Würste, die viele Deutsche kennen. Einige Städte in Deutschland haben ihre eigene Wurstsorte und in den 90er Jahren wurden sie von einem rundgesichtigen Metzger mit glänzenden Augen im Fernsehen aufgezählt, einen Schnitt später brachte eine Mischung aus Robin Hood und Surferboy mit einem Wort die Fleischwarenverkäuferin in der Rügenwaldermühle zum Schmelzen und ritt mit einem Arm voller Würste nach Hause, Bratmaxe wurden gegrillt und dann ging TV Total, die Late-Night-Show mit dem berühmtesten deutschen Metzgersohn, weiter.

Vielleicht war es diese mediale Überpräsenz, die auch bei Takis Würger eine Obsession mit dem bei vielen Deutschen so beliebten Fleischprodukt auslöste, wie sonst hätte er seine semantische Reichhaltigkeit in Vergleichen so nutzen können wie hier:

„Ein Maßschuh hat mit einem Schuh von Tamaris oder Deichmann eigentlich nur gemeinsam, dass beide an den Füßen getragen werden. Es ist, als würde man einen Maserati mit einer Wurst auf Rädern vergleichen, beides rollt, aber damit endet die Gemeinsamkeit.“

Nichts umfasst den Kern der Geschichte der Maßschuhmacherin Saskia Wittmer so perfekt wie der hier gewählte Vergleich. Es hätte jedes Lebensmittel sein können, aber kein anderes wäre perfekt gewesen. Etwas ließ Würger spüren, das es nur die Wurst sein konnte, die das scheinbar Paradoxe an einer deutschen Frau als Maßschuhmacherin in Florenz ausdrücken und im gleichen Moment auflösen würde: Der Vergleich mit dem Wurstklischee entlarvt ein anderes Klischee als falsch. Es ist das Grobe, das Unelegante der Wurst, das hier den Unterschied und die Wurst zum perfekten Nahrungsmittel in dem Vergleich macht. Es sind dieselben charakterlichen Elemente der Wurst, mit denen Takis Würger der Pariser Philharmonie mit dem Vergleich, sie sähe aus „wie eine geplatzte Wurst aus Metall,“ in einer Reportage ein Stück der Erhabenheit nimmt, die man ansonsten sofort mit dem Gebäude verbinden würde. Würger genügt die Erwähnung einer Wurst, um ein Gebäude umzudeuten.

Die perfekte Symbiose aus faktischem Inhalt und metaphorischem Gehalt seiner Obsession aber schaffte Würger 2010 mit der Geschichte von Wolfgang Joswig: einem widerständigen DDR-Bürger, der schließlich die längste Thüringer Wurst aller Zeiten briet: „Die Wurst war für ihn Vergangenheitsbewältigung.“ Ob Würger wusste, was er tat, lässt sich nicht nachvollziehen, aber hatte nicht Christoph Schlingensief zwanzig Jahre zuvor mit dem Film Das deutsche Kettensägenmassaker, in dem eine ostdeutsche Familie nach ihrer Ausreise von Westdeutschen zu Wurst verarbeitet wird, eine metaphorische Kritik am Wendeprozess auf Zelluloid gebannt? Und jetzt übernahm die Obsession im Unterbewusstsein die Regie und die wahre Geschichte eines Widerstandes gegen das DDR-Regime, in der eine Wurst eine tragende Rolle spielte, wurde ohne das Wissen des Reporters mit dem metaphorischen Gehalt des Schlingensief-Films aufgeladen.

Auch wenn Würste für Takis Würger nicht die gleiche Bedeutung haben dürften, wie für Wolfgang Joswig, der sich gegen ein repressives System auflehnte, so sind sie doch für sein Wirken als Reporter so elementar, dass sie in mehr Texten auftauchen als hier aufgezählt werden konnten und Takis Würger ist vielleicht der erste Journalist, der ohne Zwang in einem SPIEGEL-Text das Wort „Wurstgulasch“ verwendete. Und so wie Reporter*innen ihre Protagonist*innen zu Wurst verarbeiten, verwurstet auch der Reporter Takis Würger die gleiche Metapher, den gleichen Vergleich ein ums andere mal – und da soll einer sagen, die Wurst sei nicht nachhaltig.

 

Hypnotica Studios Infinite from Toms River, New Jersey, USA [CC BY (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)]

Wahr, glokal und hier und jetzt – Literatur & Internet

„Die wichtigen Dinge des Lebens geschehen nicht im Internet.“

Es zeugt von einer seltsamen Unkenntnis des Lebens sehr vieler Menschen im 21. Jahrhundert, wenn ein Schriftsteller in unserer Gegenwart solche Aussagen trifft. Und doch scheint Alex Capus, einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller der letzten zehn Jahre, der Ansicht zu sein, dass das Internet kein Ort für das echte und wahre Leben sei. Deswegen hat er eine Kneipe eröffnet. Das sei wie Facebook, nur ohne Internet, schreibt er in einem Text für die Schweizer Zeitschrift Das Magazin. Und genau so hält es der Ich-Erzähler seines Romans Das Leben ist gut (2016), auch er wird Besitzer einer Kneipe, unter anderem, weil er fürchtet, dass Menschen sich nur noch im Internet begegnen. Die Angst vor dem Verschwinden der Menschen aus dem vermeintlich wahren Leben in Kneipen und auf der Straße in das vermeintlich falsche Leben im Internet ist ein stetig wiederkehrender Topos der Kulturkritik der letzten Jahre. Diese Perspektive auf digitales Leben teilt auch Mizuko, selbst Schrifstellerin und eine fiktive Figur in dem gerade auf deutsch erschienenen Roman Sympathie (2017) der britischen Schriftstellerin Olivia Sudjic: Das Internet sei „Gift für jeden Plot“, äußert sie, sie „schreibe nur über das wahre Leben.“

Aber was genau soll das wahre Leben sein? Warum sollte wahres Leben das Leben in und mit einer digitalen Welt ausschließen? Wieso sollten das Internet, das dort gespeicherte Wissen, die Möglichkeiten und auch die Gefahren des Onlinelebens und ihr Einfluss auf das analoge Leben nicht ebenso literaturfähig sein wie das, was die fiktive Autorin Mizuko und der reale Autor Alex Capus das wahre Leben, also ein Leben ohne Internet, nennen.
Eine immer größer werdende Zahl von Menschen weltweit verfügt über einen regelmäßigen Zugang zum Internet, schreibt E-Mails, sucht auf Google nach Informationen, schaut Videos auf Youtube und Serien auf Netflix. Selbst diejenigen, die nicht aktiv einen Teil ihres Lebens in den sozialen Netzwerken von Facebook über Instagram bis TikTok und Twitter verbringen, nutzen zu großen Teilen inzwischen Messengerdienste zur Kommunikation mit Freund*innen und Familie. Ein Leben ohne Internet ist zunehmend undenkbar. Aber die Annahme, dass das Leben, welches sich in digitalen Räumen abspielt, kein wahres Leben sei, ist immer noch weit verbreitet.

Glokal und wahr – Leben und Erleben mit dem Internet

Aber genau diese digitalen Räume bieten in Wahrheit Impulse für literarische und ästhetische Innovationen, deren Möglichkeiten die Literatur gerade erst zu erkennen beginnt. Wie nie zuvor nehmen wir uns selbst und den Raum, in dem wir uns bewegen und leben, in Bezug zu Menschen und Orten wahr, denen wir physisch nicht nahe sind. Diese Art der Wahrnehmung, die manche Medienkritiker*innen als so verheerend für unseren Zugang zur Welt ansehen, beschreibt der Mediensoziologe Joshua Meyrowitz in The Rise of Glocality aus neutraler Perspektive, indem er den Begriff glokal um eine Ebene erweitert. Die räumliche und soziale Wahrnehmung unseres Lebens in Zeiten der digitalen Vernetzung lässt uns das Lokale grundsätzlich im Zusammenhang mit einem weltweiten Netz aus Kulturen, Menschen und Orten wahrnehmen. Diese sind nicht physisch präsent, sie beeinflussen aber unseren Zugang zu unserer fassbaren Umwelt. Wir schreiben mit Menschen in anderen Städten, während wir durch unser Viertel gehen, wir betrachten Fotos von Stränden und Wäldern, während wir im Café in der Großstadt sitzen. Wir leben in Glokalitäten (glocalities), in lokalen Räumen, auf die eine vernetzte globale Matrix (interconnected global matrix) gelegt wurde. So sind wir zwar stets an einem Ort physisch anwesend, jedoch gleichzeitig immer verknüpft mit einem globalen Netz aus Informationen, Menschen und Orten.

Wie die Literatur diese Weltwahrnehmung für sich nutzbar machen kann, Ähnliches Fotohat unter anderem Berit Glanz im letzten Jahr in ihrem Roman Pixeltänzer (2019) gezeigt. Darin werden nicht nur zwei Handlungsstränge verwoben, sondern die Autorin bindet über digitale Kommunikation räumlich weit entfernte Figuren und Orte in den Erlebnisraum der Protagonistin ein und schafft damit literarisch ein Gefühl für dieses glokale Erleben. Der Literatur öffnen sich dadurch nicht nur Kommunikationsräume für Figuren, sondern sie kann die Allgegenwart von Wissen, Bildern und virtuellen Räumen ästhetisch und handlungsbezogen für sich nutzen. Denn auch in der Fiktion dieses Romans ist Wissen allgegenwärtig, Kommunikation immer möglich und das Internet alltäglich, es erweitert den Horizont des wahren Lebens in der Fiktion ebenso wie in der Realität. Auch Sudjics Roman Sympathie ist in seinen besten Momenten eine Darstellung dieses Lebens in einer glokalen Umwelt, die durch unsere Geräte als Schnittstelle entsteht. So folgt die Protagonistin Alice Link um Link auf Wikipedia und verliert sich so in einem digitalen Wurmloch aus Informationen, sie erkundet New York anhand einer digitalen Landkarte und erschafft sich auf Instagram eine Teilidentität in der nordamerikanischen Metropole.

Fruchtbare Gefahren – Risiken der digitalen Welt

Wenn analoges und digitales Leben miteinander verschmelzen, werden aber auch Unsicherheit und Überforderung erzeugt, die sich unter anderem in Haltungen wie der von Alex Capus ausdrücken. Diese Gefahren und Unwägbarkeiten des Internets sind keine reinen Hirngespinste: Sucht und soziale Abhängigkeit, unsichere Daten, falsche Identitäten, oberflächliche Beziehungen, Einfluss durch Großkonzerne und Gewalt sind Tatsachen unseres Lebens im digitalen Raum. Allzuoft verfällt Literatur aber angesichts dieser Gefahren in eine reflexartige Abwehrhaltung, anstatt sie erzählerisch zu nutzen, wie sie es mit den Unwägbarkeiten der analogen Welt seit Jahrtausenden tut. Philipp Schönthaler nutzt das erzählerische und ästhetische Potential, das sich auch auf der Kehrseite der glokalen Gegenwart finden lässt. Während Sudjic und Glanz auf unterschiedliche Weise den Alltag in sozialen Netzwerken und unseren Umgang mit der digitalen Welt literarisch umsetzen, verwebt Schönthaler in Der Weg aller Wellen (2019) die digitalen Fallstricke sozialer Netzwerke und der Techwelt mit der Vision einer nahen Zukunft, in der Digitalität weder die heilsbringende Botschaft des Neuen noch eine verheerende, kulturzerstörende Kraft ist. Der Roman zeigt, wie sich die Risiken für Identität und Privatsphäre zur Spannungserzeugung und als Plotpoints nutzen lassen, ohne sie als Kulturpessimismus abzutun und ohne gleichzeitig die Realität unseres Lebens mit dem Internet zu ignorieren. Die Risiken, die das glokale Erleben und eine Dauerpräsenz von Kommunikation und Zugang zu fremden Menschen und Wissen birgt, sind ebenso literarisch fruchtbar zu machen wie die reine Faszination, die sie auslösen können.

Permanente Kommunikation? Zwischenmenschliches in Zeiten des Internets

Die riskanten und kritikwürdigen Seiten schließt auch Olivia Sudjics literarischer Blick auf das Internet und vor allem auf soziale Medien mit ein. Doch sie betont ebenso den verbindenden und positiven sozialen Wert von Instagram, Twitter und Co. Das wird insbesondere in dem bisher nur auf Englisch erschienenen langen Essay Exposure (2018) deutlich, in dem sich vor allem zeigt, dass Sudjics Kernthema anxiety ist: die nervösen, an Panik grenzenden Angstzustände, die sowohl sie selbst als auch die Protagonistin ihres Debütromans immer wieder erleben. Sudjic beschreibt diese Zustände in ihrem Essay als Momente einer extremen Sensibilität: “The easiest way to imagine the baseline feeling is having just finished a third coffee when someone texts: ‘we need to talk’ and then doesn’t call for hours, or at all.” Dieses Gefühl sei der Ausgangspunkt für ihr fiktionales Schreiben in Verbindung mit den Kommunikations- und Selbstdarstellungsoptionen der digitalen Welt. Alice, die Protagonistin von Sympathie, gerät in eine emotionale Abhängigkeit zu der Autorin Mizuko, die sie zunächst durch ihre Onlinepräsenz auf unterschiedlichen Plattformen kennenlernt. Der Moment, in dem sie Mizukos Profil auf Instagram zum ersten mal sieht, ist selbst auf einem Foto festgehalten:

“In genau diesem Moment entdeckte ich Mizukos Instagram-Account. […] An meinem gesenkten Blick erkenne ich, dass ich langsam verblasse. Oder dass die greifbare Welt, um mich herum, die Wirklichkeit, langsam davongleitet, wie feuchter Sand, der im Wasser nach unten sinkt.”

Dass die Erzählerin Alice ebenso wie Lewis Carolls berühmte Protagonistin in einem – in diesem Fall digitalen – Wunderland verschwindet, mag eine sehr naheliegende und nicht fruchtbar subtile Anspielung sein. Doch das, was im Folgenden geschieht, hat tatsächlich deutliche Parallelen zu einem Versinken in einem Wunderland zwischen Traum und Wachzustand.

Alice ist hingerissen von dem digitalen Auftritt der japanischen Schriftstellerin Mizuko und beginnt ihr auf verschiedenen Plattformen zu folgen, bevor sie schließlich mit Hilfe von Ortsangaben in Instagram-Posts ein scheinbar zufälliges Treffen in einem Café arrangiert. Diese Beziehung und ihre Entwicklung vollziehen sich sowohl digital als auch analog. Und daran, wie Sudjic das darstellt, zeigt sich, dass sie es versteht, die Alltäglichkeit des Internets narrativ zu nutzen. Die Spannung, die der Roman aus der permanenten digitalen Kommunikationsmöglichkeit und ihrer Verweigerung zieht, ist beeindruckend:

“Keine Antwort. Nicht mal gelesen. […] Gesendet blieb grau und flach. Ich wartete darauf, dass es blau würde – das leuchtende, wunderschöne Blau, das eine Nervenbahn zwischen uns schaffen würde.
”

Die aufkommende Anspannung, mit der man auf eine Reaktion wartet, die sich steigernde Nervosität, die einsetzt und sich in panische Unruhe verwandelt, wenn eine Nachricht zwar gelesen, aber noch nicht beantwortet wurde, beschreibt Sudjic eindringlich. Dieses verbale Schweigen, das aber eine außersprachliche digitale Kommunikation zwischen zwei Figuren darstellt, wird zum spannungserzeugenden literarischen Mittel. Eine Person anhand ihrer Ortsmarkierungen auf Googlemaps und Instagram zu verfolgen und das sehnsüchtige Warten auf die Statusanzeige online im Chatfenster mit einer geliebten Person, die im Roman beschrieben sind, können ebenso romantische Gesten und Momente digitaler Nähe sein, wie sie Stalking und Abhängigkeiten darstellen können. Das Beispiel zeigt, dass die Darstellung digitalen Lebens kein Hindernis für spannendes literarisches Schreiben sein muss, es kann ebenso neue Formen von Beziehungen zwischen Figuren erzeugen, die auf Plotebene durchgespielt werden können.

Virtuelle Räume als erfahrbare Lebenswelten – Erweiterungen der Fiktion

Genauso wie soziale Medien und Chats literarisch verwertbar sind, erzeugt das Internet auch virtuelle Räume, in denen sich literarische Figuren bewegen können. Das können nicht nur Städte in aller Welt sein, die virtuell erfahrbar werden,  sondern auch ausschließlich virtuelle Räume, die ebenso weltweit bekannt sind wie Metropolen wie New York, Paris oder Berlin. Teile des Romans Miami Punk (2019) von Juan S. Guse spielen auf Karten, sogenannten maps, des populären Online-Taktik-Shooters Counter Strike, in denen im Roman mysteriöse Figuren auftauchen, denen ein Protagonist mit seinem Spielteam nachspürt. Diese virtuellen Räume sind vielen Menschen ebenso bekannt wie Orte der physischen Umwelt, sie sind Teil erfahrbarer Lebenswelt, auf die ein literarischer Text ebenso referieren kann wie auf nicht-virtuelle Städte, Landschaften und Dörfer. Wie diese Räume zum Teil unserer Erfahrungswelt werden können, beschreibt Berit Glanz in einem Artikel für die FAS, in dem sie für die Aufhebung der Trennung dieser Räume plädiert:

“Wer eine Zeitlang in seinem Alltag zwischen virtuellen und realen Räumen hin- und hergewechselt ist, wird wahrscheinlich sehr konkret erfahren haben, dass diese Abgrenzung wenig Sinn ergibt, dass das eigene im Internet gelebte Leben oft starke virtuelle Spuren hinterlässt und dass manche Orte im Internet zweifelsohne mit Aura aufgeladen sind. Das digitale Leben kann in die Realität hineintreten oder sich untrennbar mit ihr verzahnen.”

In Guses Roman wird diese Verzahnung literarisch umgesetzt, es kommt nicht nur zur Erkundung dieser Lebensräume, sondern durch Kommunikation mit Figuren in dem Computerspiel, die sich auf das Leben außerhalb der virtuellen Räume beziehen, werden die maps des Spiels zu Handlungsräumen auf der gleichen Ebene wie der analoge Raum, in dem sich der Protagonist körperlich befindet. Auch Alice in Sudjics Roman durchstreift mithilfe von Google Street View Manhattan, nachdem sie die Stadt verlassen hat, und schafft damit einen digitalen Erinnerungsraum, den sie durchschreiten kann und der sich mit ihrer Vergangenheit verbindet.

Das Internet als Chance für die Literatur

Internet und Social Media sind weit davon entfernt, die Literatur und unser analoges Leben zu zerstören. Ebensowenig sind sie eine Quelle puren Glücks. Jenseits solch polarisierender Bewertungen sind sie vielmehr ein Faktum unserer Gegenwart, das literarisches Schreiben ebenso befördern wie hemmen kann. Leben in virtuellen Räumen, eine Omnipräsenz von Internetlebenswelten und dadurch erzeugtes glokales Leben und Erleben erzeugen neue Spielmöglichkeiten für die Erschaffung fiktiver Welten und Figuren. Das Leben mit der digitalen Welt des Internets kann ein Antrieb für Fiktion sein und dessen Inspirationen müssen nur literarisch verarbeitet werden, anstatt sie als natürlichen Feind von literarischer Fiktion anzusehen. Vielleicht ist es vielmehr Unkenntnis, die ein solches Erzählen so lange verhindert hat. Das erkennt auch Alice in Sudjics Sympathie:

“Sie verstehen nicht, was man mit dem Internet machen kann – manchmal gibt es kein Ende, keinen Ausweg. Sie verstehen nicht, dass nichts privat bleibt und nichts verschwindet, dass wie bei der Welle der hintere Teil den vorderen einholt.”

Die Mechanismen des Internets und insbesondere von Social Media stellen Romanautor*innen vor neue Herausforderungen. Sie müssen damit umgehen, dass Figuren über tausende Kilometer hinweg in Echtzeit und überall kommunizieren können, dass eine spezifische Form der Sprache durch Emojis und Memes entstanden ist und vor allem damit, dass Informationen immer und überall abrufbar sind. Denn die auffällige Abwesenheit von Smartphones und Internet in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und das erstaunlich analoge, d.h. nicht-digitale Leben vieler literarischer Figuren in Romanen aus den letzten Jahren, liegen vermutlich auch darin begründet, dass Unwissenheit und scheinbare Ausweglosigkeit bewährte und durchaus sinnvolle Handlungs- und Spannungsförderer sind.
Der Protagonist, der eine wichtige Information nicht einfach googeln, oder die Protagonistin, die ihre Freundin nicht sofort per WhatsApp informieren kann, bieten den Autor*innen erzählerischen Raum für einen Spannungsaufbau, weil Probleme und Konflikte nicht mit einem Blick auf das Handy lösbar sind. Im Roman Gesang der Fledermäuse (2009) der Nobelpreisgewinnerin Olga Tokarczuk leben die Figuren auf einem verschneiten Hochplateau in den Bergen Polens, der mobile Handyempfang ist dort mindestens unzuverlässig. In entsprechenden Momenten der Handlung kann ein entscheidender Anruf nicht getätigt werden, wodurch die Situation erst einmal in der Spannung verharrt, die durch fehlende Informationsweitergabe ausgelöst wird. Anders gesagt: Fehlendes Wissen fördert Spannung.

Eine gerade erschienene Netflix-Dokuserie ist aber ein Beispiel dafür, dass all diese Eigenschaften des Internets spannende Plots eben nicht verhindern und stattdessen neue Formen des Erzählens schaffen. Schnelle Kommunikation vieler Menschen, Medien- und Sprachvielfalt, digitale Räume und die permanente Verfügbarkeit von Informationen sind die Kernelemente der Doku-Serie Don’t F**k With Cats: Hunting an Internet Killer, die in Form von faktualem Erzählen die Jagd auf Luka Magnotta schildert und die in all ihrer Surrealität beinahe wie die Handlung für einen spannungsgeladenen und plotgetriebenen Roman klingt. Sie berichtet von dem realen Fall einer weltweiten Jagd auf einen kanadischen Pornodarsteller und Model, die 2010 durch ein Video auf einer Internetplattform ausgelöst wurde, in dem ein junger Mann zwei Katzen tötet. Daraufhin entstand eine globale Online-Community, die anhand des Videos Hinweise auf den Täter suchte, der, von der Aufmerksamkeit angestachelt, weitere Tötungen von Tieren und schließlich einen Mord an einem Menschen beging, bevor er 2012 gefasst wurde. Was dieser Fall zeigt, ist nicht nur, dass sich im Internet genauso wie in der analogen Welt Gewalt und Grausamkeit und Gemeinschaft und Unterstützung finden lassen, sondern auch dass sich dort wahres Leben abspielt, das Inspiration für fiktionales Erzählen bieten kann. Das sollte eigentlich jedem literarisch schreibenden und lesenden Menschen klar sein; auch Alex Capus.

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Im Dickicht des Literaturbegriffs – Ein Beitrag zur Debatte um Karen Köhlers “Miroloi”

Es gibt grundlegende Fragen, die scheinen eine offensichtliche Antwort zu kennen. Trotzdem ahnt man meist schon, dass es mit dieser einen Antwort nicht getan ist.
So eine Frage ist „Was ist Literatur?“
Man könnte kurz darauf antworten, Literatur sei „die Gesamtheit des Geschriebenen.“ (Metzler Literaturlexikon, 3. Auflage, 2007, S. 445). Und es wäre nicht falsch. Dennoch ist jedem, der sich auch nur ein wenig mit der Thematik auseinandergesetzt hat, sofort klar, dass es so einfach in den meisten Fällen eben nicht ist. Auch das Literaturlexikon gibt weitere mögliche Definitionen an: Bei Literatur handle es sich um den „Gegenstand der Literaturwissenschaft“, was den Bereich schon weiter eingrenzt, oder es handle sich um die „Gesamtheit aller Texte von bestimmtem Wert.“
Keine dieser Definitionen ist an sich falsch, aber ebenso ist keine von ihnen ausreichend. Abgesehen von der ersten Definition, die ein sofortiges aber zu fordern scheint, bleibt alles im Vagen. Es ist Stärke und Schwäche der geisteswissenschaftlichen Kreise zugleich, dass es sich mit Definitionen in diesen Bereichen häufig so verhält und sie so immer wieder zu Diskussionen anregen.

Wie sonst könnte der Literaturkritiker Jan Drees in seiner Rezension zu Karen Köhlers Roman Miroloi (Hanser 2019) fragen: „Ist das Literatur im eigentlich Sinne, oder nur ein Easy Read für den bildungsbürgerlichen Mittelstand?“ Hier ist Literatur implizit nahe am Sinn der dritten Definition: Nur das schriftlich Aufgezeichnete, das sich nicht schnell konsumieren lässt, sondern dessen Lektüre größere intellektuelle Anstrengungen verlangt, ist Literatur. Aber von bestimmtem Wert steht auch hier kein Wort, das Kriterium wäre am ehesten intellektuelle Anstrengung, eben kein Easy Read. Eine intellektuelle Anstrengung, die unter Umständen sogar über die zerebralen Kapazitäten des bildungsbürgerlichen Mittelstands hinausgeht.
Auch Moritz Baßler, der in der deutschsprachigen Literaturlandschaft unter anderem dafür bekannt geworden ist, der sogenannten Popliteratur zu einem Ansehen in Wissenschaft und Feuilleton verholfen zu haben, setzt sich in der TAZ mit Bezug auf Köhlers Debüt mit der Frage nach der Literatur auseinander: „Wenn das aber Literatur ist, und so sieht’s ja wohl aus, dann hat sich der Literaturbegriff in den letzten Jahren radikal gewandelt und wir brauchen neue Maßstäbe der Schönheit, des Stils und des Geschmacks.“ Auch hier klingt an, dass Literatur nicht einfach nur in Schriftzeichen gegossener Inhalt ist, sondern etwas, das zudem bestimmte ästhetische Maßstäbe erfüllt oder einen wie auch immer gearteten Wert hat.
Wenn also Literatur nicht einfach „die Gesamtheit des Geschriebenen“ ist – und darauf könnte man sich einigen – führt das zu der Frage, welche Maßstäbe und welcher Wert den Unterschied machen könnten und inwiefern sie sich gewandelt haben. Dass diese Frage gerade die feuilletonistischen Gemüter über die Debatte zu dem Roman Miroloi hinaus bewegt, dafür spricht auch der am 3. August in der FAZ erschienene Text Die Zukunft ist nur noch verlängerte Gegenwart von Ernst-Wilhelm Händler. Darin listet er „Sieben Thesen zur Autorschaft heute“ auf und stellt trotz äußerst fragwürdiger Thesen prinzipiell richtig fest: „Es ist sinnlos, eine generelle Definition für qualitätsvolle literarische Erzeugnisse zu geben. Zeitübergreifende Qualitätsmaßstäbe für gute Literatur existieren nicht.“ Hier wird zumindest implizit differenziert zwischen „qualitätsvollen literarischen Erzeugnissen“ und nicht genannten Erzeugnissen von geringer Qualität, die aber wohl immer noch den Begriff Literatur für sich beanspruchen dürfen. Es ist ein unwirtlich Dickicht, durch das man sich hier manövriert und es bleibt am Ende immer die Frage stehen, wer denn eigentlich das verbriefte Recht hat, etwas zu guter Literatur oder auch zu „Literatur im eigentlichen Sinne“ zu ernennen.

Irrungen und Wirrungen der Qualitätsmaßstäbe

Wie willkürlich diese Kriterien sein können, zeigt ein inzwischen legendär gewordener Coup der Satirezeitschrift Pardon. Deren Redaktion schickte im Jahr 1968 nur geringfügig veränderte Auszüge des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil an 14 renommierte Persönlichkeiten aus der Literaturwissenschaft und dem Feuilleton, sowie an 32 Verlage, unter anderem an den Rowohlt-Verlag, der den Roman verlegte. Das Ergebnis dieses Schabernacks ist so bekannt wie amüsant: Niemand erkannte den Roman und die meisten Antworten waren sich im Urteil über die mindere literarische Qualität der Auszüge einig. Unter anderem fürchtete Urs Widmer, Lektor von Suhrkamp, „leider, daß das, was Sie schreiben, mit unseren Vorstellungen von Literatur nicht ganz übereinstimmt”.
Um ein etwas aktuelleres Beispiel zu nennen, könnte man darauf verweisen, dass Marcel Reich-Ranicki dem Autor Jörg Fauser 1984 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb attestierte, er gehöre hier nicht her und es sei nicht die Sache der Literaturkritik, über das, was Fauser geschrieben habe, zu urteilen. In anderen Worten, Fausers Texte seien es nicht würdig, im Feuilleton oder von der Literaturkritik besprochen zu werden. Das ist die gleiche Aussage, die nun über Karen Köhlers Roman getätigt wird. Nur knappe 35 Jahre später ist Jörg Fausers Gesamtwerk in einer dritten Gesamtausgabe erschienen und wird im Feuilleton ausgiebig besprochen.
Was heißt das für die Frage nach literarischen Qualitätsmaßstäben und den Menschen, die für sich beanspruchen, sie festlegen zu können? Die Maßstäbe, nach denen Baßler und viele andere fragen, sind ja bekanntlich nicht in einem Kriterienkatalog enthalten, den alle lesenden Menschen einer kulturellen Hemisphäre gemeinsam aushandeln würden. Auf keinen Fall sind diejenigen literarischen Qualitätsmaßstäbe gemeint, die man anhand von vergebenen Sternen in Amazon-Rezensionen herausfiltern könnte. Das würde ganz im Sinne des globalen Konzerns dazu führen, dass als gut gilt, was von den meisten lesenden Menschen für gut befunden wird. Ein Kriterium, das unter anderem in den vor nicht allzu langer Zeit eröffneten Buchhandlungen Amazon.books gilt, in denen Bücher mit dem Siegel „the books customers love“ beworben werden. Nicht der studierte Kritiker der New York Times oder des SPIEGEL ist hier der Richter über gute und schlechte Literatur, sondern die Gesamtheit der Leser*innen.

Wo sind die Gatekeeper?

Zwar gibt es nicht eine Person, die festlegen könnte, was diese Maßstäbe sind, aber sie werden doch ausgehandelt unter Lesenden, die im Sinne Bourdieus ein gewisses kulturelles Kapital im literarischen Feld angesammelt haben, auch Gatekeeper genannt. Das sind nicht nur Literaturkritiker*innen, sondern im weiteren Sinne Menschen, denen man qua Ausbildung, Position im Literaturbetrieb und über Jahrhunderte entwickelten Strukturen im literarischen Feld die Fähigkeit zuspricht, über gute und schlechte Literatur zu Gericht sitzen zu können. Das schließt natürlich nicht alle lesenden Menschen mit ein, sondern einen bestimmten Personenkreis, dem man eine ausreichende literarische Bildung zuspricht, um solche Maßstäbe ansetzen zu können. Was aber heißt es für diesen Anspruch des Kreises literarische Qualitätsmaßstäbe setzen zu können, wenn einem Roman, der bei Erscheinen gefeiert wurde und der als einer der wichtigsten deutschsprachigen Romane gilt, nur wenige Jahrzehnte später von Personen mit entsprechendem kulturellen Kapital das „Niveau eines üblichen Unterhaltungsromans ohne Anspruch“ attestiert wird?
Letztlich ist es die gleiche Frage, die auch Baßler umtreibt, wenn er in Bezug auf Köhlers Debüt feststellt, dieser Roman brauche keine Gatekeeper mehr, er würde seine Leser*innen auch so finden. Diese Gatekeeper sind für gewöhnlich Kritiker*innen. Was ist deren Aufgabe und werden sie überhaupt gebraucht? Diese Frage kommt einem in den Sinn, wenn Amazon Bücher aufgrund von Bewertungen von Leser*innen sortiert und wenn Romane, die von der Kritikerzunft als minderwertig oder als reine Unterhaltungsliteratur abgestempelt werden, trotzdem ihre tausenden Leser*innen finden. Auch Jan Drees lässt es gelten, dass schon immer „Romane für die Masse geschrieben“ wurden, „Schnulzen, Schmonzetten und Erbaulichkeitstraktate,“ diese sollten nur nicht vom Feuilleton betrachtet werden, wie es jetzt bei Köhlers Miroloi der Fall sei. Demnach wären es bestimmte schriftlichen Erzeugnisse gar nicht erst wert vom Feuilleton, also von der Literaturkritik beachtet zu werden. Irritierend ist in diesem Fall, dass Miroloi offenbar als so minderwertig angesehen wird, dass es gar nicht kritik- oder rezensionswürdig sein kann. Vor allem vor dem Hintergrund des oben genannten Beispiels Jörg Fausers, der ja offenbar nur 35 Jahre warten musste, bis er zu dem ernannt wurde, was hier als „Literatur im eigentlichen Sinne“ betrachtet wird, ist das seltsam.

Was wäre denn aber einer näheren Betrachtung durch die Literaturkritik würdig? Oder anders gefragt, was sind eigentlich die Aufgaben der Literaturkritik? Folgt man dem Band von Thomas Anz und Rainer Baasner zur Literaturkritik, könnte man auflisten: sie verschafft Orientierung im Dickicht des unübersichtlichen Buchmarkts, sie selektiert zwischen rezensionswürdig und -unwürdig, sie vermittelt „Wissen und Fähigkeiten, die zur Lektüre solcher literarischen Texte notwendig sind“, sie weist auf qualitative Schwächen und Stärken von literarischen Werken hin, sie stärkt und befeuert die öffentliche Diskussion von Literatur und sie hat innerhalb des Feuilletons auch unterhaltende Funktion. (Literaturkritik: Geschichte – Theorie – Praxis, S. 195f.)
Auch hier kein Wort davon, nach welchen Maßstäben all das geschehen soll, Maßstäbe, nach denen Baßler fragt und die Drees anscheinend kennt. Immerhin meint er, Köhlers Roman den Status Literatur entziehen zu können und damit die Berechtigung von der Literaturkritik bewertet zu werden. Wenn nun aber Elke Schmitter im SPIEGEL, Lisa Kreißler beim NDR und Katharina Frohne vom Weser-Kurier den Roman positiv bewerten und Sandra Kegel in der FAZ offenbar keine Wertung finden mag, wie Drees feststellt, muss die Frage erlaubt sein, warum er es vermag, Miroloi die Kritikwürdigkeit abzuerkennen. Anscheinend will sich doch das halbe deutsche Feuilleton über diesen Roman austauschen. Seine Vermutung, die auf den Kern des scheinbaren Problems führt, ist, dass der Roman besprochen – und teilweise positiv besprochen – wird, weil er vorgibt feministisch zu sein. Es ginge also nicht mehr um die Literatur an sich, sondern darum, dass dieser Roman ein derzeit wichtiges Thema bespielt: „[…] würde das Buch ohne das Trend-Thema Feminismus auskommen; kein Hahn würde nach ihm krähen.“

Literatur an sich?

Aber wann ging es jemals um die Literatur an sich? Und was ist Literatur an sich? Ging es um die Literatur an sich als Martin Walsers Gar alles oder Briefe an eine Unbekannte vor zwei Jahren besprochen wurde oder fordert der Name Martin Walser und seine Einbettung in die Literaturgeschichte eine Auseinandersetzung mit seinem Werk – auch wenn man ahnte, zu welchem Schluss man kommen würde? Ging es um Literatur an sich, als Lukas Rietzschel letztes Jahr mit Mit der Faust in die Welt schlagen in aller Munde war, oder war es einfach das richtige Thema zur richtigen Zeit? Das Feuilleton hat Literatur noch nie allein anhand von ästhetischen Wertmaßstäben für kritikwürdig oder -unwürdig gehalten und die Forderung das zu tun, ist grundsätzlich immer der versteckte Versuch die eigene Macht als Türhüter im literarischen Betrieb zu erhalten.

Warum sollten ästhetische Maßstäbe die alleinigen Kriterien sein? Literatur hat schon immer auf wichtige Diskurse reagiert, sie hat sich an aktuelle Strömungen angepasst oder sich im richtigen Moment gegen sie gestellt, ebenso wurde sie nach stetig wandelnden Kriterien bewertet und nicht immer sind diese ästhetisch. War der Nobelpreis für Literatur, bevor sich die Akademie selbst demontierte, ein Garant für das, was in der Diskussion um Miroloi so vehement als literarische Maßstäbe verteidigt wird? Oder waren Entscheidungen des Nobelpreiskomitees nicht grundsätzlich auch politische Entscheidungen? War vor zwei Jahren wirklich Robert Menasses Die Hauptstadt der beste deutsche Roman oder traf er durch seine Auseinandersetzung mit dem Konstrukt EU nicht einfach den Nerv der Zeit, wie es auch in der DLF Rezension von Jan Drees anklingt: „der erste große europäische Roman.“ Literatur hat nicht die eine Funktion, die darin bestünde bestimmten ästhetischen und/oder inhaltlichen Maßstäben zu genügen, die eine Hand voll Kritiker*innen festlegt. Sie kann emanzipierende, sie kann aufklärende und sie kann unterhaltende Funktion haben, ebenso kann sie eine ästhetische Funktion haben und viele andere mehr.

Vielleicht sollte und kann es nicht die Aufgabe der Literaturkritik sein, einem Roman das Prüfsiegel Literatur oder Literatur an sich zu verleihen. Vielleicht ist ihre Aufgabe vielmehr, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, die Literatur stellt und auf gesellschaftliche Debatten, die sich in der Literatur spiegeln, zu reagieren. Auch kann sie Strömungen der Literatur erkennen und einordnen und sollte versuchen, dem auf den Grund zu gehen, was Literatur über gesellschaftliche Entwicklungen aussagt.
Das kann und muss auch mit Wertungen einhergehen, die sich immer wieder neuen und sich manchmal wiederholenden Diskursumständen anpassen und dementsprechend ausgehandelt werden. Und vielleicht ist Miroloi von Karen Köhler auch unter Anwendung unterschiedlicher Kriterien wirklich kein guter Roman. Literatur ist es allemal, und damit berechtigt besprochen und diskutiert zu werden. Für den Fall, dass dieser Roman den Buchpreis gewinnen sollte, können wir fröhlich weiter darüber diskutieren, warum, ebenso wie wir bei allen anderen Romanen darüber reden werden. Man sollte sich dann nur darüber im Klaren sein, dass sieben Menschen darüber entscheiden, welches der beste deutschsprachige Roman wird. Diese sieben Menschen werden – so hofft man – so objektiv und informiert wie möglich urteilen, aber es kann doch niemand ernsthaft glauben, dass es sich bei dem Roman, der letztlich in Frankfurt prämiert wird, wirklich um den objektiv und allein unter literarisch-ästhetischen Geschmackskriterien besten deutschsprachigen Roman des Jahres 2019 handelt.

Wer das glaubt, der glaubt wahrscheinlich auch noch, dass es überzeitliche Kriterien für gute Literatur gibt, die immer und allzeit anwendbar sind und an denen man festmachen kann, was Literatur an sich ist.