Autor: Team

Das Team von 54books: wenn sie nicht die Literaturkritik retten - wer dann?

Kulturkonsum 2/20

In der Rubrik “Kulturkonsum” stellen wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vor, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.

 

Simon Sahner (@samsonshirne)

Als ich vor etwa zwei Jahren gesundheitlichen Gründen längere Zeit zuhause war, habe ich zwei Videospiele entdeckt, die mir damals sehr geholfen haben, innerlich zur Ruhe zu kommen und zu entspannen. Jetzt in diesen seltsamen und aufwühlenden Wochen, in denen viele Menschen mehr oder weniger in ihren Wohnungen festsitzen, habe ich mich wieder an die Spiele Journey und Flower erinnert, beide entworfen von dem Game-Künstler Jenova Chen.

Bei Journey reist man mit einer schwebenden Figur durch eine Wüstenlandschaft voller Ruinen und versucht einen Berg zu erreichen. Die traumartige Atmosphäre, die sanfte Musik und die weichen Bewegungen der Spielfigur, die durch Sanddünen gleitet, schwebt und kurze Strecken fliegt, machen das Spiel vor allem zu einer sinnlichen Erfahrung, bei der Wettbewerb oder Kampf keine Rolle spielen. Eine besondere Ebene des Spiels entsteht dadurch, dass es ein spezielle Form des Koop-Games ist. Manchmal erscheint mitten in all dem Sand eine zweite Figur, die von einer Person gespielt wird, die gerade irgendwo auf der Welt ebenfalls spielt – man erfährt nicht, wer da spielt, man kann nicht kommunizieren und streift einige Minuten gemeinsam durch die Spielwelt.

Flower ist noch einfacher gestaltet, aber auf seine Weise auch eine ungewöhnliche Spielerfahrung: Man spielt den Wind. Als Böe fliegt man durch Blumenwiesen und wirbelt Gräser, Blüten und andere Pflanzen auf, schlägt Loopings, fliegt scharfe Kurven und gleitet knapp über der Grasnarbe durch weite Landschaften. Das Besondere ist die Steuerung, die nicht wie sonst üblich durch die beiden Steuerknüppel geschieht, sondern durch das Neigen des Controllers in alle Richtungen. Das ist zudem eine amüsante Erfahrung, weil die Bewegungen, die man in anderen Spielen sinnloserweise macht, jetzt endlich eine Funktion haben.

(Beide Spiele sind für PS3 & 4, sowie für PC und Mac erhältlich)

 

Berit Glanz (@beritmiriam)

Ich versuche zu arbeiten, während ich drei Kinder zu betreue, Schulaufgaben abgleiche, mit dem Kindergartenkind Lego baue, aufpasse, dass wir nicht im Chaos versinken, Fristen einhalte (oder überschreite), zumindest manchmal meine Haare kämme und ich sehe Artikel mit Listen der extradicken Bücher, die man nun endlich mal lesen könne und ich kann nur müde grinsen, weil es mich ansonsten deprimieren würde. Der Arbeitstag verlagert sich in die Abend- und Nachtstunden und um Mitternacht bin ich dann so erschöpft, dass ich nicht weiterarbeiten kann, aber aus Trotz auch nicht schlafen will, immerhin ist das meine Zeit, in der keiner etwas von mir möchte – dann schaue ich Brooklyn Nine-Nine und fühle mich gut unterhalten. Außerdem habe ich angefangen Wordfeudeine Art Scrabble – zu spielen und ich bin wirklich erstaunlich schlecht darin. Ich spiele trotzdem mit Freunden, Bekannten und mit meiner Mama, über den Tag verteilt lege ich die Wörter, immer wenn es die Zeit zulässt. Mir gefällt es Menschen über den Tag hinweg so ein wenig nahe zu sein.

 

Marie Isabel Matthews-Schlinzig (@whatisaletter)

Seit einiger Zeit beschäftige ich mit dem Thema Identität sowie fiktionalen Werken, die sich diesem Thema auf formal spannende Weise widmen. Abgesehen von Filmen und Fernsehserien landen dabei zunehmend Publikationen von Autor:innen of Colour auf meinem nimmersatten Bücherstapel. Zwei davon sind gerade gelesen: Roger Robinson’s meisterhafter Gedichtband A Portable Paradise (T. S. Eliot Prize, 2020) versammelt wütend-anklagende, nachdenkliche, zartfühlende Verse. Ihre Energie und Humanität gehen unter die Haut. Identitäten und Alltag von Menschen of Colour spielen in den Gedichten immer wieder eine zentrale Rolle. Robinson thematisiert die sie prägenden historischen wie gegenwärtigen Bedrohungen ebenso wie ihre Kraft und Kreativität. Zu den berührendsten Gedichten des Bands gehören jene, die sich dem Brand des Grenfell Tower (eines Wohnhochhauses im Westen von London) widmen, bei dem 72 Menschen ums Leben kamen. Die poetischen Bilder, die Robinson für das Leid der Toten und ihrer Angehörigen findet, lassen die Schilderung intensiver und die nach wie vor unzureichende Entschädigung der Opfer umso skandalöser wirken. So heißt es von den Schatten der Verstorbenen, die zum Himmel aufstreben: „Amongst the cirrus clouds, floating like hair / they begin to look like a separate city.“

Das zweite gerade ausgelesene Buch, Olivia Wenzel’s Debütroman 1000 serpentinen angst ist an anderer Stelle bereits ausführlich besprochen worden, daher sei es hier nur kurz erwähnt: Die Geschichte einer jungen, ostdeutschen Frau of Colour besticht durch das inhaltlich wie formal entfaltete Prisma, das Facetten ihrer Identität hell ausleuchtet. Dabei geht das Narrativ, wie Robinsons Gedichte, mit schmerzhafter Ehrlichkeit immer wieder dahin, wo es weh tut. Etwa wenn die Erzählerin imaginiert: Weiße übernehmen Dienstleistungsjobs, Schwarze bekleiden gehobene berufliche Positionen. Solche Ideen sind auch in anderen Fiktionen gegenwärtig zentral. – Dazu zählt etwa die Serie Noughts and Crosses, die gerade im britischen Fernsehen läuft: Menschen afrikanischer Abstammung und dunkler Hautfarbe haben Europäer:innen unterworfen. Die Trennung zwischen beiden Gruppen ist strikt; schwarze Kultur prägt sämtliche Aspekte gesellschaftlichen Lebens. Die Adaption eines der gleichnamigen Bücher von Malorie Blackman zielt ins Herz der Vorurteile ihres Publikums und auf deren Überwindung. Für diesen Prozess sind die Begeisterung und die Irritationen, die sich bei unterschiedlichen Zuschauer:innengruppen angesichts der Umkehr der Macht- und Machtmissbrauchsstrukturen zwischen Schwarz und Weiß in Noughts and Crosses einstellen, ganz entscheidend.

 

Johannes Franzen (@johannes42)

Es ist ein Geständnis, das gerade wohl niemanden schockieren oder überraschen (oder interessieren) wird – aber ich lese zur Zeit nicht viel Belletristik, oder zumindest nicht schnell. Es mag zwar mehr Zeit da sein als sonst, aber man hat auch den Eindruck, dass diese Zeit schneller vergeht. Gerade habe ich mir den dritten und letzten Teil der Romanreihe von Hilary Mantel über Thomas Cromwell gekauft: The Mirror and the Light. Cromwell war einer wichtigsten Berater Heinrich des VIII (Der englische König mit den vielen Frauen, der aus The Tudors). Cromwell ist ein unplausibler Held für eine solche Reihe. Lange galt er als böser Geist, der dem König auf dem Weg in die geistige Verdunklung seines Tyrannentums als helfende Hand zur Seite stand. Mantel lässt Thomas Cromwell allerdings als modernen Menschen historisch auferstehen. Als genialen Planer und Politiker, als begabten Aufsteiger in einer Welt, in der nicht Kompetenz, sondern Vererbung über deinen Platz in der Gesellschaft entscheidet. Cromwell ist nicht immer gut, aber immer klug, und das macht ihn zum Sympathieträger der Erzählung. Mantels Bücher sind seit dem Erscheinen des ersten Teils 2009 eine Art von Phänomen geworden: massive Bestseller, die allerdings auch die höchsten ästhetischen Ansprüche der Kritiker*innen erfüllen konnten. Die ersten Teile haben beide den Booker Prize gewonnen.

Es handelt sich um einen Hype, dessen Berechtigung ich aus meiner eigenen Lektüreerfahrung bestätigen kann. Ich habe die ersten Bücher in wenigen Tagen gelesen. Jetzt ist es allerdings auch so, dass ich eine Schwäche für historische Romane habe, wahrscheinlich weil hier die meisten Reminiszenzen an das unschuldige, fieberhafte Lesen vor dem Deutschunterricht und dem Proseminar möglich sind. Aber bei Mantels Cromwell-Romanen verhält es sich noch einmal anders. Kein unmittelbares Eintauchen in eine angenehm distanzierte und gleichzeitig angenehm bekannte Welt; kein Spannungsaufbau durch Konflikte, die uns nicht mehr betreffen (Wird der Prior das Kloster auf Vordermann bringen? Schaffen es die Geschwister aus der brennenden Burg, bevor der schwarze Ritter etc.); stattdessen ein seltsam eliptischer Gedankenbericht, der sich wirklich wenig Mühe gibt, uns über die enorm komplexe politische Lage am englischen Königshof zu Beginn des 16. Jahrhunderts kohärent zu informieren. Um es deutlich zu sagen, ich weiß nicht, wie diese Romane funktionieren, und über weite Teile weiß ich auch nicht so recht, was gerade genau passiert. Wie zu Beginn des zweiten Teils habe ich auch zu Beginn des dritten Teils eigentlich alle Figuren, bis auf Cromwell und den König (Anne Boleyn ist da schon tot) vergessen (Wer ist Norfolk, wer ist Suffolk?) Trotzdem entwickeln diese Bücher einen heftigen Sog, eine Sucht danach, sich in ihrer Welt aufzuhalten. Aber ach, diesmal gibt es auch eine mentale Sperre. Seit zwei Wochen befindet sich das Buch nun auf meinem Lesegerät und ich bin immer noch nur bei 25 Prozent. Es ist, als wäre diese Zeit zwar stark auf Eskapismus angewiesen, macht uns aber (oder zumindest mich) auch eskapismusunfähig. Keine gute Konstellation. Keine gute Zeit für Romane.

 

Tilman Winterling (@fiftyfourbooks)

Ich habe mir bei den ersten Aufrufen der unabhängigen Buchhandlungen zur Unterstützung eine sehr große Zahl Bücher gekauft. Benjamin Maacks Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein habe ich ebenso wie Ich erwarte die Ankunft des Teufels von Mary MacLane mit Gewinn gelesen. Rivenports Freund von Damiano Femfert dagegen hat mich eher kalt gelassen, leider gilt das auch für Geschichten mit Marianne von Xaver Bayer, dessen Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich ich sehr liebte.

Trotz des weiterhin hohen Stapels habe ich nun aber noch M. Der Sohn des Jahrhunderts von Antonio Scurati mit immerhin knackigen 800 Seiten begonnen, nachdem ich letztes Jahr im Toskana Urlaub bei der Lektüre Francesca Melandris Alle, außer mir realisierte, wie wenig ich über italienische Geschichte im 20. Jahrhundert und den italienischen Faschismus weiß. Nach nur 150 Seiten erlaube ich mir noch kein Urteil, bin allerdings erstaunt wie geschickt der “Roman” in der Chronologie und zwischen den Charakteren springt. Dass ein solches Projekt wie M aber mit dem Feuer spielt, ist offensichtlich. Wie weit darf man das Menscheln eines Massenmörders darstellen (oder einen Massenmörder in der Darstellung menscheln lassen?), wie nah und sympathisch kommt mir Mussolini während der Lektüre? Bisher sehe ich es als weitere Anregung mich mit dem Themenkomplex auseinanderzusetzen und bleibe gespannt, wie sich die nächsten 670 Seiten entwickeln.

 

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (7)

Dies ist der siebte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6)

Das mittlerweile über 102 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

2.4.2020

 

Nabard, Bonn

Die zweite Woche in Quarantäne und so langsam bessern sich die Symptome. Als hätte man eine fiese Grippe durchgemacht. Abgeschottet von meiner Familie und Freunden, waren die letzten Tage von einer Monotonie geprägt, die mich viel hat nachdenken lassen. Heute sitze ich ohne Kopfschmerzen im Garten und kann etwas Sonne tanken. Gleichzeitig lassen mich meine Eltern wissen, dass sie nach anfänglichem Fieber und Übelkeit beide wohlauf sind.

Wir meinen immer, zu allen Erkrankungen ein passendes Heilmittel zu haben, zumindest ein Weg, damit umzugehen. Jetzt stehen wir vor einem Virus, der uns gänzlich unbekannt ist. Diese Angst und Ohnmacht kein Mittel dagegen zu haben, keine Virostatika, keine Impfung, als Mediziner fühlst du dich wehrlos. Wir sind doch die “Superhelden im weißen Kittel” und plötzlich stehen wir da und müssen mit den Achseln zucken. Eine tragische Art der Natur uns Demut zu lehren.

Nächste Woche kann ich wieder ins Krankenhaus. Einerseits freu ich mich, andererseits bin ich angespannt, was erwartet mich und kann ich meinen Beitrag dazu leisten um zu helfen? Krank werden kann ich ja jetzt nicht mehr.

 

Slata, München

Eines der wenigen Bücher, die ich während der Quarantänewochen las (denn ich lese viel lieber russische Frauenforen oder Werbeprospekte) war Don Quijote, ich las ihn so aufrichtig und genussvoll, dass ich manche Abende früher ins Bett ging, um ihn dann, endlich, herauszuholen, manche Abende nicht zum dreißigsten Mal Emails abrief in der Hoffnung, dass eine Agentur sich gemeldet, ein Verlag sich begeistert gezeigt hätte, brauchte auch kein Glas Wein vor dem Einschlafen, und dann, nach Don Quijotes Tod, verspürte ich eine ernsthafte Traurigkeit, warf das Buch ins Regal und schaute es nicht mehr an, wurde das Gefühl nicht los, jemanden verloren zu haben, um etwas betrogen worden zu sein.

Sandra, Berlin

April, April, seit gestern sind die meisten Verlage in Kurzarbeit. Leider kein Scherz. Amazon lässt die Verlage hängen, Bücher sind nicht system- äh umsatzrelevant und werden derzeit nicht eingekauft. Meine Lektorin berichtet mir, ich höre die Neuigkeiten zähneknirschend. Immerhin wird mein Titel, der im Herbst kommen soll, nicht verschoben. Ist das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht? Ich bin mir nicht mehr sicher. Ist mein Text überhaupt systemrelevant? Ich, die Autorin, bin es, der neuen Krisenordnung der Dinge nach, ja nicht. Auch das Börsenblatt berichtet über die Situation der Verlage – und der Artikel zeigt darüber hinaus mal wieder den Überhang männlicher CEOs und Verlagsleiter … Ah, was bin ich müde.

https://www.boersenblatt.net/2020-03-31-artikel-titelverschiebungen__kurzarbeit_und_eine_portion_optimismus-umsatzeinbruch_um_bis_zu_80_prozent.1840504.html?nl=newsletter20200331&nla=artikel1840504&etcc_newsletter=1

O.K. Und jetzt?

Um den Kopf frei zu bekommen spaziere ich ein paar Stunden SocialDistancing-Abstandskonform mit einer Freundin über das Tempelhofer Feld, wir reden und schweigen, das Kind freut sich unbändig über ein Flugzeug, die BMX-Bahn, einen besonders schönen Ast, eigentlich über alles, was es sieht. Woher nehmen kleine Kinder eigentlich diesen Optimismus? Gut, andererseits dürfen sie sich auch schreiend auf den Boden werfen. Ich stelle mir vor, dass ich nach dem Spaziergang nach Hause komme, das Kind meinem Partner in die Arme drücken, die Fenster öffne und alles, was sich die letzten Tage und Wochen angesammelt hat, hinaus schreie.

Aber stattdessen kommen wir heim, ich mache Tee, setze mich an meine Arbeit, schreibe weiter

https://other-writers.de/2020/04/02/wir-sitzen-hier/

 

Janine, Flensburg

Ich kann bis heute keine Notarztsirene hören, ohne aus der Gegenwart gerissen zu werden. Meiner Bekannten M. geht es so beim Geruch von Einweghandschuhen und dem Anblick von medizinischen Gesichtsmasken.

 

Fabian, München

Jemand denkt oder irrlichtert, ob es nicht besser wäre, wenn die Krise andauerte, allein ob der Aufschiebung diese gut geschmierten Status quos, irrlichtert, meint die Chatpartnerin, dass man sich keine Hoffnung zu machen brauche, da alles weiterginge, wie bisher, jagut, nein, Ungarn macht’s vor, wie man grade die Krise nutzt, um die totalitäten Umbauten bloß zu akzelerieren, Stichwort, auch Polen, fragt man (sich), des Vatervaterstaats – oder habe ich etwa etwas verpasst? Trump in dreißig Zutaten zur Krise, im Wesentlichen machen er (wir) einen fantastischen, fantastischen Job, irrlichternd, was hätte er nicht Arzt werden sollen, meine Güte, ein wenig amüsant ist das ja doch. Endlich einmal Andrić lesen, zusammen kochen wir Kasnock’n, leider kein Schnittlauch im Haus, zum ersten Mal trinke ich über Zimtholz geräucherten Lapsang Souchon aus Ceylon, zum ersten Mal chinesischen Schattentee nach südjapanischer Art. Das Leben ist ruhig hier. Einmal am Tag Fallzahlen checken, der Rest bleibt draußen, im Grunde, inzwischen, wie so oft lässt man hier, an diesem Punkt das Bedürfnis, informiert zu sein, vor der eigenen Ohnmacht kapitulieren und wann kommt eigentlich die deutschlandweite Mundschutzpflicht, oder woher sonst der Eindruck, die Bundesrepublik hinke den österreichischen Maßnahmen, aber immerhin konsequent, ein paar Tage hinterher.

 

Nefeli, Berlin/Hamburg

Ich möchte jetzt auch etwas in der Quarantäne lernen. Gestern habe ich zwei Dinge geübt: freihändig Fahrradfahren und Kopfstand. Das mit dem Fahrradfahren ging besser, S. kann sogar freihändig Kurven fahren, ich war froh, wenn ich bis drei zählen konnte, bis ich wieder rasch den Lenker griff. 1. 2. 3. Kopfstand war eher nervig und entstand aus einer verlorenen Wette mit S. heraus. Die Wette habe ich vergessen. Abends konnte ich dann nicht schlafen. Habe “Das Adressbuch” von Sophie Calle gelesen, habe mir gewünscht, Sophie Calle würde auch mich verfolgen, aber ich besitze ja noch nicht einmal ein Adressbuch und jetzt in Quarantäne führe ich eh ein sehr langweiliges Leben. Ständig das Gefühl der Unter- und Überforderung zugleich.

Zudem beginnt jetzt das neue Semester. Da ich eh ungern nach Lüneburg pendelte, finde ich es ganz gut, die Seminare am Küchentisch mit Schlafanzug und Kaffee zu erleben. Zugleich frage ich mich: wann werde ich eigentlich wieder eine Tagesstruktur haben? Ich bin nachts meist bis zwischen 2 und 3 wach, ich schlafe lang, ich habe das Gefühl, das Leben nicht im Griff zu haben.

Das Highlight heute: Frühlingsputz und auf S’s Kleiderschrank im Staub seinen Namen mit dem Finger schreiben bevor ich alles sauber wische.

 

Emily, Rostock

Ich rechne aus, wieviele bußgeldpflichtige Vergehen ich bei meinem derzeitigen Kontostand begehen könnte. Zweimal Picknicken mit Freund*innen im Park ist gleich meine Miete. Einmal den Mindestabstand nicht einhalten, gleicht einem halben Jahr Mitgliedsbeiträgen im  Fitnessstudio.

Am Dienstag habe ich den ersten Geburtstag digital gefeiert und während wir im Kanon (anders ist es kaum möglich) Lieder anstimmen, schreibt N mir, dass ich schlecht aussehe und mich melden soll. Zwei Stunden lang versuche ich möglichst viel zu lächeln, gehe zwischendrin sogar ins Bad, um mir mit Rouge Akzente auf die Wangen zu setzen. Gestern habe ich dann Erich Kästner Gedichte auf das Briefpapier geschrieben, das mir L einmal für besondere Anlässe geschenkt hat. Positive Gedanken für die Menschen im Altenheim. Beinahe manisch suche ich nach Dingen, die ich für andere tun kann, um das Gefühl zu haben, überhaupt noch nützlich zu sein. Als mir gesagt wurde, ich wüsste nichts mit mir anzufangen, habe ich gedacht, dass es stimmt und war verletzt. Jetzt fällt mir auf, ich möchte einfach keine Zeit verschwenden, die drei Wochen sind so rasend schnell vergangen. Am liebsten 24 Stunden Produktivität. Es gibt kein Wochenende mehr. Keine Ruhephasen. Ich habe meine Schlafzeit auf die Hälfte reduziert.

Aus meinem Fenster muss ich beobachten wie Notarzt, Feuerwehr und Polizei vor meiner Haustür halten. Während sie auf Tragen zwei Menschen in das vordere Auto bugsieren, diskutiert der Videochat darüber, worauf sie sich nach der Krise am meisten freuen. Ich sage, darauf wieder essen bestellen zu können und nicht darauf, dass ich so etwas nicht mehr sehen muss. Die beste Antwort auf die Frage kommt aus Berlin. Endlich wieder U-Bahn fahren. Mehr Normalität gibt es nicht, ich kann es so gut verstehen.

 

Simon, Vorort von Freiburg

So langsam kann ich Phasen erkennen, die ich bei mir selbst in dieser Isolationssituation feststelle. Angefangen hat es so ab dem 12. März mit extremer Anspannung, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Das Gefühl überhaupt nicht greifen zu können, was gerade passiert und das, was man direkt vor Augen hat, die Welt um einen herum, nicht zu dem in Beziehung setzen zu können, was man in den Medien liest und von anderen hört. Je weiter der März seinem Ende zuging, beruhigte ich mich innerlich, immer noch irritiert und besorgt und aus dem Alltag geworfen, empfand ich Momente der Entspannung, der Regelmäßigkeit und der Ablenkung. Das war wiederum ein Gefühl, das sich angesichts dessen, was ich las und hörte, falsch anfühlte: Wie konnte ich Momente in dieser Situation relativ sorglos genießen, wenn draußen alles gefühlt zusammenbricht? Gleichzeitig merkte ich, dass ich diese Routine in der Ausnahmesituation brauchte und dass sie mir gut tat.

Jetzt, wo wir in den April kommen, merke ich Unruhe, Rastlosigkeit und Hilflosigkeit. Die Psyche, die sich auf den neuen Alltag einrichten wollte, fühlt sich jetzt doch eingeengt. Ich habe normalerweise kein Problem damit zuhause zu sein, niemanden zu sehen, allein zu sein. Aber jetzt geht es nicht mehr um freiwilliges Alleinsein, um selbstgewählten Rückzug, sondern jetzt heißt es nicht nur Isolation, es fühlt sich auch so an.

Und auch wenn es überall zurecht heißt, dass man sich selbst nicht unter Druck setzen sollte, weil man gerade viel verarbeiten muss und es in Ordnung ist, wenn man sich nur selten gut konzentrieren kann, wünschte ich, ich könnte diese Wochen doch besser nutzen. Auch weil ich in so einer privilegierten Situation bin, gerade weil ich mir relativ wenig Sorgen machen muss, sollte ich doch in der Lage sein, Dinge zu erledigen, kreativ zu sein, “etwas” zu schaffen. Und manches schaffe ich auch, aber es fühlt sich unzureichend an. Die Tage fliegen so dahin mit ihrer Leere. Ich höre von manchen, dass sie es ebenso empfinden, andere berichten vom Gefühl sich ziehender langer Tage. Mich macht vor allem unruhig, wie die Zeit in meiner Wahrnehmung rast.

 

3.4.2020

 

Rike, Köln

Ich laufe einer Frau hinterher, die einer Weinbergschnecke gleichend mit einem geschützten Gesicht hinter einem Rollator tapst, ich überhole sie 2x. Sie biegt in Zeitlupe um die Ecke und ich lasse sie noch einmal vorbeiziehen, bevor ich sie frage, ob sie Hilfe zum Einkaufen braucht, sie sagt nein, erst mal nicht, Pflegedienst pipapo, aber ich könnte ihr gerne meine Nummer geben. Ich date jetzt meine +- 85jährige Nachbarin statt irgendwelcher Dudes. Ich warte immer noch auf ihren Anruf. Ich weiß nicht, ob in diesem Kontext die 3-Tage-Regel auch gilt.

Neue Reizwörter: Atemschutzmaske, Klopapier, Risikogruppe, soziale Distanz, das C-Wort. Es ist so, wenn ich das Wort höre, werde ich ganz müde.

Wortermüdungserscheinungen.

Neues Wort: Balkonkäfig

 

Slata, München

Gewächshausexperimente sind das, uns, drei unterschiedlichste Menschen, körperlich und gefühlsmäßig zwar verbunden miteinander, aber drei einzelne Organismen, in einen geschlossenen Raum zu setzen, zu schauen, was da alles passieren mag, Protokoll führen.  Wenn wir das überleben, fünf Wochen ununterbrochen zusammen, ich meine, auch mehr vielleicht, bestimmt hört es nicht pünktlich auf wie versprochen, sondern dehnt sich aus auf weitere Wochen, wenn wir uns danach oder mittendrin nicht für immer zerstreiten, trennen vielleicht, wenn unser Kind keine unangenehmen Erinnerungen, keine verborgenen Traumata entwickelt, können wir stolz auf uns sein, ich meine es ernst, findest du nicht.

 

Marie Isabel, Dunfermline

1. Krisen verwirren, lösen Angst aus, Panik. Sie fokussieren aber auch das Wahrnehmungsvermögen. Prioritäten schieben sich zurecht. Das, was frau landläufig das ‘wirklich Wichtige’ nennt, nimmt vor ihr Aufstellung und stellt mit seinen schönen breiten Schultern viel Unwichtiges, sonst so laut Zeterndes, in den Schatten. Zu erkennen, was einem in Momenten existenzieller Bedrohung gut tut, und welche Zustände bzw. Gewohnheiten dringend zu ändern sind, weil letztlich das eigene Überleben (und vielleicht sogar das aller anderen auch) davon abhängt, ist das eine. Diese Erkenntnisse in die Zeit der zurückkehrenden ‘Normalität’ hinüber zu retten – so sie einem denn beschert ist – wird  eine große Herausforderung. Das gilt für Einzelne genauso wie für Gemeinschaften.
2. Hier wie andernorts begegnet mir das Wort ‘Experiment’ zur Zeit immer wieder. Ich muss an Heinrich von Kleist denken, dessen fiktive Welten ein einziges Menschenexperiment sind und daran, wie katastrophal, auf die eine oder andere Weise, seine Texte enden. Sage noch einmal einer, Literatur sei nicht systemrelevant. Zudem denke ich Isolation weiter und lande zwangsläufig bei Einzelhaft, und bei Foltermethoden. Bei Säuglingen, die man mit Stille umgab, um herauszufinden, welche Sprache sie aus sich heraus schöpfen würden, und die daraufhin starben. Wir haben das Glück, in einer digitalisierten Welt zu leben, in der es von Kommunikationsmedien nur so wimmelt. Dennoch und vielleicht genau deshalb wird nun deutlich, dass direkte Ansprache, Gespräche, Umarmungen, das Beisammensein mit Anderen, Fremden wie Freunden, die Berührungen durch andere atmende Körper, Laute, Worte, Gerüche, Bewegungen durch keine noch so ausgeklügelte Technik zu ersetzen sind.

 

Nabard, Bonn

Ja es ist so banal diese Monotonie. Man steht auf, macht sich fertig fragt sich, was man heute machen würde, macht nichts davon, putzt, meldet sich bei Menschen, von denen man dann keine Antwort erhält, fühlt sich allein, schaut in digitale Plattformen, sie signieren das man es nicht ist. Was fehlt ist die Umarmung und soziale Interaktion. Real. Was macht diese Isolation mit uns?

 

Robert, Warschau

Ich entwickele eine Obsession mit Karten. Ich mochte Karten schon immer, aber die Ausgangsbegrenzung führt kontraintuitiv dazu, dass ich noch viel mehr und aufmerksamer Karten studiere als sonst. Karten werden zur Repräsentation des Kontrollverlusts und zum Medium ihrer Wiedererlangung – im geographischen wie im virtuellen Raum.

Immer wieder aktualisierte Karten von weltweit auftretenden Fallzahlen, von Reise- und damit Ansteckungsrouten zeigen mir den Kontrollverlust auf. Sie ähneln in ihrer Ästhetik verblüffend der Karte des inzwischen zu trauriger Berühmtheit gelangten Spiels Plague Inc. – eine Ästhetik roter Punkte, sich ausbreitender roter Flecken und lang gebogener Fluglinien, an deren Ende neue Punkte aufscheinen.

Diese Karten bilden mehr oder weniger unbewusst auch die in Krisenzeiten weiterhin bestehenden oder sogar verschärften sozialen Spaltungen und rassistischen Dispositive ab. Warum sieht die rot eingefärbte Karte Afrikas – immer noch relativ wenige Fälle – so viel bedrohlicher aus als die detailliertere, mit helleren Rottönen versehene Karte der USA, wo die Fallzahl längst die Chinas überholt hat?

Diesem massenmedial repräsentierten Kontrollverlust setze ich die obsessive Kontrolle meines weiter schrumpfenden Raums entgegen, auch mit Hilfe von Karten. Weil die Parks in Polen geschlossen sind, sitzen wir über Spacerowniks (Spazierführern) und Karten unseres Warschauer Viertels, um unsere Spaziergänge minutiös so zu planen, dass wir um die Parks herumschleichen, evtl. architektonisch oder historisch interessante Orte mitnehmen und trotzdem die Regeln einhalten können, um nicht von den paarweise auftretenden Patrouillen von Armee und Polizei gestoppt zu werden. Ein Buch, das ich gerade lese – Miron Białoszewskis Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand – beinhaltet eine Strassenkarte Warschaus, zur Orientierung über die hektischen Geschehnisse des Aufstands. Das Strategiespiel “Warsaw” repräsentiert die gleichen Strassen als Karte, auf der sich die eigenen Avatare bewegen, immer in Gefahr, ins Sichtfeld eines Trupps deutscher Soldaten zu geraten. Verstecke, Zusammenstösse zwischen Partisanen der Armia Krajowa (AK) und der Wehrmacht, Versorgungs- und Schleichrouten, alles in der scheinbaren Ordnung einer Vogelperspektive repräsentiert, den Lesenden und Spielenden ein beruhigendes Gefühl der Orientierung inmitten chaotischer Ereignisse vermittelnd. Unser Wohnblock selbst war ein Stützpunkt der AK während des Aufstands. Diese Erinnerungen lege ich über unsere Spaziergänge, sie sind auch in den Spacerowniks präsent. Warschau ist ein historisches Palimpsest. So stelle ich Distanz her – den historischen Blick bin ich gewöhnt, er gibt mir eine Normalität zurück in der Art, wie ich den städtischen Raum erfasse. Meine Partnerin tut dasselbe mit einem ästhetischen Blick: Warschau ist auch ein architektonisches und künstlerisches Palimpsest, das sie mit der Kamera erkundet.

Karten dienen auch dem Eskapismus, die Karte von Gliese 667Cc zum Beispiel, die ich seit gestern aufmerksam studiere, um spielerisch ausserirdische Flora und Fauna zu erforschen. Eine ganz eigene Welt, die sich mir nur über eine topographische Karte, ein minimalistisches Display und die Beschreibungen einer Biologin, deren Anzug ich als KI steuere, erschliesst. Über In Other Waters, das Spiel, in dem ich Gliese 667Cc erkunde, schreibt eine Rezensentin: “In Other Waters remains calming and lovely throughout because the terrible secret already happened decades ago, and the planet survived. Life adapted, changed, and eventually thrived again. […]You can’t change the past in In Other Waters, you can just be a witness to it.”

 

Shida

Manche mögen da ja, solche Spaziergänge draußen, in der Natur, auf Feldwegen, an der frischen Luft, die Sonne scheint, die Grillen zirpen. Ich gehöre leider nicht dazu. Mich erinnert das an Pubertät und Langeweile, ich höre ein Hörbuch und zwinge mich weiterhin zu Spaziergängen wegen der Luft und der Bewegung und so. Das sind die 30 Minuten am Tag, in denen ich dann endlich was für mich mache – und dabei mag ich es nicht mal.

Bei jeder Überwindung und bei jedem Naserümpfen ob des Geruchs nach Kuhscheiße ist da dieses fette, neue Gefühl, um das ich immer gebeten hatte und nie für möglich gehalten hätte, es zu bekommen: Teil der privilegierten Gruppe zu sein. Entscheiden zu können, die Isolationszeit auf dem Land statt in der Stadt zu verbringen, zum Beispiel. Und die eintausend anderen akuten guten Bedingungen, die ich aufzählen könnte aber das ist superlangweilig, genau, wie an dieser Stelle aufzuzählen, welche Einbußungen und Einschnitte ich natürlich trotzdem auch habe. Dominant ist die Einsicht, dass so eine Pandemie mich in einem status quo getroffen hat und dass es ihr egal ist, ob ich es schwerer hatte als andere, an diesen status quo zu gelangen oder nicht und ob es vielleicht einfach jede Menge Glück war, das mich zu diesem status quo geführt hat. Das alles ist dem Virus egal. Er ist in unser aller Biografien eingetreten, hat uns da getroffen, wo wir gerade stehen und siehe da, bäm, ich gehöre zur Gruppe derer, die zwar gerne jammern würden, sich aber einfach eingestehen müssen, wie verflucht gut sie es haben. Ich hatte immer gedacht, dass Privilegien zu haben ein prima feeling machen würde, dass man immer Sonnenschein auspustet und Lavendelduft einatmet aber in Wirklichkeit fühle ich mich, als würde die Galle aller anderen an mir kleben und ich werde sie nicht mehr los. Perspektivwechsel der merkwürdigen Art. Deswegen verkneife ich mir meinen Vorwurf an all die Leute, die sich nicht an Regeln halten und wie ungeduldige Kinder fragen: „Wann hört das auf wann hört das auf wann sind wir da ich mag nicht mehr wann sind wir da“ Ich will brüllen, „Kommt halt klar, PANDEMIE, man, PANDEMIE, keiner hat gesagt, dass das Spaß macht und schnell vorbei ist.“. Aber das ist das, was die privilegierte Gruppe immer ruft. Sie ruft immer: „Stellt euch nicht so an“ und geht dann meditierend in der frischen Landluft spazieren.

 

Andrea, Tübingen

Müde. Ich bin so müde. Ja, das ist auch eine Metapher, wenn ich mir ansehe, wie Debatten immer wieder ein Mindestniveau unterschreiten: Nein, Kritik ist keine Zensur, Ja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Zynismus ist keine Haltung, die mir sympathisch ist, aber oft durchaus naheliegend. Müdigkeit überfällt mir auch angesichts von zeitdiagnostischen Apokalyptikern und philosophischen Hottakes wie “metaphysische Pandemie”. All diesen übersteigerten Corona-Zeitdiagnostiken durfte ich einen kurzen Text im Philosophie Magazin entgegenstellen, und das hat gut getan.

Ich bin auch tatsächlich müde. Ich habe in den letzten 14 Tagen gefühlt auf Skype & Zoom gelebt, für & mit vor allem germanistischen Kolleg*innen einiges für die digitale Lehre im Sommersemester vorbereitet, dazu viele Texte auf Anfrage über das #NichtSemester geschrieben, Interviews gegeben – das meiste in unserem #NichtSemester-Team, was wunderbar funktioniert hat -, und vor allem auf Twitter darüber diskutiert. Vieles war hinterherarbeiten, bewältigen, aber ich habe ajuch versucht, zu gestalten, nicht nur nachzuarbeiten. Der für mich wirklich ungewöhnliche Aktivismus hat mich gerade nicht von der Krise abgelenkt, sondern mir geholfen, mit der Unwägbarkeit der nächsten Wochen (?) umzugehen. Denn alles, was wir tun, hat damit zu tun: Was erwartet uns bis zum Semesterende? Lehre vorbereiten, Workload, Kommunikationsformen und Arbeitsweisen zu planen, ist davon gerahmt, und es ist mir wichtig, das anzuerkennen. Wenn jemand erklärt, das seien paradiesische Zustände zum wissenschaftlichen Arbeiten, frage ich mich schon, wie man sich so abkoppeln kann von den Verhältnissen. MIr gehen die Bilder von Menschen, die  beatmet werden, nach.

Was mir am meisten fehlt: Endlich wieder in Ruhe lesen, nur für mich. Und auch endlich andere Dinge abarbeiten, die zu kurz kamen, aber auch längst erledigt werden sollten. Wieder eine Balance der vielen Aufgaben finden.

Worüber ich froh bin: Spaziergänge. Heute wieder mit Schwänen in der Nachbarschaft. Hört mal hin:

 

Emily, Rostock

Seit dieser Woche soll die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern die Daten von Infizierten erhalten. Die ärztliche Schweigepflicht wird klammheimlich ausgesetzt, aber für einen Aufschrei fehlen alle Ressourcen abseits der Zeit. Wie virtuelle Demonstrationen funktionieren, habe ich auch in Woche 3 noch nicht begriffen. Ich habe den Überblick über die Hashtags verloren, die Prioritäten und Artikel, ich spende Geld und teile Beiträge und bin neidisch auf Menschen, die eine Obsession für Online-Rollenspiele entwickeln können. Es gibt so viel, um das ich mich kümmern möchte und immer gilt es Alternativen zu finden, um aus dem Wohnzimmer aktiv zu werden. Immer rückt das Persönliche in den Vordergrund. N fragt am Telefon, ob man überhaupt an einem Corona-Tagebuch mitarbeiten kann, ohne am Ende doch nur über den eigenen Liebeskummer zu schreiben.

Es bleibt die Frage danach hängen, wie sinnvoll es ist, die entstandene Lücke mit Kultur zu füllen. Wäre es vielleicht besser, wenn wir alle diese Lücke, diese entsetzliche Lücke erst einmal fühlen würden?

 

4.04.2020

 

Janine, Flensburg

Ich gucke auf YouTube Literaturverfilmungen der BBC wie vor elf Jahren. Damals hieß das Virus der Stunde Schweinegrippe (H1N1), aber es war noch nicht sehr weit verbreitet, jedenfalls nicht so sehr, dass Vorsorgemaßnahmen im öffentlichen Leben Thema gewesen wären. Dennoch war ich besorgt, so wie einige Jahre zuvor während des Ausbruchs der Vogelgrippe (H5N1). Ich hatte kurz zuvor die Idee gehabt, meiner Mutter ein Paar Wellensittiche zu schenken, den Käfig ins Wohnzimmerfenster zu stellen, damit sie von ihrem Bett noch etwas anderes als den Fernseher zur Unterhaltung hätte. Ich sah davon ab. Wer wusste schon, ob diese Vögel nicht durch einen dummen Zufall das Virus aufschnappen und es weitergeben würden? Es war mir zu riskant.

Im Herbst 2009 besuchte ich Freunde in London. Wir saßen in der WG-Küche in Shoreditch, die vom Vermieter streng verbotenen Katzen liefen über den Tisch, vier Stück, zwei ausgewachsene und zwei kleine.

„Wo ist D.?“ fragte jemand.

„D. liegt oben in seinem Zimmer mit Schweinegrippe“, sagte meine Freundin, die das Ganze mit Humor nahm.

Es war einfach witzig. Schweinegrippe, really?

Auf der Toilette verbrauchte ich anschließend ein Viertel der Handseife, bemühte mich, bis zum Verlassen des Hauses bloß nichts mehr anzufassen.

Zurück in München ließ ich mich mit Pandemrix impfen, aus Sorge, ich könnte mich oder jemand anderen anstecken, vor allem meine Mutter. Wenige, die ich kannte, taten das, und ich bereute es sofort, weil es mir nach der Impfung so dreckig ging, einen Abend lang Fieber und Gliederschmerzen, Schüttelfrost auch, wenn ich mich recht erinnere.

Ich wollte einfach nur alles richtig machen.

Wie ich heute weiß, nahm ich damals an einer Art Massenexperiment mit einem zu dem Zeitpunkt nicht ausreichend getesteten Wirkstoff teil, der inzwischen keine Zulassung mehr hat.

Ich bin mir sicher, dass es im Laufe dieses, spätestens mit Beginn des kommenden Jahres, einen ersten Impfstoff gegen SARS-CoV-2 geben wird. Das Virus wird nach und nach hoffentlich dorthin gehen, wo auch H1N1 und H5N1 sind, ins Viren-Exil. Aber wo ist das?

 

Fabian, München

Das Private und das Politische sind noch nicht recht abgestimmt. Ein paar Wochen lang entsprach dieses kein Bedürfnis nach Berührung, intim, undsoweiter, den Anforderungen der Verwalter der Krise an die Körper ihrer Gesellschaften; und das ist nun ein schwacher Trost für die nicht gerade sich häufenden Momente, die diesen Anforderungen gerade nicht entsprechen wollen, ohne auch nur die Kraft zu haben, oder jede Gelegenheit, sich über die Rahmungen der Verordnungen hinwegzusetzen. Gequirlte SCheiße, dann stellt er sich vor, diese Verkörperung seiner Bedürfgnisse, jemanden zu umarmen, jemandes Haut zu spüren, jemandes Atem, es fragt ja keines dieser Bedürfnisse, elementar, nach seinen Umständen, das ist okay. Andrerseits ohnehin in der Möglichkeit der Wirkung auf den Körper so idealisiert bloß, wie man sich’s nur vorstellen kann, solange das Virus noch nichts von der unmittelbaren Bedrohlichkeit erhält, die über die Schreckensnachrichten hinaus, und die Anordnungen, ins Privatleben hätte sickern können, mehr Simulakrum als, der alternative, invasive Ansatz der Umschreibung doch recht festgefahrener Realitätenbündel eines kollektiven Bewusstseins, das hinausginge, über die zahllosen persönlichen, emotionalen, ökonomischen Prekariate seiner Elemente. Schwierig, die Gedanken oder dazu mit nicht total vorhersehbaren Dynamiken zu verstehen, tradierten Krisensymptomen so vieler Filme und Romane und Zombieapokalypsen; plötzlich der großartige Witz in “Juan of the dead”, der Infizierten gemäß öffentlicher Verlautbarungen als Dissidenten wider den kubanischen Sozialismus.

 

Birte, Darmstadt

Als Weihnachten 2004 der Tsunami die Küsten entlang des Indischen Ozeans verwüstete, lag mein damals 18 Monate alter Sohn auf der Intensivstation des Kölner Kinderkrankenhauses. Wegen einer schweren Lungenentzündung rang er nach zwei Thoraxdrainagen nicht nur nach Luft, zeitweilig wurde er beatmet.

Ich habe keine visuelle Erinnerung an die Tsunami-Katastrophe, weil ich das Medienereignis nicht mitbekommen habe, als es passierte. An der kollektiven Schockerfahrung habe ich nicht teilgenommen. Aber an das Intensivzimmer erinnere ich mich sehr gut. Do not go gentle into that good night.

 

5.04.2020

 

Viktor, Frankfurt 

13 Jahre Leben passen in einen Kofferraum (Kleidersammlung, Wertstoffhof) und paar Mülltonnen (Papier, Kunststoff, Restmüll). Ich habe den Keller ausgemistet. Ich habe mich dabei von Dingen getrennt, die mich mit drei Generationen verbinden verbanden. (Ich habe jeweils ein, zwei Sachen aufgehoben, Dinge, von denen ich hoffe, dass ich sie eines Tages der übernächsten Generation übergeben kann.) Ich habe manchmal mit mir gerungen, ich musste manchmal Pause machen, abends war ich im Wald und fühlte mich Hunderte Kilo leichter.

 

Birte, Darmstadt

Große Liebe für alle, die gerade nicht schon alles wissen, keine Tips geben, die nicht das Banalste zur Weisheit erklären oder wissen, wie man durchkommt. Werde ich dabei noch plump-vertraulich geduzt, stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Tagebuchschreiben ist eine Form der Sinnstiftung, ich hab aber gerade keinen parat. Die Tage sind gleichförmig, auf den Markt zu gehen, mit Kolleginnen zu telefonieren, ein Ereignis. Ich bin doch keine Buribunkin.

Ich mach jetzt das, was ich immer tue, wenn ich der Aufmunterung bedarf: Jovanotti ganz laut aufdrehen. Sich den Sommer überwerfen und für den Moment ist alles gut.

https://www.youtube.com/watch?v=VHcAusNO3L4

 

Nefeli, Berlin / Hamburg

The perks of being someone’s Kontaktperson. Es bleibt dabei, dass ich mich dafür dankbar schätze, nicht allein zu sein. Ich würde wohl nie rausgehen. Stattdessen habe ich gestern ein paar Sommersprossen bekommen. Wir waren im Gleisdreieck-Park. Das schaffte Normalität. Ein Stand verkaufte sogar Kuchen und S. und ich konnten das tun, worin wir vermeintlich am Besten sind: Süßes naschen, dabei Kaffee trinken.

Am Tag zuvor hatten wir beide einen sozialen Tag. Ich traf Hannah, sie erzählte mir davon, dass sie einen neuen Job hat, sie näht nun Gesichtsmasken. Ich habe direkt ein paar bestellt. Wir liefen ewig die Straße auf und ab, teilten uns irgendwann ein Stück Pizza. Auch das schien fast normal, bis auf die Tatsache, dass ich sie nicht umarmen konnte. Das wird mit das Krasseste sein, endlich alle, die ich mag, umarmen zu dürfen.

Abends dann eine WebCam/Zoom-Party. Es gab Schnaps und ein Würfelspiel. Beim Abräumen zerbrach mir ein Glas in der Spülmaschine, just in der Sekunde, als S. im Wohnzimmer zwei Gläser umkippte und ebenso zerbrach.

Und wie viele Scherben braucht es, bis wir uns alle wieder normal fühlen? Ich fordere ja noch nicht einmal das Glück heraus. Ich muss gar nicht glücklich sein. Aber mich stabil zu fühlen, das wäre doch schon etwas.

 

Slata, München

Es wird warm, keiner hält sich mehr an die Regeln, die Leute stürzen sich auf Topfblumen draußen vor dem Discounter, atmen in der Kassenschlange einander ins Genick. Auf dem Balkon hinzugekommen sind

drei Lavendelsträucher

fünf lila Primeln

zwei Kürbisembryonen

eine gelbe Rose.

Wenn das Ganze irgendwann vorbei ist, denn irgendwann muss es ja vorbei sein, wird alles wieder verdorren, in sich zusammenfallen, erfrieren, und so säen wir Sonnenblumen, Pfefferminze und Dill, gießen sie aufmerksam, jeden Tag, befühlen die Erde mit den Fingerspitzen, stellen sie morgens raus in die Sonne, tragen sie abends behutsam ins Wohnzimmer rein.

 

Nabard, Bonn

Eine Amsel sammelt Holz für ihr Nest. Eine Hummel fliegt zur Tulpe. Vögel zwitschern während die Sonne mein Gesicht und meine Brust wärmt. Ich weiß nicht was für einen Tag wir heute haben. Es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur dass wir leben und die Natur um uns auch. Ein Windstoß pfeift mir meine Locken ins Gesicht, ich muss unbedingt einen Friseur ausfindig machen.

 

Marie Isabel, Dunfermline 

An Liefertermine von Supermärkten ist momentan kaum mehr heranzukommen. Einige Ketten räumen besonders Gefährdeten Priorität ein. Theoretisch kein schlechtes Prinzip. Wie genau sie an die persönlichen Daten der Kund*innen gelangt sind, frage ich mich. Andere Supermärkte bzw. Obst-/Gemüseboxen-Lieferdienste (etc.) nehmen keine Bestellungen von Neukund*innen mehr an. Die kreativsten und kundenfreundlichsten Lösungen finden kleinere, familiengeführte Unternehmen. Wie der Fleischerladen, der jetzt auch telefonisch aufgenommene Bestellungen zustellt, oder der Bauernhof (mit angeschlossener Bäckerei und Kaffeerösterei), der kurzerhand einen Online-Shop mit reduziertem Angebot (verschiedene Sorten Brot, Scones, Eier, Kaffeebohnen) eingerichtet hat. Kund*innen bekommen ein Tagesfenster, in dem sie die eigens für sie verpackte Ware abholen können. So machen sich mein Mann und ich (da wir autolos sind zu Fuß) auf den sechs-Meilen-Weg querfeldein und an (ansonsten dicht befahrener) Landstraße entlang. Mit Broten und Eiern (und zwei Scones) in Rucksack und Schultertasche kehren wir glücklich nach Hause zurück. Was für ein Luxus.

Statt, wie ansonsten jedes Wochenende in letzter Zeit, selbst den Backofen anzuwerfen, zeichne und aquarelliere ich Osterkarten. Für die engste Verwandschaft in Irland, Schottland, England, Deutschland. Kleine Farbtupfer der Zuneigung per Post als wiederkehrende Idee. Gleichzeitig bin ich zum Telefonieren nur bedingt aufgelegt, beantworte manche Emails erst nach Tagen, wähle sehr genau aus, wann ich wie mit wem kommuniziere. Obwohl mir Sozialkontakte fehlen. Das Paradox aufzulösen vermag ich nicht, aber vertraut ist es mir, aus meiner Chemotherapie-Zeit.

Die britische Regierung überlegt seit heute, auch sportliche Aktivitäten außer Haus zu verbieten

 

Weil es Menschen, verständlicherweise, im Frühlingssonnenschein vermehrt nach draußen zieht. Auf Twitter braut sich ein Sturm zusammen gegen die neue Beschränkungs-Idee. Sorgen um körperliche wie psychische Gesundheit werden laut. Ebenso die Frage, warum es schädlicher sein soll, Andere in frischer Luft zu umrunden als im Supermarkt. Mancher begreift diese Aufregung dagegen nicht, besonders Menschen in Italien, Spanien, Frankreich, wo die Regelungen bereits jetzt strikter sind. Wo hört, fragt eine unreflektierte Stimme in meinem Kopf, eigentlich Solidarität auf und fängt Kollektivhaftung an?

 

Fabian, München

Es ist ja nichts grade Neues, dass sich auch in der Zeit der Krise auf die durch die Gegebenheiten zwar Involvierten, aber nicht Betroffenen die psychischen Symptome nur genau so vorübergehend manifestieren oder zeigen, wie sich die Bereitschaft hält, mehr als nur die spannendsten Schlagzeilen mehr als bloß zu überfliegen, um sich so und ohne Rücksicht auf die diskursiven Folgen eine felsenfeste Meinung schon festgelegt zu haben, bevor überhaupt Zeit war, auf den Kommentarbereich zu klicken und sie abzuladen. Das wirkt so tautologisch, wie’s klingt, meistens; ein paar der Pappenheimer, oder genügend, wobei vielleicht das schon eine den Tatsachen nicht unbedingt genügende Wertung darstellt, kennt man ja schon, die da so, gefühlt, reflexhaft, die immergleichen ideologischen Fragmenthaftigkeiten in die Tasten hauen und in den immergleichen Grabenkämpfen ausufern lassen. Doch eine Form von guilty pleasure, dass es manchmal schon spannender ist, vor der Lektüre des jeweiligen Artikels in den Leserkommentaren abzutauchen. Nicht, weil’s sich besonders gut anfühlt, dass man in jeder möglichen Stellungnahme zu jeder möglichen mehr oder weniger historisierbaren Situation  die selben, oft stupenden Argumentationsmuster wiederfindet. Man kann sich ja nicht ernsthaft über die ganzen Menschen dahinter, und schon gar nicht konsequent, erhöhen, bloß weil die jeweiligen Reflexe vielen von ihnen ernsthaft dumm erscheinen lassen, und nicht ‘mal vor sich selber genügt zur Beruhigung des Unbehagens darüber die Feststellung der Invalidität jedes möglichen oder instinktiven Urteils über die Urteile der anderen, deren Erfahrungs- und Lebenswelten man nicht teilt und meistens nicht ‘mal tariert mit dem instinktiven Bewusstsein für die eigene, und dezidiert unter Anführungszeichen gedachte Fähigkeit, die, dezidiert unter Anführungszeichen, einfachen Muster zu durchschauen.

 

Sarah, München

Die Krise taugt nicht dazu, uns zu bessern. So heißt es in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung. Ja, vielleicht ist das so. Wir werden keine anderen. Und Angst lässt die viele Menschen sich ducken und nicht über sich hinauswachsen. Wie die Verteilungskämpfe um Klopapier und Schutzmasken eindrucksvoll belegen.

Und trotzdem kann ich es nicht lassen von der Revolution zu träumen. Denn Corona legt so vieles offen. Entblößt die Schwachstellen unserer Gesellschaftsordnung endlich auch für jene, die die Betroffenen und Mahner als ein bisschen überspannt dargestellt haben. Nun muss doch jeder sehen, dass die Betreuung von Kranken kein Geschäft sein sollte. Dass Alleinerziehende jede Unterstützung verdient haben. Dass Care-Arbeit ARBEIT ist. Und zwar von der härteren Sorte. Vielleicht auch, dass unser Tempo ein bisschen irre ist. In all dem Chaos, der wirtschaftlichen Probleme atmen erschütternd viele Menschen auf. Wie @mamaarbeitet.

Werden wir uns das merken? Und noch wichtiger: Werden wir uns wehren? Werden wir aufhören auf die Menschen herabzublicken, die aus Osteuropa kommen, um unsere Erdbeeren und unseren Spargel zu ernten, damit ihre Körper schinden (wer mal ein paar Stunden irgendwas geerntet hat, braucht keine weitere Erklärung), nur damit Obst und Gemüse für uns angenehm günstig bleiben? Ich hoffe es sehr. Mein Mann sagt, ich soll nicht von sowas träumen. Die Welt bleibt die Welt. Vielleicht. Aber irgendwann gab es ja auch Könige, die den Segen Gottes hatten.

Woche 5: 6. April bis 12. April

 

6.04.2020

 

Slata, München

Ich pflege feste Vorstellungen davon, was und wie Kinder nötig haben, was man ihnen anbieten, wie man ihren Tag regeln muss, Spiele im Freien, Felder, Gärten, Spielplätze, sowas, regelmäßige Projekte Wir legen ein Kräuterbeet an oder Bunte Ostereier aus Filz gestalten, ab und zu eine Waldwanderung oder ein Besuch beim Imker nebenan, viele gut gemachte Bücher, und andere Kinder natürlich. Jetzt sitzt Emil die meiste Zeit zuhause, im kleinen Zimmer mit Dachgeschossbalken, Hörbücher non stop, oder läuft im Flur mit einem Ball herum, es macht mich wahnsinnig, ab und zu gehen wir raus natürlich, solange es erlaubt ist ohne Gesichtsmaske, denn so ein Teil wird sich Emil garantiert nicht aufsetzen, aber es ist alles nicht wirklich gut, nicht zufriedenstellend, gar nicht. Auch, weil ich für mich selbst ganz andere Sachen will, als Spiele im Freien, Felder, Gärten, und Ostereier aus Filz. Kompromisse sind ätzend, sie machen mich nervös, und ich gehe den Tag lang genervt, mal verängstigt (wo enden wir nur), mal wütend (das ist doch einfach unerträglich) mit verschränkten Armen hin und her (wie Napoleon, bilde ich mir ein), merke, dass das Einzige, was ich gerade will, ein Mittagsschlaf auf dem Sofa ist.

 

Viktor, Frankfurt

Meine Mutter hatte mir vor einigen Jahren ein Kochbuch gemacht mit ihrem Essen, das mir schmeckt. Dass sie nach dem Geschenk nur noch ein paar Jahre zu leben hatte, wusste damals niemand. Ich habe seitdem ein Dutzend Mal die Bliny versucht zu machen, wie sie das für mich aufgeschrieben hatte. Der Teig war entweder zu dick oder zu dünn, er riss in der Pfanne, verbrannte an einer Stelle und war an der anderen noch roh, er schmeckte manchmal zu sehr nach Eiern und ein ander‘ mal waren die zerrissenen, halb verbrannten Bliny zu ölig.

Eigentlich sind sie nicht kompliziert zu machen. Die Pfanne darf nicht zu heiß, der Teig will immer wieder umgerührt sein, zwischen den Bliny ein Klecks Öl in die Pfanne, daneben stehen bleiben, wenn die Bläschen im Teig aufsteigen und platzen, umdrehen.

In den letzten zwei Wochen sind mir die Bliny immer gelungen.

Im Wald sehe ich Menschen, die sich offensichtlich selten in den Wald verirren. Es sind so viele, wie ich das hier noch nie erlebt habe. Die neuen Waldbesucher sind so angezogen, dass sie ständig aufpassen, nicht “dreckig” zu werden. Ein Mann hilft einem Mädchen auf eine Wurzel zu klettern, die Wurzel ist größer als das Mädchen, noch voller dunkler Erde, der Baum fiel erst vor gar nicht so langer Zeit um. Die Waldbesucher laufen auf allen möglichen Pfaden, um Distanz zu halten. Ob das dem Wald gefällt?

 

Rike, Köln

Die Soundkulisse von Deutschland hat sich verändert. Mutmaßung: überall in Deutschland hört man es jetzt vermehrt Akkubohren, Dübelbohren, Rasenmähen, Staubsaugen, feine Geräusche von Fensterputzen, das Quietschen von Gummischwamm auf doppelverglastem Veluxfenster, wenn man genau hinhorcht. Weniger Autobahnbefahrgeräusch, weniger Menschengruppendurcheinanderredegeräusch, weniger Bierglasgegeneinanderschlag oder Porzellangeschepper, keine Demogeräusche von Leuten, die die selbe Sache sagen, dafür Straßenkreidekratzen oder die schnarrenden Geräusche von Polizistenmenschen, die die Personalien von Menschen aufnehmen, die Pappschilder leise mit Thesa an Straßenzäune kleben (das Geräusch, wenn Thesa von Rolle abgezogen wird, vermehrt): „Wir hinterlassen Spuren. Evakuieren statt Ignorieren.“ Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen – hört die irgendwer?

 

Sandra, Berlin

Ich wache in meinem schuhschachtelgroßen Arbeitszimmer auf, draußen die Stimmen von Mann und Kind, sie spielen, es ist kurz nach 7 Uhr morgens, heute wird das Kind 17 Monate alt, ich mache die Augen noch einen Moment zu. Die letzten Wochen habe ich immer wieder hier geschlafen, nach meinen Schreibnachtschichten, um mich nicht zu weit vom Text zu entfernen, die Ruhe zu halten, das Geschriebene im Kopf nachklingen zu lassen und mein Hirn nicht sofort wieder in den Mamamodus zu schalten. Auf meinem Tisch stapeln sich Notizen, auf dem Boden ein Hindernisparcours aus Büchertürmen, dazwischen das Schlafsofa. Es fühlt sich an wie Ferien.

Es ist schön, nicht allein zu leben, zu sein, in diesen Tagen, gleichzeitig ist es manchmal schwer, nicht allein zu leben. Ich bin ziemlich gut für mich allein.

Die Tage werden von den Nachrichtenmeldungen getaktet, den Essenszeiten des Kindes, den Arbeitseinheiten, den Spaziergängen und Zeiten, in denen ich mit dem Kind spiele, in denen es für sich spielt. Das Kind brabbelt in seinem hochsympathischen Alienkauderwelsch, das manchmal ein bisschen nach Hebräisch klingt, dann nach Klingonisch, dazwischen droppt es neue Worte in unserer Sprache, die wir auch verstehen, kommuniziert immer klarer, freut sich unbändig, wenn wir (wahrscheinlich denkt es: endlich!) verstehen und überhaupt freut es sich die meiste Zeit über alles mögliche, um im nächsten Moment einen Wutanfall zu bekommen, der in Sekunden wieder verfliegt. Meine Grundstimmung ist ähnlich: aufgekratzt, aufgeladen, wegen Nichtigkeiten werde ich aufgebracht.

Ich nehme meine Gedichte auf für einen Podcast, ich mache meine erste online-Lesung, beides macht mir mehr Spaß als erwartet. Ich schreibe to-do-Listen, deren to-do’s ich immer wieder neu übertragen muss, auf die nächste Liste. Für alles ist zu wenig Zeit. Die Müdigkeit, die ich seit Wochen nicht loswerde, tut ihr Übriges. Draußen tobt allem zum Trotz das Frühlingserwachen, und mir ist nach Winterschlaf. Im Rauschen der Nachrichtenmeldungen die Augen zumachen, wegdösen, nicht mehr denken, nur schlafen. Aber ich bin wacher, als mir lieb ist. Im Radio sagen Zukunftsforscher_innen, nach Corona soll es eine „neue Normalität“ geben. Wie wird diese aussehen?

Weiter als eine Woche in die Zukunft zu denken fällt mir schwer. Alles schwebt, die gemachten Pläne, die Möglichkeiten, die Ideen. Die Zeit dehnt sich, um im nächsten Moment weiter zu rasen. Ein Tagebuch sollte wohl täglich geführt werden, aber das klappt nicht, allein schon, weil manche Tage miteinander verschmelzen. Der März war lang und irre kurz. Nicht? Kommendes Wochenende ist Ostern, whatever, Feiertage waren mir immer schon egal. Ich frage mich: Wie lange wird dieser April dauern? Was davon wird uns in Erinnerung bleiben?

 

Shida

Am Telefon klingen meine Freund:innen überhaupt nicht traurig, während sie davon erzählen, dass sie gerade so oft traurig sind. Sie klingen so wie immer. Ich erzähle auch, dass es mir gerade oft nicht gut geht und klinge dabei, als würde ich von etwas Schönem erzählen. Dann sind wir uns gemeinsam einig, dass es uns ja im Vergleich auch gut geht. Heute sagt eine Freundin: „Ja. Man darf aber trotzdem traurig sein.“ und hat wie immer Recht mit allem.

Ich bin traurig. Es hat drei Wochen gedauert, bis sich dieses Gefühl breit gemacht hat, aber es ließ sich wohl nicht mehr länger hinauszögern. Wenn Menschen sich bei mir melden, bin ich traurig, wenn sie sich nicht melden, bin ich traurig, wenn sie mir nicht direkt antworten bin ich traurig und ich bin vor allen Dingen traurig, wenn ich selbst tagelang nicht antworte (was öfter vorkommt als dass man mir nicht antwortet). Ich bin traurig, wenn ich ihre schönen Gesichter in kleine Fenster gepresst in meinem Computer sehe und ich bin traurig, wenn mir Menschen erzählen, dass man die Kunst ganz toll online verfolgen kann: Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, alles online. Ich möchte weinen, bei der Vorstellung. Nicht, weil ich das schlecht finde oder so, schön für alle Beteiligten, wirklich! Aber mir tun alle so leid, dabei. Mein dominantes Gefühl bei all diesen Lösungen per Wlan ist Mitleid.

Das Haus, in dem wir die Isolation verbringen, ist das gleiche Haus, in dem wir Silvester gefeiert haben. In einem Anflug von betrunkener Panik hat ein Freund am frühen Morgen des 1.Januars 2020 die angebrochene Torte als komplettes Stück in den Gefrierschrank gestellt, weil er der Meinung war, man müsse sie vor irgendwas retten. Wir haben ihn ausgelacht, dafür, nicht zu knapp. Wir haben den 1.Januar hinweg über Optionen, was man mit der Torte machen kann, diskutiert, weil keiner die vielen Kilometer mit einer angebrochenen, tief gefrorenen Torte zurück ins echte Leben fahren wollte. Es gab die Stimmen, die die Torte wegschmeißen wollten, was ich schrecklich fand und es gab die Stimmen, die eine besser Idee verlangten, was ich mit Schweigen beantwortete. Am Ende haben wir sie im Gefrierschrank vergessen und sind ohne sie in unser noch unschuldig lächelndes Jahr 2020 gefahren.

Ich habe die Torte heute Mittag aus dem Gefrierschrank geholt und auftauen lassen. Ich habe dabei an Frederick gedacht, die Maus, die weise nicht mitmacht, als alle anderen Mäuse Vorräte in Form von Essen sammeln, weil sie Farben sammelt, um später Geschichten zu erzählen, wenn es Winter wird. Die Torte war auch an Silvester keine besonders gute Torte, aber sie ist ein Relikt aus der Vergangenheit, eine Erinnerung an sorglose Abende mit Freund:innen.

Stunden später, am Abend, tröstet mich die Torte, obwohl ich mir unsicher bin, ob sie noch so schmeckt, wie sie schmecken sollte, aber sie harmoniert mit den drei Gläsern Rotwein, die ich in mich reinschütte, als wäre es wieder Anfang des Jahres und ich lese endlich Ocean Vuongs Roman zu Ende und als meine Lieblingsfigur stirbt (es sind immer die Lieblingsfiguren, die sterben), heule ich endlich Rotz und Wasser und bin so froh, dass ich endlich heule, es tut so verflucht gut, in aller Ruhe einmal richtig zu heulen und man heult besser, mit Torte, viel besser.

Arbeit in Unterhosen – Die Ästhetik des Privaten in Zeiten der Pandemie

Eine Kolumne Von Berit Glanz und Johannes Franzen 

 

Die Pandemie, die gerade das gesellschaftliche und kulturelle Leben überall auf der Welt lahmlegt, hat den seltsamen Nebeneffekt, dass man plötzlich Einblicke in allerlei Wohnzimmer erhält. Professionelle Kommunikation verliert ihre professionellen Raum und findet im Privaten statt, vor der Kamera im Video-Chat. In amerikanischen Comedy-Formaten wie Stephen Colberts Late Show oder Trevor Noahs Daily Show wird diese Herausforderung gleichermaßen umgesetzt und parodiert. Der Rahmen, in dem die Shows gefilmt werden müssen, ist denkbar unangenehm: Kein Publikum kann die Witze durch Lachen affirmieren und damit als Witze bestätigen. Eine gespenstische Stille folgt auf die Pointen. Diese missliche Lage wird ausgeglichen durch die ständige Inszenierung des authentisch Privaten, durch Freizeitklamotten, durch den Verweis auf Familienmitglieder im Hintergrund, durch klar identifizierbare persönliche Gegenstände. Colbert trägt in einer Folge, obwohl ihm die Zuschauer gesagt haben, dass er das nicht machen solle, einen Anzug, aber dann steht er auf, und man kann sehen, dass er untenrum nur seine Unterhose anhat.

Die Pointe beruht auf der selbstverständlich konstruierten, aber für die Funktionsweise moderner stark differenzierter Gesellschaften extrem wichtigen Unterscheidung von professionell und privat. Die plötzliche Überführung privater Komponenten in professionelle Kontexte, die zentral ist für die digitale Vernetzung der nun im Home-Office arbeitenden Kolleg*innen führt zu interessanten Formen von Selbstinszenierung und Überlegungen zu neuen Anforderungen an eine Berufsetikette. Darf ich mit meinem Boss videochatten, wenn ich unter dem Schreibtisch nur meine Pyjamahose anhabe? (Zumindest die erhöhten Verkaufszahlen professioneller Oberbekleidung scheinen in diese Richtung zu weisen.) 

Die Trennung von privat und professionell stand natürlich bereits vor der Pandemie auf dem Prüfstand. Gerade der Begriff Home-Office, der jetzt eine neue Form von Dringlichkeit gewonnen hat, war ja bereits der extreme Ausdruck einer schleichenden Auflösung dieser Grenze. Nun wird diese Auflösung als kulturelles Phänomen breitflächig in Szene gesetzt. Dabei etabliert sich eine Form der Ästhetik des Privaten im professionellen und (semi-)öffentlichen Rahmen und diese Ästhetik setzt sich aus zwei gegenläufigen Aspekten zusammen: auf der einen Seite das Private als  Form der Authentizität und auf der andere Seite das Spiel mit dieser angenommenen Authentizität durch eine Hyperinszenierung und Ironisierung. Die Authentizität des Unverstellten erscheint vor allem als eine Authentizität des Lo-Fi. Professionell – das bedeutet geschminkt, frisiert, das ist Glätte der Umgebung und gute Soundqualität. Das Private dagegen ist der Schlonz, der offene Hemdkragen, die rote Nase und der scheppernde verschleppte Sound der morgenmüden Stimme eines Menschen, der zu lange geschlafen hat. 

Dieses Authentische ist ausgestattet mit dem Kapital des menschlich Sympathischen, weil es die professionelle Kälte der spätmodernen Gesellschaft infrage stellt. Auf der Arbeit, das ist: funktionieren müssen, keine Fehler machen, die Oberfläche der Umgebung intakt halten. Das Private ist alles, was dem entgegensteht. Ein Schutzraum des Fehlerhaften. Die Wirkung, die dieses kulturelle Konstrukt besitzt, zeigte sich in der Rezeption des im März 2017 live durchgeführten Fernsehinterviews mit dem in Südkorea lebenden Politikwissenschaftler Robert E. Kelly, das auf legendäre Weise durch seine beiden plötzlich ins Zimmer stolzierenden Kinder und die panisch auf dem Boden hinterherrutschende Mutter unterbrochen wurde. Und das direkt zu einem viralen Hit und zur Inspiration zahlloser Memes wurde. Eine mediale Heldengeschichte, die eben durch den Einbruch des menschlich Sympathischen und Unperfekten in das professionelle Wertungsgefüge ihre Massenwirksamkeit erlangte. 

Im Kontext der durch die Corona-Krise verordneten Häuslichkeit gewöhnen wir uns nun immer mehr an die Vermischung privater Sphären mit professionellen Kontexten. Die dabei entstehenden unfreiwillig komischen Momente von fehlgenutzter Technik und Einbrüchen von Privatheit in professionelle Kommunikation sind dann Ausdruck einer chaotischen Wärme, die in die Kälte des Funktionierenmüssens einbricht. 

Die Verschiebung der sonst im beruflichen Kontext dominant gesetzten Selbstinszenierung des professionellen Individuums in den privaten Raum erzeugt eine Reibungenergie, die sich etwa an zahlreichen ironischen Problematisierungen dieser angenommenen Authentizität des Privaten entlädt. Denn es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die neue Dimension des Privaten im professionellen Kontext nicht auch ganz grundsätzlich nach einer Inszenierung verlangen würde, wie man beispielsweise an den ins Home-Office drapierten Lektüren sehen kann, die einige Menschen in den sozialen Medien teilten. Politiker legen sich den aktuellen Reckwitz-Band auf den Schreibtisch ihres Home-Offices und signalisieren damit ihre eigene Belesenheit, andere ironisieren ihre Privatheit, indem sie in Chatgruppen Kostüme tragen, gezielt andere Hintergründe oder Accessoires auswählen oder sich über diese plötzlich in den Arbeitsalltag eindringenden Möglichkeitsräume amüsieren. Wir inszenieren uns immer, nehmen nicht nur in beruflichen Kontexten, sondern auch in unserem Privatleben Rollen ein. Diese komplexen Selbstinszenierungen in all unseren zwischenmenschlichen Interaktionen hat der Soziologe Erving Goffmann bereits 1956 in Wir alle spielen Theater (The Presentation of Self in Everyday Life) ausführlich analysiert.

Jedoch: Auch in diesem Fall gilt, das Private ist nicht nur inszeniert, sondern auch politisch. Denn wenn man Einblick in die Wohnzimmer anderer Menschen hat, dann hat man auch Einblick in ihren Besitzstand, oder zumindest in die nicht immer geschickt kalibrierte Art, wie dieser Besitz inszeniert wird. Im Freitag wurde über eine Debatte berichtet, die sich in Frankreich an den Corona-Tagebüchern einiger bekannter Schriftsteller*innen entzündete: Die Autorin Leïla Slimani hatte beispielsweise über den Garten im Landhaus ihrer Familie berichtet, wo sie die Quarantäne verbringt. Ihr wurde daraufhin vorgeworfen, ihren privilegierten Lebensstil auszustellen und auf einem Niveau Beschwerde zu führen, dass die viel größeren Leiden derjenigen, die es sich nicht leisten können, in ein Landhaus zu ziehen, fahrlässig ignorieren würde.

Nun ist das öffentliche Tagebuch ein Gattung, die ähnlich paradox anmutet wie der Begriff Home-Office. Eine Vermischung von zwei Sphären, die sich durch ihre Abgrenzung voneinander definieren. Und auch in diesem Fall kommt es zur Inszenierung des Nicht-Inszenierten, zur kuratierten Authentizität. Das kann, wie im Fall von Slimani, aber auch schiefgehen, wenn man den Aspekt des Öffentlichen am öffentlichen Tagebuch nicht ernst nimmt und damit die Kontrolle über den Akt der Kommunikation verliert. 

Conan O’Brian hat diese Art des kommunikativen Kontrollverlustes in seiner Show persifliert. Im T-Shirt vor einer Wand, an der ein Gitarre hängt, redet er darüber, wie Prominente den Zorn der Öffentlichkeit auf sich gezogen hätten, weil sie mit privaten Videos auf ihren schönen riesigen Häusern “out of touch” gewirkt hätten. Conan kritisiert diese unsensible Art der Protzerei und führt danach scheinbar durch sein “simple home”, das aber aus (sehr schlecht fingierten) übertrieben luxuriösen Räumen besteht (inklusive Weinkeller und Pferdestall). Der Witz beruht darauf, dass Privatheit zwar inszeniert wird, allerdings immer für den eingeschränkten Bereich der eigenen Peer-Group. Die Gefahr, dass diese Inszenierung über diesen Bereich hinausgeht, also mehr als die geplante Öffentlichkeit bekommt, wurde durch die Vermischung von Privatem und Professionellem potenziert. So können kommunikative Unfälle entstehen, die dann wiederum zu politischen Verstimmungen führen.

Was solche kommunikativen Unfälle im Grenzbereich zwischen Professionalität und Privatsphäre einerseits und die aktuelle ironische Inszenierung dieser Grenzbereiche andererseits zeigen, ist vor allem, dass diese angenommene Grenze auf ein paar liebgewonnenen Missverständnissen Konventionen und Ritualen beruht. Was die Ästhetik des Privaten, die sich notwendig im Arbeitsalltag der Pandemie etabliert, zeigt, ist nicht nur die Brüchigkeit der professionellen Oberfläche durch den Einbruch des Privaten, sondern auch die Glätte des Privaten, die durch den Einbruch des Öffentlichen irritiert wird. Man kann davon ausgehen, dass die Erfahrungen, die Menschen jetzt mit der Vermischung von privat und professionell im Home-Office machen, die Arbeitswelt verändern wird. Allerdings muss man auch davon ausgehen, dass diese Erfahrung unsere Vorstellung des Privaten erschüttern wird. Die politischen Implikationen dieser Erschütterung, einer zunehmenden Verwischung der ritualisierten Inszenierung der Grenze von Privat und Öffentlich – auch und gerade durch den Einfluss des Digitalen – dürften gegenwärtig noch nicht absehbar sein. 

 

Photo by Daria Nepriakhina on Unsplash

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (6)

Dies ist der sechste Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5)

Das mittlerweile über 85 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

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31.3.2020

 

Matthias, Jena

In Jena zeichnet sich eine Maskenpflicht ab, zunächst im ÖPNV und im Einzelhandel, ca. in einer Woche soll es so weit sein, die Leute müssen sich zuerst irgendwie mit selbstgenähten Masken eindecken. Zu kaufen gibt es schließlich keine.

Ich habe Anfang des Jahres begonnen, auf eine »Clean Desk Policy« hinzuarbeiten und bin jetzt nahezu am Ziel: Auf meinem Schreibtisch ist, verglichen zu früher, fast nichts mehr, meine Arbeitsunterlagen sind ordentlich in Mappen sortiert und liegen in einem Schubfach. Ausgerechnet während der Pandemie bekomme ich also etwas hin, was ich jahrelang nicht geschafft habe, und ich habe eine Art schlechtes Gewissen dabei, obwohl die Seuche ja keinen großen Einfluss auf meinen Arbeitsalltag hat. Das schlechte Gewissen ist ohnehin (bzw. in noch stärkerem Maße als sonst) ein ständiger Begleiter, seit die Belastungen durch die Epidemie völlig an mir vorbeigehen. Ich konsumiere, bestelle Essen und zahle meine Steuern, das war’s. Toilettenpapier ist übrigens problemlos zu bekommen, ich bin dem Eindruck auf den Leim gegangen, den die leergefegten Regale in mehreren Geschäften reproduzieren; in einer Drogerie war am Regalkopf eigens eine große, noch sehr volle Palette aufgebaut. Abgabe nur eine Packung pro Person.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Wir wohnen mit Aussicht. Von meinem Arbeitszimmer aus sehe ich den großen blauen Kran der Werft von Rosyth. Der Firth of Forth windet sich gemächlich und silbern ins Land. Dort versammelten sich kurz nach dem Waffenstillstand 1918 siebzig deutsche Kriegsschiffe. Filmaufnahmen zeigen die Flotte vor der roten Eisenbahnbrücke, die hier jeder mit ehrlicher Zuneigung liebt. Die beiden anderen Querungen, von denen in Nichtpandemiezeiten der Verkehrslärm zu uns herüberschwallt, gab es damals noch nicht. Sie fehlen mir wenig, die zahllosen Metallkäfige auf Rädern. Ich mag, wie viel ruhiger es um uns herum geworden ist. Entspannter. Auf der Straße vor dem Haus, der großen Kreuzung rechts daneben. Dafür strömen täglich Menschen mit und ohne Hund die Fußwege entlang. Als sei jeden Tag Osterspaziergang. Manchmal so viele, dass einige meiner Nachbarn auf Facebook darüber wuschig werden. Ich lausche den Frühlingsvögeln, deren Stimmen einmal nicht untergehen. Altansässige haben mir erzählt, dass hier bis vor wenigen Jahren noch überall Felder waren, alte Bauernhöfe. Davon ist kaum etwas geblieben. Eine der letzten Freiflächen, die ich noch als wilde Wiese schätzen lernte, wird gerade bebaut. Mit Blick auf die Werft, den Firth of Forth, die drei Brücken. Ich schaue wieder aus dem Fenster. Die Aussicht hat sich noch einmal geweitet, scheint es. Schnee bedeckt die Berge am Horizont.

 

Sandra, Berlin

Das Weitermachen hat etwas Absurdes. Als wäre nichts anders. Aufstehen, essen, arbeiten, am Wochenende raus ins Grüne. Und natürlich ist dabei alles anders. Der Spaziergang am Sonntag im Grunewald wird begleitet von polizeilichen Megafon-Durchsagen, man solle den schönen Tag genießen, aber Abstand halten und möglichst nirgendwo verweilen. Die täglichen Telefonate mit Familie, Agentur, Verlag, Freunden – dabei habe ich davor so gut wie nie telefoniert. Die neuen Verhaltensregeln des Draußen, wir dürfen das Kind nicht mehr mit anderen spielen lassen, alle Eltern versuchen die Kinder mit mehr oder weniger subtilen Tricks voneinander fernzuhalten, statt wie davor das gemeinsame Spielen zu fördern. Eine neue Unruhe zeigt sich im Verhalten des Kindes, es wacht um drei Uhr morgens auf, ist hellwach, und will sich nicht mehr beruhigen lassen – das mag ein Entwicklungsschub sein, aber genauso wahrscheinlich ist, dass die kleinen und großen Veränderungen spürbar sind, ebenso wie meine, wie unsere eigene Unruhe, die wir versuchen, unter dem Deckel zu halten. Es rumort in meinem Hirn, als wäre es ein hungriger Magen. Die Fragen nach einem DANACH. Was kommt danach? Und wann beginnt es wieder? Und wie wird das JETZT uns bis dahin verändert haben? Ich spreche Gedichte aus meinem Debüt für einen Podcast des Verlags ein, sie hören sich anders an im Kontext der aktuellen Ereignisse. Ich streiche am Vorschautext für meinen Roman herum. Alle Wörter scheinen ungeeignet. Die Bedeutungen, die Wahrnehmungen, die Befindlichkeiten der Worte und Dinge scheinen sich stündlich zu verschieben. Mein Blick geht immer wieder vergleichend zu den viel strengeren Maßnahmen in Österreich/Wien, dort habe ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht, dort leben die Menschen, die mich mit am besten kennen, dort sollen die Menschen ab sofort Schutzmasken tragen, erst mal nur im Supermarkt, aber wahrscheinlich bald überall. Alles nur eine Frage der Zeit, dann wird Deutschland nachziehen. Die Haut auf meinen Händen ist rot, trocken und schuppig vom ständigen Waschen. Manche posten Bilder ihrer rotgeschrubbten Hände in den sozialen Medien. Das Bild der von Schutzmasken halb verdeckten Gesichter auf den Straßen beunruhigt mich am meisten. Beim Kontrolltermin (es hustet seit Wochen) streckt das Kind die Hände nach der Maske unserer Ärztin aus, sieht uns fragend an. Wir machen einen Scherz daraus, der keiner ist.

Mein täglicher Gedanke: Ich will einen Garten.

 

Slata, München

Wenn wir hier reingehen, sage ich, Dann huste bitte nicht, und niese nicht, auf keinen Fall, verstehst du? Und geh an keinen näher ran als etwa so, von hier bis zur Tür, achte drauf, dass da Platz ist zwischen dir und den anderen. Berühr am besten keine Sachen, lass mich das machen, ich werde alles nehmen, was wir brauchen, dann bezahlen wir und gehen raus, berühr nicht dein Gesicht dabei, lass die Hände weg, von den Augen, von dem Mund, hier, nimm dir einen Kaugummi, steck ihn in den Mund, dann hat er was zu tun und du schiebst keine Finger rein, hier, gib mir das Papier, ich schmeiß es weg, berühr bitte keine Sachen, die wir nicht sicher mitnehmen und bezahlen, ok, so, bei drei gehen wir rein also, denk dran, nicht zu husten, bitte, sonst können wir ein Problem bekommen, eins, bist du sicher, dass du es schaffst nicht zu husten, zwei, drei ‒

 

Tilman, Hamburg

Am ersten Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bin ich auf die Welt gekommen. Bis heute kann ich mir nur eine schlechte Vorstellung machen, wie meine Mutter während der Schwangerschaft gefühlt und gefürchtet haben muss. Bis heute hält sie sich eisern an bestimmte Regeln wie “keine Pfifferlinge aus Weißrussland!”, die mir unhinterfragt in Fleisch und Blut übergegangen sind. (Irgendwann habe ich mal gegoogelt, wie belastet Pfifferlinge aus Weißrussland wirklich sind – alles nicht so schlimm, las ich, halte mich aber trotzdem weiter an das Verbot meiner Mutter.) Mein Kind wird – wenn alles gut geht – nicht mehr in unsere diffusen Ängste und Befürchtungen geboren, mit großem Glück gibt es einen Impfstoff und wir führen wieder ein normales Leben. Aber was werde ich ihm dann für (ir)rationale Bräuche und Regeln mitgeben? Was bleibt von all dem für nahe und ferne Zukunft an und in uns hängen?

 

Sarah, München

Deutschland hört seinen Podcast. Deutschland träumt von ihm. Deutschland glaubt an ihn. Christian Drosten.

Er gibt den Menschen die Orientierung, die sie sich wünschen, oder es fühlt sich jedenfalls so an, dass er sie gibt. Und das reicht.

Die Locken, die sonore Stimme, das ebenmäßige Gesicht, der drahtige Körper. der leicht leidende Blick. Ein moderner Schmerzensmann, natürlich nicht am Kreuz. Aber immer ein wenig gequält von den Umständen. Selbstlos. Aufopferungsvoll. Christian Drosten ist das Komplettpaket vom sexy Erlöser mit der starken Schulter zum Ausweinen.

Bis vor kurzem ging mir das irgendwie ähnlich. Christian Drosten gefiel mir. Besonders seine uaufgeregte Art, die Bescheidenheit. Ein Mann, der öffentlich sagt: Das weiß ich jetzt nicht. Ein Mann, der öffentlich vertritt: Es ist nicht an mir das zu entscheiden. Auch wenn ich mir damit schmeichele, dass da auch ein Augenzwinkern dabei war. Wenn man etwas ein bisschen ironisch macht, dann bewahrt man sich ja, so wird behauptet, ein kleines bisschen Würde.

Aber seit ein paar Tagen kippt für mich das ganze. Ein Unbehagen hat sich eingeschlichen, wenn ich Drostens Ausführungen lausche. Liegt es an mir, nicht an ihm? Ich bin mir nicht sicher.

Ich bin dafür, dass wir den Experten zuhörern.

Aber warum dieses Verlieben in einen einzelnen Wissenschaflter? Warum sucht sich unser kollektiv EINEN? Und warum ist es schon wieder ein Mann? Dafür kann Christian Drosten natürlich nichts. Dass er ein Mann ist. Und auch Männer sagen gute Sachen und sind tolle Menschen.

Ich höre ihm gestern nur noch halb zu. Irgendwie bin ich genervt. Und zum Schluss kommt eine Suada. Er fühlt sich missverstanden. Er findet die Medien doof. Er ist ziemlich aufgeregt. Und redet viel von sich.

Ist er wirklich so bescheiden wie ich dachte? Oder ist er nur nicht ganz so großkotzig, wie ich es sonst von solchen Männern im Rampenlicht gewöhnt bin. Und applaudierte ich ihm also innerlich für ein Verhalten, welches eigentlich nichts besonderes ist, sondern einfach ein ziemlich durchschnittlicher Standart?

Tatsächlich habe ich entdeckt, dass er sich durchaus zu Dingen auslässt, von denen er nichts versteht.

Er forderte Zeitungen auf, ihre Corona-Inhalte kostenfrei zur Verfügung zu stelle, weil sie einen “Aufmerksamkeitsgewinn” aus der Krise haben. Dass das Anzeigenvolumen massiv eingebrochen ist und deshalt die finanzielle Situatione düster bis bedrohlich ist, das weiß er nicht. Aber er hat sich trotzdem dazu geäußert.

Klar. Passiert. Und das macht ihn nciht gleich zum Narzissten.

Aber Christian Drosten ist wohl einfach in vielem ein regular Dude.

Also liegt es nicht an ihm. Es liegt an mir.

Bin ich so patriarchal geprägt, dass ich, sobald ein Mann nicht die härtesten Silberrücken-Anzeichen hat, auf seinen Schoss will und es toll finde, dass er tatsächlich mal zugibt etwas nicht zu wissen?

Warum reden wir eigentlich nicht mit und über die Expertinnen? Denn die gibt es doch! Zum Beispiel Marylyn Addo, die Leiterin der Infektologie der Univerisätsklinik Eppendorf. Sie ist ganz ganz vorne mit dabei, auf der Suche nach dem Corona-Impfstoff. Wenn sie in den MEdien spricht, ist sie wunderbar klar. Und auch ein wenig heiter. Kein bisschen leidend. Sie sieht auch gut aus, ähnliche Liga wie Drosten, würde ich sagen. Sie hat sogar Locken.

Ich erinnere mich nicht daran, dass sie ein einziges Mal das Wort “ich” gesagt hätte. Während Christian Drosten das ganz gern benutzt.

Wir und Christian Drosten, es ist einfach noch mehr vom Same Old, same old … Fuck. So genau wollte ich das gar nicht wissen. Ich wollte eigentlich weiter sein. Marylyn Addo! Rette mich!

 

Svenja, Köln

Vielleicht habe ich wirklich social distancing gemacht. Vielleicht bin ich jetzt wieder da.
Gestern habe ich in der zweiten Woche Onlinelehre gemacht. Wir haben Adorno gelesen, ganz langsam und auf einer geteilten PDF. Der Text ist schwierig und hat daheim alle frustriert. In den Kommentaren am Rand stehen viele Fragen: „Was meint er damit?“ „Was ist denn jetzt das Argument?“. Als ich erkläre, dass die Kommentare uns weiterhelfen, sind manche erstaunt. Ganz oft wurden Stellen markiert, an denen der Text polemisch wird oder rhetorisch trickst. Nach jedem verstandenen Absatz versuchen wir, einen zusammenfassenden Satz zu formulieren.

Digital sind wir alle ganz schnell beieinander, aber auch ganz weit weg. Ich kann auf den kleinen Bildschirmen nicht erkennen, ob ich zu schnell spreche oder zu langsam, ob jemand mitkommt oder abdriftet oder gerade ganz anders beschäftigt ist.

Digitale Lehre macht mir deutlich, wie subtil ist sonst kommuniziere und wie plump ich dieses System gerade übertrage. Körpersprache muss übertrieben werden, damit ich sie erkenne.

Im dritten Seminar machen wir die erste Breakoutsession.

Ich frage ständig nach, ob alles klar ist.

Diesmal isst niemand Nudeln.

 

Fabian, München

Noch ist’s zu früh, um auch nur irgendeine oder Zwischen-Bilanz zu ziehen, für die von allem Überblick und informationell-evaluative Kapazitäten noch am frappierendsten fehlen. Dem entgegnet sich die schlagwörtliche Dunkelziffer, die mit der Schlagzeile kollidiert, der ersten Infizierten, einer afrikanischen Migrantin in einem griechischen Flüchtlingslager, “wo sie sich infiziert habe, wisse man nicht”, und auffiel sie bloß zufällig, in Folge, na toll, ihrer Entbindung, als man seit Monaten von den humanitären Katastrophen und seit mindestens Wochen von den drohenden einer ja ja nur noch zeitlich dispositiven in Folge eines Ausbruchs “der” Krankheit weiß; aber eine Tendenz zum Fehlversuch, immerhin, steht steht steht einem ja ganz maßgeblichen Hang zur Beschäftigung mit sich selbst einer Mehrzahl der sichtbaren Gesellschaften entgegen, Kolportage – die andern beschäftigen sich auch mit sich selbst, aller Wahrscheinlichkeit nach, mit ihren Umständen, und es hat schon etwas von der Appropriation eigentlich unzugänglichen leids, wenn man das für existentieller hält, als die Ausspielung der Interessen “einer” Wirtschaft gegenüber dem mehrheitlichen Anspruch auf körperliche Unversehrtheit. Derweil Platinmünzen in Amerika, zwei an der Zahl, spektakuläre Überlegungen, nicht neu, aber gut, zur Rettung des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts, im Wert von Billionen, wird nie passieren. Ausspielung, wie sie schon seit, auch schon wieder, Wochen die Stimmungsbilder der Akteure im Schlagschatten dr Experten zu bestimmen beginnen. Die Bayreuther Festspiele finden nicht statt.

 

1.4.2020

 

Sandra, Berlin

Guten Morgen, ihr Nachbarn drüben auf dem Balkon in der Sonne (ich will einen Garten). Ja, wir sind hier drinnen. Guten Morgen Meditationsvideo, das ich laufen lasse, während das Kind kreischend zwischen Vergnügen und Wahn durchs Wohnzimmer rast (ich will Stille). Guten Morgen, Gemurmel, Raunen und Rauschen auf allen Kanälen (Ssssh!). Guten Morgen, blauer Himmel über Berlin (ich will raus aus der Stadt). Heute ist also der erste April, gratuliere, wir haben den endlosen März überstanden.

Und jetzt?

Ich mach die Pixies an und singe so laut mit, dass die Nachbarn drüben auf ihrem Balkon auch was davon haben: I had me a vision / There wasn’t any television / From looking into the sun / I’m looking into the sun

 

Jan, Hannover

Vergangene Woche hätte ich wieder meinen Routinetermin bei der Arbeitsagentur gehabt, wegen der Corona-Krise fiel er aus, verständlicher- und auch erfreulicherweise, denn viel zu erzählen gäbe es dort nicht. Mitte vergangenen Jahres hatte ich meinen Job gekündigt mit der vagen Idee, mich mit irgendetwas selbständig zu machen, mit der Betonung auf: irgendetwas. Ideen gibt es mehrere, darunter allerdings keine, die seither ein gewisses Maß an planerischer Konkretion erreicht hätte. Zunächst wollte ich nichts überstürzen, sondern erstmal meinen Kopf sortieren und sorgsam meine Begeisterungsfähigkeit wieder aufbauen, dann, zur Jahreswende, grätschte mir das obligatorische schlechte Gewissen von hinten in die Beine, weil ich mit dem Neustart nicht in die Puschen kam. Auf die protestantische Arbeitsethik, die man mir eingetrichtert hat, ist Verlass, zumindest auf Gewissensebene.

Dann kam Corona. Jetzt bin ich heilfroh, nichts gestartet zu haben, mit Mühe, Aufwand, womöglich Liebe und mit schmerzhaften Anfangsinvestitionen, das jetzt im Corona-Lockdown gleich wieder hilflos abschmieren, absaufen und vor die Wand fahren würde, um hier mal fröhlich einige Metaphern durcheinander zu werfen.

Aber wie wird es weitergehen, hinterher, wenn diese Virensache irgendwann, wann auch immer, endlich durchgestanden ist? In was für eine volkswirtschaftliche Situation werde ich, werden wir, wenn überhaupt je, unsere kleine, bescheidene Neugründung dann pflanzen? Und da ich von der Arbeitsagentur keine Leistungen erhalte (ich bin dort nur aus formalen Gründen gemeldet): Wie lange halten wir noch durch, bis die Sache (welche auch immer) nicht nur laufen, sondern sich auch tragen muss? Unsere Reserven reichen nicht unendlich und waren unvorsichtigerweise auf andere makroökonomische Rahmenbedingungen ausgelegt als auf eine globale Rezession von unbestimmter Dauer, langsam schmelzen sie ab, während es draußen wärmer wird.

Das sind Sachverhalte, die ich derzeit lieber verdränge, weil es bekanntlich die Verdrängung ist, die uns über Wasser hält. Stattdessen verkitsche ich mir meine bisherige Ziellosigkeit als weise Voraussicht. «Bleiben Sie gesund», hätte meine Betreuerin von der Arbeitsagentur als letzten Satz in die Mail schreiben können, mit der sie unseren Termin ersatzlos absagte. So wie es jetzt alle tun. (Seit neun Monaten versaue ich ihr nun schon ihre Vermittlungsstatistik. Ob sie bei der Arbeitsagentur auch schon diese umständlichen Zielvereinbarungsprozesse haben wie bei meinem alten Arbeitgeber?) Stattdessen stand da: «Bitte teilen Sie unverzüglich eventuelle Veränderungen mit.» Ich fürchte, da könnt Ihr noch lange warten.

 

Slata, München

Wie viele sich umgebracht haben mittlerweile zum Beispiel, weil Therapieräume geschlossen wurden, jeder Gang nach draußen schwieriger geworden, die Tabletten ausgingen schließlich und die Praxis nicht mehr erreichbar oder unerreichbarer geworden, so, dass endlich gar nichts mehr erreichbar, und da Hirngespinste sowieso nicht ansteckend, weiter mit den eigenen Gedanken, man findet sie, wenn das Schlimmste vorbei ist, der Geruchr von Desinfizierungsmitteln im Treppenhaus verflogen und die Nachbarn eine immer noch geschlossene, immer seltsamer riechende Tür bemerken ‒

 

Emily, Rostock

Es ist lächerlich: manchmal bin ich fast ein bisschen stolz darauf, dass die Zahlen im Bundesland so langsam steigen. Als hätten die Menschen bewusst etwas dafür getan, außer ihre Häuser möglich weit auseinander zu bauen. Als hätte ich überhaupt eine Verbindung zu dieser Region und würde mehr kennen als das Viertel, in dem ich lebe. M sagt, hier umarmt sich sowieso niemand. Der verordnete Abstand in Mecklenburg-Vorpommern liegt bei 2 Metern, nicht den üblichen 1,5. Damit wir überhaupt einen Unterschied bemerken. Ich habe mir meine Haare in meinem ursprünglichen Ton gefärbt. Niemand sieht es, ich selbst auch nicht. Nur die Strähnen sind jetzt so ausgetrocknet wie meine Hände. Wenn M die Stadt wieder verlässt, werde ich mich zurück in die Arbeit stürzen, bis dahin liege ich neben ihm auf der Couch und esse Kaubonbons. Ich weiß nicht, ob mein Therapeut noch Stunden anbietet und ich frage nicht nach. Auf der Straße wirken die Menschen entspannt. Sie tragen Jogginghosen und halten ihre Hunde an langen Leinen. Die Gewöhnung ist eingetreten und ich spüre keinen Anflug von Rebellion. Täglich läuft die Anzeige auf meinem Inhalator rückwärts, noch 70 Schub Cortison und ich warte darauf, dass mein Gesicht anschwillt.

Was im Kopf bleibt: Streiten und sich danach nicht umarmen können. Bloß kein Wort über Schnee schreiben.

 

Birte, Darmstadt

Ich bereite die Lehre vor. Es ist merkwürdig, an einer neuen Uni anzufangen und wirklich niemanden im virtuellen Seminar vorher zu kennen. Wir müssen distanziert einen Weg finden, gemeinsam im Seminar zu kommunizieren, zugleich werden die Aufgaben zeitflexibel sein, damit ich die Lebenssitutation der einzelnen zumindest im Ansatz berücksichtigen kann. Gerade bereite ich einen Fragebogen vor, eine Anregung die ich aus der Diskussion zu #virtuelleLehre von Patrick Reitinger bekommen habe. Bei mir wird es aber mehrere Antwortoptionen und Freitext geben.

Ich finde es schwer, den Studierenden nicht sagen zu können: dieser Zustand dauert so und so lange, dann wird es wieder anders. Ich muss ganz viel Flexibilität und Selbstkompetenz voraussetzen in einer fordernden Situation. Das einzige, was hilft, scheint mir derzeit zu sein: selbst auch flexibel zu sein. Anpassungen vorzunehmen, zu fragen, zuzuhören.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Eigentlich will ich über Kreatives schreiben: über #nanowrimo bzw. #napowrimo und mein neu gefasstes Vorhaben, an jedem Tag im April ein Gedicht zu verfassen. Über den inklusiven #internationalpoetrycircle (https://twitter.com/IntPoetryCircle), den die Dichterin und Schrifstellerin @TaraSkurtu ins Leben gerufen hat, um Menschen durch Gedichte über alle selbst- und fremdverfügte Isolation hinweg zu verbinden. Über die vielen Gedichte, die wie Leuchtkäfer nun täglich durch meine Timeline huschen. Über den legendären @SirPatStew, der seit einigen Tagen #ASonnetADay liest. Über …

Dann aber schaue ich doch wider besseres Wissen auf die BBC-Webseite und andere Gedanken drängeln sich in den Vordergrund: Frontline. Field hospital. Enemy. Heroes. Grim. Das Wörterbuch der Pandemie bedient sich aus dem des Krieges. 2.352 Menschen sind offiziellen Zählungen zufolge auf der Insel an den Folgen einer Infektion mit Covid-19 verstorben. Der jüngste war 13 Jahre alt. Wäre er noch am Leben, wenn die Schulen eher geschlossen hätten?

Ich verfolge die täglichen Pressekonferenzen aus London nur noch sporadisch. Was mir, abgesehen von verlässlichen Zahlen, fehlt, sind Informationen darüber, wie viele Menschen sich mittlerweile erholt haben. In der London Review of Books lese ich einen Bericht aus Italien. Anscheinend wurden dort Patient:innen, egal welchen Alters, mit Vorerkrankungen wie Krebs oder Diabetes aufgrund der Überbelastung des Gesundheitssystems teilweise nicht einmal mehr von Ärzten untersucht, geschweige denn intubiert. Der Guardian berichtet, in Wales habe eine Allgemeinarztpraxis Patient:innen mit lebensverkürzenden Erkrankungen gebeten, ein Formular auszufüllen, in dem sie für den Fall einer Covid-19-Infektion Wiederbelebungsversuche ablehnen. Inzwischen habe man sich für diesen Brief entschuldigt (https://www.theguardian.com/society/2020/mar/31/welsh-surgery-says-sorry-after-telling-the-very-ill-not-to-call-999).

Angesichts solcher Meldungen stockt mir als junger Krebs-Survivor das Blut in den Adern.

Der hiesige NHS ist mittlerweile komplett auf Notfallbetrieb umgestellt, scheint es. Vorsorgeuntersuchungen sind ausgesetzt. Zahnarztbehandlungen finden nur noch begrenzt und in zentralisierten, klinischen ‘Hubs’ statt. Die Kapazitäten, die von der Pandemie Betroffene binden (werden), fehlen an anderer Stelle.

Ich denke an all diejenigen, die jetzt eine Chemotherapie durchlaufen, deren Behandlungen sich verzögern, die in ihrer Brust, am Hals, in den Hoden einen Knoten ertasten (etc.) und vor Angst nicht mehr schlafen können, deren Wartezeit bis zu irgendeiner Form von Gewissheit sich noch einmal um wer weiß wie viele Wochen verlängert (diese Mühlen mahlen schon unter normalen Umständen teils eher langsam). Meine eigene Dauertherapie kann in seltenen Fällen lebensgefährliche Nebenwirkungen haben. Die Löcher im Sicherheitsnetz für Menschen mit chronischen Erkrankungen wachsen.

Gleichzeitig gehört unter anderem für Survivors die nun für alle omnipräsente Unsicherheit zum täglich Brot. ‘Wir haben, was solche (gesundheits- bzw. lebensgefährdenden) Situationen angeht, die Nase vorn’, meint dazu sinngemäß der an Krebs und zudem gerade an Covid-19 erkrankte BBC-Journalist George Alagiah

Seine Wortmeldung ist eine der positivsten, klarsten und ermutigendsten, die ich in den letzten Wochen gehört habe. Sie bestätigt etwas, was ich spätestens seit meiner eigenen Erkrankung weiß: Dass gesunde Menschen, ja Gesellschaften insgesamt, auf die Erfahrungen chronisch bzw. Schwersterkrankter mehr hören sollten. Die Stärke und Perspektive auf das Leben dieser Menschen ist eine Ressource von Kraft und Erkenntnis, die allen zugute kommen sollte.

 

Svenja, Köln

Ich lese einen Artikel darüber, dass das präsenteste Gefühl zur Zeit Trauer ist (“That Discomfort You’re Feeling Is Grief”). Der Autor erklärt, dass Trauer eine Reihe von Ausprägungen annehmen kann: Trauer über den Verlust von Normalität, Verbindung, Mitmenschen. Trauer über die unbestimmte, bedrohliche Zukunft. Der Autor bricht es noch auf die fünf Phasen von Trauer herunter, aber mich interessiert vor allem der letzte Absatz: Es hilft, dieses unbestimmte Gefühl ‘Trauer’ zu nennen und es durchzufühlen.

“Your work is to feel your sadness and fear and anger whether or not someone else is feeling something. (…) Sometimes we try not to feel what we’re feeling because we have this image of a ‘gang of feelings.’ If I feel sad and let that in, it’ll never go away. The gang of bad feelings will overrun me. The truth is a feeling that moves through us. We feel it and it goes and then we go to the next feeling.”

Ich habe mich gefragt, warum ich so oft Freund:innen anrufe und scheinbar das immergleiche erzähle. Warum diese Aktivität so mehr Raum in meinem ‘Alltag’ einnimmt, als sonst, wenn ich nie telefoniere. Vielleicht ist es Trauerarbeit.

 

Fabian, München

Nagut. Kein Weg nach draußen, nichts passiert, eine Nebenrecherche weltweiter Verdopplungszahlen, Kennziffer 8,9 und Kennziffer 8,2 blieben hängen. Ein wenig Frustration schieben, ich mekre, ich bin nicht, ich denke ich bin nicht persönlich genug, oder, aber Selbst bringt man auch abseits der personalisierenden Pronomen, ohne nach Persönlichkeiten zu greifen, ins Spiel, Künstler fordern Corona-Bonds und ich weiß nicht, in welches Eck mich das stellt, wenn selbst gemessen an der Tragik der Umstände ahistorisierte Solidarität ans Jetzt Jetzt Jetzt geklebt mir Unbehagen bereitet. Die Frustration kommt nicht daher, gestaltet sich “nun”, als doch rein persönlicher Effekt, ein emotionaler Reflex, der mehr nachwirkt, als dass er rational nicht doch, doch bewältigt worden wäre. Was sind Begegnungen, und noch so vermittelte, und noch, schon der Sicherheitsabstand nimmt eine Mittlerinstanz ein, die sich nicht durch Konventionen deckt; was wären, wenn sie selbst sich nicht mehr auswirkten, oder ein Bedürfnis, zu agieren, während natürlich Vor- und Vor- und Vorgeschichten-, man könnte sagen, -geflechte “hier” schon lange determiniert zu haben schienen, dass es besser ist, nicht zu viel, ganz sparsamen Dosen “den” Kontakt in Erwiderungen bloß sich, vielleicht wieder, entwickeln zu lassen. Und alles jetzt, oder das, in den Hintergrund bitte, oder unscharf stellen – als bräuchte man solche diffusen, auslaufenden Tage.

 

Rike, Köln 

Notiz: die utopischen Momente im Alltag verstärken. Heute, mit den Mitbewohnerinnen in den Park. Mit Handys und Kopfhörern und einer gemeinsamen Playlist ausgerüstet in 30m Entfernung zueinander ausflippen und alles wegschütteln. Wir tanzen im Shuffle in verschiedenen Rhythmen. Hundläufer bleiben stehen und schauen zu. Nichts ist peinlich und ich bin nicht einsam, obwohl ich physikalisch distanziert bin. Wir lächeln uns alle immer wieder zu. Han. tanzt um einen Baumstamm, L- beginnt an einem Punkt, wild über die Wiese zu rennen, Mi. liegt mit dem Rücken auf dem Boden und strampelt in die Luft. Ich springe und tanze einen Hund mit zu kurzen Beinen an, ich entdecke Bewegungen, für die sonst in einem Club kein Platz ist. Das Licht kommt gegen 6uhr von schräg und ist orange, der Park ist ein ehemaliger Friedhof, ein paar Grabsteine und ein Kreuzjesus stehen noch so rum und erinnern. Dahinter die Gleise. Eine Rangierlok ohne Anhänger fährt vorbei. Ich entdecke einen Baum, der einen Grabstein seit ein paar Jahrzehnten auffrisst. Irgendwie fast schon zu sinnbildhaft. Abends gehe ich spontan ins Theater (ins HAU in Berlin).

Ich fasse es nicht. Ich sitze vor diesem Laptop alleine in meinem Zimmer und stelle mir vor, wie in dieser Welt verteilt Leute allein in ihren Zimmern vor ihren Laptops sitzen und HELP ME MAKE IT THROUGH THE NIGHT gemeinsam isoliert alleine sind. Dieses Paradox von gemeinsam einsam, ich bin zu nah am Wasser gebaut. Virtuelle Vertrautheit. Die anderen machen Yoga in ihren Zimmern. Mein Semester wurde mir heute abgesagt, das heißt für das nächste Jahr doch auch für mich kein Geld und kein Muss. Irgendwie passiert bei mir keine Panik. Ich könnte Spargel ernten in Oberbayern, wenn ich nicht zu sehr eine deutsche Kartoffel bin. Vielleicht fahr ich mit dem Fahrrad hin. Die interviewten Landwirtschaftsbayern sagen, mit den Deutschen haben sie schlechte Erfahrung, denen ist das physikalisch was arbeiten immer zu anstrengend.1Irgendwie reagiert mein Gehirn auf das Chaos dankbar. Alte Denke wird radikal durchfurcht, irgendwas wird lockerer. In meiner Hausarbeit über Beschleunigung und Entfremdung schreibe ich heute das vorläufige Fazit: Die „Coronakrise“ betrifft fast ausnahmslos die gesamte Weltbevölkerung und bremst Menschen und Unternehmen aus. Sie machen nie vorher da gewesene Kontingenzerfahrungen. Das könnte der Moment sein, in dem eine Zeitenwende möglich ist. Das Virus zeigt an, dass das dynamische Wachstum tatsächlich zu einem „totalen Unfall“ führt. Dem Wachstumsimperativ muss ein neuer Imperativ entgegen gesetzt werden: Sei so langsam wie möglich. Es ist die Aufgabe der Geschichtenerzähler:innen einer Gesellschaft, dieses neue Narrativ zu etablieren, damit nach der Krise die Wirtschaftsweisen übertönt werden, die erzählen, die selbe Geschwindigkeit müsse wieder aufgenommen werden.“ Mein Vater ruft spät Abends an, weil das Foto von meinem umgetopften Affenbrotbaum nicht angekommen ist. Er hat sich schon die Zähne geputzt, aber er kann nicht einschlafen, wenn er nicht weiß, ob noch was kommt. Ich verspreche ihm, dass ich ihm morgen auch die Hausarbeit zum Korrekturlesen schicke. Oton Nachricht: „Bin gespannt. Der Verstand braucht frisches Futter.“ Jahrgang 1946. Ich bin so vollgestopft mit Gedanken, dabei war ich heute nur einmal im Park, ich komme trotzdem nicht hinterher mit den hängen gebliebenen Bildern. Die wirklich alte Frau mit einem Kopf in einem Tuch und schief gelaufenen Beinen wie verbogene Löffel, in einem langsamen Gang, der ich entgegen jogge. Die Frage von mir an mich selber, was die Alte mit meinem Mitleid anfangen soll. Was kann ich in meiner Situation für andere tun, außer spenden, soli-einkaufen und versuchen, anderen per Telefon beizustehen? Die Hunde, die im Park an mir vorbeirennen, von denen ich sehe, wofür ihre Körper ausgelegt sind (Galopp). Meine staksigen Beine, mein Nerdneck und die Frage an mich selber, wofür mein Körper eigentlich evolutiv mal ausgerichtet wär.

Mitgehörte Straßengespräche: „Aber es kam ja von China.“
„Hat dat Blomenjeschäft hat dat denn noch auf?“

Ich habe aufgehört, Nachrichten über Zahlen zu lesen. „Die sofortige Information hilft nicht mehr zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht.“ schrieb Virilio 1970.

1Ich kannte mal ein kleines 3jähriges kind, das sich diesen Satz von seinem Vater gemerkt hat und dann auch beim Spielen mit den anderen Kindern irgendwann immer anfing zu sagen: das ist

 

2.4.2020

 

Jan, Hannover

Gestern wie jeden Tag mit Kleiner Hund kreuz und quer durchs Viertel gelaufen. Noch nie bin ich so oft auf offener Straße angesprochen worden von Leuten, die man eigentlich nur vom Sehen kennt, weil man früher in denselben Cafés abhockte oder ähnliches, von Leuten also, denen man sonst allenfalls zunickt, wenn man ihnen im Stadtbild begegnet, wir sind schließlich immer noch eine Großstadt hier (zumindest aus kommunalrechtlicher Sicht). Jetzt aber reden die Leute. Man merkt, sie wollen, müssen nicht nur raus in die Sonne, sie wollen auch sprechen. Sie müssen kommunizieren. Notfalls sogar mit mir, dem riesigen Kerl mit dem mürrischen Gesicht und dem freundlichen Hund, der diese Art von öffentlicher Ansprache deutlich mehr gewohnt ist. Man bleibt stehen und unterhält sich darüber, wie es geht, wie man es aushält, was im Haushalt fehlt, wie lange es wohl noch dauert, ob das wirklich alles sein muss. In diesem Viertel ist man sofort beim distanzlosen Du, doch selbst die, die «das alles» für übertrieben halten, achten auf den nötigen räumlichen Sicherheitsabstand. Im Zweifel steht man lieber einen oder zwei Meter zu viel auseinander als zu wenig. (Ich höre und lese natürlich auch von anderen, distanz- und respektloseren Verhaltensweisen, aber ich erlebe die Menschen im Umgang überwiegend als vernünftig und vorsichtig. Als riesiger Kerl mit grimmigen Gesicht bin ich da aber sicherlich auch privilegiert, und Kleiner Hund mit seiner eklatanten, offensiven Niedlichkeit ist ohnehin ein Deeskalationswunder. Wir sind ein gattungsübergreifendes, mit einer Leine verbundenes Good-Cop-Bad-Cop-Team.) Die neue Verabschiedungsformel bei diesen ungeplanten Aufeinandertreffen in Parks und auf Plätzen lautet: «Ach, das wird schon alles wieder!», worauf entweder ein skeptisches «Na, hoffentlich!» zu erwidern ist oder ein optimistisches «Aber wann?»

 

Emily, Rostock

Abends habe ich jetzt mehr Zeit, aber ich stelle fest, dass ich keine Science-Fiction-Filme, keine Nachrichten und keine amerikanischen Late-Night-Formate mehr schauen kann. Alles zu dem ich normalerweise eine Distanz herstelle, rückt zu dicht an mich heran. Nachdem ich gestern das Gefühl hatte krank zu werden, liegt meine Körpertemperatur (laut Anzeige) jetzt bei 35,3 Grad und ich suche im Netz Unterkühlungstabellen nach Gewichtsklassen und mögliche Begründungen. Nachts der Traum an einem Steg festgekettet zu sein, während die Menschen am Ufer mit Ferngläsern eine nahende Sturmflut beobachten.

Zu früh morgens dann eine Nachricht. Stichwort Enttäuschung. Die Unfähigkeit zurück in schlechte Träume zu finden.

 

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (5)

Dies ist der fünfte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4)

Das mittlerweile über 70 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

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Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

27.3.2020

 

Viktor, Frankfurt

Denke nun länger darüber nach, ob ich das hier schreibe oder nicht, aber wann, wenn nicht jetzt offen sein … Ich bin zu 50-Prozent allein erziehend (der Ausdruck kommt mir komisch vor), d.h., seit der Trennung vor paar Jahren lebt mein Sohn eine Woche bei mir, eine Woche bei seiner Mutter. Im „normalen“ Alltag klappen die Wechsel gut, wir drei haben uns bestens aufeinander eingespielt und die Trennung war für jede:n das Beste, was uns passieren konnte.

In der Corona-Zeit hatte ich etwas Angst, wie das laufen soll. Homeoffice, mehr Zeit mit dem Kind, mehr Pflichten (Schule zu Hause usw), zugleich können wir den Kreis der Kontaktpersonen nur begrenzt minimieren wegen der Wohnungswechsel, weil es nun einmal Nachbarn, Partner und andere Menschen gibt, die da sind.

Ich habe erwartet, dass der Stress größer wird. Und er wurde größer. Täglich ein Mindestpensum an Schulaufgaben, täglich mehrmals kochen, Wohnung einigermaßen sauber halten, das Bedürfnis, hier zu schreiben, zu lesen, sich zu informieren  …

Was half, war ein „Ach, scheiß drauf“. Meine glücklichsten Kindheitserinnerungen sind die, in denen ich ein inniges Erlebnis mit meinen Eltern – vor allem meinem Vater – hatte. Es sind keine guten Schulnoten, es ist kein Lob für eine Leistung, sondern eine gemeinsame emotionale Erfahrung.


Als die Anfrage für eine Online-Lesung am 25.03. auf dem Twitter-Account des Internationalen Kulturzentrums Heidelberg kam, wollte ich zuerst absagen. Ne, dachte ich, das wird nie gehen, wenn mein Kleiner dabei ist. Er kann nur dann ruhig sitzen, wenn er zockt, und selbst dann arbeitet sein Körper, seine Beine sind in der Luft, die Hände fuchteln und ich sehe vor meinem geistigen Auge mein Handy irgendwo hin fliegen. Ich sprach mit ihm, ob er sich vorstellen könne, eine halbe Stunde ruhig zu sein. Ich erkläre, dass es kürzer als eine Schulstunde sei. Er verstand nur „Schulstunde“ und verdrehte die Augen. Wir übten. Beim Übungsvorlesen sprang er auf, zog Grimassen und tanzte. Ich schwankte zwischen Lachen und Verzweiflung und Stress (um nicht zu sagen Wut).

Ach, scheiß drauf, wenn er rumalbern will, soll’s so sein. Dann erklärte ich ihm noch vor der Online-Lesung, dass ich nervös bin, und dass es nichts mit ihm zu tun hat. Dann las ich. Und er lag neben mir auf zwei Stühlen, die er sich vorher zusammengeschoben hatte („Falls ich einschlafe.“) und blieb da ruhig liegen, bis ich fertig war.

„Es war sooo anstrengend. Aber ich habe es geschafft, ich habe es geschafft, ich bin ruhig geblieben!“ Er hüpfte nach der Lesung durch die Wohnung und freute sich über sich selbst. Und das war eigentlich der schönste Moment des Tages: seine Freude über sich selbst.

Die Verben und Nomen und die Rechenaufgaben, die wir diese Woche geübt haben, wird er vergessen. Aber ich hoffe sehr, dass der Vorlese-ruhig-bleiben-können-Abend in seiner Erinnerungen bleibt.

 

Sarah, München

Ich halte das nicht mehr lange aus, schreibt eine Freundin. Wenn ich noch lange meine Teenager-Tochter zu jeder Zeile Hausaufgabe bringen muss, müssen hier die Messer versteckt werden.

Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte, schreibt eine andere Freundin. Ich darf eigentlich noch nicht mal die Nachbarin sehen. Ich wohne alleine. Ich kann doch nicht Wochenlang keinen einzigen Menschen treffen?

Die einen ertragen die Nähe kaum, den anderen fehlt sie. Beide haben recht. Es gibt keinen guten Zustand. Und doch ist es, wie so vieles, einfach eine Verschärfung des Früheren. Auch vor Corona waren die einen zu überlastet, die anderen mit zu wenig Austausch. Nicht jeder, immer. Klar. Aber die Quarantäne friert unseren hauptsächlichen sozialen Zustand ein. Und der ist oft: Allein oder Kleinfamilie. Und wir brauchen eigentlich beides. Und mehr. Mehr Menschen. Ich habe jetzt verstanden, wie sehr mich auch die kleinen Begegnungen tragen. Die zwei scherzhaften Halbsätze in der U-Bahn. Das verständnisvoll-verschwörerische Anlächeln von Mutter zu Mutter, wenn man sich mit einem plärrenden Kleinkind auf dem Arm nach Hause kämpft, der etwas sinnentleerte, aber freundliche Schwatz mit der betagten Nachbarin. Dieses hauchdünne Geflecht aus Momenten der Nähe. Jetzt, wo es fehlt, ziehen sich die Leerstellen schmerzhaft durch die Tage.

 

Jan, Hannover

Gestern nachmittag marschierten T., Kleiner Hund und ich mal wieder unten am Fluss entlang. Der Weg auf dieser Runde führt am Krankenhaus vorbei, in dem mein Vater vor einigen Jahren gestorben ist. Später wurde es abgerissen und neu aufgebaut, und dann wurde meine Mutter dort ständig eingeliefert, wenn sie wieder keine Luft bekam (oder in eines der vielen anderen Krankenhäuser in der Region, je nachdem, wo gerade noch ein Bett frei war, egal, ob es dort eine zuständige Fachabteilung gab, Hauptsache, keine unwirtschaftlichen «Überkapazitäten» bereithalten; ich kenne seither fast jede Notaufnahme und jede Intensivstation im Landkreis). Zwei Jahre nach meinem Vater starb auch sie. Mir ist also immer etwas mulmig zumute, wenn ich mit finster entschlossener Miene am Krankenhaus vorbeistapfe.

In den letzten Tagen habe ich mir immer wieder vorzustellen versucht, wie meine federleichte, von der COPD ausgezehrte, an den fortwährend brummenden und zischenden Sauerstoffkonzentrator geschnürte und immer weiter rauchende Mutter wohl diese pandemische Zeit überstanden hätte. Oder wie ich hilflos versucht hätte, meinem immer wieder das gleiche Lied auf der Mundharmonika spielenden Alzheimer-Vater den Ernst und die Notwendigkeit von Social Distancing zu erklären. Dann bin ich froh, dass sie das hier beide nicht mehr miterleben müssen. Auch T.s Eltern leben nicht mehr, bei ihnen kam der Tod überraschender und nicht so quälend. Unsere Familie hat Corona also nicht mehr erreicht, nur T. und ich sind noch da und ein paar verstreute fernere Verwandte hier und da; Großeltern gibt es schon lange keine mehr. Es mag oberflächlich klingen, aber das macht den Umgang mit dem Virus einfacher.

Aber jetzt, da der Tod die Familie weitgehend abgeräumt hat, sind offenbar die Freunde und Bekannten dran. Ich hatte gehofft, ich würde noch ein bisschen älter werden, bevor es wieder losgeht. Vor ein Monaten gab es den dritten Suizid von jemand, den ich recht gut kannte. Hatte ich bis dahin zumindest gedacht. Bei meinem besten Freund J. haben sie im vergangenen Sommer Krebs im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Seitdem versuche ich irgendwie zu akzeptieren, dass er sterben wird. Ich will mir von fucking Corona nicht kaputtmachen lassen, was die letzten gemeinsamen Monate sein könnten. Aber als Chemopatient ist er auf Distanz noch mehr angewiesen als die meisten. Seine Diagnose erhielt er im wohlvertrauten Krankenhaus am Fluss, das sie mittlerweile vornehm Klinikum nennen, dort saßen wir auf dem Bett und heulten. Die Tage danach marschierten wir jeden Tag mit Kleiner Hund auf dem Damm am Ufer entlang und versuchten, einen sinnvollen Weg zu erkennen durch das, was kommen würde. Stattdessen kam eine globale Pandemie.

Es ist ein wohltuend kalter Nachmittag, die Sonnenstrahlen gleißen durch die winterkahlen, mistelbepackten Äste der alten Baumriesen auf den Flusswiesen. Ein paar Krankenschwestern stehen in einem Glaskabuff vor dem Cafeteria-Ausgang des Klinikums und rauchen. Für Besucher ist das Krankenhaus geschlossen, Corona-Prävention. Auf der anderen Seite des Flusses erhebt sich die kühn geschwungene Westtribüne des Stadions, das sie nach dem Krieg auf dem zusammengeschobenen Trümmerschutt der zerbombten Stadt errichtet haben. Bis vor ein paar Jahren hatten T., J. und ich dort Dauerkarten. Und mein Vater war immer so aufgeregt gewesen, wenn ich ihn mitgenommen hatte! Jetzt liegt das Station nutzlos und still herum. Kleiner Hund eiert schnuppernd und schwanzwedelnd die Böschung hinab und hinauf, er mag es hier. Hundefreilauffläche. Ich setze meine finster entschlossene Miene auf und bin froh, als das Krankenhaus endlich hinter uns liegt. Von mir aus könnten sie es gleich nochmal abreissen.

 

Janine, Flensburg

Ausnahmezustand, alle reden vom Ausnahmezustand: die Medien, die sozialen Netzwerke, die Nachbar*innen, die Home Office-Kolleg*innen. Kollektive und begründete Angst, dass die Alten, die Kranken, die Schwachen in der Familie oder im Freundeskreis dieses Jahr nicht überleben. Bekannte erzählen mir davon, wie sie ihre Eltern oder Großeltern übers Telefon anflehen, so weit möglich zuhause zu bleiben, stay safe!!!, schildern das merkwürdige Empfinden bei dieser Rollenumkehr.

Auch ich habe Angst. Weil ich so ruhig bin. Es gruselt mich vor mir selbst, dass ich keine Panik empfinde und ich frage mich, was nur falsch ist mit mir. Dann weiß ich es wieder: Ich lebe einfach normal weiter. Weil nichts an dieser Situation neu für mich ist. Mein Krisenmodus, meine Alarmbereitschaft, meine Vorsichtsmaßnahmen, mein Verantwortungsgefühl. Meine Eltern leben in Nordrhein-Westfalen, bei Köln. Aktuell gibt es dort etwa 10.000 Corona-Infizierte.

Meine Mutter ist seit fast 40 Jahren an Multipler Sklerose erkrankt, inzwischen mehrfach behindert, Pflegestufe 5. Die Sorge, „was“ könnte mit ihr sein, begleitet mich und meinen Vater seit Jahrzehnten. Plötzliches Fieber, Halluzinieren, nächtliche Atemstillstände. Lungenentzündung, Infektionen, immer gerade noch rechtzeitig bemerkt, fünf vor zwölf. Als Kind führte mich mein Weg von der Schule oft nicht nach Hause, sondern direkt ins Krankenhaus, zu ihr.

Mein Vater, ebenfalls Hochrisikogruppe mit beinahe achtzig und diversen Vorerkrankungen: „Ich habe keine Angst vorm Sterben. Wir müssen alle mal gehen. Ich habe nur Angst, was dann mit deiner Mutter ist.“ Eine für ihn ganz gewöhnliche Aussage, in unseren Sonntagsnachmittagstelefonaten, seit fast zwanzig Jahren. Im Moment tätigt er sie lediglich noch ein wenig öfter und dringlicher.

Meine Mutter könnte ohne meinen Vater, der sich mithilfe eines Pflegedienstes um sie kümmert, nicht überleben. Mein Vater will nicht ohne meine Mutter sein, niemals. Sie haben mir schon vor Jahren mitgeteilt, wo und wie sie bestattet werden wollen: nebeneinander, in einer Urnenwand.

Seit Ausbruch von Corona denke ich manchmal, es gibt doch einen Gott, er hat mein Bitten erhört. Er hat diesen Virus geschickt, damit meine Eltern zusammen sterben können. Jetzt sitzt er da, gekränkt, zieht ein Journal heraus, eine saubere Liste: Hier. November 1999, da hast du es dir doch zum ersten Mal gewünscht! Doch er vergisst, schon wieder, dass das eine andere Zeit gewesen ist. Eine, in der er und ich noch eine Beziehung hatten.

Ich stehe am Küchenfenster und blicke über den Hafen und die Förde bis zum dänischen Ufer. Das Wetter ist so frühlingshaft klar, dass ich bis zu den Ochseninseln sehe und mir einbilde, selbst Annie’s Kiosk in Kruså zu entdecken, wo es die roten Pølser und die gigantischen Softeiswaffeln gibt.

Ich habe meine Eltern an Weihnachten zuletzt gesehen. Ich werde nicht hinfahren, man soll jetzt vorsorglich nicht reisen. Stattdessen werde ich auf den Anruf warten, wie abgemacht, für wenn „was“ ist.

 

Birte, Darmstadt

Ich würde so gerne mal auf die Shetlandinseln reisen, vielleicht käme @Wolfseule mit und wir blieben möglichst lange, hätten da ein Haus. Ich bin aber gar nicht so ein Outdoorfan, deshalb ist in meiner Vorstellung immer gutes Wetter und wenn nicht, dann schreibe ich eben. Gerade habe ich diesen schönen Tweet entdeckt, Seehunde singen in einer Bucht.

Wonach wir greifen in Ausnahmesituationen. Wie unsere Erfahrungen sind. Das soll jetzt gesammelt werden, für die nachfolgenden Historiker*innen und mein erster Gedanke war: bloß nicht.

 

Nefeli, Hamburg / Berlin 

 


Die Sonne scheint heute unverschämt unbekümmert. Trotzdem keine Lust gehabt, rauszugehen. Ich war um genau zu sein nur 8 Minuten draußen, habe S. beim Holzschleifen zugeschaut und mit ihm Salzstangen gegessen. Ansonsten habe ich den Platz auf dem Sofa kaum verlassen. Zwischendurch Verwunderung, wie lange und wie blendend das Licht sein kann. Heute früh dann die erste online-Hafenlesung aufgenommen. Ich war aufgeregt und dann traurig, weil es ja doch nicht ist wie die richtige Hafenlesung ist und dann aber wieder erleichtert, weil es besser als nichts ist.

Ansonsten träge. Schlecht und wenig geschlafen. Im Traum sammelte ich Steine in einer Wüste.

 

Slata, München

Der Abend als Versuch, den Kern dieses Tages auszumachen, ihn im Inneren abzutasten, mit den Fingerspitzen nach Unterschieden zu suchen, von allen Seiten, diesen Tag von anderen Tagen abzugrenzen. Emil kommt ins Zimmer und legt eine Wunschliste für seinen Geburtstag im November hin.

 

Rike, Refrath

Die Bauarbeiter hören laut by the rivers of babylon und brüllen sich gegenseitig im strahlenden Sonnenschein an.

Eine Onlinedatingapp fragt: what’s your ideal virtual date?

Außenwerbung trifft jetzt nicht mehr jeden.

Wir entwickeln langsam eine Sicherheit in der Unsicherheit,

schauen Pornos und befriedigen uns selber oder spielen wieder Chatroulette,

die meisten Unfallumarmungen passieren im Haushalt.

 

Andrea, Tübingen

Gestern Abend bin ich direkt nach der OnlineLesung von Berit Glanz – #CoronaReadings – ins Bett gefallen. Ich bin so alt, dass mir dabei eine Zeile aus dem Film “Harry und Sally” einfiel: “Das habe ich seit der achten Klasse nicht mehr gemacht”. Zu wenig Schlaf, nicht nur wegen viel Arbeit, sondern auch innerer Unruhe, Erschöpfung. Jetzt ist es besser. Nach dem Frühstück habe ich auch endlich wieder was zum #LyrikSamstag auf Twitter beigetragen!

In der ganzen letzten Woche habe ich so viel und so intensiv kollaborativ gearbeitet wie noch nie, in verschiedenen Gruppen und in schnellem Wechsel zwischen Dokumenten, Mails, Skype, Whatsapp, Twitter, dabei auch verschiedene Tools für die Lehre gemeinsam ausprobiert … Dazu kamen Absprachen für Artikel und Interviews zum Offenen Brief für ein #NichtSemester. Mehr als 6000 Wissenschaftler*innen haben ihn innerhalb einer Woche unterzeichnet, und das ist ein so starkes Signal! Gleichzeitig habe ich fünf Seiten für meine Germanistik als Einstieg in die digitale Lehre zusammengestellt, eine ganz pragmatische & niedrigschwellige Einführung nach dem Motto “Die Studierenden sind angemeldet, was nun?”-Kommunikation, und Kolleg*innen haben nun schon angefangen, das Papier mit Informationen, Vorschlägen, konkreten Erfahrungen weiterzuschreiben. Dass die Initiative für das #NichtSemester und das Engagement für eine möglichst gute digitale Lehre im Sommersemester Hand in Hand gehen, verstehen manche (teilweise absichtlich, um sich als ‘Macher’ präsentieren zu können?) offenbar gar nicht.


In der Germanistik organisieren sich gerade auch universitätsübergreifend Gruppen und Projekte zur digitalen Lehre. Das ist wunderbar zu sehen, und ich freue mich, dass ich ein Teil davon bin. Dabei geht es erstmal viel um Tools & Austausch von Material, aber hoffentlich bald auch um die Frage, wie wir die virtuelle Universität gemeinsam als einen auch emotionalen Raum gestalten können. Denn niemand weiß, was auf uns noch zukommt und unter welchen Bedingungen Lernen und Lehren stattfinden wird.

Einige wenige heftige Reaktionen auf das #NichtSemester haben mir auch gezeigt, wie schwer es ist, über Solidarität zu sprechen. Manche tun so, als würde man, wenn man im eigenen Verantwortungsbereich etwas für die am meisten belasteten Gruppen tun will, nicht sehen, wie es anderen geht, den Pflegekräften, dem gesamten medizinischen Personal, Kassierer*innen u.v.m. Aber für die einen etwas zu tun, bedeutet nicht, die anderen nicht zu sehen. Ich habe eine Petition für den besseren Schutz von Pflegekräften unterschrieben. Aber mehr kann ich da im Moment nicht tun. An der Uni dagegen schon. Es gibt eine Verantwortung im eigenen Alltag und im Beruf, die man wahrnehmen sollte, weil man hier mehr und konkreter etwas bewirken kann als das mit Solidaritätsadressen der Fall ist.

 

Shida

Zu diesen merkwürdigen Spaziergängen in der großen, gruselig stillen Stadt muss ich mich zwingen. Ganz toll, frische Luft, super fürs Immunsystem, ich würde am Liebsten nur drinnen sein und prügle mich raus, weil ich es mir hinterher ja dann doch immer danke. Wenn man ein paar Tage nicht draußen war und isoliert bleibt, ist ein Spaziergang auch die reinste Reizüberflutung. Jeder LKW kommt mir unverschämt laut vor, an jeder Ampel fahren die Autos viel zu nah an mir vorbei und die Osterglocken leuchten neon, als wären sie aus Plastik.

Im Park liegen in riesigen Abständen Menschen auf Picknickdecken und erholen sich von dem ganzen Mist. Drei Männer liegen nebeneinander im Gras und schlafen. Sie sind alle in Schwarz gekleidet, in einem Schwarz, das mal richtig Schwarz war und jetzt eher so eine Ahnung davon hinterlässt, wo diese Männer sonst schlafen. Ein weiterer Mann gesellt sich zu ihnen, legt seine Sachen neben ihnen ab. Er hat eine Plastiktüte voller Klamotten dabei und probiert die Pullis, Hosen, Shirts an, wechselt einfach so im Stehen die Klamotten. Die Männer würden an einem nicht-Corona-Tag nie so selbstverständlich hier liegen, sich sonnen und Klamotten testen. Jetzt wirken sie, als würde ihnen der Park gehören. Das ist nur fair, finde ich.

Auf einer Parkbank sitzen zwei sehr alte Männer, Kategorie Risikogruppe, und lachen miteinander. Sie sitzen beide jeweils ganz an einer Seite der Bank, halten also Abstand, der Corona-bedingt aussieht. Den Platz zwischen sich nutzen sie, um ihre Bierflaschen abzustellen. Sie sehen gut gelaunt aus, alle sehen heute gut gelaunt aus, es ist ja auch plötzlich Sommer. Vielleicht war das Problem der vergangenen zwei Wochen auch gar nicht Corona, sondern dass wir plötzlich Wintertemperaturen hatten, mit denen doch kein Mensch mehr rechnen wollte.

Ich mache mich wieder auf den Heimweg und denke über diese Männergruppen nach, denke an die Taxifahrer-Gang, über die ich an dieser Stelle vor einigen Tagen schrieb und stelle die steile These auf, dass die Männerbündnisse in diesen Tagen wie immer das stabilere Netzwerk sind als das, was alle anderen Personen untereinander aufbauen. Und dass der Mangel dieser Bündnisse – neben der gottverdammten unbezahlten Care-Arbeit und der unterbezahlten systemrelevanten aktuell plötzlich hoch beklatschten Arbeit – eine weitere Bürde für alle ist, die nicht zum Boysclub dazugehören und sich irgendwie durch diese Pandemie schleppen müssen. Das ist allerdings zugegebener Maßen keine richtig ausgefeilte These, es ist vielleicht noch nicht mal eine These sondern nur steil. Ich gehe auf jeden Fall weiter spazieren und suche nach den vergleichbaren Corona-Frauen-Gangs, Fortsetzung folgt also.

 

28.3.2020

 

Nabard, Bonn

Es ist eines dieser sonnigen Samstage die so friedlich wirken. Lasse seit einer Stunde Frank Ocean’s Debut Mixtape „Nostalgia!Ultra“ laufen. Diese schöne Stimme. Seit Dienstag hab ich Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen. Am Donnerstag musste ich einen Abstrich machen lassen, Verdacht auf CoVid19. Angeblich war einer der Patienten mit denen ich Kontakt hatte positiv. Schlimmer als das dröhnen im Kopf ist die Ungewissheit. Naja, jetzt erstmal in die Sonne, der Espresso duftet kräftig herb. Mein Geruchssinn ist also noch da.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich merke, wie ich mich aus der Welt draußen in meine eigene, kleine, mich selbst zurückziehe. Brot bäckt Trost. Schokokekse auch. Ostereier baumeln vor und hinter dem Haus an Zweigen. Um unser wie der Nachbarn Vergnügen (macht hier sonst niemand). Mein Mann räumt die Vorratsregale aus, um, ein. Ich putze, wusele. Verfalle beim späteren Spaziergang immer wieder in Laufschritt. Es ist still auf den Brücken über den Firth of Forth. Dafür bleibt es in den sozialen Netzwerken laut. Immer mehr Menschen verlieren Verwandte oder Freund:innen. Der Tod lugt aus ihren Nachrichten hervor, ein Abschreckgespenst. Wenn man, indem man zuhause bleibt, doch unsterblich werden könnte. Aber wer würde das wollen? Auf der Weide unten am Hügel Schafe mit ihren frischgeborenen Lämmern. Neugierig, näher an Zaun und Mauer als sonst. Nummer 28 hat zwei. Kinderaugen. Daheim wickle ich mich ein in Fantasiewelten aus Zelluloid und Papier, erlebe Abenteuer, gehe auf Reisen, vergesse.

 

Berit, Greifswald

Ich denke darüber nach, welche Geschichten wir als Referenz für unsere Realität nehmen, welche Vergleiche wir ziehen, um unser Erleben zu beschreiben. Auf Twitter sehe ich zahlreiche Tweets, in denen Vergleiche zu Computerspielen gezogen werden. Vielleicht liegt es daran, dass wir uns in unseren Bewegungen im öffentlichen Raum gelenkt fühlen und die naheliegendste Erfahrung, die wir damit in Vergleich bringen können, mit dem Steuern einer Figur in Computerspielen zu tun hat.


Zuvor unbewusst durchgeführte Bewegungen sind durch die neuen Regeln unnatürlich geworden, das Nachdenken darüber, wie man seinem Gegenüber auf dem Gehweg am geschicktesten ausweicht, über den kontaktärmsten Weg um andere Menschen herum, verändert die Bewegungen. Kleist schrieb 1810 in seinem Essay “Über das Marionettentheater” darüber, dass vollendete Anmut nur bei fehlendem Bewusstsein erreicht werden kann, wenn keine Reflexion die Natürlichkeit verfälscht. Dass scheinbar einfach Dinge sich verändern, wenn man anfängt über sie nachzudenken, sieht man beispielsweise daran, wie merkwürdig fremd sich der Körper anfühlt, wenn man sich plötzlich seines vegetativen Nervensystems bewusst wird, darüber nachdenkt, dass das Herz immer schlagen und die Lunge ständig Atemzüge durchführen muss und das ganz automatisch passiert. Vielleicht ist es durch die veränderten Regeln seit Corona ein wenig so, wenn man sich auf den Straßen bewegt: zuvor unbedachtes und automatisches wird plötzlich reflektiert und nun fühlt sich der öffentliche Raum fremd an.

 

Slata, München

Ich will keine gutgemeinten Links zu aktuellen Sterbezahlen in Italien, will nichts mehr lesen von Kirchenglocken, Urnen und Lastwagen mit Leichen, will nichts von Ausnahmefällen hören, wenn doch Junge, und doch Gesunde, und Kinder sogar. Will nichts von Kindern hören, denen es zuhause schlecht geht, will mich nicht fragen, ob ich zur Beerdigung meiner Oma fahren würde, und von der Begegnung dann mit meinen Eltern träumen, will an keine apokalyptischen Reiter denken, Armageddon und das Ende aller Dinge. Wenn ich es jetzt schaffe, dem Tod mit Würde zu begegnen, denn es geht ja um den Tod, der sowieso, bei jedem, irgendwann, wenn ich es schaffe jetzt, tatsächlich, werde ich, vielleicht, stell ich mir vor, nie mehr Angst vor etwas haben.

 

Rike, Köln-Kalk

Heute bin ich umgezogen. Etwas in der Grauzone zwischen illegal und legal tun, weil man zu dritt in einem Auto sitzt.
Ich bin nicht mehr gewohnt, an einem Tag verschiedene echte Orte zu sehen.
In der alten Straße regt sich die Nachbarin über einen vom Gehweg her einsehbaren Wäscheständer auf. Es gibt nichts Schlimmeres. In der Neuen spielen Kinder mit zotteligen lila gefärbten Haaren Federball auf der Straße. Unaufgeregtes Kinderspiel ist wie Lagerfeuer gucken.  Gestern Trostpreis im Edeka eine große Taschentuchpackung mit kleinen albernen Katzen drauf. Auf WDR4 die schlimmsten 3 Tage alten auf-alte-Hits-neu-vertonten Coronahits beim über den Fluss fahren, und es war trotzdem verstörend romantisch, verstörend und romantisch. Vielleicht besonders, weil auf der Autobahn die Autos fehlen.

29.3.2020

 

Nefeli, Hamburg/Berlin

Gestern gelesen, dass in Südkorea nun Auto-Kinos absolut angesagt sind. Können wir das bitte hier auch umsetzen? Schon als Teenie träumte ich ja davon, ein Date in einem Auto-Kino zu haben. Ich besitze zwar weder einen Führerschein, noch ein Auto, aber in Corona-Zeiten wäre ich einfach froh, mich mit jemanden in ein Auto zu setzen, einen südkoreanischen Film zu sehen, Gummibären und Dosenbier zu genießen. Das wäre ein kleiner schöner Traum. Stattdessen: mühevolles in den Tag kommen. Viel Nachdenken über den Begriff der “systemrelevanten Berufe”. Ich glaube, das wird ein wenig den Diskurs zwischen Eltern und Kindern revolutionieren. Anstatt zu fragen, ob die Kids nicht mal etwas Vernünftiges machen könnten, wird nach der Systemrelevanz gefragt. Mach doch mal was Systemrelevantes.

Ich mach absolut nichts Systemrelevantes die Tage. Ich verschiebe das Staubsaugen, ich komme noch nicht einmal dazu, meinen Pony nachzuschneiden. Es fühlt sich auch alles nach einem Experiment im Experiment im Experiment an. Eindämmung des Sozialen zur Corona-Prävention als Experiment, darin das Zusammenleben mit S als Experiment, darin das  Digitalsetzen von Veranstaltungen als Experiment. Und niemand, der einem sagt, ob und wann Experimente eigentlich als geglückt gelten.

Außerdem bin ich mittlerweile frustriert mit “Drop the Number”. So langsam langweilt mich das Spiel. Dann brauche ich ein neues Quarantäne-Sucht-Spiel.

 

Fabian, München

Sicher drückt sich etwas von den Umständen auch im Menschen ab, mehr, als man, als Mensch, im Moment glaubt, oder glauben kann. Weil die Maßnahmen schließlich vorübergehen, aber das auf Sicht fahren politischer Stimmen trifft zu, natürlich lehrt die Geschichte früherer Pandemien, etwa der der viel bemühten spanischen Grippe, eine faktische Absehbarkeit dessen, was passieren kann; was wäre etwa, wenn ein zweites, vergleichbar aggressives Virus auf den Plan träte, im Verhältnis von jetzt oder in fünf Jahren und keine Lehren gezogen worden wären dann, entgegen den vielen Utopisten, die noch vor einer Woche  auf den Plan zu treten begannen und da und dort das Ende eines globalen, ernsthaft, Leute, absehen können meinen zu müssen begannen, wenn sich für viele, von uns oder wem auch immer, in den ersten Stunden der Durchsetzung der Gesellschaften mit neuen Umständen alles ziemlich viel unabwägbarer angefühlt haben mag, aber und in vielerlei Hinsicht ganz sicher nicht systemumstürzend, nicht mal im entferntesten, sanftesten Sinn.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Was ich heute gelernt habe:

  1. Es gibt winzigkleine Schrauben mit großer Verantwortung.
  2. Nach dem ersten Schreck kommst du dir vor wie in einer Screwball-Komödie, wenn aus der Duscharmatur in senkrechtem Strahl Wasser spritzt.
  3. Nur weil Putzbedarf besteht, solltest du das Bad nicht gleich ertränken.
  4. Unbewusst den Pool zu vermissen, ist auch keine Entschuldigung.
  5. Pitschnasse Klamotten sind voll ok. Solange du nicht mehr drinsteckst.
  6. Immer zuerst den Hauptwasserhahn zudrehen. Und wenigstens Youtube konsultieren, wenn schon kein Fachmensch da ist.

PS: Ich bin sicher nicht die Einzige:


Shida

Wir sind abgehauen. Wir haben ein Auto (nicht unseres) gepackt und sind in ein leerstehendes Haus (nicht unseres) gezogen. Wir sind jetzt draußen auf dem Land, im buchstäblichen Nichts (nichts davon war illegal). Das Haus tröstet leise. Das letzte Mal haben wir es gesehen, als alles noch gut war. Hätte uns zu dem Zeitpunkt mal jemand gesagt, was in ein paar Monaten ist, wir wären doch ausgerastet vor Panik. Jetzt sind wir alle so routiniert. Verdrehen die Augen, wenn der Deutschlandfunk vor jeder Sendung schon wieder erklärt, warum das eigentliche Programm nicht mehr existiert. Weiß doch jeder man. Das Haus tröstet, als würde es sagen: “Kommt her, ich weiß schon, was Sache ist, ihr müsst nichts erklären, kommt einfach her, alles wird schon irgendwann wieder, im Schrank sind noch Kekse von Weihnachten.” Wenn man mich tröstet, bin ich immer sofort wieder sechs Jahre alt. Ich sitze hier und bin sechs Jahre alt und ziehe den Rotz hoch und fühle mich sehr gewertschätzt. Und merke, wie elendig müde ich bin, so unglaublich hundemüde, das kann nicht allein die frische Landluft sein. Ich habe Lust, was Witziges zu schreiben, aber dafür bin ich zu müde. Für neue Gedanken bin ich auch zu müde. Der letzte, neue Gedanke, den ich hatte, ist ziemlich alt. Ich habe Videos von den AfD Fraktionen in Bundes- und Landtagen gesehen, die sich demonstrativ nicht an die Vorgaben zur körperlichen Distanz halten und ganz nah beieinander stehen bzw. sitzen. In Krisenzeiten halten Menschen zusammen, habe ich gedacht, werden solidarisch, wo sie es sonst nicht waren; tun füreinander und für sich selbst Dinge, die sie sonst nie tun (und genießen es plötzlich, auf dem Land zu sein, wo sie es sonst nicht mögen). Aber die grundsätzlichen, allgegenwärtigen „Gefahrenherde“ und „tickenden Zeitbomben“, bleiben auch in der Krise das, was sie sind: Gefahrenherde und tickende Zeitbomben. Sie bleiben gefährlich, sie suchen sich nur neue Wege, um gefährlich zu sein.

Ich bin entweder zu müde oder zu gut erzogen, um ihnen gesundheitliche Folgen dafür zu wünschen.

 

Janine, Flensburg

Ich leide immer noch nicht merklich unter den Auflagen. Vor zwei Jahren bin ich aus München hierher gezogen, an die Ostseeküste, eine Stunde gemütlicher Fußweg bis zur deutsch-dänischen Grenze. Das hier ist nicht direkt der Arsch der Welt, aber so was wie ihr fusseliger Bauchnabel. Ich habe es vom ersten Augenblick an genossen. Wie privilegiert ich bin, gerade jetzt. Ich muss diese Zeit nicht in einer engen, stickigen Großstadt aussitzen, sondern hier oben, „wo andere Urlaub machen“.

Täglich gehe ich mit meiner Home Office-Kollegin am Hafen spazieren, zwischen uns zwei Meter Abstand, wir schreien uns zeitweise durch die Windböen an. Sie ist kurz vorm Durchdrehen aufgrund der Isolation. Sie tut mir leid, aber nachfühlen kann ich es bislang kaum. Es geht mir gut. Mein Alltag hat sich praktisch nicht verändert. Ich sitze immer noch den Großteil meiner freien Zeit vorm Laptop. Entweder Netflix oder Arbeiten am Manuskript. Ich rufe nur öfter die Seiten mit den Nachrichten aus aller Welt auf und schreibe mit mehr Leuten auf Whatsapp. Wenn ich noch mehr Ablenkung brauche, sind da mein Partner und unser Hund, und bisher sieht es nicht danach aus, als würden wir einander demnächst zerfleischen.

Meine Kollegin und ich gehen weiter, Richtung Werftgelände. Seit einigen Tagen sind mehr Möwen, Enten und Schwäne in Ufernähe zu sehen, vielleicht haben sie Hunger, weil weniger Senioren und Familien mit Kindern zum Füttern kommen. Ich weiche einem Radfahrer aus, der heftig klingelnd an mir vorbeiwill, ich komme dabei einer Frau zu nahe, die hinter mir geht, sie weist mich zurecht, dass man ausreichend Platz lassen soll.

Überall sitzen Menschen im Gras, brav verstreut und maximal zu zweit. Auffällig viele haben Alkohol in Flaschen, Dosen oder Tetrapaks dabei. Und Gläser, denen man ansieht, dass es „die guten“ aus der Vitrine oder von Oma sind.

Machen wir das morgen auch, fragt meine Kollegin. Ich hab so Lust auf Wein.

Tagsüber, um 14 Uhr? will ich fragen, aber diese Regeln gelten ja nicht mehr, wir lachen.

Am nächsten Tag können wir nicht spazierengehen, weil es in der Nacht Sturmflut gegeben hat, der Hafen ist überschwemmt. Das Wasser ist, ähnlich wie in den Kanälen von Venedig, nicht mehr tümplig braun, sondern sehr klar.

 

Viktor, Frankfurt

Heute mehrere Gespräche über die jetzt öffentlich diskutierte Triage geführt, also der Einteilung von Kranken in mehr oder weniger hoffnungsvolle Fälle. Zwei Sachen bleiben hängen: Erstens findet die Triage schon heute täglich in deutschen Kliniken statt, wenn zB entschieden wird, wer auf die Palliativstation kommt und wer ohne palliativer Pflege sterben muss. Und zweitens: Die Kriterien für ein Triage-System unterliegen zwar bestimmten ethischen Normen, aber diese Normen werden maßgeblich vom Gesundheitssystem einer Gesellschaft bestimmt. Und die dabei entscheidenden Frage ist: Ist das Gesundheitssystem profitorientiert, oder ist es solidarisch?

 

Woche 4: 30. März bis 5. April

30.3.2020

 

Simon, Vorort bei Freiburg 

Gestern habe ich das Wort “Paarantäne” gelesen. Meine Freundin und ich leben jetzt seit fast zwei Wochen zusammen hier und es werden vermutlich noch einige mehr. Wenn man ansonsten eine Fernbeziehung über mehr als 500km führt und sich ungefähr 2-3 mal im Monat für ca. 3 Tage sieht, ist das eine enorme Umstellung. Wir wurden gewissermaßen in das Zusammenleben gedrängt, haben uns dafür entschieden, die nächsten Wochen gemeinsam zu verbringen. Die Alternative wäre gewesen, dass wir uns auf unbestimmte Zeit nicht sehen würden. Das Unerträgliche an der Situation wäre weniger gewesen, sich nicht zu sehen, das ist man in Fernbeziehungen ja gewohnt, das Unerträgliche wäre gewesen, nicht zu wissen, wann man sich wieder sieht. Auch das Gefühl, in einer Extremsituation nicht füreinander da sein zu können, hätten wir beide nicht erleben wollen. Also los, auf eine unbestimmte, aber begrenzte Zeit unter widrigen Umständen zusammenwohnen. Selbst wenn wir seit über einem Jahr zusammen sind, haben wir noch nie so eine lange Zeit am Stück in einer Wohnung verbracht und schon gar nicht in einer Situation, in der das Verlassen der Wohnung nur eine Notfalloption darstellt. #stayhome heißt in diesem Fall auch #staytogether. Und es läuft gut bisher und ich bin sehr froh, dass wir die Möglichkeit bekommen haben, in einer Wohnung, die für zwei Personen groß genug ist, diese Wochen zusammen zu durchleben. Heute morgen bat mich meine Freundin, vielleicht nicht jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen DLF Kultur anzumachen, müsse das jeden Morgen sein? Wir arbeiten uns gerade in einer Extremsituation durch die schönen und irritierenden Seiten des Zusammenlebens und wissen doch, dass das hier nur die Generalprobe sein kann, weil es eben keine realistischen Bedingungen sind – es ist wie ein Versuchsaufbau. Ab morgen werde ich mit Kopfhörern DLF Kultur hören und dabei Kaffee trinken.


Emily, Rostock

Allein mit dem Internet habe ich gedacht, es gibt nur noch eine Lesart der Situation, aber umso mehr ich mit meinem Umfeld zutun habe, umso deutlicher wird, dass ich wieder einmal strikter und unentspannter bin als die Menschen um mich herum. Gestern wollte ich nicht allein sein, aber mein Gegenüber ist so deutlich hörbar verschnupft, dass wir entscheiden, den Abend doch wieder getrennt zu verbringen. Noch immer telefoniere ich mit drei oder vier Menschen am Tag, aber ein Gefühl von Nähe will sich nicht mehr so recht einstellen. Mein Vater lernt in seiner Wohnung Koreanisch und kocht; ich schreibe mir jeden Tag auf meine To-Do-Liste, dass ich einen Apfelkuchen backen werde. Die Produktivität des Internets nagt an mir. Nachmittags hänge ich Essen an einen Zaun, damit auch diejenigen, die gerade durch das Raster fallen, etwas bekommen. Abends dann ein Telefonat mit einer befreundeten Gynäkologin. Wir erzählen uns das letzte halbe Jahr nach bis ihr Lieferessen kommt. Sie sagt, zum Kaiserschnitt müssen alle Patientinnen jetzt allein. Kein Besuch gestattet. Ich bin überrascht wie dünnhäutig ich geworden bin. Jede Nachricht dieser Art treibt mich stundenlang um.

Bevor wir auflegen sage ich, dass es meine Vorstellung einer guten Beziehung ist, sich während einer Pandemie gegenseitig die Haare zu schneiden.

 

Slata, München

Eine Möglichkeit, sich von allem Druck zu lösen, mit gutem Gewissen zuhause zu bleiben vor dem Laptop, egal, ob draußen ein Frühling anbricht oder ein letzter Schnee fällt, keine Zeit für Aufrechterhaltung sozialer Kontakte zu vergeuden, endlich ein An-Sich-Sein verspüren, nicht ablenken lassen von online-Lesefestivals, Schluss mit Werbung, mit aller Konkurrenz, wer was geschafft bisher und wie bekannt und wie beliebt geworden, die Zeit zum Anhalten bringen. Eine andere, schnell zwei Koffer packen, ins Auto werfen, ab zur Grenze, wieder, nochmal, irgendwo wird es schon ein Flugzeug geben, ein Pilot wird sich schon überreden lassen, uns auf eine unbewohnte Insel im Pazifik ‒ dann abwarten, bis die Menschheit ausstirbt, am Ufer sitzen, Kokosnüsse brechen, ein An-Sich-Sein verspüren.

 

Berit, Greifswald

Es hat geschneit, was mich immer glücklich macht. Wir haben eine Schneeballschlacht im Hinterhof gemacht, aber gegen Ende war es eher eine Wasser-Matsch-Schlacht. Als ich einen Eisball auf das linke Auge bekam, fühlte ich mich sofort wieder wie früher auf dem Schulhof, bloß das man sich als Mutter nicht an seinen Kindern rächen und ihre Gesichter mit Schnee bewerfen darf.

Später habe ich versucht zu arbeiten, aber ich habe dabei immer das Gefühl ein Teil dieses Orchesters zu sein, das auf der Titanic weiterspielt, während das Schiff untergeht. Man muss wohl eine funktionierende Zukunft denken, damit die Gegenwart einen Sinn ergibt, aber das fällt mir schwer gerade, besonders in Bezug auf leerlaufende Administrationsaufgaben.

 

Fabian, München

Schwer, etwas Offensichtlicheres zu finden. Nach der Arbeit, fast zuhause, diesmal nicht zu Fuß und an der letzten Umsteigehaltestelle noch zwischenstoppen, im Drogeriemarkt, derzeit “hoch gefragte” Hygieneprodukte kaufen, nach zwei Wochen mal wieder, man möchte ja vernünftig sein, aber der Verbrauch erhöht sich doch etwas, wenn drei Menschen mehr Zeit zuhause verbringen, oder viel mehr, als sonst. Vor zwei Wochen, man hält sich ja für vernünftig, gab es das noch nicht, aber jetzt ist selbst nach Einführung einer Beschränkung, eine Packung pro Kunden/in, und es ist schließlich erst Montag, immerhin abends, wieder bis auf zehnfünfzehn Stück, was ist los mit euch, ihr …, alles leergeräumt. Erstaunlicherweise scheinen inzwischen auch Hygiene-Küchenreiniger zu den stark nachgefragten Produkten zu zählen.

 

Rike, Köln-Kalk

Weil ich merke, dass ich meine Freunde lange nicht mehr in 4D gesehen habe, weil sie teilweise in Quarantäne sind, neue Idee gegen die Entfremdung und die soziale Distanzierung: Bei allen Fenstern der Freundschaften in der Nachbarschaft vorbeilaufen und ihnen Hallo winken. Ich verspreche, ich halte auf dem Weg 2m Abstand mindestens zu jeder Person. Und Spaziergänge alleine sind in Ordnung, oder bin ich jetzt eine Gefährderin? Bin ich asozial? Zwei alte Worte mit jetzt frischen neuen Bedeutungen.
Ich kenne Seb’s genaue Adresse nicht, weil er umgezogen ist, aber hinter dem Fairstore links rein hat er gesagt und dass er Probleme mit dem Dönergeruch hat, der von der Hauptstraße aus in seine Wohnung zieht. Mir fällt auf, ich habe lange nicht mehr wen überraschend Zuhause besucht. Ich habe noch nie jemanden überraschend exklusiv vor seinem Haus besucht. Angenehm unmodern und daneben. In meinem Kopf bin ich ein weiblicher Barde.

Auf dem Weg dahin sehe ich die diversen Arten der Ladeninhaber*innen, sich auszudrücken, dass sie zu sind. Man kann ihnen statt dessen auf Instagram folgen teilweise. Der Zettel vom HUMANA scheint auf Schreibmaschine geschrieben und dann 30x kopiert worden zu sein. Ein Laden mit Schaufensterpuppen, die kreative Formen von Atemschutzmasken tragen, liest allen Klopapierhamstern die Leviten per Aushang vor. Das geht weit über jede professionell unterkühlte geschäftsmäßige Handlung hinaus. Hinter diesen Geschäften sind richtig individuell getroffene Menschen. Nur das Backwerk hat einen stolzen Zettel auf die Fensterfront geklebt (WIR HABEN NOCH OFFEN) und das professionelle Layout zeigt seine Kettenhaftigkeit an.
An einem Zaun hängt Fladenbrot in Plastiktüten und beschriftete Beutel, auf denen Damenjacke, Handseife, Wollpullover steht. Ein Vater redet in einem alten klugen Tonfall auf sein Kind herunter und schiebt es zum Zaun, er wird neugierig wie ein eigenes Kind, weil er selbst so etwas noch nie gesehen hat. Eine Teilherde Papageien, die vor Jahren aus dem Zoo ausgebüchst sind, fliegt über die Hauptstraße, weil sonst niemand anderes da ist. Absurdes Pseudoparadies. Nur hin und wieder kommen mir Menschen mit halb verpackten Gesichtern entgegen und ich weiß nicht, ob sie mich anlächeln oder nicht. Im Hauseingang eines Bestattungshauses schützen sich Männer mit dunklen Bärten vorm Wind, einer sagt etwas über das Aussehen einer Frau, die Frau antwortet zurück: du bist auch schön. Die Bestattungshausfrau schiebt mit einem ängstlichen Blick die weißen Gardinen zur Seite und schaut, was lost ist. In einem Handyladen sind alle Handys in der Auslage entfernt. Es gibt Preise für Dinge, die es nicht mehr gibt. Ein Sonderangebot für eine Reiseapotheke in der Apotheke offenbart schlechtes Timing. Es gibt neue Plakate auf der Straße, die sagen, der Virus heißt Corona, die Wirtszelle Kapitalismus; alle Namen alle getöteten jungen Menschen in Hanau: Ferhat Ünvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Said Nesar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Welkow, Vili Viorel Paun, Fatih Saracoglu; eine anderes Plakat fragt, was passiert, wenn ich auf engstem Raum in einer Sammelunterkunft lebe und mein Zimmer teilen muss? Ein Sonnenstudio wirbt mit einer Flatrate für die 18-20 Jährigen. An einem Blumenbeet auf der Straße sind die Frühlingsglocken mit Raketenstöckern gegen blöde Hunde geschützt. Die auf die Straße zwischen die Phosyzien gestellten kaputten Elektrogeräte wirken auf Gentrifizierende wie Kunstinstallationen, für Gentrifizierte sind sie Schrott. Alles wie immer. Ein 1 Kubikmeter großer Plastiksack voll ausrangierter Weihnachtszweigen aus China vor einer Hauswand, auf der jemand in der Vergangenheit geschrieben hat: NO BORDERS, NO NATION.
Ich klingle 2x hintereinander bei Seb, ich hoffe, dass sein Fenster nach vorne auf die Straße zeigt, als ich eine Sprachnachricht aufnehme, öffnet sich im obersten Dachgeschoss das Fenster und ich bin stolz und froh gleichzeitig. Da oben sitzt ein Freund in 4D, eingeklemmt in einem Zimmer, aber er ist da und wir sehen uns. Wir unterhalten uns 5 Minuten von der Fußgängerzone zum Dachgeschoss, obwohl niemand auf der Straße ist, fühlt es sich etwas gezwungen an, als wenn wir auf einer Stehparty stehen und uns nicht richtig konzentrieren können auf das Gegenüber. Ich probiere, Smalltalk zu überspringen, aber es geht doch nicht so gut. Seb schreibt danach: Das ist total absurd. Also von der Situation her. Ich schreibe zurück: aber wenigstens mal ein bisschen ein anderes Erlebnis. Ich gehe weiter zu Jon’s Zimmer, auf dem weg dahin ein Friseur, der anbietet, ein kleines Flugzeug in die Hinterkopffrisur zu rasieren, wenn man es mag. Es gibt ein illustratives Foto von einem Hinterkopf mit einem Urlaubsflieger. Ich denke an Apreskiparties in Oberösterreich. Jon’s Rollladen ist bis nach unten zugeklappt. Es sieht aus wie ein Bunker von außen. Gestern, auf dem Weg in die Stadt, ist mir ein Panzer auf einem Tieflader begegnet, der hinter einem privaten Stadtjeep hergezogen wurde.
Ich frage mich, was für ein Privatmensch zum Hobby Panzer sammelt.
Unter Vicky’s Balkon hängt ein Transparent, das sich im Wind verheddert hat.
GRENZ   ÖTEN
Sie zeigt mir ein Peacezeichen. Sie kann nicht lange am Fenster stehen, sie hat ein Skypedate. Auf dem Rückweg schaut eine kleine tibetische Mönchsfigur fern, es läuft Bierwerbung und man sieht Wälder und Inselbilder und das braune Auge einer Frau in Großaufnahme. Die Kirschblüten sammeln sich in Rillen vor den Türeingängen. Die Welt ist noch da, wenn ich rausgehe. Alle Menschen sind noch da, sie existieren noch in 4D, ich muss nur in einiger Entfernung bei ihnen vorbei spazieren.

 

Janine, Flensburg

Ich war joggen. Ich weiß, das sagt man nicht. „Joggen“ klingt nach Jogginghose und Trinkhalle und RTL, man sagt „laufen“, dann weiß das Gegenüber, dass es einem doll ernst ist damit. Aber mir ist es ja nicht ernst. Ich will mich nur wieder bewegen. Ok, das Gefühl haben, vor allem wegrennen zu können. Das ist eine Weile schon schön.

Sehr bald muss ich pausieren. Die Luft ist noch eiskalt und schneidend, von den Bronchien löst sich Schleim, ich muss husten. Die Leute machen einen Bogen um mich.

Wie betrifft die aktuelle Situation Menschen im Kulturbetrieb?

Wir haben in der letzten Woche Stimmen von Menschen aus dem Kulturbetrieb, Dienstleister*innen und  anderen Arbeiter*innen der Kulturbranche darüber gesammelt, wie die Corona Krise sie betrifft.

John Cohen, Buchhändler
www.codobuch.de
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© Ulrike Schmitt | Cohen & Dobernigg

Die behördlich verordnete Schließung unseres Ladengeschäfts hat uns natürlich schwer getroffen. Sofort gingen alle Alarmglocken an und wir haben uns schnell koordiniert. Die größte Frage ist die der Liquidität. Unser Lager ist gerade proppenvoll, da die meisten Bücher der Frühjahrsproduktion der Verlage schon eingetroffen sind und diese auch bezahlt werden wollen. Gehälter, Miete etc. laufen auch weiter. Glücklicherweise hat unser Vermieter uns die Miete für zwei Monate gestundet, das hilft schon sehr. Für unsere Mitarbeiter werden wir Kurzarbeit beantragen und last but not least werden wir auch die Möglichkeit von Krediten nicht ausschließen.

Unser großes Glück ist jetzt, dass wir innerhalb von ein paar Stunden unseren kompletten Betrieb von hauptsächlich Ladengeschäft auf einen reinen Liefer-, Versand- und seit einigen Tagen auch wieder Abholservice umstellen konnten. Wir sind hierbei als Buchhandelsbranche sehr viel besser aufgestellt als andere Einzelhändler. Schon seit Firmengründung vor 18 Jahren besorgen wir Bücher (und mehr) über Nacht. Diese verschicken wir auch schon immer per Post und im Stadtviertel beliefern wir seit jeher per Bote. Was wir nicht wussten: Wie nehmen unsere Kunden die neue Situation an? Werden sie diese Kanäle nutzen? Schaffen wir es das alles schnell und effektiv zu kommunizieren?

Tatsächlich ist die Resonanz der Kunden ist im Moment phänomenal. Wenn weiterhin in dieser Größenordnung Bestellungen bei uns eingehen und unsere Lieferanten ihren Service aufrecht erhalten können, haben wir gute Chancen diese Krise glimpflich, aber nicht schadlos, zu überstehen. Wir vermissen natürlich unsere Kunden hier im Laden und freuen uns jetzt schon, wenn wir wieder ein normaler Buchladen sein können.

Wir fühlen sehr mit anderen Akteuren aus dem Kulturbereich, die es bisher viel schlimmer erwischt hat als uns. Es muss hier schnelle und unbürokratische staatliche Hilfsprogramme geben!

 

Leona Stahlmann, Autorin und Journalistin
Letzte Veröffentlichung: “Der Defekt”, Februar 2020 bei Kein & Aber
www.leonastahlmann.de
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© Simone Hawlisch

Hätte jeder von uns einen ihm zugeteilten Alltagsprotokollanten, einen minutiösen Beobachter mit Vierundzwanzigstundenschichten und spitzem Bleistift und kariertem Blockpapier und saurem Behördenkaffeeatmen – für meinen hätte sich an den Kulissen nicht viel geändert. Ich stehe jeden Morgen auf, später meist, als ich “sollte” (aber wenn sich eines ebenso beängstigend wie beglückend aufgelöst hat in diesen Tagen – kommt bei seinem Text hier irgendeiner ohne “in diesen Tagen” aus? – dann ist es der Zusammenhang zwischen Leistung und gesicherter Existenz),  davor war es genauso, und es wird danach so bleiben und bis zum Ende aller möglichen Krisen so geblieben sein. Ich stehe jedenfalls auf, jeden Tag, und tue, was Autorinnen so tun sollten, wenn sie trotz aller Widrigkeiten nicht nur Autorinnen sein, sondern auch bleiben wollen, länger womöglich, auch wenn es ein Wahnsinn ist, diese Idee; ich schreibe, Mails und Artikel und Skizzen und Anfänge oder Enden oder halbrohe Mittelstücke von irgendwas manchmal, und den Wahnwitz dieses Unterfangens macht mir spätestens meine Agentin schmerzhaft bewusst: Ich habe im Februar debütiert und Glück im Unglück gehabt, ich hatte eine ordentliche Premiere und viele Besprechungen und Interviews und gute Verkäufe im ersten Monat, ein kleiner Höhenflug nach anderthalb Jahren Schreibtischarbeit, dann kam Corona, und Flüge waren plötzlich gestrichen, auch der meines Buches. Gestrichen die Lesungen bis Herbst, die Dozententätigkeit an der Kunsthochschule bis Jahresende. Die Krise, sagt meine Agentin, wird uns Autor*innen zeitversetzt erreichen. Zuerst trifft sie Buchhandlungen und Verlage, aber deren Verluste sind auch unsere Verluste: weniger Buchverkäufe, in Zukunft noch kleinere Vorschüsse. Ich habe mich auf Preise beworben und für Aufenthaltsstipendien, weiß der Teufel, ob es sie dieses Jahr überhaupt geben wird, ob man die Gelder anderswo dringender braucht als für die Literaturschaffenden dieses Landes und ob man die Grenzen dieses Landes für Aufenthaltsstipendien überhaupt noch wird verlassen dürfen. Beide Fördermittel sind existenznotwendig für mich, könnten gedrosselte Buchverkäufe und ausfallende Lesungen und verschobene Dozentur abfedern. Die Ungewissheit habe ich mit meinem Beruf zusammen eingekauft, ich habe sie akzeptiert. In diesem Ausmaß, der über mich als herumkrauchelndes Individuum hinausgeht und penetrant gesamtgesellschaftlich wird, kann ich sie kaum schultern.  Was hilft? Sich nicht jeden Tag an der Pandemie abarbeiten. Schreiben, trotzdem und deswegen. Der Alltagsprotokollant nickt bekräftigend und reicht mir eine Tasse dünnen Tchibobohnenkaffee. Es ist tröstlich, dass er noch da ist und notiert. Und darum werde ich das auch weiter tun: Notieren.

 

Kai Schumacher, Pianist
Letzte Veröffentlichung: „Rausch“ wurde im Oktober 2019 bei Neue Meister/Edel veröffentlicht
www.kaischumacher.com
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© Marvin Böhm

Als das Corona-Chaos vor knapp drei Wochen begann, den Kulturbetrieb nach und nach lahm zu legen, steckte ich gerade mitten in den Proben für ein wunderbares Schubert-Projekt, einer Herzensangelegenheit, die nach über einem Jahr Vorbereitung kurz vor der Premiere stand. „Habe ja doch nichts begangen, dass ich Menschen sollte scheu´n“ – die Zeile aus Schuberts „Wegweiser“ bekam dank Covid-19 auf einmal eine völlig neue Bedeutung für mich. Eine Absage jagte die nächste, nach wenigen Tagen waren sämtliche Konzerte bis weit in den Mai gecancelt, der Blick in den leeren Terminkalender nahm den Blick auf das Bankkonto voraus. Für viele Kolleg*innen, mich inbegriffen, die von Konzert zu Konzert, von Tour zu Tour planen, und für die die Bildung von größeren finanziellen Rücklagen kaum möglich ist, wurden die traditionell umsatzstarken Monate von März bis Mai auf einmal zur existentiellen Bedrohung. Wer von solch profanen Sorgen verschont bleibt und in Zeiten von sozialer Distanzierung eine entsprechende Social-Media Reichweite besitzt, macht aus der Not eine medienwirksame Tugend und setzt dem Virus vom heimischen Wohnzimmer aus beispielsweise den Geist Beethovens als kulturellen Antikörper entgegen. Da dieser allerdings vermutlich nicht in der Lage sein wird, zehntausenden von freischaffenden Künstler*innen die Miete und notwendigen alltäglichen Ausgaben zu begleichen, werden Live-Streams für diejenigen Musiker, die unter dem Feuilleton-Radar fliegen, in den nächsten Wochen (und Monaten?) wahrscheinlich leider nicht mehr als eine willkommene Abwechslung vom Isolations-Trott sowie ein paar Instagram-Herzchen bringen.

 

Nefeli Kavouras, mairisch Verlag, Veranstalterin in Hamburg, Autorin
Letzte Veröffentlichung: Beitrag in “Briefe an die Täter – Akzente”, erschienen bei Hanser
www.mairisch.de | www.hafenlesung.com

© Avi Bolotinsky

In erster Linie kann man sagen: Es fühlt sich gerade ein wenig an wie die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester und ich komme mir unnütz vor. Auf 2020 hatte ich mich sehr gefreut. Es wären etliche Veranstaltungen angestanden, ein Magazin-Release, die Hafenlesung, die ich in Hamburg organisiere, die Messe in Leipzig, die Messe in Thessaloniki, coole Dinge durch mairisch und stattdessen sitze ich am Küchentisch und entferne einen Termin nach dem anderen aus meinem Google-Kalender. Das fühlt sich nicht gut an. Ich frage mich als Veranstalterin: Welche Verantwortung habe ich gegenüber den Autor:innen? Und als Verlagsmitarbeiterin: Wie können wir den Büchern, die gerade frisch erschienen sind, in diesen Zeiten gerecht werden, so ohne Release, ohne Buchhandlungstische? Und ganz privat: Wie kann ich gerade das Richtige tun? Ich bestelle Kinogutscheine, Bücher über Buchhandlungen, Schallplatten über den Schallplattenladen des Vertrauens und hoffe, dass es viele genauso tun. Dieses Jahr fühlte sich auch der Indiebookday komisch an, da man nicht einfach in die Buchhandlung gehen konnte. Gleichzeitig verblüfft es mich, wie viel Kreativität gerade aus der Nasen vieler gezogen wird, wie wir alle versuchen digital umzudenken. Sogar meine Mutter hat WhatsApp-Video für sich entdeckt. Das Gute an der Zeit zwischen Weihnachten und Silvester ist ja, dass man weiß, dass sie ein Ende hat. Hier ist es anders. In mir löst das alles ein ziemliches Unwohlsein aus und ich gucke ein bisschen ängstlich auf meine frühen Sommerpläne und hoffe vor allem, dass ich bald wieder mit meinen Kollegen Daniel und Peter im mairisch-Büro sitzen kann. Das fehlt nämlich.

 

Benjamin Quaderer, Autor
Letzte Veröffentlichung: Für immer die Alpen, 2020
Twitter

© Maximilian Engel

Am 9. März ist mein Debütroman Für immer die Alpen erschienen. Zwei Tage später hat die Bundesregierung empfohlen, sämtliche Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen abzusagen und zum Ende der Woche hin haben schon gar keine Veranstaltungen mehr stattgefunden. Ich wäre auf Lesereise gegangen. Quer durch Deutschland, nach Österreich, in die Schweiz, sogar in die USA. Von den 25 Lesungen konnten zwei stattfinden, alle weiteren bis Anfang Mai sind abgesagt worden, und die Chance, dass es bis in die Sommerpause so weitergeht, liegt bei ungefähr 90 Prozent. Ausfallhonorar gezahlt wurde eins, sicher nachgeholt werden zwei Veranstaltungen, danach kommt der Herbst und im Herbst erscheinen neue Bücher und die vom Frühjahr sind dann wahrscheinlich nicht mehr so interessant. Wie soll ich sagen. Die Verdienstausfälle sind das eine; das andere ist das Gefühl, dass die fünfjährige Arbeit, die in diesem Text drinsteckt, gerade so in der Luft verpufft.

 

Corinna Kroker, Lektorat Literatur, Klett-Cotta
www.klett-cotta.de/

© Martin Krondorfer

Für uns Lektoren ist der März ja vor allem die trubelige Hochphase der Akquise. Hier werden die kommenden Programme gefüllt, es wird gelesen bis zum Umfallen und im Idealfall tolle neue Stimmen entdeckt. Nun hat sich die Lage grundlegend verändert. Statt in Messegespräche und Rechtelisten fließt meine gesamte Energie nun in Ideen und Strategien, wie unter solchen Bedingungen Bücher machen eigentlich noch möglich ist. Denn das fein austarierte Netz aus Besprechungen, Empfehlungen des Buchhandels, Marketingaktionen und persönlichen Begegnungen mit den Autoren (also Lesungen, Gesprächsrunden, Interviews etc) wird ja gerade völlig aufgebrochen. Es gilt also, für die aktuellen Frühjahrstitel neue, kreative Wege zu finden. Wenn uns das so gut gelingt wie bei den Romanen von Anna Burns und Ulla Lenze, die mit ihren zeithistorisch anspruchsvollen Stoffen – der Nordirlandkonflikt bei Anna Burns, die Tätigkeiten der deutschen Abwehr im New York der 30er Jahre bei Ulla Lenze – seit kurzem auf der Bestsellerliste stehen, dann ist das ein Glücksfall. Gleichzeitig arbeiten wir aber auch mit Hochdruck an der Vorbereitung des Herbstprogramms, um in diesen ungewissen Zeiten für jedes Buch die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Den neuen Roman von Kai Wieland haben wir beispielsweise um zwei Monate verschoben, um ihm die idealen Startbedingungen zu verschaffen. Das alles geht nur natürlich nur mit dem unermüdlichen Einsatz des ganzen Verlagsteams, mit großartigen Autoren, die sich unheimlich engagieren, und der beeindruckenden Leistung der Buchhändler und vieler Menschen des Literaturbetriebs, die in kürzester Zeit unglaubliche Projekte auf die Beine stellen und unseren Autoren so den nötigen Raum geben. Ein solches Engagement ist gar nicht hoch genug zu würdigen.

 

Silke Hartmann, Kulturmanagerin und -veranstalterin, Inhaberin der Agentur Kulturperle
www.kulturperle.com

© Alexander Paul Englert

Ich bin seit mehr als zehn Jahren Inhaberin und Betreiberin der Agentur Kulturperle und konzipiere und organisiere für verschiedene Institutionen Veranstaltungen, Reihen und Festivals, vor allem im Bereich Literatur. Zudem bin ich Dozentin für Kulturmanagement an der Goethe-Universität Frankfurt. Derzeit erlebe ich eine Vollbremsung all meiner Projekte und Planungen. Aktuelle Veranstaltungen und Reihen sind gestrichen worden, kurz- und mittelfristig anstehende Projekte hängen in der Luft, nichts ist planbar. Ein normalerweise sehr trubeliger Arbeitsalltag samt abendlichen Veranstaltungen steht plötzlich still, der Terminkalender ist auf einmal leer, ich sitze derzeit noch an einem Korrektorat und einer Textredaktion, aber langsam dünnt sich das Arbeitsportfolio aus. Als sogenannte Soloselbständige geht damit natürlich auch der Verlust von Einnahmen einher. Und wie lange diese ausbleiben werden, ist noch nicht absehbar. Als Dozentin für Kulturmanagement würde ich normalerweise ab dem 20. April gemeinsam mit meinen Student*innen eine Veranstaltung planen, die am 1. Juli im Rahmen einer Ausstellung stattfinden soll. Mein Kurs lebt von Exkursionen, Trainings, verschiedenen Gästen, intensiver Gruppenarbeit und viel Interaktion. Das lässt sich kaum ins digitale Kurszimmer verlagern. Ob und wie dieser Kurs stattfinden wird, lässt sich aktuell nicht absehen. Ebenso wie ein für den Herbst geplantes Festival, in dessen Team ich mitarbeite. Neben der unsicheren finanziellen Situation finde ich es vor allem bedrückend, wie mein Beruf und meine gesamte Branche gerade ausgebremst ist.

 

Gunda Windmüller, Journalistin und Autorin
aktuelles Buch: “Weiblich, ledig, glücklich – sucht nicht. Eine Streitschrift” – Rowohlt
Twitter | Instagram

© Lia Haubner

Als erstes dachte ich: ok, das war’s. Ich kann nicht mehr schreiben. Mit welcher Dringlichkeit kann ich denn jetzt noch über Themen nachdenken, die nichts mit der aktuellen Situation zu tun haben? Wie kann ich überhaupt nachdenken, wo mein Hirn so vollgestopft ist mit Angst? 

Mein Vater erzählte mir am Telefon, das er im Garten sitzt und Bach hört. Ich hab mich für ihn gefreut, obwohl es mir fast obszön erschien. Kunst zum Trost. Ist es das, was bleibt?

So ging es mir die ersten Tage. Mittlerweile merke ich, dass ich noch denken kann. Genießen kann. Schreiben geht auch. Wobei ich merke, dass die aktuelle Situation derzeit für mich noch keine sehr produktive Zeit ist. Mental Oberwasser zu behalten frisst grad ganz schön Energien. Kulturschaffen mit angezogener Handbremse vielleicht.

Inwiefern mich die Krise auch finanziell betreffen wird, kann ich noch gar nicht sagen. Wir werden vieles an der gewohnten Welt nicht mehr wiedererkennen, denke ich. Aber meine Ur-Großmutter sagte immer: “Vorher wird nicht geheult.” Daran versuche ich mich gerade zu halten, obwohl ich wirklich herausragend gut “vorher heulen” kann. Aber diese Sorgen mache ich mir ausnahmsweise wirklich erst, wenn es soweit ist.

 

Hannes Wittmer, Musiker
Letzte Veröffentlichung: Album – “Das große Spektakel”
www.hanneswittmer.de
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© Christoph Naumann | www.mairisch.de

Eigentlich wäre ich gerade auf einem Frachtschiff mitten im Altantik auf dem Weg Richtung Kanada. Nach einem längeren, kräftezehrenden Projekt wollte ich mich dort neu sortieren, leben, arbeiten und an neuen Ideen feilen. Ich stand schon in Kontakt mit dem Goethe Institut in Montreal und mehreren Musiker*innen im ganzen Land und meine Wohnung in Würzburg ist längst gekündigt.

Ich habe das Glück, nun erstmal auf meine Rücklagen für die Reise zurückgreifen zu können und komme vorübergehend in der Wohnung von Freunden unter. Parallel versuche ich mich einzubringen wo ich kann. Mitte März war ich Gast bei einem Livestream zur Eröffnung einer Nachrichtenseite, speziell für Menschen mit Angststörungen (www.angstfrei.news) und gerade nehme ich ein Video für ein Online-Soli-Festival für die Geflüchteten auf, die gerade auf Lesbos vom Rest der Welt vergessen werden.

Anfang März habe ich zusammen mit Marcus Wiebusch von Kettcar einen Podcast über das Politisch-Sein als Musiker aufgenommen, der nur zwei Wochen später wohl ganz anders abgelaufen wäre. Ich hab das Gespräch letzte Woche auf meiner Website (www.hanneswittmer.de) veröffentlicht und denke nun darüber nach, in den nächsten Monaten weitere Podcasts aufzunehmen.

Bei all den schrecklichen Dingen die gerade passieren, hoffe ich, dass wir diese sonderbare Zeit auch als längst überfällige Zäsur für eine Gesellschaft begreifen, die aus den Fugen zu geraten droht und ein paar richtige Schlüsse daraus ziehen können.

 

Claudia Feldtenzer, Autorenberatung und Agentur
www.feldtenzer.com

© Anette Göttlicher

Ganz konkret, meine Aufträge in diesem Frühjahr wurden entweder abgesagt oder verschoben. Das war eine Vollbremsung sozusagen auf 0. Ich habe zum Glück einige eigene Ideen und Projekte, um die ich mich schon länger kümmern wollte, dazu jedoch noch keine Zeit hatte. Um die kümmere ich mich aktuell. Darin sehe ich auch eine Chance für die Kultur- und Verlagsbranche: Viele kreative Digitalisierungsprojekte könnten jetzt realisiert werden. Ich glaube, die Kultur- und Verlagslandschaft wird reichhaltiger und vielfältiger aus dieser Krise hervorgehen.

 

Markus Huber, Kulturamt Frankfurt am Main, Fachbereich Literatur
Markus gehört unter anderem zum Orga-Team des Literaturfestivals literaTurm, das von 23. bis 29. März 2020 in Frankfurt am Main und Umgebung hätte stattfinden sollen
www.kultur-frankfurt.de
www.literaturm.de
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© privat

Was man dieser Tage gefühlt beinahe so oft liest wie Klagen über ausverkauftes Toilettenpapier: Wir sitzen alle in einem Boot, Corona geht uns alle an. Diese Vorstellung hat in unsicheren Zeiten etwas sehr Tröstendes, verwischt aber auch die Unterschiede. Wer wie ich beruflich irgendwas mit Kultur macht, ist von der Pandemie anders betroffen als Beschäftige im Gesundheitswesen oder Geflüchtete auf Lesbos, für deren Lage sich gerade überhaupt niemand mehr zu interessieren scheint. Aber auch innerhalb der überschaubaren Literaturbetriebsblase unterscheiden sich die Schicksale ja sehr. Als Angestellter einer Behörde befinde ich mich in der privilegierten Position, dass ich mir keine Sorgen machen muss, ob ich am Ende des Monats meine Miete zahlen kann oder dass ich demnächst auf Grundsicherung angewiesen sein werde. Mein persönlicher Verlust ist eher ideell: Monatelang auf ein Festival hinzuarbeiten, das dann zehn Tage vor Beginn abgesagt wird, ist – vorsichtig ausgedrückt – frustrierend. So ein bisschen fühlt das sich an, als würde man bei schneller Fahrt plötzlich eine Vollbremsung hinlegen. Wobei die Kolleg*innen und ich eben nicht allein im Auto sitzen, sondern zusammen mit zahlreichen Autor*innen und vielen anderen Menschen, die leider nicht alle einen Sicherheitsgurt tragen (können). Und dass niemand sicher zu sagen vermag, wie und wann es weitergeht, bestimmt jetzt den Alltag im Home Office. Man hat Ideen, macht Pläne – aber hinter vielem steht ein Fragezeichen. Mit dieser Unsicherheit ist immerhin niemand allein.

 

Lukas Diestel, Schriftsteller / Social Media Kram

© Marvin Ruppert

Ich war noch nie so froh, nicht mein gesamtes Geld mit Auftritten zu verdienen. Dank Nebeneinkünften sind meine Fixkosten halbwegs abgedeckt. Trotzdem bricht viel weg, natürlich. Die Auftritte und das damit verbundene Gehalt fehlen und, als jemand der viel “für Bühnen” schreibt, mitunter auch die Motivation. Zwischen Sorge um die Szene, die Spielstätten, die eigene Gesundheit und die Kolleg*innen, die erfolgreicher mit ihrer Kunst sind, und dadurch jetzt ironischerweise schlechter dastehen, verbringe ich meine Zeit damit, mich zu fragen, ob ich jetzt eigentlich mehr oder weniger Zeit habe als vor der Ausgangssperre. Ansonsten ankämpfen, anschreiben, andichten gegen das allgegenwärtige Gefühl der Ohnmacht. Als Kulturschaffende (was für ein Wort) kennen wir, denke ich, das ewige auf und ab des “Warum mache ich den ganzen Scheiß überhaupt?” etwas besser, als einige, die sich mit der Frage jetzt vermehrt konfrontiert sehen in Bezug auf Arbeit, Gesellschaft, etc. Irgendwie ist die Kunst ja schon immer das vielleicht Unwichtigste und Wichtigste zugleich gewesen.

Es wird sich zeigen, wie wir aus der Nummer rauskommen. Im besten Fall stürmen wir dann wieder auf die Bühnen, in die Konzerte, zu den Lesungen. Im besten Fall mit offenen Augen und Ohren für die weniger privilegierten Mitmenschen, aber das war ja auch schon vor der Ausgangssperre so.

 

Jonathan Löffelbein, Autor, Performer (Poetry Slams, Comedy und Mixed Shows, Lesungen)
Letzte Veröffentlichungen: Worst of Chefkoch, Der Bock singt, Besucher
www.derloeffelbein.de
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© Henrike Dusella

Was sich geändert habe, fragen die Leute, was man jetzt mache. Meine finanzielle Existenz ist weg. Ich lebe von Bühnen, schreibe und trage Texte vor. Diese Bühnen werden auf unbestimmte Zeit, vermutlich Mai, leer bleiben. Und danach kommt der Sommer, und auch im Sommer bleiben Bühnen leer. Wer hockt sich bei gutem Wetter in einen alten Schlachthof? Und selbst wenn die Auftrittssaison wieder startet, wahrscheinlich September, bleibt es ungewiss. Werden die Leute hungrig oder ängstlich sein? Bookings haben sich verschoben. Wann ich wieder ein Einkommen habe – keine Ahnung.

Das alles sollte mir Angst machen, ich bin sowieso ängstlich. Dennoch ist da eine Ruhe: Auch in diesem Chaos habe ich viele Privilegien. Ich habe ein kleines finanzielles Polster, kann durchhalten, auch wenn ich nicht weiß, wie lange. Ich bin ein weißer cis Mann aus der unteren Mittelschicht, habe über Bühnen Kontakte geknüpft. Ich bin von der Pandemie betroffen. Aber es gibt Leute, die es sehr viel härter trifft. Es gibt Leute, deren Beruf weniger Prestige hat.

Mein Alltag, wenn ich nicht auf Bühnen stehe, hat sich kaum geändert. Ich bin darin geübt, allein in meinem Zimmer zu hocken, im Internet zu bleiben. Was sich geändert hat? Meine Zukunft ist letztendlich wie zuvor auch: ungewiss. Es ist ein Durcheinander und niemand weiß, was danach kommt. Diese radikale Offenheit gibt mir Ruhe, denn welche Option habe ich schon? Ich kann gerade nichts tun, außer nichts tun.

 

Isabella Caldart, Journalistin und auch sonst Vielwörterei
www.novellieren.com | www.isabellacaldart.de
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Ich habe gezögert, ob ich öffentlich über meine Situation schreiben soll. Fällt es nicht negativ auf mich zurück, wenn ich zugebe, dass ich gerade wenig Aufträge habe? Ich tue es dennoch, da ich stark davon ausgehe, dass ich nicht die einzige in dieser Situation bin. Von vielen Seiten höre ich: Aber jetzt lesen die Leute erst recht! Im Feuilleton ist mehr Platz! Ja, ich frage mich auch, warum mir so viel weggebrochen ist durch Corona. Ich versuche, mir das selbst zu erklären, um mich nicht noch mehr verrückt zu machen: Als freie Autorin ist Akquise eh nie einfach. Und im Moment interessieren sich die Zeitungen nur für Corona. Das wird sich wieder ändern, aber Rezensionen sind derzeit wohl unsexy. Dazu kommt, dass ich nicht nur Literaturkritiken schreibe, sondern viele Dinge mache, und Artikel absagen musste. Ein Stadtmagazin, für das ich öfter schreibe, hat den Erscheinungsrhythmus halbiert, ein anderes setzt das nächste Heft komplett aus – wer sich auf Veranstaltungs- und Restauranttipps konzentriert, hat im Moment echt verloren. Zuletzt ist mir der Deutsche Sachbuchpreis, der verständlicherweise auf nächstes Jahr verschoben wurde, weggebrochen. Und so sind es kleine (auch zukünftige) Aufträge und größere Projekte, die plötzlich flöten gehen. Zudem stand ich kurz davor, nach Barcelona umzuziehen, Ende März wäre es soweit gewesen. Der Plan ist nur aufgeschoben. Aber in einem Land, das wirtschaftlich am Boden ist (Spanien ist frisch aus der Weltwirtschaftskrise von 2008 raus), Fuß zu fassen, wird nicht lustig.

Aber was bringt lamentieren? Ich bin froh, dass es Förderprogramme gibt und hoffe, die werden ausgeweitet. Irgendwie geht es schon weiter, tut es ja immer.

 

Ulla Lenze, Schriftstellerin
Letzte Veröffentlichung: Der Empfänger, Klett-Cotta Verlag Februar 2020
www.ullalenze.de
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© Julien Menand

Auch nach mehreren Wochen wirkt die Situation surreal auf mich. Am 22. Februar 2020 ist mein neuer Roman erschienen („Der Empfänger“, Klett-Cotta Verlag), ich hatte insgesamt drei Lesungen; Hamburg, Berlin und Koblenz. Zuerst wurde die Leipziger Buchmesse abgesagt, dann die LitCologne, dann nach und nach alle anderen Veranstaltungen. Statt auf Lesereise (die Monate vorher von meiner Verlagsveranstaltungsfrau auf die Beine gestellt wurde) sitze ich nun in meiner Wohnung in Berlin. Die Situation ist durchaus bedrückend. Auf die Lesereise-Phase habe ich während des Romanschreibens hingelebt, es ist eine Art Belohnung für drei, vier Jahre reduzierten Soziallebens (ich gehöre zu der Sorte Schriftsteller, die sich zum Schreiben zurückziehen müssen). Aber vor allem ein „Wirklichwerden“ des Buches mit den Lesern, durch Vortrag und Gespräch. Das fehlt. Und natürlich fehlen auch die Lesungshonorare.

Die Kommunikation findet vermehrt in den sozialen Medien statt, durch Blogger, digitale Leseevents oder Interaktionen auf Facebook und Instagram. Vereinzelt wagen einige Sender Interviews oder TV-Drehs; neulich saß ich mit einem Redakteur im Park statt im Studio, mit langem Kabel, das Mikro hielt ich selber in der Hand, nachdem ich die mitgebrachten Latexhandschuhe übergestreift hatte. Bei der TV-Lesung schwebte das Mikro hoch über meinem Kopf, und das obligatorische Lesungs-Wasserglas fehlte.

Immerhin bin ich gewohnt, viel zuhause zu sein – ich fürchte also keine Langeweile – das ist aber auch schon der einzige Trost.

 

Dorian Steinhoff, Autor & Literaturvermittler
Letzte Veröffentlichung/Veranstaltung: Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern, mairisch Verlag, Leseclubfestival NRW
www.doriansteinhoff.dewww.handforahand.dewww.leseclubfestival.nrw
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© Marco Piecuch

Die Kastanien vor unserem Haus werden bald blühen und um mich herum zerbrechen Existenzen von Menschen, die ich schon lange kenne, mit denen ich arbeite und von denen ich noch nie etwas gehört habe. Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Meine finanziellen Einbußen sind verkraftbar. Vieles werde ich nachholen können. Manches findet weiterhin statt. Für anderes gibt es Kompensation und neue kreative Wege. Als KSK-versicherter Künstler habe ich das Glück, bei Öffentlichkeit und Politik Berücksichtigung für meine Lage zu finden, die Hilfen greifen. Gleichzeitig bedrückt mich die Paralyse des ganzen Betriebs, in dem ich normalerweise tätig bin. Ich fühle mich ohnmächtig, körperlich wahrnehmbar elend. Und mich ärgert, dass viele Menschen, die ein kulturelles Leben in Deutschland ermöglichen, offensichtlich nicht gemeint sind, wenn Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier von einer lückenlosen Solidarität spricht. Für freie Bühnen- und Tontechniker*innen, Beleuchter*innen, Stage Hands und Veranstaltungshelfer*innen greift die Soforthilfe in unzähligen Fällen nicht. Ein großes Versäumnis, eine politische Unverzeihlichkeit: Menschen durch unzureichende Maßnahmen unverschuldet in die Grundsicherung fallen zu lassen. Um meiner Ohnmacht etwas entgegenzusetzen, habe ich mit einer Hand voll Leuten (u. a. dem Herausgeber dieses Blogs), den Soldaritätsfonds #handforahand gegründet. Meine Kompetenzen und Kapazitäten einzubringen und damit Menschen in finanzieller Not zu unterstützen, ist mir Beschäftigungstherapie und politisches Anliegen zugleich. Wenn es das Wetter zulässt, gehe ich joggen. Ich kenne mittlerweile mehr Menschen, die in meiner Nachbarschaft leben als früher. Hunde auch. Wo keine Verzweiflung ist, kann man hoffen.

 

Beitragsbild von Branimir Balogović auf Unsplash

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (4)

Dies ist der vierte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3)

Das mittlerweile knapp 60 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

23.03.2020

 

Andrea, Tübingen

Jeden Tag spazieren zu gehen. Das hatte ich mir fest vorgenommen. Es hat letzte Woche fast geklappt. Diese Woche will ich es wirklich jeden Tag schaffen. Lunge lüften, Kopf lüften. Das mit dem Kopf war heute nicht drin. Ich bin meine übliche kleine Hausstrecke gelaufen am Neckar. Es gibt eine Stelle, an der Schwäne sind, und es braucht nur einen kleinen Schlenker, dann kann man sie ganz nah sehen. Ich liebe das. Heute bin ich einfach vorbeigelaufen, habe es erst danach gemerkt. War offenbar gedanklich nicht *da*, wo ich eigentlich sein wollte.

Sonja, Köln

Ich bin ruhiger. Vor dem Supermarkt um die Ecke wartet man jetzt vor der Tür bis ein Einkaufender herauskommt, ein Türsteher winkt dann wortlos den nächsten rein. Ich muss nicht rein, Klopapier habe ich am Wochenende für 4,50 an einem Kiosk gekauft.

Ich bin ruhiger, weil ich jetzt viel in Kontakt mit Freund*innen und der Familie bin. Die Videochats sind voll besetzt, dass sich der Bildschirm bei Whatsapp in vier kleine Fenster teilt, und bevor wir anfangen durcheinander zu reden, machen wir erst alle einen Screenshot von unseren digital dicht gedrängten Gesichtern.

Jeder Spielplatz, an dem ich vorbeilaufe, ist gerahmt durch Absperrband, das sehr selbstverständlich im Wind weht. Das katastrophische Denken, das meine letzte Woche beherrscht hat, hat sich in ein angenehmes Gefühl der Entschleunigung und Akzeptanz verwandelt. Ich genieße das Alleinsein, wenn ich weiß, dass ich es nicht bin. Außerdem habe ich nun einen Coronaabschnittsgefährten. Seit Freitag. Wir hatten schon vorher Kontakt, wohnen beide alleine, arbeiten von zu Hause aus und irgendwann habe ich mich dann getraut und gefragt: Möchtest du mein Quarantänepartner sein? Er hat Ja gesagt. Nun spazieren wir zusammen, kochen uns wechselseitig Essen und besuchen uns in unseren Mittagspausen, um uns feste zu umarmen. Es geht mir gut. Eine Freundin skyped mich an. Am Samstag hat sie mich aufgebaut, heute bricht die Situation über sie herein.


Meine Schwester leitet eine Whatsapp-Audiodatei unsere “Familie 2.0”-Gruppe weiter:

“Hi Leute! Ähm, der Schwager von dem Heilpraktiker von meinem Paketlieferanten, der arbeitet beim Robert Koch-Institut und die haben gerade Experimente durchgeführt und das vielversprechendste, was die jetzt herausgefunden haben, is äh, wenn man sich Wachsmalstifte in die Nase steckt, am besten rote und blaue, dann ist man immun gegen Coronavirus. Das is halt noch nicht offiziell und so, weil die Studien noch nicht veröffentlicht werden, die noch nicht so weit sind, aber, ähm, das kommt von ganz intern. Also wenn ihr euch schützen wollt, dann wollt ich’s euch auf jeden Fall weitergeben. Also seid immer sicher und, äh, geht am besten nicht raus, es sei denn mit Wachsmalstiften in der Nase. Tschüss!”

24.03.2020

 

Viktor, Frankfurt

@geraeuschbar hat mir „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“ empfohlen und darin schreibt Fromm: „Es gibt viele affektive Empfindungen, für die eine bestimmte Sprache keine Bezeichnung hat, während eine andere reich an Ausdrücken ist, die diese Gefühle benennen. (…) Allgemein kann man sagen, dass eine Empfindung selten bewusst wird, für die die Sprache kein Wort hat.“

Und wenn eine Sprache die Worte dafür hat, aber ein Mensch es nicht lernt, seine Empfindungen zu erkennen? Weil er zum Abstumpfen gezwungen war, oder weil er die Wörter nicht kennt, aber trotzdem empfindet?

Wie fühlt sich das Unabsehbare an? Das Ungewisse? Es liegt offenbar eine Grundnervosität über allem, zumindest deuten manche Einträge in diesem Tagebuch darauf hin und manche Tweets:

Ich wundere mich zugleich darüber, wie die erzwungene Entschleunigung auf mich wirkt. Ich lese mehr, ich lese langsamer (und ich lese auch sonst sehr langsam), ich klebe länger an einzelnen Sätzen, lese sie noch einmal und noch einmal und dann erinnere ich mich an ein anderes Buch, im Kopf entsteht eine Landschaft aus Büchern, die durch Pfade miteinander verknüpft sind, Gedankenpfade. Das befriedigt ungemein.

 

Maike

Immerzu verwundert. Ausnahmezustand ständig präsent, gleichzeitig seltsames Aus-der-Zeit-Fallen und ganz Gegenwärtig-sein. Der Lebensmitteleinkauf wie der Fall in einen dystopischen Roman.

Aber auch das plötzliche Aufatmen, weil die Leute Abstand halten und ich merke, wie gut mir das tut. Mir war nie klar, wie sehr mich das alltägliche Gedränge vieler Menschen belastet hat.

 

Shida

Heute ging es mir kurz so richtig gut, mit guter Laune und allem.  Ich habe dann überlegt, was ich davor gemacht habe, um es möglichst oft, am besten durchgehend, ganz genau so ab jetzt täglich zu wiederholen. Ich kam dann zu dem naheliegenden Schluss: Ich habe mich nicht mit Corona beschäftigt. Ich habe einfach nur lässig ge-care-arbeitet und Tee getrunken und dabei überhaupt kein Corona Moment Stopp noch mal zurück gespult bitte was war das das für ein Rauschen. Von wegen. Es war anders. Ich habe lässig ge-care-arbeitet und Tee getrunken und Radio gehört. Im Radio ging es durchgehend um Corona, wie immer, und ich habe konzentriert zugehört, nicht etwa an etwas Wunderschönes aus der Vergangenheit gedacht oder so. Es gab keine Pause von Corona, ich hatte nur ein paar Minuten später vergessen, dass ich mich mit Corona beschäftigt habe. Da war er dann also, der Beweis Nummer 2: Ich habe mich an all das gewöhnt.

(Das Rätsel über die Herkunft der guten Laune ließ sich übrigens nicht klären. Vielleicht waren es einfach erste Anzeichen des Durchdrehens. Wie neulich, als B. mir einen witzigen Tweet zeigte und wir beide für viele Minuten lachend auf dem Boden lagen, ohne Geräusche außer leisem Jauchzen von uns zu geben und dabei zu weinen, als hätten wir noch nie in unserem Leben etwas witzigeres gehört:

Wimmelbücher erscheinen heute trotzdem sehr aus der Zeit gefallen. Die bunten Bilder von vollen Straßen, Autos, Menschen, Hunden, machen mich nostalgisch, ungefähr so, als würde ich mir eine Folge Wetten dass…? aus den 90ern anschauen.

 

Slata, München

Es sind eher die Reste der Sozialität, die uns stören, einzeln würden wir wunderbar unsere Tage am Computer verbringen, einmal am Tag kurz rausgehen in die Felder vielleicht, um vergleichen zu können, wie das Wetter heute ist, wie es gestern war, wie es sein wird morgen, und sonst wären wir völlig zufrieden mit unserem produktiven, konzentrierten, unaufgeregten Dasein. So aber bilden wir ein Kollektiv, irgendwie, von außen und auch von innen, und zum Abend hin, wenn es unanständig wird, weiter am Computer zu sitzen, wissen wir nicht recht, können wir uns mit Mühe daran erinnern, wozu man ein Gegenüber braucht.

 

Emily, Rostock

An einem Sonntag ist das Ganze nicht weiter schlimm, es fällt mir kaum auf. Zum Anfang der Woche kommt dann die Unruhe zurück. Freund*innen erzählen mir wie sie – allein in ihren Wohnungen – plötzlich laut aufschreien oder um sich schlagen und meine Mutter ist deprimiert, weil es keinen Grund mehr gibt, schöne, unbequeme Kleider anzuziehen. Ich rede mit der Espressokanne und zähle rückwärts bis zu dem Tag, an dem ich das letzte Mal einen Menschen umarmt habe. Anfang letzter Woche habe ich mir Weidenkätzchen und Pfirsichzweige gekauft. Ich habe jetzt schon Angst davor, dass sie verblühen und ich beim Aufwachen auf leere Vasen schauen muss. Statt den Blüten der Magnolie im Innenhof beim Wachsen zuzusehen, schreibe ich Emails. Der Buchstabe „E“ auf meiner Tastatur funktioniert nicht mehr. Ich kann nur unter erschwerten Bedingungen Pandemie schreiben. Epidemie. Was noch geht: Virus. Isolation. Social Distancing. Traurig und taub. In meinem Kühlschrank liegen zu viele Bierflaschen und ein bisschen Sorge habe ich vor dem ersten Mal betrunken ins Bett gehen ohne ein Gegenüber gehabt zu haben.

Vor der Klinik ein Banner, das allen Menschen in systemrelevanten Berufen für ihre Arbeit dankt. Auf beide Seiten leuchtend rot gesprüht: ACAB.

 

Fabian, München

Es ist dann noch recht schwer, ein seit Monaten aufgeschobenen Projekt monatelang immerhin im Hinterkopf in die eine oder andere Richtung geschoben habend, an verschiedenen losen Enden weitergeschrieben, deren Anknüpfungspunkte dann oft verlorengehen, jetzt wieder anzupacken, jetzt, wo man Zeit hätte, einerseits, und andererseits dem Kälteeinbruch zum Trotz, der vorgestern den Garten vorm Balkon, zumindest ein paar Stunden lang, bevor die Sonne doch alles wieder weggetaut hat, schneebedeckt hatte daliegen lassen, das schöne Wetter dort draußen und ein doch noch erstaunlich diffuses Gefühl einer Einübung in den totalitären Staat, wenn draußen die Mannschaftswagen der Münchner Polizei unter Androhung harter Bestrafung zum Zuhausebleiben auffordern. Jetzt, drei Tage später, könnte man auf die Idee gekommen sein, was für einen hirnrissigen Eindruck das macht; oder an den entscheidenden Stellen fühlt man sich der Kooperationsbereitschaft der Münchner Bevölkerung ausreichend sicher; oder eine potentielle personelle Knappheit im exekutiven Bereich führt dazu, und wir sind nur samstags und sonntags dran, gut, wir werden sehen.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Nun also die Insel im #lockdown. Heute früh auf dem Mobiltelefon eine entsprechende SMS. Direkt von www.gov.uk. Woher haben die nochmal meine Nummer?

Im Radio erzählen Menschen davon, wie die Pandemie ihren Alltag verändert. Einer psychisch Erkrankten ist die professionelle Unterstützung weggebrochen; sie hofft nun auf Nachbarschaftshilfe. Ein älterer Mann macht sich gut gelaunt in seinem Garten zu schaffen. Ein Theaterproduzent versucht, so viele Schauspieler wie möglich weiter zu beschäftigen. Eine Mutter berichtet glücklich, dass einer ihrer Söhne nach über zwei Dekaden Funkstille plötzlich bei ihr angerufen habe.

Als ich am Nachmittag zum alleinsamen Spaziergang aufbreche, scherzt mein Mann, ich solle das Handy lieber daheim lassen. Für den Fall, dass die Regierung überwache, wie lange und wie weit ich laufe. Wenn sie meine Schritte zählen würden, wäre das ganz praktisch. Später, auf freiem Feld, fühle ich mich beobachtet von einem Satelliten, der im All in gerader Linie über mir hängt. Beruhigend, die Blätter der Kastanien aus ihren klebrigen Ummantelungen hervorbrechen zu sehen und die Farbtupfer überall: violet, blaulila, dottergelb, weiß, grün (alle erdenklichen Varianten), kaminrot. Die elektronische Tafel eines Verkehrsschilds vermeldet stauvergessen: ‘Covid-19 essential travel only’.

Es ist an der Zeit, in meinem Gedankenpalast ein neues Zimmer einzurichten. Darin wird alles, was mit ‘Little Miss Corona’ zu tun hat, weggesperrt. Die Tür ist einfallslos blutrot, darauf, mittig und in zersplitterter Form, eine überlebensgroße Darstellung des Virus, wie man ihr momentan überall begegnet. In dieses Zimmer hineingelauscht und -geschaut habe ich bislang nur kurz, die Tür gleich wieder zugemacht. Not a pretty sight.

Heute abend per WhatsApp die Nachricht einer Freundin, mit der ich Freitag noch unterwegs war: Sie hat angefangen zu husten.

 

Birte, Darmstadt

Ich bin jetzt stolze Besitzerin eines temporären Zugangs zur Bayrischen Staatsbibliothek, damit ich da Digitalisate der Bücher lese und ggf. herunterladen kann, die im Büro liegen, in das ich nicht gehe. Die Beschaffungswege sind nahezu abenteuerlich, gegenseitig bietet man sich die Zugänge zu Bibliotheken an als würde man dealen. Ein Buch hat mir ein britischer Kollege als pdf über eine rumänische Kollegin besorgt, damit ich es den Studierenden zur Verfügung stellen kann. Eins ist am 19. März erschienen und weder an der Uni noch bei mir privat eingetroffen. Dafür kam heute nochmal Katzenfutter.

 

25. März

 

Sarah, München

Köpfe wandern vorbei an unserem Erdgeschossfenster, von morgens früh bis zum Sonnenuntergang zieht ein stetiger Strom vorbei. München spaziert und joggt, radelt und skatet. Wir wohnen in einem Randbezirk, hier ist die Stadt zu Ende, aber davor kommt noch ein Wald. In den Zeiten vor Corona war in unserer Straße nichts los. Es gab keinen Grund hierher zu kommen. Hier ist nichts. Noch nicht mal ein Briefkasten. Kein Zigarettenautomat und auch keiner für Kaugummis. Also kam niemand. Außer am Sonntag. Da kamen Menschen mit Hunden und solche ohne, und jene mit Kinderwagen und Laufrad im Kofferraum und suchten einen Parkplatz, um ihren Sonntagsspaziergang zu starten. Nun ist jeden Tag Sonntagsspaziergang. Das Ende der Stadt ist auf einmal beliebt.

Das noch etwas anders ist, fällt auf, wenn man mitgeht. Wo man früher aneinander vorbei schlenderte, einander ignorierte, um die gegenseitige Sonntagsfamilienblase nicht zu stören, geht man heute zögerlich aufeinander zu, beäugt den Abstand, wartet, lächelt ein wenig verschämt einander an. Corona, sie wissen ja.

Und irgendwie drängt sich Corona in alles, tropft in jeden Gedanken, wenn nicht als Wort, dann doch als Zustand, als Gefühl. Auch das Schreiben lässt es nicht in Ruhe. Obwohl doch schon ausführlich getwittert wurde, dass das jetzt verboten ist, über Corona schreiben. Nein, natürlich nicht. Weiß ja jeder. Will ja keiner. Und dann kommt es eben doch durch und zwängt sich aufs Papier.

Dieses makellose Blau

Es beginnt in der Ecke oben links, hinter dem Hochbett. Die Tapete verdunkelt sich, wirft schwarze Blasen, für einen Moment schein alles still zu stehen, und dann fegt der Feuersturm das Zimmer fort.

„Mama, du sollst bauen!“

Ob sie die Schmerzen spüren würden? Oder geht es so schnell, dass das Nervensystem blockiert, bevor die Gefühle durchkommen?

Sie geht in die Küche und steckt zwei Scheiben Toast in den Toaster. Der Raum ist dunkel und gemütlich, alles okay hier. Alles okay. Der Frischkäse ist schon ein bisschen eingetrocknet, eine gelbliche Kruste, die am Rand der Packung klebt. Sie hebt sie hoch zu ihrem Gesicht und sucht nach den dunklen Flecken von Schimmel. Die weiße Masse riecht wie immer, kühl, salzig und metallen.

„Mama! Essen!“ Die Freude in ihren Stimmen ist laut und grob, sie stupsen ihre kleinen Körper an ihren, springen auf der Stelle, die Arme nach oben gestreckt, als könnten sie so irgendwie ändern, dass ihr Kopf unerreichbar ist. Sie lächelt zurück, streicht über verstrubbeltes Haar, das Spiegeln von Emotionen ist so wichtig.

Die Sonne ist hell, der Himmel blau. So blau als wäre dahinter nichts, keine Schwärze, die auf die Nacht lauert. Er wirkt so echt, dieser Himmel über ihnen. Dabei ist Nichts an ihm wahr. Bloß eine Hülle zwischen ihnen und der Wirklichkeit, der Düsternis des Weltalls und den brennenden Sternen.

„Schau mal, ein Hubschrauber“, sagt der Kleine und zeigt hoch. Sie schaut nicht hin, da oben fliegt nichts, sie kennt das schon. „Ja“ sagt sie. „Schön.“

Wieder kommen die Flammen, diesmal fegen sie über die Straße, schmelzen den Asphalt, sie kann sehen, wie er zu kochen beginnt. Sie kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ob es einen Moment des Schmerzes geben wird?

„Guck mal, was ich kann!“ Der Große ist auf das Mülltonnenhäuschen geklettert. Sie schaut, die Hand über den Augen, so dass die Sonne ihr nicht die Sicht nimmt. Er breitet die Arme aus, der ganze Körper gestreckt, ein festgefügter Zellhaufen voller Spannung. „Ich fliege!“ schreit er und stößt sich mit beiden Beinen vom kieselbesetzten Waschbeton ab. Sie macht einen Schritt vorwärts und breitet die Arme aus. Sein Körper schlägt auf ihr ein, fast stürzen sie zu Boden, aber sie fängt sich mit einem weiteren Schritt auf. „Hast du das gesehen?“ Er nimmt ihr Gesicht in die Hände, seine Augen blitzen vor Stolz. Sie nickt und fragt sich, wie das eigentlich geht, dass die Augen so aussehen können, so voller Gefühl. Es sind doch am Ende nur gefärbte Fitzelchen, die ein schwarzes Loch umklammern. Sie lässt ihn langsam zu Boden gleiten und streicht ihm über die Stirn. „Hast du gesehen?“ fragt er noch einmal. Sie nickt und nimmt seine Hand. Den Kleinen greift sie mit der anderen und wuchtet ihn auf ihre Hüfte. Er ist schon so schwer, aber wenn sie ihn trägt, muss sie nicht darauf achten, wo er gerade hinläuft. Wenn sie ihm zuschaut muss sie manchmal an einen schlecht programmierten Roboter denken, der hin und her irrt, Dinge aufhebt, wieder hinwirft, immer auf der Suche nach der Logik in seinem Programm.

„Wohin gehen wir eigentlich, Mama?“ Der Große fragt ohne Argwohn in der Stimme. Eine reine Neugierde, an die sie sich gern erinnern würde, aber sie weiß nicht, ob sie sich je so gefühlt hat. „Einfach ein bisschen die Straße entlang“, antwortet sie schließlich. Sie weiß, er würde nicht lockerlassen, wenn sie schweigt. Das hat er noch nie akzeptiert. Deshalb hat sie sich angewöhnt das zu sagen, was nach den vielen Filtern, die sie für ihn zwischen ihre Gedanken und ihre Worte legt, noch übrigbleibt. Wir gehen einfach ein bisschen die Straße entlang, weil es nichts gibt, wohin wir gehen können, weil es kein Versteck gibt.

„Warum können Menschen eigentlich nicht fliegen?“

„Weil wir keine Vögel sind.“ Sie weiß, das ist nicht genug als Antwort. Sie will anheben und etwas über Gewicht und Röhrenknochen sagen, über das Verhältnis von Spannweite und Körpergröße. Aber es gelingt ihr nicht so recht, die Gedanken so zusammenzufügen, dass sie sie aussprechen mag.

„Du fliegst, die ganze Zeit“, hört sie sich schließlich sagen. „Wir alle fliegen im Weltall.“ Auf dieser winzigen Kugel von der es kein Entkommen gibt.

„Cool!“ brüllt er und streckt seine Faust in die Luft. „Wie Superman! Wir sind alle Superman!“ Dann macht er sich los von ihrer Hand und klettert auf das Mäuerchen neben ihnen. „Fängst du mich auf der anderen Seite auf?“

„Ja“, sagt sie. „Natürlich.“ Sie blickt hinauf in den Himmel. In dieses makellose Blau.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Eigentlich sollte ich heute mit meiner Schwester in Deutschland ihren Geburtstag feiern. Beim Aufstehen merke ich, wie traurig ich bin, nicht bei ihr zu sein. Um ihr dennoch gut gelaunt gratulieren zu können, schicke ich erst einmal Nachrichten in alle Himmelsrichtung mit der Frage danach, wie es Freund:innen geht. Von der Mehrheit positive Rückmeldungen. Ein oder zwei bedenkliche Nachrichten. Ich halte die Daumen, versuche aus der Ferne da zu sein. So, wie frau es bei mir gemacht hat, als es mir schlecht ging. Wer es nicht selbst erlebt hat, ahnt vielleicht nicht, wie wichtig selbst kleinste Gesten der Zuneigung in schweren Zeiten sind. Wie nachhaltig sie wirken.

Deutschlandfunk Kultur berichtet über den PEN-Aufruf, der sich gegen die Verwendung des Begriffs ‘soziale Distanz’ und für Alternativen wie ‘körperlicher Abstand’ ausspricht. Berechtigt. Denke über ein positiveres Covid-19 Vokabular nach. ‘Solidarischer Abstand’ finde ich gut. Statt ‘Ausgehverbot’ fällt mir nur ‘Daheimbleiberlaubnis’ ein – zu nah am Euphemismus, oder? ‘Massenansammlungen’ sind ja eigentlich ‘Zusammenkünfte Vieler’. Von diesem Punkt aus weiterdenken, bitte.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/autorenzentrum-pen-gegen-begriff-soziale-distanz.265.de.html?drn:news_id=1113373

Auf meinem Nachmittagsspaziergang laufe ich anarchisch quer über den Golfplatz in unserer Nähe (Schottland hat gefühlt an jeder Ecke einen). Bislang habe ich mich fast immer nur brav am Rand herumgedrückt, nun fülle ich die weißen Flecken meiner mentalen Landkarte mit Farbe. Mir begegnen Bäume, Eltern, Kinder, Hundebesitzer, Vierbeiner, Vögel – 16 Elstern auf einen Schlag (ist das ein gutes Omen?). Die Geistergolfspieler stets unter uns, das Klackern der Bälle herrlich abwesend, ein Abenteuerpark, der darauf wartet, dass die Natur ihn zurückerobert. Irgendwie fühlt sich dieser leere Golfplatz wie die perfekte Metapher für den gegenwärtigen Zustand der Welt an, ich weiß nur noch nicht genau, warum.

 

Viktor, Frankfurt

Noch keine Gedanken dazu:
US-Pflegekräfte aus Krankenhäusern berichten aus ihren Corona-Erfahrungen und verschaffen damit einen Einblick in ein System, das sonst unsichtbar bleibt.

https://www.nytimes.com/2020/03/25/business/media/coronavirus-nurses-stories-anonymous.html

Wenn ich nicht in der Redaktion bin, versuche ich, mich nur ein-, zweimal am Tag gründlich zu informieren. Sonst werde ich zu unruhig und kann mich anderen Dingen nur schlecht widmen. Die digitale Nachrichtenwelt lässt einen nicht in Ruhe, wenn wir uns ihr nicht selbst entziehen. Dabei entwickelt sich alles, selbst bei Corona, nicht so schnell, wie die immer auf Klicks bedachten News-Sites es suggerieren.

 

Slata, München

Drachensteigen macht man im Herbst, brummt Emil, Ihr könnt das selber machen, aber dann, in den Feldern, findet er es toll und will die Führung übernehmen. Der Wind ist so stark, dass der Drache reißt, immer wieder kopfüber ins Gras fällt, wir falten ihn zusammen, wickeln die Schnur auf, tasten uns zurück, nach Hause.

 

Fabian, München

Eine, man lässt sich, heute Büro, dann Mittagessen und ein wenig, zwei, Sport, später Netflix und später den Freunden in und aus Österreich beim Spielen zuhören, drei, getoastetes Brot, Steam ist offenbar überlastet, eine Weile lang nur das Klicken der Schalter der mechanischen Tastaturen, vermutlich braune, vier, Switches, oder auch nicht, was weiß man schon, so genau hört man nicht, stattdessen eine Runde Starcraft, eine Mission einer Kampagne, die er selbst nach zwanzig Jahren Spielerfahrung, fünf, noch nicht zu Ende gespielt hat, ein wenig Sport, als hätte man sonst nichts zu tun, man hat ja sonst nichts zu tun, wenn ich das Büro heute mal nicht mehr ins Zimmer lasse, sechs Serien, mehr zur Gewährleistung zuverlässigen, allerdings, Hintergrundrauschens zur Grundierung der Nicht-gerade-Langeweile, aber eines, acht, nicht gerade Angekommenseins in den neuen Umständen, läuft die etwas, aber immerhin auf sympathische Weise alberne ORF-Netflix-Co-Produktion, neun, “Freud”, zehn, und gut, eine 610Serie Liegestütze zu guter Letzt, oder zumindest heute.

 

Simon, Vorort von Freiburg

Diese Wohnung hier fühlt sich an wie eine sichere Burg, solang ich nicht raus muss, erscheint alles einigermaßen ruhig. Doch in ruhigen Momenten kriecht doch eine Unruhe die Beine herauf, manchmal fällt einen die Absurdität der Situation hinterrücks an und schleicht sich dann den Rücken hinauf, fällt dann wieder ab und kauert knapp über dem Boden. Wartet dort.

Gleichzeitig spüre ich wie eine seltsame Gewöhnung eintritt, die mich auch wiederum beunruhigt. Ich meine, diese Gewöhnung auch in der Berichterstattung zu spüren. Der Deutschlandfunk hat einen neuen Podcast unter dem Titel Alltag einer Pandemie. Es hat keine zwei Wochen gedauert bis wir die Situation teilweise zum Alltag erklärt haben und jeden Abend beim Kochen höre ich die täglichen Berichte aus verschiedenen Regionen des Landes. Auch die Fallzahlen scheinen nachlässiger veröffentlicht zu werden oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich die Seiten des RKI, der John Hopkins University und der Badischen Zeitung nicht mehr im regelmäßigen Rhythmus von 15 Minuten neu lade. Diese vermeintliche Ruhe fühlt sich trügerisch an, als wüssten wir noch gar nicht, was da auf uns zukommt und als glaubten wir auch noch immer, dass das Schlimmste vielleicht doch an uns vorbeiziehen würde. Auch meine ich in meinem Umfeld eine Beruhigung festzustellen, die Gespräche in Chats und in den Skype-, Facetime- und Zoomanrufen drehen sich nicht mehr ausschließlich um Corona.

Die warme Frühlingssonne dieser Tage macht das alles noch surrealer. Wenn man spazieren geht, über die Felder und die letzten Wochen vergessen würde, nichts würde darauf hindeuten, dass gerade Chaos herrscht.

 

Emily, Rostock

Es gibt eigentlich nur noch zwei Handlungsorte: meine Wohnung und den Hafen, der am Ende der Parallelstraße beginnt. Solange ich mich nicht aufraffen kann, den Schlauch meines Fahrrads zu reparieren, ist mein Radius furchtbar beschränkt. Heute der erste Tag, an dem ich hinterfrage, wozu es gut ist, aufzustehen und mir die Haare zu waschen. Die meisten meiner Freunde verbringen die Quarantäne mit ihren Partnerinnen und ich versuche eine halbe Stunde lang, die Katze der Nachbarn auf meinen Balkon zu locken. Aus der Ferne die Nachricht „Be my Quarantine“, auf die ich keine Antwort weiß. Alle Arbeitskontakte, die mich anrufen, haben ihre Nummer unterdrückt, weil sie so ein kleinwenig Kontrolle behalten. Ich denke, es wird Zeit, die Schrauben an meinem Wasserhahn nachzuziehen und die Schublade meines Kleiderschranks zu reparieren. In anderen Städten wird abends um 19 oder 21 Uhr applaudieren. In meinem Hinterhof beginnt ein Blockflötensolo und dann singen sie gemeinschaftlich „Der Mond ist aufgegangen“. Weil es noch immer hell ist, kann ich sie dabei beobachten.

 

26. März

 

Jan, Hannover

Der Beginn der räumlichen Distanzierung ging zunächst einher mit neuen (oder eben gar nicht so neuen, aber bisher von uns nur selten genutzten) Formen der Online-Gemeinsamkeit: Der abendliche Sun-Downer mit Freund*innen aus drei Städten auf Skype oder im WhatsApp-Videochat. Gemeinsam kochen und essen mit den Nachbarn in Facetime. (Die Online-Bandprobe meiner Frau mit ihrem Gitarristen scheiterte allerdings, zu viel Zeitversatz.) Ersatz-Gemeinschaft im Display.

In Woche 1 der Sozialen Distanz habe ich mehr Zeit mit Facetime verbracht als vorher in drei Jahren zusammengenommen. Man lässt sich lustige Sachen für die Bildgestaltung einfallen, schiebt ein niedliches Stofftier vor die Kamera oder wählt eine expressionistische Kameraperspektive und Lichtsituation. Ich habe mir sogar eine Smartphone-Halterung für meine Kamerastative bestellt, um keine abenteuerlichen Konstruktionen mehr bauen zu müssen, wenn man beim Videochat beide Hände freihaben möchte.

Aber jetzt beobachte ich eine gewisse Videomüdigkeit bei mir, cam chat fatigue. Das aufgekratzte Durcheinanderkrähen, das aus dem zu kleinen Smartphone-Lautsprecher plärrt, und die leicht überdrehte Euphorie beim virtuellen Anstoßen empfinde ich zunehmend als anstrengend, ich beobachte mich dabei, wie sich mein Gesicht in eine Kulisse verwandelt. Ich grinse unentwegt in die Kamera, obwohl ich eigentlich nur müde bin, und kontrolliere ständig das Bild, das wir von uns machen, im Minifenster oben links. Und die unaufhörlichen, unausweichlichen Corinna-Witzchen strengen mich an, obwohl ich natürlich unentwegt selbst welche rausfeuere, gute wie nicht so gute, ich kann gar nicht anders. Das ist noch zwanghafter als Händewaschen. Lachen soll ja bekanntlich die beste Medizin sein, aber es kann auch eine verdammt bittere Medizin sein.

Mittlerweile hat die Häufigkeit der Online-Zusammenkünfte wieder abgenommen, und ich habe nicht den Eindruck, dass es nur an mir liegt. Es ist schön, sich zu sehen. Aber manchmal macht einem der schwarze Rahmen des iPhone-Gehäuses, der die Gesichter der anderen einhegt, die herrschende Distanz nur noch schmerzlicher bewusst.

 

Nefeli, Hamburg/Berlin 

Vor zwei Tagen hat mich S. mit dem Auto aus Hamburg abgeholt und nach Berlin verfrachtet. So sind wir eben zu zweit in Quarantäne und ich bin nicht allein meiner Misere ausgesetzt. Seine Wohnung ist größer, aber mein Traum, alle Nachbar:innen um 21 Uhr dazu zu bringen, “Someone like you” von Adele zu singen, ist hier bei all den älteren Menschen nicht möglich. Auf der Autobahn wurde S. geblitzt und kurz darauf sahen wir eine Sternschnuppe, die senkrecht ins Nichts fiel. Als käme mir das Leben, die Welt und mein Sein nicht schon komisch genug vor. Und dann schämte ich mich, weil ich mir nichts Sinnstiftendes wünschte, sondern nur etwas Privates. S. hat mir später das Handyspiel “Drop the Number” gezeigt, ich habe es innerhalb von zwei Tagen des intensiven Spielens schon geschafft, 44.738 Punkte zu erzielen, was wirklich gut ist, aber vielleicht sollte ich mein Selbstbewusstsein nicht aus einem Handyspiel ziehen. Und so ein wirklicher Trost ist es auch nicht, wenn ich die 16 auf die 32 ziehe und dann die nächste 16 kommt und dann ploppt es und ich denk mir “geil”. Ich hab wenig Struktur, jetzt noch weniger als Pre-Corona. Da tut es gut, S. um sich zu haben, der eine feste Abendroutine hat, der auch viel rausmöchte. Ich würde ja ansonsten wirklich nur drinbleiben. Mich macht Sonne nicht glücklicher. Sie ist einfach da, das ist okay. Heute Abend gibt es Fisch, ich muss daran denken, meine Mutter anzurufen. Und ich will mich auch bei meinen Freund:innen melden, die alle allein in ihren Wohnungen sitzen. Und Mails schreiben. Und Abrechnung machen. Den nicht ausgetrunkenen Tee von gestern trinken. Aufpassen, mich nicht zu betrinken. Nicht auf YouTube versacken. Jetzt wäre die Zeit zum Lesen da aber ich bin so unkonzentriert. Und jammern bringt auch so furchtbar wenig, es ergeht ja zu vielen so.

 

Matthias, Jena

Vermutlich geht es mir nicht anders als den meisten, aber der tägliche Blick auf die Fallzahlen und dann der Klick zum Desktop-Taschenrechner, um die Steigerungsrate zu gestern auszurechnen, ist ein Ritual geworden. Meine Lieblingsmedizinerin findet, die Zahlen sähen gar nicht so schlecht aus, insbesondere die sehr geringe Sterberate in Deutschland findet sie beeindruckend. An ihrer Klinik werden inzwischen alle stationären Aufnahmen routinemäßig getestet. Von Twitter aus gesehen kann man hingegen meinen, dass gerade ein abgewirtschaftetes Gesundheitssystem unter der Seuche zusammenbricht und die Eingriffe in die Freiheit der Bevölkerung zugleich den Weg in einen totalitären Post-Covid-Staat bahnen. Je länger der ganze Zustand dauert, desto allergischer werde ich gegen eine bestimmte Sorte politischer Hottakes. Ich muss darauf achten, in dieses Tagebuch nicht immer nur dieselben Beschwerden darüber hineinzuschreiben.

Mein Arbeitsalltag ist so normal, dass es mir fast Angst macht. Dabei ist nichts von dem, was ich tue, irgendwie »systemrelevant«. Ich rechne damit, dass ich in spätestens 2–3 Wochen mit mehr oder minder sanftem Zwang dazu herangezogen werde, irgendwelche Verwaltungsaufgaben in Testlabors oder beim Gesundheitsamt zu machen.

Wir haben die Sorge wochenlang weggeschoben, aber langsam beschäftigt auch uns die Frage, was wir tun, wenn unser Toilettenpapier alle wird. Die Regale scheinen wirklich nachhaltig leergefegt. Als braver Jenaer Bürger habe ich bei einem größeren Anfall von Online-Shopping heute auch schön beim lokalen Einzelhandel bestellt, zwar nur zwei Instrumentenkabel, aber immerhin.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (2)

Dies ist der zweite Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert (hier Teil 1).

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Jan: @derkutter, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Philip: @FreihandDenker, Sandra Gugić: @SandraGugic,  Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

Woche 2 (erster Teil): 16. März bis 18. März

16.3.2020

Magda, Berlin
Wie kann man kleinen Kindern die aktuelle Ausnahmesituation verständlich machen? Wie erklärt man einer 2jährigen, warum man gerade das Haus nicht verlassen darf? Was macht die allgemeine verunsicherte Stimmung mit so einem kleinen Kind?

Berit, Greifswald
Die überall angepriesenen Online-Lernplattformen laufen nur noch in Schneckengeschwindigkeit oder brechen direkt unter der Last der Anfragen zusammen. Ich mache mir Gedanken darüber, was diese Wochen für Familien bedeuten, in denen die notwendigen Ressourcen für Heimunterricht nicht vorhanden sind.

 

Sonja, Köln
Ich denke an meinen Vater, der eigentlich schon lange in Rente sein müsste. Der Musiker ist. Der uns Kinder großgezogen hat und immer noch keine Mindestrente bekommt. Der jetzt keine Auftritte mehr hat. Der auch keinen privaten Unterricht als Musiklehrer mehr geben kann. Der kein Einkommen hat, der kein Einkommen hat, der kein Einkommen hat. Ich sehne mich für ihn und alle meine Lieben, die in ihren überteuerten Wohnungen sitzen und nicht wissen, wie sie diese in den nächsten Monaten bezahlen sollen, nach einem Grundeinkommen ohne Bedingungen. Als mein Vater vor drei Wochen ängstlich über die sich anbahnende Situation gegrübelt hat, habe ich gelacht und abgewunken. Jetzt schäme ich mich dafür.

Simon, Freiburg
Ich habe mich in den letzten Tagen oft über Fotos von Menschen aufgeregt, die in großen Gruppen im Freien herumstanden, über Berichte von Leuten, die zu Corona-Parties einluden oder über diejenigen, die jetzt noch feiern gehen. In mir hat das alles eine große Frustration und Wut ausgelöst, weil diese Haltung zum einen zeigt, dass viele nicht verstanden haben, was passiert, und weil sie tatsächlich gefährliche Folgen haben kann. Zum anderen befürchte ich, dass genau diese Haltung letztlich doch zu Ausgangssperren und ähnlichem führen könnte, die unter Umständen per se nicht nötig wären, wenn sich alle an die Empfehlungen halten würden und alleine oder als Familie oder als Paar spazieren gehen, Fahrradfahren oder Picknicken würden. Ich werde unruhig, wenn ich so etwas sehe, weil ich es nicht verstehe, dass man sich in solchen Situationen nicht an einfachste Grundregeln halten kann, die vielleicht unangenehm sind, die aber per se nur bedeuten auf ein Freizeitprivileg zu verzichten.

Johannes, Bonn
Jede Krise, die eine Gemeinschaft betrifft, bringt neue Tugenden und damit neue Laster hervor. Man macht einen Spaziergang (aber allein!) und sieht auf der Straße die fröhlichen Zusammenrottungen des Frühlingsanfangs plötzlich mit finstererem Blick. Krise bedeutet Verzicht, aber diese Krise fordert den Menschen nicht den Verzicht auf Materielles ab, sondern auf soziale Kontakte, genau das, was ja normalerweise in Krisenzeiten eingefordert wird. Eine moralgeschichtlich komplizierte und faszinierende Situation.

Andrea, Tübingen
Auf Twitter trendet kurz “Tag 1”. Als ob die Krise erst jetzt beginnen würde. Ich verstehe das, insofern erst jetzt die Schulen schließen, gleichzeitig ist es seltsam, weil es signalisiert, dass das Wochenende noch als ‘jetzt kann man nochmal alles machen’ von vielen wahrgenommen wurde. Im Verlauf des Tages wird das Maßnahmenpaket der Bundesregierung angekündigt, das ich gut finde. Pragmatisch, wichtige symbolische Wirkung: Keine Urlaubsreisen etc. Beschränkung auf das wirklich wichtige, hoffentlich geht das in die Köpfe! Nach der PK der Kanzler spricht endlich der Bundespräsident zur Corona-Krise: “Die Welt danach wird eine andere sein.” Hoffentlich gilt das auch zukünftig für die Frage, wie effizienzorientiert das Gesundheitswesen sein muss, denke ich. “Ich glaube an unsere Vernunft. Ich glaube an unsere Solidarität. Halten wir heute voneinander Abstand, damit wir uns morgen wieder umarmen können.” Gut.

Philip, Göttingen
Es fühlt sich unwirklich an. Für mich hat sich nicht viel geändert mit dem Lockdown. Es ist keine Vorlesungszeit und ich gehe auch nicht in die Bibliothek, weil ich die Arbeit an meiner Dissertation pausiert habe. Corona scheint online viel präsenter als im Analogen. Wie jeden Montag erledigen wir den Wocheneinkauf. Worüber wir bisher vor allen gewitzelt haben, ist jetzt wirklich. Das Nudelregal ist komplett leer und Toilettenpapier ist nur noch wenig da. Wir beschließen, doch keines mitzunehmen. Wir wollen bewusst nicht “hamstern”, aber ein bisschen lässt es sich doch nicht vermeiden. Wir nehmen hier eine Dose, dort ein Glas mehr mit als wir es unter normalen Bedingungen getan hätten. Nachmittags mache ich einen kurzen Spaziergang. Es ist richtig frühlingshaft, und statt der üblichen Leute mit Hund sind auch viele Familien und ältere Paare im Wald, der gleich hinterm Haus beginnt, unterwegs. Ich muss an einen Tweet denken, der von “Coronaferien” sprach. Aber wer wollte es den Leuten verdenken, die ersten schönen Tage zu genießen? Später telefoniere ich mit meinem Vater. Er arbeitet in Basel, lebt aber in Deutschland. Er erzählt mir, dass er nicht sicher war, ob man ihn nach der Arbeit wieder die Grenze überqueren lassen würde, und scheint sich spitzbübisch darüber zu freuen, dass es ihm gelungen ist. Wir reden darüber, dass wir die Situation nutzen, um es ein wenig langsamer angehen zu lassen. Ich freue mich, dass er jetzt kürzer tritt, denke aber daran, wie glücklich unsere Lage ist, dass wir so mit dieser Krise umgehen können.

Tilman, Hamburg
Eben war ich bei Giovanni, den Tisch für Samstag stornieren. “Haben schon ganz viele gemacht”, sagte Mirko traurig. 11 Personen hatte ich angemeldet. Meine Schwester heiratet im Mai und unsere Eltern und die Eltern ihre Freundes kennen sich noch nicht. Aus Nürnberg, Frankfurt, Münster und Bad Hersfeld sollte angereist werden. Als wir vor zwei Wochen das erste Mal darüber sprachen, ob das denn alles so stattfinden könnte, war meine Mutter bereits sehr skeptisch, mein Vater dagegen noch fest überzeugt, alles stelle kein Problem dar. Die Entscheidung abzusagen, fiel bereits letzte Woche, gestern war es aber mein Vater, der sehr vehement in der Familien-Whatsapp-Gruppe forderte, meine Chefs sollten von ihrem Hausrecht Gebrauch machen, falls Kollegen sich nicht freiwillig in häusliche Quarantäne begäben.

Matthias, Jena
Mir wird zum ersten Mal seit Tagen richtig mulmig, als ich mitbekomme, dass eine neue Stufe der Einschränkungen bekanntgegeben wurde. Ich muss an »When the Wind Blows« denken. Beim Abendessen schalte ich das Radio ein, ich will jetzt weder ein Feature über ein Massaker in Apartheid-Südafrika noch E-Musik hören, also schalte ich um auf MDR Thüringen Ost, und dort läuft »Some Broken Hearts Never Mend«, es macht direkt alles noch schlimmer, weil es so eine postapokalyptische Atmosphäre produziert. Woran liegt es, dass bestimmte Musik (z.B. älterer Country oder amerikanische Schlager aus dem 2. Weltkrieg) sich so sehr nach Autoradio nach dem Atomkrieg anhört und andere nicht? Es gibt da eine popkulturelle Überlieferungslinie, die den Abspann von »Doktor Seltsam« und den Vorspann von »Fallout« verbindet, aber da muss es doch noch mehr Datenpunkte geben.

(Danach übrigens Bobbie Gentry, »I’ll Never Fall in Love Again« mit den herzigen Versen: »What do you get when you kiss a girl? / You get enough germs to catch pneumonia«.)

17.3.2020

Nabard, Bonn
Die Straßenbahn ist ziemlich gefüllt. Es herrscht eine erstaunlich gespenstische Ruhe. Nicht aber weil die Schulkinder fehlen. In ein paar Minuten bin ich im Krankenhaus. Mein praktisches Jahr hab ich mir sicherlich anders vorgestellt, doch was soll’s. Hier hat gerade jemand gehustet und alle haben ihn mit einer Mischung aus Ekel, Panik und Verachtung angeschaut. Gleich in der Besprechung erfahren wir die neuesten Zahlen. Von befreundeten Ärzten aus Köln und Berlin höre ich, dass sie in ihren Krankenhäusern sich aufs schlimmste eingestellt haben. In einem teil-privatisierten Gesundheitswesen, was auf Gewinn aus ist, ein radikaler Schritt! Erst einmal Hände desinfizieren und dann den Kittel anziehen.

Magda, Berlin
Über ein Facebookupdate ihrer Tochter erfahre ich heute morgen, dass sich der Hirntumor meiner amerikanischen Gastmutter, bei der ich 2006 ein Schuljahr lang gelebt habe, nach über einem Jahr ohne Wachstum nun plötzlich verdoppelt hat, dass sie wieder mit der Chemo beginnen müsse, dass ihr Zustand sehr verschlechtert sei. An manchen Tagen könne sie sich wohl nicht einmal wirklich erinnern, wer sie selbst sei. Meine Gastfamilie lebt in Kalifornien, das inzwischen als Covid19-Risikogebiet gilt, sie haben wenig Geld, wie es um ihre Krankenversicherung gestellt ist, weiß ich nicht. Der Kontakt zwischen uns ist in den letzten Jahren über die gelegentliche Facebooknachricht ihrer Tochter hinaus sehr eingeschlafen, aber heute wird mir plötzlich klar, dass ich vermutlich keine Gelegenheit mehr bekommen werde, sie jemals wiederzusehen. Mit dem Ausnahmezustand hier in Deutschland irgendwie klarzukommen und gleichzeitig zu wissen, dass es überall auf der Welt gerade genauso schlimm aussieht, dass es anderswo auch kein von all dem unberührtes Idyll mehr gibt, bringt mich immer näher an meine mentalen Grenzen.

Sonja, Köln
Dem Social Media-Dinosaurier Facebook wird die Funktion kupiert. Wer Facebook noch als Veranstaltungsbörse nutzte, kann jetzt die veralteten Klopapier-Gags und die unzähligen Anfragen von Autor*innen, ihre Seite zu liken, endlich hinter sich lassen.

Bei Tinder und OkCupid alles beim Alten: Man matched, man schreibt, man trifft sich nie.

Andrea, Tübingen
Die gesundheitlichen Fragen beschäftigen mich am meisten. Aber auch wie es an den Unis weitergeht, diskutiere ich mit Lehrenden verschiedener Unis seit Tagen auf Twitter. Die Informationspolitik der Unis ist dabei sehr unterschiedlich, und das hat keineswegs nur mit verschiedenen Semesterstart-Zeiten zu tun. Manche berichten, dass sie schlicht aufgefordert werden, sich auf digitale Lehre einzustellen. Ohne dass gleichzeitig kommuniziert wird, wie das gehen soll. Online-Formate muss man extra konzipieren. Wer sich etwas mit digitaler Lehre auskennt, weiß, dass das viel Vorlauf braucht. Und da reden wir noch gar nicht über rechtliche Fragen, Netz-Kapazitäten etc.

Sonja, Köln
Von dem neuen Hashtag #stayhomechallenge wird mir erst schlecht und ich befürchte einen blinden Aktivismus, der unter Publikum propagiert wird, dann scroll ich ein bisschen durch und kichere ein bisschen rum

Heute Nacht die erste Panikattacke. Was, wenn der Lockdown wirklich kommt? Ich wohne allein, ich arbeite allein, ich kann allein sein, aber ich kann nicht eingesperrt sein. Wer schon mal weggesperrt wurde – ob ins Badezimmer, auf eine geschützte Station in einer Klinik oder ins Gefängnis – weiß, wie unvergleichbar beklemmend diese Situation ist. Nur dass man in einer Psychiatrie noch in Gesellschaft ist, wie fordernd die Mitpatient*innen, wie streng die Pfleger*innen auch sind, man kann jemanden zu sich rufen und in Kontakt treten, wenigstens einen Anflug von Berührung erleben. In der Quarantäne aber, wer will mich da mit einer Hand auf meinem Handgelenk, einer Schulter in meinem Rücken, einer Stirn an meinem Kopf beruhigen?

Das abendliche Twitterkonzert von Igor Levit gibt mir Halt, gibt mir eine Routine in der Ausnahmesituation, 19 Uhr ein Klavier. Gibt mir ein Gefühl von Gemeinschaft, spendet Nähe.

Ich telefoniere mit einem Freund, der in der gleichen Situation ist. Ein Musiker, der für die nächsten Wochen ohne Aufträge sein wird. Er ruft schon das vierte Mal an heute. Auch ihm klemmt der Brustkorb, rauschen die Ohren. Unsere Unruhe wuchert. Die antizipierte Einsperrung ist die Schlimmste. Wieso lässt man sich freiwillig in einen Container einsperren? Aber neugierig, wie die Bewohner*innen von Big Brother hier in Köln Ossendorf heute auf die Info reagieren, bin ich auch.

Andrea, Tübingen
Gegenüber anderen Menschen habe ich in dieser neuen Situation nicht wirklich etwas zu bewältigen. Ja, ich mache mir Sorgen um Verwandte, aber mein Alltagsleben ist gut zu managen. Eigentlich sollte es nicht viel anders sein als sonst in der vorlesungsfreien Zeit. Aber so fühle ich mich nicht. Das entspricht viel eher meinem Zustand:

Magda, Berlin
Ich mache mich bereit für meine heutige Spätschicht in der Buchhandlung. Heute werde ich die Strecke von ca. 2,5 km ausnahmsweise zu Fuß gehen (ich besitze kein Fahrrad, fahre sonst immer Tram). Die angekündigte Pressekonferenz des Berliner Senats wurde von 13 auf 14:30 Uhr verschoben, noch weiß also niemand, ab wann die vom Bund empfohlene Schließung aller nicht-essentiellen Läden hier in Berlin umgesetzt wird. Das heißt auch, dass keine*r aus dem Buchhandlungsteam weiß, ob wir morgen zur Schicht antreten müssen und wie es überhaupt jetzt weitergehen wird. Es fühlt sich komisch an, nach vier freien Tagen gleich im Laden stehen und mit Kundschaft interagieren zu müssen. Bei meiner letzten Schicht am Donnerstag war noch alles vergleichsweise “normal”, unser Café war noch in Betrieb, der Laden voll. Wie die Stimmung wohl heute Nachmittag sein wird? Ob überhaupt Leute kommen werden?

Beim kurzen Spaziergang im Park am Sonntag habe ich mich erst über die ganz ungerührt dicht an dicht sitzenden Menschenmassen geärgert. Dann kam mir der Gedanke, dass zum Glück inzwischen Pokémon Go schon wieder out ist, weil es sonst in den Berliner Parks noch viel schlimmer aussähe. Gotta catch ’em all!

Birte, Darmstadt
Mein Sohn und ich versuchen, einen Rhythmus des zuhause Seins, Arbeitens und Lernens zu finden. Ganz gegen Brecht haben wir einen Plan gemacht, vor allem, damit wir wissen, wann wir frei, gemeinsame Zeit haben oder allein sind. Seinen Vater wird er mehrere Wochen nicht sehen können, der lebt in der Schweiz. Wenn vieles ungewiss ist, hilft vielleicht ein Rhythmus, ein Plan. Wir wissen beide: wir müssen uns noch eingewöhnen.

Gerade sind wir über die Rosenhöhe spaziert, einem Darmstädter Park. Hier scheint die Sonne, die Magnolienbäume öffnen ihre Knospen. Alle gehen sorgsam miteinander um, alle vermeiden zu große Nähe, wenn sie anderen begegnen.

http://www.park-rosenhoehe.info

Ich musste an meinen Kollegen Jonathan Triffitt denken, der über die Entmonarchisierung Hessens, Württembergs und Bayerns nach 1918 promoviert, denn das Palais Rosenhöhe gehörte dem letzten regierenden Großherzog von Hessen-Darmstadt Ernst Ludwig. Überhaupt denke ich viel an Kolleg*innen, tausche mich mit ihnen aus, froh über die Zeit, die uns noch bleibt, die Lehre online vorzubereiten.

Hier ist Frühling.

Simon, Freiburg
Es ist sehr seltsam und anstrengend, die Diskrepanz zwischen Normalität und Ausnahmezustand aushalten und balancieren zu können. Während in meiner Region die Lage angespannter wird, schaue ich auf die Deutschlandkarte und sehe Städte und Regionen, die 3 vielleicht 5 Fälle haben – ganz Thüringen hat derzeit weniger als Freiburg, deutlich weniger. Manchmal schalte ich das Radio an und hoffe auf einen Beitrag, der nichts mit der aktuellen Situation zu tun hat und gleichzeitig fühlt es sich seltsam an, wenn dort wie heute morgen über die ersten freien Wahlen in der DDR vor 30 Jahren gesprochen wird. Ich werde mir in den nächsten Tagen und Wochen Momente freischaufeln müssen, in denen das Thema Covid19 keine Rolle spielt, in der sich alles normal anfühlt – und ich befürchte, dass sich es diese Momente nicht geben wird, weil sich diese Abwesenheit seltsam anfühlen wird.
Gerade bin ich durch meine Timeline auf Twitter gegangen, auf der Suche nach einem Tweet, der nichts mit der Situation zu tun hat. Ich musste lange scrollen.

Tilman, Hamburg
Ich habe noch nie Home Office gemacht. Das will erstmal eingerichtet werden. Also muss ich mit dem Mann von der IT telefonieren. Das ist ein externer Dienstleister und hin und wieder hat man zwar eine bekannte Stimme dran, aber so häufig hat man eigentlich keine Computer-Probleme, dass man sich da groß anfreunden würde. Nach der Schilderung meines Problems, (ich habe eigentlich zwei, denn ich habe meine Maus im Büro liegen lassen), schaltet er sich auf meinen Rechner auf. Während nun ferngesteuert der Cursor über meinen Bildschirm flitzt, schweigen wir uns an. Er schweigt so deutlich, dass ich ins Grübeln komme, was für ein IT-Hotline-Typ ich wäre, also auf Dienstleisterseite.

Kenne nicht so viele, aber für ein Magazin würde ich u. a. die folgenden nehmen:

  • manche brabbeln oder machen so Geschäftigkeitsgeräusche,
  • manche erklären dem Gegenüber, was sie tun,
  • manche schweigen.

Dann müsste ich mir noch welche ausdenken, damit dieser Typen-Test einen lustigen Spin bekommt und die Leute weiterlesen, vor allem damit sie die Auflösung lesen, hihi, bist Du auch der “XYZ-Typ” und dann unterhalten die Leser*innen sich darüber, was die Redaktion sicher für einen Heidenspaß hatte sich so einen Test auszudenken. Der Schweigetyp sagt jetzt, dass er zurückruft. Bestimmt einfacher sich zu konzentrieren, wenn der andere nicht in den Hörer schweigt.

Im Supermarkt bietet jemand an der Kasse einem anderen jemand Geld für zwei Rollen Klopapier. Das Angebot wird einfach überhört. Ein Edeka Mitarbeiter sagt dem Anbietendem, dass heute Nachmittag neues Klopapier kommt (wir kaufen Saft und vegane Burger und bisschen Obst und Gemüse; extra kein Klopapier und keine Nudeln).

Wir treffen Daniel und Judith. Judith hat ein Baby und sagt, dass das Zuhausebleiben einfach wie sehr langes Wochenbett sei. Das verstehe ich nicht richtig.

Charlotte, Bonn
Aufwachen. Die ersten 30 Sekunden sind immer die besten des Tages, weil ich solange brauche, um mich daran zu erinnern, was gerade los ist. Seit gestern bin ich im Home-Office. Das ist eine enorme Umstellung, bislang haben wir eng im Team gearbeitet. Jetzt gibt es zwar einen Chat, aber darin passiert nicht viel. Wir müssen erstmal unsere Abläufe einstellen. Und technische Probleme sind da auch, nicht gerade wenige. Mein Mann arbeitet noch im Büro, also sitze ich alleine im Home-Office. Es ist seltsam, dass der Arbeitsplatz jetzt direkt neben dem Schlafzimmer liegt. Ich lese regelmäßig twitter und merke, dass es nicht gut tut, ich es aber auch nicht lassen kann. Jede*r postet ständig Artikel wie es jetzt weitergehen könnte. Es entstehen Diskussionen über Fake-News, die heute keine Fake-News mehr sind. Alle regen sich auf, niemand weiß genaues. Das ständige Updaten tut mir nicht gut, gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich könnte etwas “Wichtiges” verpassen. Aber was ist denn gerade “wichtig”? Gegen Mittag höre ich den neuesten Corona-Virus-Update-Podcast und wage mich hinaus. So ein paar Einkäufe will man dann ja doch erledigen. Auf dem Weg zum Supermarkt achte ich kleinlichst darauf, dass mir niemand zu nahe kommt, an der Ampel nähert sich mir dann trotzdem ein Mann, obwohl ich versuche ihm auszuweichen. Ich mache die

Social-Distancing-Playlist auf Spotify an, sehr eklektisch.

https://open.spotify.com/playlist/0uJbw1w5FtiC1RGcRlFpgv?si=eGxN3k8OTiu1ALv5SesIVw

Im Supermarkt ist eigentlich alles wie immer, auch wenn es hier das zu sehen gibt, was ich schon von Fotos auf twitter kenne: leere Regale bei gewissen Produkten. Aber alle versuchen möglichst nett zueinander zu sein. An der Supermarktkasse telefoniert eine Frau, es geht um Nachschreibetermine und das Schulministerium und ich versuche niemandem nahe zu kommen, aber die zwei Meter Abstand, die empfohlen werden, hält niemand ein. Auf dem Weg zurück ins Home-Office schreibe ich Freunden, aber der Ausnahmezustand ist nicht wirklich spürbar. Es sind allerdings weniger Menschen unterwegs und ich habe das Gefühl, die Sirene der Polizei nebenan geht in letzter Zeit öfters als sonst, aber vielleicht bin ich auch nur viel sensibler dafür geworden. Abends registriere ich mich für eine Studie der Ruhr-Universität Bochum, die herausfinden will, wie sich unser Erleben und Verhalten gerade über die Zeit verändert. Bislang planen sie mit vier Tagen, die die Studie dauern soll.

https://covid-19-psych.formr.org/

Anna, Berlin
Ich denke gerade sehr viel über Freiheit nach. Freiheit in all der Vielfalt, die dieses Wort beinhaltet. Unsere Freiheit ist mehr und mehr eingeschränkt, ist ja auch erstmal gut so, es ist wichtig, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, usw usf. Aber wie viel Freiheit wir plötzlich aufgeben. Es trifft mich. Es schnürt sich eng um meine Brust. Für wie lange wird das gehen? Wann dürfen wir wieder? Reisen, umarmen, Essen gehen, all diese kleinen Luxusmomente? Und Eltern, wann dürfen sie wieder etwas zusammen ohne die (kleinen) Kinder unternehmen? Ins Kino, Date Night, einfach raus? Sonst haben immer Oma und Opa aufgepasst, aber jetzt, tja, Risiko.

Wann wird die Freiheit wiederkommen? Und wie? Auf einen Schlag? Nach und nach? Werden wir sie uns erkämpfen müssen?

Viktor, Frankfurt
Seit Tagen Diskussionen über Freiheit und was die richtigen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus’ sind.

Heute schrieb mir eine gute Freundin, (über 60 Jahre, DDR-Flüchtling), dass sie lieber am Virus sterbe als in einer Notstandsverordnungsgesellschaft zu leben.  Sie schrieb auch “Ich werde die Grundsätze der Aufklärung niemals aufgeben”. Mich beschäftigt das. Ich frage mich, ob die naturwissenschaftliche Aufklärung, also das Wissen über das Virus, nicht auch ein Teil der Aufklärung ist? Mediziner und Naturwissenschaftler können sagen – oder zum jetzigen Zeitpunkt wohl auch nur vermuten – was gegen das Virus hilft, aber die entsprechenden Maßnahmen umsetzen müssen dann Politiker:innen. Und hier steckt ein gesellschaftlicher Konflikt. Mein Nachbar ist selbstständiger Optiker, er hat drei Kinder, er weiß nicht, wie er die nächsten Monate überstehen soll …

Wütend machen mich Gerüchte und Verschwörungstheorien. Wütend macht mich auch, dass viele Menschen sich nicht informieren, Unsicherheit nicht aushalten können und dann ihre Unsicherheit mit einfachen, realitätsfernen Erklärungen beruhigen.

18.3.2020

Marie Isabel, Dunfermline
Mein Flug nach Deutschland wurde abgesagt. Das schon gebuchte Brahms-Konzert auch. Erstattungen erfolgen automatisch oder lassen sich leicht online vornehmen. Sogar die sonst nicht als mildtätig bekannte Deutsche Bahn macht einem Hoffnung … Die Welt ist wirklich aus den Fugen. Im hiesigen Supermarkt klaffen die gleichen Regallücken wie in Deutschland: kein Toilettenpapier (ich verstehe es immer noch nicht), wenig Tiefgefrorenes, null Spaghetti … An der Kasse meint ein Mann, in anderen Ländern seien leere Regale alltäglich, wir daran nur nicht gewöhnt. Ich nicke der Einfachheit halber. Es wäre zu umständlich, ihm zu erklären, wie beeindruckt ich Anfang 1990 war, als ich (DDR-Kind) zum ersten Mal in einen westdeutschen Supermarkt ging. Wann werde ich meine Familie wiedersehen? Ich sorge mich um sie. Sie sich um mich. Wie letztes Jahr um diese Zeit, als ich mitten in der Chemotherapie steckte. Im Nachhinein wirkt das wie ein Intensivvorbereitungskurs für die Pandemie: Menschenansammlungen meiden, ausreichenden Abstand von Hustenden halten, Hände gründlich waschen, im Zweifelsfall daheim bleiben, regelmäßig die Körpertemperatur messen, etc. Ich denke momentan viel an all jene, die sich jetzt in einer solchen oder ähnlichen Situation befinden, die besonders verletzlich sind … Als würde einem der Krebs nicht schon genug Angst machen. Ich hoffe, sie verbringen nicht allzu viel Zeit online oder vor dem Fernseher, wo es momentan eigentlich nur eine Nachricht zu geben scheint. Auf Twitter sehe ich, dass dank Little Miss Corona (wie eine Survivor aus meinem Bekanntenkreis Covid-19 nennt) der Sehnsuchtsort Venedig nun eine Geisterstadt ist – mit plötzlich wieder klarem Wasser in den Kanälen, bevölkert von Schwänen.

Ich kann das erleichterte Seufzen der Erde förmlich hören. Manche Zeitung schwelgt derweil in postapokalyptischen Szenarien, die uns in Folge der Pandemie bevorstehen könnten.

Es gibt Journalisten, die sollten vielleicht doch besser schlechte Literatur schreiben. Und es gibt Premierminister, die hätten lieber bei ihrem Zeitungsjob bleiben sollen. Dann würde so jemand wie Boris Johnson nicht in diesem Amt verkünden, dass aufgrund des neuen Virus „noch viel mehr Familien geliebte Menschen zu früh verlieren werden“. Ein Satz, der in meinem Kopf wider- und widerhallt, wie in einer Echokammer.

Nabard, Bonn
Studientage dienen dem Eigenstudium und sollen von Studierenden genutzt werden, praktisch erlerntes theoretisch zu festigen. So viel zur Theorie. Ich nutze die Zeit um einen Zahnarzttermin wahrzunehmen. Die Straßenbahn fährt jetzt nach einem gesonderten Fahrplan. Hätte man mir gerne früher sagen sollen aber sei’s drum. Bin eh zu spät. Heute kam eine email, dass sollte es zu einer Ausgangssperre komme wir von unserem Krankenhaus eine Bescheinigung erhalten auch außerhalb der Sperrzeiten rausgehen zu dürfen. Zu meiner linken fließt der Rhein, ganz ruhig und wir überqueren die Konrad Adenauer Brücke. Ich selbst bin aufgewühlt und habe eine innere Unruhe. In den Nachrichten taucht jetzt vermehrt Professor Streeck auf, Virologe aus Bonn. Irgendwie entwickeln wir gerade eine Obsession zu Virologen. Problem ist nur, sie alle sind keine Kliniker. Was soll’s.

Die ganze Zeit begleiten mich Jay Electronica und Jay Z. Die passende Musik für so einen morgen.

Viktor, Frankfurt
Immer wieder fasziniert, wie schnell in Krisen oder Stresssituationen Humor eine besondere Rolle im Alltag einnimmt. Menschen posten Bilder, wie sie in der Dusche – angekleidet, Kopfhörer im Ohr – wie in einer Straßenbahn stehen; Menschen witzeln über strikte Struktur für den besonderen Alltag, tragen in den Kalender ein “evtl. duschen” ein

Andere verzweifeln, weil sie als Ärzte zerrissen sind zwischen Fürsorge für die Familie und gesellschaftlicher Aufgabe

Berit, Greifswald
Von einem besorgten älteren Verwandten aus Island bekommen wir auf Facebook ein Video mit einem “todsicheren Trick” um Corona-Viren zu bekämpfen. Ich schaue es mir komplett an. Es dauert mehrere Minuten und ist erstaunlich professionell produziert. Gegen hitzeempfindliche Viren soll es angeblich helfen, sich mit dem heißen Fön ins Gesicht zu blasen und die Viren so zu töten. Dazwischen soll man sich mit der Pflanzenspritze Wasser ins Gesicht spritzen, damit die Haut nicht geschädigt wird. Ich muss lachen, bei der Vorstellung, dass sich gerade viele Menschen mit dem Fön selbst behandeln. Angst geht seltsame Bahnen und wir sind wahrscheinlich alle gerade empfänglich für falsche Informationen und dumme Tipps. Es gibt einem das Gefühl etwas Handlungsmacht zu haben. Wir schreiben freundlich zurück, dass dieses Video nicht wissenschaftsbasiert ist. Vielleicht haben wir die virale Ausbreitung dieses Videos so zumindest an einem Zweig gestoppt.

Birte, Darmstadt
Heute auf dem Markt die Choreographie des neuen Körperregimes. Lange Abstandschlangen im Sonnenschein, die sich langsam und aneinander vorbei bewegen. Schlecht damit zurecht zu kommen scheinen mir all jene, die auch sonst nicht darüber nachdenken, wo ihr Körper anfängt und wo er endet.

Das erste Mal seit mein Sohn sehr klein war, sind wir mindestens fünf Wochen zusammen, keiner muss wegfahren oder morgens zur Schule. Noch ist das Homeoffice ein ohnehin eingeübter Zustand, noch macht er nicht mürbe, noch haben wir Phantasien, wie wir uns schöne Momente schaffen. Unsere Wohnung ermöglicht Alleinsein, draußen auf dem Balkon zu sitzen. Luxus, den wir jetzt deutlicher sehen.

Ich frage mich, ob ich ungeduldiger bin, mit schlecht komponierten Texten, wie dem zu Freiheitseinschränkungen in der Süddeutschen, mit den Appell-Tweets, die jetzt meinen oder schon immer meinten zu wissen, was das richtige ist. Früher haben sie mich gelangweilt, jetzt finde ich sie kaum erträglich.

Sorge bereitet mir die Situation in Großbritannien. Norbert Kraas aka @reclamekaspar hat dazu heute morgen einen so bitteren wie guten Text der Schriftstellerin A. L. Kennedy verschickt.

Mein vor drei Tagen aus Österreich zurückgekehrter Nachbar läuft an meinem Balkon vorbei. Da sitze ich beim Arbeiten und komme mir vor wie Frederick aus dem Kinderbuch von Leo Lionni. Den Plan haben wir für heute ausgesetzt.

Berit, Greifswald
Island ist sehr stark von den Unmengen an Tourist*innen abhängig, die entscheidend daran beteiligt waren, dass das Land die Wirtschaftskrise von 2008 relativ gut überstanden hat. Der Wegfall dieser Touristen in Zeiten von Corona wird Island sehr hart treffen, die Folgen sind noch nicht absehbar. Die notorisch instabile isländische Krone ist bereits um 15% gefallen – das Gehalt meines Mannes, der für eine isländische Universität arbeitet, ist somit von einem Tag auf den anderen um 15% gesunken. Wir hoffen, dass es nicht noch mehr wird. Viele meiner Lesungen und Veranstaltungen sind ausgefallen oder abgesagt, mittlerweile fehlen Honorare im vierstelligen Bereich. Zumindest bleibt meine halbe Stelle an der Universität uns als Quelle eines stabilen Einkommens noch bis ins Frühjahr 2021 erhalten.

Simon, Freiburg
Mich irritieren im Moment Zahlen. Einerseits suche ich sie, weil das handfeste Anker für Entwicklungen im Chaos sind, andererseits verunsichern sie mich; und vor allem verwirren sie mich. Der Spiegel Online veröffentlicht einen Artikel mit Fallzahlen vom 14. März, ich werde wütend, weil ich diese Zahlen seit vier Tagen kenne, was soll mir das bringen? Die Johns Hopkins University veröffentlicht permanent deutlich höhere Zahlen als das Robert-Koch-Institut, gleichzeitig beobachte ich die Fallzahlen in meiner näheren Umgebung und dort, wo Familie und Freund*innen leben. Und bei all dem weiß ich, dass das sowieso nur identifizierte Fälle sind und dass Schätzungen davon ausgehen, dass ⅓ der Infizierten symptomlos bleibt. Eine Studie spricht von 7-10x so vielen Infizierten wie die offiziellen Zahlen anzeigen. Hier, schon wieder, Zahlen. Dann höre ich wie Christian Drosten Prozentzahlen einer britischen Schätzstudie zitiert, die er bei aller Vorsicht, die er deutlich ausdrückt, für relevant hält. Die Prozentzahlen klingen beruhigend, Krankenhausaufenthalte nur bei sehr niedrigen Prozentzahlen überhaupt nötig, intensivmedizinische Betreuung bei noch weniger, ich fahre innerlich herunter – dann nennt er die Studie alarmierend. Ich bin verwirrt, auch wenn ich verstehe, dass Prozentzahlen und und tatsächliche Zahlen in der Realität etwas anderes sind. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte einen Tick weniger Informationen.

Slata, München
In aufgeregten Diskussionen bei facebook, etwa unter Beschlüssen des OB, Polizeiberichten, Rathausinformationen, finden sich ältere Frauen, die sich über Kinder auf Spielplätzen, Jugendliche in Parks beschweren, die zuständigen Ämter darauf aufmerksam machen wollen. Die stecken doch einander an, verbreiten es weiter, sie spielen, als ob da nichts wäre, wo sind ihre Eltern eigentlich, sind Eltern nicht für ihre Kinder verantwortlich.

Svenja, Köln
Schreibt man Grußformeln? Hallo! Bei uns hat das Semester bereits angefangen (Niedersachsen, formerly Fachhochschule). Weil ich in dieser Woche auf einer Spring Academy in Portugal sein sollte, fielen die Seminare geplant aus bzw. die Studierenden waren mit Essay- und Rechercheaufgaben versorgt. Jetzt versuche ich eine Onlinelehre zu planen; das textlastigere Fan-Seminar mit älteren Studierenden lässt sich gut mit Skype oder Zoom durchführen, Text-Diskussionen werden als Chats durchgeführt, wir haben keine social-reading-Plattform und ich greife mit schlechtem Gewissen auf googledrive und die integrierte App Kami zurück: PDFs können geteilt und dann gemeinsam gelesen und kommentiert werden. Schenke ich google dafür alle meine Daten? Vermutlich. Ironie: Herhalten müssen zunächst Adornos Gedanken zu leichter Musik. Sorgen mache ich mir um jüngere und fremdsprachigere Studierende: Ist diese Form des Unterrichts überfordernd?

Dann versuche ich einen Leitfaden zur Onlinelehre zu formulieren: Richtet einen Arbeitsplatz ein (Laptop, Kopfhörer, Papier+Stift). Informiert Eure Mitbewohner:innen über die Seminarzeit. Wenn es geht: Schließt die Zimmertür. Ladet das Material vorher runter. Bereitet Euch vor. Seid weiterhin pünktlich. Strukturen helfen uns allen. Verlasst Euch bei Gruppenaufgaben aufeinander und seid verlässlich. Aber auch: Niemand erwartet, dass das das beste Semester Eures Lebens wird.

Slata, München
Da kommt das Ökonomische ins Spiel, hätten wir, ja wären wir, stell dir vor, wir, jeder in seinem Arbeitszimmer, das Kind in seinem Spielzimmer irgendwo im zweiten Stock, in einem großen, hellen, gut eingerichteten, in so einem Zimmer könnte man Monate verbringen, ohne irgendwas zu vermissen, alles nach Bedürfnis und Geschmack und es hat einfach Stil, mit viel Luft unter hohen Decken, und abends essen wir gemeinsam auf der Veranda, so guter stabiler Holztisch, passendes Geschirr, hübsche Servietten, so ikeamäßig, alle lächeln und genießen und haben sich total gern, egal, wie lange die Quarantäne noch dauern sollte, wir zufrieden mit allem, was wir in unseren Arbeitszimmern geschafft haben den Tag lang, das Kind total happy, endlich ein paar Wochen allein Lego zu spielen, in seinem Zimmer mit Stil, dann räumen wir zusammen vom Tisch ab, denn wir machen so gerne alles zusammen.

Andrea, Tübingen
So langsam spiegelt sich die neue Situation auch in neuen Formaten wie hier etwa in “Die Zeit”:

Als ich das gesehen habe, habe ich spontan gedacht (& dann auch geantwortet), dass für mich die größte Umstellung in der Lehre liegen wird, nicht im wissenschaftlichen Arbeiten. Bei Letzterem sehe ich einfach Hürden, wenn die Bibliotheken zu sind. Da können wir Wissenschaftler*innen uns gegenseitig ein wenig aushelfen, aber vieles wird nicht greifbar sein. In der Lehre hat sich das bei mir aber auch entwickelt: Nach einer aktivistischen Phase, was die Umstellung auf online-Lehre betrifft, bin ich jetzt wieder stärker im Lese-Vorbereitungsmodus. Ich habe viele Links abgespeichert und kann mir das alles noch rechtzeitig in den nächsten Wochen ansehen und anlernen, falls am 20.4. tatsächlich unser Semester mit online-Teaching gestartet werden soll, aber eigentlich warte ich jetzt erstmal auf weitere Informationen für uns Lehrende. Relaxter bin ich vor allem, seit ich mir klar gemacht habe, dass es eben nicht darum gehen kann, Präsenzlehre vollständig durch tools in online-Lehre umzusetzen, sondern auch darum andere Formate zu finden. Und da habe ich Ideen & denke am Material entlang, mit dem ich mich gerade beschäftige. Gleichzeitig bin ich weiterhin über den ganzen Tag immer wieder auf Twitter. Ich verstehe, wen das eher nervös macht. Mir tut es gut. Zu sehen, dass es ähnliche Schwierigkeiten gibt im Umfeld, aber auch, um Neuigkeiten zu erfahren und zu teilen – z.B. heute eine Petition für den Schutz und die Unterstützung von Pflegekräften auf change.org. Vor allem aber bin ich dort vernetzt und bekomme neben Infos auch emotionalen Halt.

Marie Isabel, Dunfermline
Meine Schwiegermutter teilt mit mir per WhatsApp ihre Begeisterung über den irischen Premier Varadkar. Dessen gestrige Rede zur derzeitigen Situation machte auch auf Twitter die Runde. Mit Blick darauf, dass ältere und chronisch kranke Menschen in naher Zukunft gebeten werden sollen, daheim zu bleiben, sprach er nicht von Selbstisolation – was technokratisch klingt, kalt, einsam – sondern von cocooning, was man als Rückzug an einen sicheren Ort übersetzen könnte, aber auch anders verstehen: als ein wärmendes Sich-Einspinnen, ein Verpuppen. Ich schwanke zwischen Grusel und Wohlgefallen. Meine Schwiegermutter jedenfalls verabschiedet sich wohlgestimmt und beruhigter mit Grüßen aus ihrem ‘Kokon’. Was Worte doch für einen Unterschied machen. Von ‘Superhelden’ sprach Varadkar ebenfalls und meinte damit jene, die die medizinische Versorgung der Bevölkerung stemmen. Überhaupt war diese Rede so ganz anders als die Äußerungen ‘führender’ Politiker wie Johnson, Trump, Macron: ehrlich und ohne den Ernst der Lage herunterzuspielen, aber gleichzeitig voller Zuversicht und Dankbarkeit angesichts dessen, was die Menschen bereits leisten. Gegen übertriebene Angst und für ein weltweites, solidarisches Miteinander. Letzteres sieht der britische Außenminister, Dominic Raab, übrigens als besten Ansporn, die Brexitverhandlungen ohne Verzögerung Ende 2020 abzuschließen. Ist das Wahnsinn oder hat es Methode? Gerade meldet die BBC mittlerweile 104 Tote in Großbritannien.

https://www.irishtimes.com/news/ireland/irish-news/coronavirus-many-of-you-are-feeling-scared-full-text-of-varadkar-speech-1.4205405

https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/coronavirus-brexit-dominic-raab-uk-cuba-foreign-secretary-a9406736.html

Svenja, Köln
Ich bin irritiert davon, wie schnell ich diesen Status als neue Lebensrealität akzeptiere. Schon jetzt schaue ich Serien und denke automatisch: Warum treffen die sich diese Figuren? Warum sind sie gemeinsam auf der Straße unterwegs? Hat da jemand geniest?

Ein befreundeter Wissenschaftler schreibt, dass sich sein Alltag nicht besonders verändert hat – vielleicht liegt es daran, vielleicht sitzen wir (Single, kinderlos, promovierend) sowieso ständig alleine daheim. Ich teile das Zimmer, in dem ich wohne, arbeite, koche und schlafe nur mit ein paar Kompostwürmern, die meinen Biomüll zu wertvollem Pflanzendünger verarbeiten. Die meisten Menschen halten Würmer für unrein, meine leben in einem sehr eleganten Tongefäß. Gestern mischte ich ihnen – vielleicht als Soulfood gegen die Krise – viele Sellerieblätter unter die Erde. Meine eigenen Hummusvorräte neigen sich dem Ende.

Magda, Berlin
Der Berliner Senat hat beschlossen, dass neben Lebensmittelgeschäften, Apotheken, Baumärkten und zahlreichen anderen Ausnahmen auch Buchhandlungen systemrelevant sind und daher geöffnet bleiben dürfen. Aus der Chefetage kommt daher die Anordnung, dass auch wir vorerst offen bleiben. Im Team vor Ort stößt das auf wenig Begeisterung, die meisten mit uns kommen mit einem flauen Gefühl im Magen zu ihrer Schicht. Die meisten Kund*innen sind freundlich und freuen sich, dass wir noch auf sind, aber längst nicht alle halten sich an die empfohlenen Sicherheitsabstände und ALLE FASSEN SICH STÄNDIG INS GESICHT.

Auch oder vielleicht gerade weil ich bis auf weiteres meine Schichten im Einzelhandel ganz normal absolvieren muss, bin ich dauerhaft angespannt, kann mich zuhause auf nichts konzentrieren, habe ständig Kopfweh und Nackenschmerzen. Twitter ist mein Outlet für all den Frust, ich neige momentan deutlich mehr zum Oversharing als sonst.

Jan, Hannover
Seit einigen Tagen sind die Straßen so menschenleer wie auf den Captcha-Bildern. I am not a robot. Mein kleiner Hund (bekannt unter dem Namen Kleiner Hund) zieht auf dem Bürgersteig fröhlich nach vorne. Dreimal am Tag muss er raus, morgens und abends jeweils kurz, nachmittags lang, bei jedem Wetter, bei jeder Krankheit. Daran ändert auch Corona nichts. Wie Flugzeuge, die in Warteschleife über dem Flughafen kreisen, drehen wir Hundeleute also unsere Runden durch die einschlägigen Parks, stapfen die angelegten Wege entlang und halten respektvoll Sicherheitsabstand voneinander. Wo man früher kurz zusammengestanden und geplauscht hätte, winkt man sich nun von ferne zu. Die Hunde wollen sich beschnüffeln, miteinander herumtollen oder sich zurechtweisen, sie verstehen Social Distancing nicht. Manchmal tritt dann doch ein dazugehöriges Herrchen oder Frauchen zu einem, allem Abstandhalten zum Trotz. Das sind die, die Dir ungefragt erzählen wollen, wie übertrieben alles sei. Auch die Menschen verstehen Social Distancing manchmal nicht. Aber es hilft ja alles nichts, die Tiere müssen raus, sie müssen bewegt und geleert werden, sonst werden sie rammdösig oder kommen auf schlechte Ideen. Sollte es zu einer Ausgangssperre kommen, wird es hoffentlich geeignete Regelungen für Hund-Mensch-Gespanne geben, denn beim Fußball wie in der Hundehaltung gilt: You’ll never walk alone.

Viktor, Frankfurt
Spannend zu sehen, wie jeder einzelne Mensch in meinem Umfeld die Corona-Krise vor allem durch die eigene Prägung wahrnimmt und das in Diskussionen nie eine Rolle spielt. (Gilt auch für mich, hier schreibe ich das aber mal auf.) Persönliche Erfahrungen mit Krisen lassen diese Situation ganz unterschiedlich wahrnehmen. Ich höre sehr oft “Ich glaube, dass …” in den Gesprächen über Corona. Aber was nützt jetzt, etwas zu glauben?

Zugleich ist es auch möglich, sich auf einen Punkt zu einigen: Viele Menschen halten Unsicherheit/Ungewissheit nicht aus und sehnen sich nach einfachen, vielleicht realitätsfernen, aber vorstellbaren Antworten und Erklärungen für das, was da passiert.

Tilman, Hamburg
Das gibt es also wirklich, nicht nur in der Zeitung oder auf Twitter. Gestern hatte mir jemand per Whatapp geschrieben, seine Schwester habe von einer Freundin, die es wiederum von jemandem aus dem “Poltikbetrieb” in Berlin habe, gehört es soll Ausgangssperren geben. Morgens hört man dann, dass abends die Kanzlerin eine Fernsehansprache gibt. “Passt ja alles!!”, denkt man da und am Ende passt es doch nicht.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (1)

In diesem kollektiven Tagebuch wollen wir sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. Dazu werden wir kleine Gedankenmiszellen sammeln und versuchen Tweets, die uns signifikant vorkommen oder bestimmte Entwicklungen besonders gut oder interessant zusammenfassen, zu sammeln und zu kommentieren. Der flüchtige und schnelle Diskurs in den sozialen Medien bildet einerseits gesellschaftliche Dynamiken rasch und intensiv ab, andererseits stellt er ein gravierendes archivarisches Problem dar, weil sich die Verläufe kaum nachträglich abbilden lassen. Deswegen soll hier der Versuch unternommen werden, diese Eindrücke (mit Verlinkungen zu eigenen und fremden Tweets) zu sammeln – soziale Distanz und sozialmediale Nähe. Eine Zusammenfassung wird wöchentlich auf 54Books erscheinen.

Woche 1: 9. März bis 15. März

11.3.2020

Berit, Greifswald
Wie bringt man geliebten älteren Menschen bei, dass sie sich von Menschenmengen und Veranstaltungen fernhalten sollen? Das Thema Autonomie versus Sorge treibt nicht nur in den sozialen Medien viele Menschen um. Ich rufe mehrfach bei meinen Eltern an und bitte sie unnötige Termine abzusagen. Es ist eine interessante Umkehrung der Verhältnisse plötzlich das besorgte Kind zu sein, dass auf die Eltern einredet und um Vorsicht bittet. Mit diesem Gefühl scheine ich nicht allein zu sein und das hilft mir. Wir rufen auch unsere isländische Familie an. Mein Schwiegervater ist Taxifahrer, wir sorgen uns um ihn, der bei seiner Arbeit mit vielen weitgereisten Menschen in Kontakt kommt. Er hat beschlossen sich für eine Weile aus dem aktiven Geschäft zurückzuziehen, doch wie soll er dann den neuen Wagen bezahlen, den er gerade erst angeschafft hat?

12.3.2010

Johannes, Bonn 
Es ist folgerichtig, dass auch diese Krise nicht auskommt, ohne rätselhafte Erotisierungen. Fast scheint es eine anthropologische Grundkonstante zu sein, dass man mit Teilaspekten einer Bedrohlichen Situation seinen sexy Schabernack treibt. Und so musste und muss der gerade beruhigend allgegenwärtige Virologe Christian Drosten (oder wie das Netz ihn geiernd nennt Prof. Dr. Christian Drosten) für allerlei Projektionen und halb ironische Schelmereien herhalten. Eros und Thanatos liegen eben doch eng beisammen.

(Nachtrag 14.3.2020) Aber ach, auch dieser harmlose Spaß bleibt nicht harmlos. Sachte Kritik an diesem leicht ins Personenkultige abgleitenden Spiel wurde sofort mit einer Flut von empörten schnappatmenden Kommentaren überschüttet.

13.3.2020

Elisa, Berlin
hab ausser 1 pkg klopapier noch nichts eingekauft, gehöre zu diesen maximalüberforderten.
aber verstehe ich richtig: geschäfte (jdf supermärkte) bleiben geöffnet, die müllabfuhr kommt weiterhin + die briefe der inkasso-unternehmen erreichten mich auch noch im entlegensten lazarett?
ok den hafer flat triple shot muss ich mir bis auf weiteres wohl selbst zubereiten. aber jetzt ist eben der punkt erreicht für maßnahmen die weh tun

Johannes, Bonn
Selten so viel über Klopapier gelesen und damit zwangsläufig auch nachgedacht. Es funktioniert wahrscheinlich so. Die meisten Menschen haben gar nicht geplant, eine Menge Klopapier zu hamstern (auch ein Wort, das später, wenn alles vorbei ist, als parodistischer/nostalgischer Nachklang an unserer Sprache kleben bleiben wird), aber wenn man hört, das Klopapier wird knapp, gerät man in Panik, und beginnt selber zu hamstern. Gleichzeitig auch Kaufscham, Panik vor der Panik. Inzwischen werden leere Regale zur ikonischen Trophäe auf Social Media. So entstehen Bilder der Zeit, durch visuelle Verdichtung des immer gleichen Bildwitzes. Schaut mal, bei mir im Rewe gibt es auch kein Barilla mehr. Gleichzeitig regen sich aber auch kritische Stimmen, die auf die Multiplikatorfunktion dieser Bilder verweisen.

14.3.2020

Berit, Greifswald
In den sozialen Medien sprechen alle über Toilettenpapier. Nudeln und Klopapier scheinen zu wichtigen Objekten zu werden, anhand derer sich einerseits die Sorge hamsternder Menschen ausdrückt und andererseits der Spott darüber. Die Tweets sind so zahlreich, dass es zu Ermüdungserscheinungen kommt. Mit den angekündigten Schulschließungen bereiten sich Eltern darauf vor wochenlang ihre Kinder zu Hause zu betreuen und dabei schwirren die absurdesten Ideen und Lösungsvorschläge umher. Wir überlegen, wie wir die nächsten Wochen mit drei Kindern ohne Betreuung durch Schule und Kita zu gestalten. Alle  Kinder haben einen Atemwegsinfekt mit leichtem Fieber, sie erkranken nacheinander. Bei jedem Husten der Gedanke an den Virus, vielleicht haben wir ihn schon? Ich bin froh, dass ich vor zwei Wochen bereits unsere Fiebersaftvorräte aufgestockt habe.

Sonja, Köln
Eine Sprachnachricht auf Whatsapp geht rum. Eine Nachricht von der “Mama vom Poldi”:
„Hallo, liebe Isabella, hier ist die Elisabeth, die Mama vom Poldi. Ich wollte dir nur kurz eine Information zukommen lassen, bei der ich dich auch bitten würden, dass du sie weiterverteilst, weitergibst und auch bittest sie weiterzugeben. Ne Freundin von mir ist an der Uniklinik in Wien, die hat mich heute angerufen und die hab’n halt mal so’n bisschen Forschung betrieben, warum in Italien so viele so heftige Coronafälle aufgetreten sind…“

Jemand schreibt in die Whatsappgruppe:
“In Wien wurde herausgefunden aber nicht offiziell das Ibuprofen corona begünstigt.  Also lieber Paracetamol nehmen wenn jemand Schmerzen derzeit hat.”

In der gleichen Whatsappgruppe wird uns von jemand anderem ein wenig später kommentarlos der “Coronacodex”, eine Aufforderung zur “Selbstverpflichtung während der Covid-19-Epidemie”, weitergeleitet:

https://medium.com/@holger.heinze_81247/coronacodex-meine-selbstverpflichtung-während-der-covid-19-epidemie-f6eecf35a174

Eine Frau aus der Gruppe schreibt darunter: “Sorry aber das ist nicht meine Welt… :)”

Tilman, Hamburg
Man soll ja unbedingt vor die Tür. Als wir auf Daniel warten, laufen an uns zwei Männer vorbei, die heftig streiten. Ich vermute, sie sind aus einer Kneipe geflogen, dabei ist es bereits 11 Uhr. Der eine redet auf den anderen ein, das würde nie wieder passieren. Ständig würde er das versprechen, entgegnet er, und dann würde es doch wieder passieren.
Mit Daniel gehen wir in diesen neuen Kaffeeladen am Grünen Jäger, der gar nicht mehr so neu ist und dort, wo früher der Blumenladen war von der unfreundlichen Frau, die angeblich früher mal Prostituierte war. Dort läuft Metal. Niemand ist im Laden. Wir nehmen zwei Cappucino mit Hafermilch, Daniel möchte einen Kakao. Dann laufen wir Richtung Planten un Blomen. Metal in einem Coffee Shop ist auch wirklich die unwirtlichste Musik. Irgendwie wäre ich deswegen gerne geblieben.

Matthias, Jena
Es ist vermutlich Zufall, aber ich werde gerade mit Korrekturaufträgen überschüttet und alles andere, was ich so beruflich mache, läuft auch weiter. Ich arbeite ohnehin seit 2017 fast nur zuhause, es sind Semesterferien (und als Lehrbeauftragter betrifft das ja auch nur zwei Stunden die Woche), von Februar bis zur vorletzten Aprilwoche habe ich nur einen einzigen bezahlten Termin verloren, wir haben keine Kinder. Mir kommt es fast unwirklich vor, da um mich herum das Leben mehr oder minder aller auf den Kopf gestellt wird, sich aber für mich nichts ändert, außer, dass meine Frau jetzt auch zuhause arbeitet. Ich habe richtig viel zu tun und am Mittwoch eine Deadline. Wie merkwürdig, dass das bleibt, mitten im Ausnahmezustand.
Soziale Medien machen mir mehr zu schaffen als sonst schon. Ich komme nicht gut damit klar, wie einfach und radikal die Situation für einige zu bewerten ist und wie egal Tatsachen sind. Es ist, als wäre sich das halbe Internet einig, dass Deutschland ein völlig rappeliges, »kaputtgespartes« Gesundheitssystem hat, was keine Kennzahl im geringsten hergibt, dass irgendwie »der Neoliberalismus« schuld an allem ist und jetzt die natürliche Chance ist, den herbeigesehnten Sozialismus einzuführen, und wie schon mein ganzes erwachsenes Leben denke ich auch jetzt, dass diese Leute doch sicher irgendetwas besser verstanden haben müssen als ich, dass sie irgendwie Recht haben müssen und ich nur zu dumm bin, während sich gleichzeitig irgendetwas in mir auflehnt und ich mit ihnen diskutieren will. Ich hatte einmal einen linksradikalen Mitbewohner, der zu einer der letzten Grippewellen meinte, die Bundesregierung hätte lieber ein paar zehntausend Tote riskieren als sich von der Pharmaindustrie erpressen lassen sollen, Tamiflu und Impfstoffe zu bunkern. Immerhin höre ich diesmal nichts in die Richtung.

15.3.2020

Berit, Greifswald
Der Corona-Virus verbreitet sich in Europa und mittlerweile befinden sich immer mehr Menschen in selbst verordneter Distanz, Schulen und öffentliche Einrichtungen sind ab Montag geschlossen, Krankenhäuser bereiten sich auf den Ansturm vor. Im Internet und auch in Interviews werden plötzlich Dinge denk- und sagbar: Macron hinterfragt den Neoliberalismus, es wird von Verstaatlichung gesprochen, gräßlicherweise wird Eugenik wieder ein Thema. In Italien singen die Menschen im Lockdown von den Balkonen, was zu Rührung und Witzeleien einlädt.

Andrea, Tübingen 
Die Formulierung die Lage sei “dynamisch” höre ich schon eine Weile, nun wird sie greifbar: Durch die neuen Maßnahmen, die die Bundesländer ergreifen, vor allem die Schulschließungen, aber auch die vielen Absagen von Veranstaltungen, neue Regelungen für Kneipen etc. Es sind bestimmte Massenveranstaltungen, die man im Nachhinein als besonders kritisch erkennen kann, dazu gehört auch der Fasching, den man wegen Hanau sowieso hätte absagen müssen! Auf Twitter werden Bilder von Menschenmassen geteilt, die so tun, als wäre erst ab Montag Krise, und es gibt Menschen, die offenbar einfach jede Regelung als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit ansehen. Dabei geht es um unsere Verantwortung.

Photo by Cassie Boca on Unsplash

Kulturkonsum 1/20

Wir starten eine neue Rubrik! Unter dem Titel “Kulturkonsum” werden wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vorstellen, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.

Johannes Franzen (@johannes42)

Ich lese gerade jeden Abend in Roger Eberts Sammlung von negativen Filmbesprechungen: I Hated, Hated, Hated This Movie. Ebert war einer der berühmtesten und mächtigsten Filmkritiker der USA, und ich hoffe, diese Information legitimiert irgendwie die Tatsache, dass ich offenbar ein Leser bin, der gerne vor dem Einschlafen Verrisse liest. Dann wiederum ist Ebert ein Meister der Pointe, von dem man viel lernen kann, gerade, weil er sich dem eigenen Ekel vor dem ästhetischen Versagen dieser Filme mit einer gewissen Begeisterung nähert. Hier nur zwei Zitate: “Bad films are easy to make, but a film as unpleasant as Baby Geniuses achieves a kind of grandeur.” Oder: “Horrible movies like this sometimes have a chance of working, in a perverse way, if they bring energy and style to the screen.” Die meisten Filme in diesem Buch sind C-Movie-Blödsinn, der aber ernsthaft rezensiert wird, wie jeder andere Film auch. Fast noch weniger Geduld hat Ebert aber für prätentiöses Kunstkino. Über Jim Jarmuschs Indie-Darling Dead Man heißt es: “Dead Man is a strange, slow, unrewarding movie that provides us with more time to think about its meaning than with meaning.” Ein Satz, der viele meiner köchelnden Ressentiments, die ich gegen diesen Film und seinen Macher lange gehegt habe, endlich auf den Punkt bringt. Zuweilen ist Ebert mit seinen Urteilen zu schnell und grobschlächtig; aber insgesamt ist es immer ein Spaß, ihn zu lesen. Die Besprechungen sind übrigens alle online, und ergeben in ihrer Masse ein veritables Archiv der Filmgeschichte seit den 1970er Jahren.

 

Berit Glanz (@beritmiriam):

Ich habe mir endlich Katamari Damacy Reroll für die Nintendo Switch gekauft, kann aber nur spät abends spielen, weil die Nintendo Switch meinem Kind gehört. Das Spiel hat mich ungefähr 2005 auf der PS2 sehr fasziniert, ich habe sogar eine Zeitlang den Soundtrack rauf und runter gehört. Die Idee, dass man mit einem kleinen Ball (der Katamari), an dem Dinge hängen bleiben, durch die Welt rollt, der Katamari dann größer und größer wird und immer mehr Gegenstände – irgendwann auch Tiere, Autos, Gebäude – aufrollen kann, war so wunderbar absurd. Erst später habe ich gemerkt, dass der Katamari die schönste Metapher für individuelle Lernprozesse ist: Man fängt an mit Büroklammern und Papierschnipseln und arbeitet sich immer weiter vor, bis man irgendwann Riesenräder und Ozeanriesen einrollen kann. Die Steuerung mit der Nintendo Switch ist mir noch etwas fremd, aber ich rolle gerade munter meinen Katamari durch die Straßen, was sich ziemlich beruhigend anfühlt – sehr empfehlenswert!

Christina Dongowski (@tinido):

Ich verfolge seit ein paar Monaten den Plan, mir das Werk Agatha Christie als einer der bedeutenden Autorinnen der literarischen Moderne zu erschließen – und dazu den Romanzyklus Pilgrimage der (in nicht-spezialisierten Leser*innenkreisen leider immernoch ziemlich vergessenen) Mutter der literarischen Moderne, Dorothy Richardson, parallel zu lesen. In Pilgrimage bin ich erst ganz am Anfang (Handlungszeitpunkt jetzt ca. 1910ff): Miriam ist als Lehrerin in ein Mädchen-Internat nach Hannover gegangen – ihre erste Stelle! eigenes Geld! Selbstständigkeit! – und fühlt sich da von der englischen Konventionalität sehr befreit. Ein ziemlich interessante Leseerfahrung, nicht nur wegen des besonderen fließenden Stils Richardson, sondern weil da ganz glaubwürdig das Deutschland Wilhelm Zwos als fortschrittlich und vor allem frauen-fördernd beschrieben wird. 

Christie höre ich momentan vorwiegend. Gerade ist A Murder is Announced dran – ein Miss Marple-Roman. Ich lasse es mir von Joan Hickson vorlesen, der von Agatha Christie selbst als Miss Marple gewünschten Schauspielerin. Eine ganz großartige Einführung in die Welt der Queens of Crime und aktuelle kulturwissenschaftliche Forschung dazu ist der Shedunnit-Podcast von Caroline Crampton. Über sie habe ich auch die Krimis von Gladys Mitchell kennengelernt. Philipp Larkin liebte die sehr, was für ihn spricht. Ich habe gleich zwei davon in wenigen Tagen verschlungen. 

Ein richtiger Augenöffner für mich, im wahrsten Sinne, – und das obwohl ich Angelika Kauffmann schon ganz gut zu kennen glaubte –, ist die große Ausstellung, die ihr gerade der Kunstpalast Düsseldorf ausrichtet. Kauffmann war die berühmteste Malerin des 18. Jahrhunderts (inkl. eigener Fan-Artikel, die auch ausgestellt werden). Die Ausstellung zeigt, dass sie nicht nur als Freak angesehen wurde (eine nicht untypische Rolle für geniale Künstlerinnen), sondern als Maler anerkannt war. Die These der Ausstellung, Kauffmann habe eine eigene Konzeption der Malerei als weiblicher Kunst entwickelt, vor allem in der Darstellung von Heldinnen, lässt sich sehr gut nachvollziehen. Wenn Ihr in der Nähe von Düsseldorf seid, geht hin: It’s a treat – intellektuell, ästhetisch und vom Ausstellungsdesign. Die Ausstellung läuft noch bis 24. Mai.

Simon Sahner (@samsonshirne)

Ich habe im letzten Monat zwei Romane gelesen, die auf sehr unterschiedliche Art das Thema BDSM behandeln. Leona Stahlmann schreibt in ihrem Debüt Der Defekt (Kein & Aber) in der Struktur einer klassischen Coming-of-Age-Story über das Aufwachsen und das langsame Entdecken der eigenen Sexualität in einem Schwarzwalddorf. Die amerikanische Autorin Saskia Vogel erzählt in Permission (Secession) von einer jungen Frau, die im überhitzten Kalifornien um ihren verunglückten Vater trauert und ihre Balance wieder erlangt, als sie anfängt die Mitarbeiterin einer professionellen Domina zu werden. 

Der Defekt ist ein Heimatroman Widerwillen, beinahe mystisch verschränkt die Autorin die Natur der dichten Wälder in Süddeutschland mit körperlichen Ausnahmesituationen zur Lustempfindung. Auch wenn das Leben mit einem vermeintlichen Defekt in einer Dorfgemeinschaft überzeugend geschildert ist, liegt der Fokus für mein Empfinden zu sehr auf einer naturmystischen Überhöhung – ich hatte manchmal Bilder im Kopf, die an Filmszenen aus Lars von Triers Antichrist erinnerten (siehe den #leseköpfe-Text). 

Vogels Erzählen hingegen flirrt im Hitzenebel der heißen kalifornischen Nachmittage. Die Trauer um den Vater, dröhnender Autoverkehr auf den verschlungen Straßen und der flimmernde Pazifik bauen eine entropische Kulisse auf und irgendwo in all dem, in einer kleinen sauberen Siedlung, kommen Männer zu einer Frau, um sich unterwerfen zu lassen und Schmerz zu erfahren. In einem somnambulen, beizeiten auch trägen Ton cruist der Roman durch diese Stimmung – mir hat es gefallen. (Anmerkung: Ich habe ihn auf englisch gelesen) 

Interessant ist, dass beide Romane trotz ihrer großen Unterschiede den Schmerz als klärend und reinigend beschreiben.

Tilman Winterling (@fiftyfourbooks)

Rolf Dobelli hat mit seinen Büchern “Die Kunst des …” Mega-Bestseller produziert. Das Prinzip war so einfach wie genial: im unterhaltsamem Anekdotenton wurden Probleme aus dem Alltag geschildert und dann kognitions- oder sozialpsychologisch erklärt. Ständig hat sich der Lesende ertappt gefühlt, sich fröhlich an den Kopf gefasst, “haha, das kenn ich” gedacht und macht weiter wie bisher.

Trotz der Kunst des klaren Denkens, klaren Handelns und guten Lebens bleibt die Welt wahrscheinlich wie sie ist. Ein größerer Effekt auf die Gesellschaft ist “Sprache und Sein” von Kübra Gümüşay zu wünschen (wobei ich natürlich nicht ausschließen mag, dass Dobelli durchaus manche Leben bereichert hat). Die Lektüre führte bei mir zu vielen Einsichten, die durch das schlichte Wechseln der Perspektive hervorgerufen wurden. Die Effekte sind dabei manchmal so einfach erzeugt wie bei Dobelli: der beschriebene Angriff auf eine Frau mit Kopftuch erfolgte nicht wegen des Kopftuchs, sondern weil der Angreifer ein Rassist ist.

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