Autor: Team

Das Team von 54books: wenn sie nicht die Literaturkritik retten - wer dann?

Chronik: Februar 2020

Einen Schauspieler am Penis gezogen einmal im Kreis laufen                                    lassen – das ist „bemerkenswert“ (FAZ vom 29.01.2020)

 

Ein gut gefülltes Fass aus Hohn und Spott ergoss sich Ende Januar über den Spiegel und seinen Titel “Die Faszination des Gangsta-Rap”. Und man muss sagen, ausgesprochen verdient, denn schon die Aufmachung erinnert an eine Bravo aus den 80er Jahren, die halb erregt, halb verängstigt vor den Gefahren einer “neuen” Jugendkultur warnt. Gleichzeitig brach sich in dem äußerst langen Text eine seltsam genervte Herablassung gegenüber Teenagern Bahn, die den Verdacht nahe legte, dass sich hier vor allem jemand über seinen 14jährigen Sohn aufregte. Diese Jugendlichen tragen nämlich schon seit sie 13 sind “fast nur Jogginghose und Kapuzenpulli” und wollen selbst auch Sportwagen fahren. Und das obwohl sie doch auch zu Fridays-for-Future Demos gehen. Das verwirrt offenbar die Eltern. Warum die dann aber gleich einen Spiegel-Text schreiben müssen, wird nicht so ganz klar.

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In der SZ wird ein Buch von Volker Hage besprochen, ehedem Literaturchef der Zeit und beim Spiegel. Gleich 21 Schriftstellerporträts werden hier versammelt, in denen Hage, der das Misstrauen seiner Kolleg*innen gegen diese Gattung nicht teilt, offenbar hemmungslos in die Biographie seiner Helden abtaucht. Und das gelingt auch gut, freut sich der Rezensent: “Die Romane von Max Frisch zum Beispiel gewinnen eine selbstverständliche Klarheit, wenn Hage von den Beziehungen Frischs zu Frauen erzählt…” Wir dagegen freuen uns, dass Frauen in diesem Buch überhaupt vorkommen und sei es auch nur als Verständnishilfe und biographische Würze zu Frischs drögen Romanen. Unter den 21 Porträtierten finden sich gerade einmal zwei Frauen. Nun muss man Hage natürlich zugute halten, dass es sich um eine Sammlung historischer Texte handelt und das Buch ist in jeder Hinsicht ein historisches Dokument, denn es erzählt von einer Zeit, in der es selbstverständlich gewesen ist, vornehmlich über Männer zu schreiben. Inwiefern Hage, der einer der mächtigsten Männer im Feuilleton der letzten Jahrzehnte war, an diesem historischen Umstand mitgewirkt hat, wollen wir hier nicht näher erörtern (Hage gilt übrigens als Erfinder des Labels “Fräuleinwunder”).

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Bereits in der letzten Chronik hatten wir über das Ende des Unsichtbar Verlages berichtet. An Ton und Inhalt des offenen Briefs des Verlegers Andreas Köglowitz rieb man sich. Unter anderem Jens Bartsch, der Inhaber der Buchhandlung Goltsteinstraße in Köln beschreibt aus der Perspektive des Buchhändlers das Problem, die richtigen Titel für den Verkauf zu finden. Gerade die Buchhändler*innen waren in Köglowitz’ Philippika als wenig experimentierfreudige Angsthasen schlecht weggekommen. Bartsch gibt zu bedenken, dass häufig durchaus ansprechende Inhalte völlig falsch verpackt wären. Es würde nicht verwundern, dass Kund*innen und Buchhändler*innen bei einer Covergestaltung, die “an drittklassige Selfpublisher erinnert”, nicht zugriffen. Die Forderung nach mehr Förderung von Indie-Verlagen findet Bartsch dagegen “kreuzdämlich”. Hierzu hatte sich bereits im November letzten Jahres der Fürther Manfred Rothenberger (starfruit publications) geäußert. Nun stellt der Verleger des homunculus Verlags Joseph Reinthaler ein Modell vor, wie Förderung aussehen könnte. Er sagt: “Es sind nicht wir Verleger*innen, die hilfsbedürftig sind. Es ist die Bibliodiversität, die deutsche literarische Kultur, eine Kultur der Vielfalt der Stimmen und des Worts.” Bartsch ist dagegen der Ansicht, “eine gute Sache sollte also im besten Falle irgendwie aus sich selbst heraus funktionieren können – oder eben nicht. Dies bei den Verlagen wie bei uns Sortimentern auch.”

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Was dem deutschen Buchmarkt vor ziemlich genau einem Jahr Takis Würgers Stella war, das ist jetzt für den amerikanischen Literaturbetrieb American Dirt von Jeanine Cummins: Eine weiße Frau erzählt von der Flucht einer mexikanischen Familie vor einem Kartell in die USA, um endlich die Geschichte derer zu erzählen, die in den USA oft als “faceless brown mass” wahrgenommen würden. Cummins schafft damit das buchgewordene Äquivalent eines Sombreros auf dem Kopf eines besoffenen Frat-Boys. In den deutschsprachigen Raum wurde der Skandal vor allem importiert, um über den Gegensatz von Moral und Ästhetik zu befinden. In der SZ etwa heißt es, die Kritik am Buch würde vorrangig identitätspolitsch begründet, “[w]eil die Autorin des Romans aber keinen lateinamerikanischen Hintergrund hat, sondern eine weiße Amerikanerin ist, und ihr Buch von einer überwiegend weißen Verlagsbranche für ein überwiegend weißes Publikum in Position gebracht wurde.” Nur stimmt das so leider gar nicht, denn die Einwände in den heftigen Kritiken waren überwiegend ästhetisch. Kein Grund für die SZ nicht trotzdem als Vergleichsfälle Brechts “Der gute Mensch von Sezuan” und Kleists “Verlobung in Santo Domingo” anzuführen. Denn die dürften nach den neu geschaffenen Maßstäben der Identitätspolitik ja dann auch nicht mehr erscheinen etc. Inzwischen ließe sich komfortabel eine Bibliothek der Bücher zusammenstellen, von denen schon gesagt wurde, dass sie wegen “Politischer Korrektheit” heute nicht mehr erscheinen könnten. Hannes Stein nennt in seinem schlecht gelaunten Bericht über die Kontroverse um American Dirt, dessen Prosa er übrigens “makellos” findet, noch folgende Werke, die heute nicht mehr hätten publiziert werden können: Das Leben der Anderen (weil von einem Westdeutschen), Macbeth (weil von einem Nicht-Schotten) und dann noch was von Werfel und Heine (because why not). Diese faule Bibliographie zeigt vor allem, dass der Autor das Problem nicht verstanden hat, und auch nicht verstehen will. Sein Fazit ist wenigstens ehrlich: “Aber warum müssen wir solche Debatten über Literatur überhaupt führen?”

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Viel interessanter ist dabei noch, dass inzwischen auch Insider aus der Verlagsbranche in den USA eingestehen, was zu befürchten war, nämlich, dass der Roman vermutlich keinen Skandal ausgelöst hätte, wenn er als das vermarktet worden wäre, was er offenbar ist: ein reißerischer Unterhaltungsroman, der hauptsächlich auf Effekt zielt – oder wie es der Assistant Editor des Verlags Flatiron ausdrückte: “You can’t be Twitter woke and Walmart ambitious.” Die Kontroverse war offenbar erwartet worden und man hatte kalkuliert, ob es das Risiko wert sein würde. Die Antwort ist auf 400 Seiten mit floralem Stacheldraht-Cover zu bewundern.

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Wie man ja weiß, dreht sich gerade bei Rowohlt mal wieder das Personalkarussell, auf Florian Illies folgt Nicola Bartels. Auf einen Mann, der keine Lust mehr hat, folgt eine Frau – so weit so gut. Wie fest die Rollenzuschreibungen trotz allem bei manchen auf die Innenseite der Stirn geschrieben stehen, durfte man kurz darauf im Spiegel beobachten. Dort war von Illies als dem Mann mit “bildungsbürgerlicher Prägung” die Rede, vermutlich weil der zwei Bücher verfasst hat, die als Klolektüre in jedem Haushalt liegen. Hingegen: Nicola Bartels ist für den Spiegel die Frau, die Bastei Lübbe geleitet hat, ein Name, der “geradezu ein Synonym für leichte Unterhaltungsliteratur” sei. Bildungsbürgerlicher Autor geht also und die Frau für seichte Unterhaltungsliteratur kommt – schön, wenn Weltbilder so einfach sind.

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Dabei ist es doch erst einmal lobenswert, wenn sich in Deutschland das tut, was Großbritannien offenbar bereits geschafft hat. Die Studie “Diversity of UK publishing workforce detailed in extensive survey” der in London ansässigen Publishers Association hat herausgefunden, dass 2019 54% der Führungspositionen und auf Geschäftsführungsebene von Frauen besetzt  waren (56% in leitenden Führungspositionen und 48% auf der Führungsebene). Es scheint doch zu gehen.

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Die Welt witterte Skandalöses hinter der Tatsache, dass der neue Roman des inzwischen von weit rechts winkenden Schriftstellers Uwe Tellkamp nicht schon dieses Jahr bei Suhrkamp erscheinen sollte. Und nicht nur in der Welt wurde gemunkelt, dass der renommierte Verlag vielleicht mit dem neuesten Werk Tellkamps nicht einverstanden sei. Das Wort “Zensur” steht im Raum. Ganz abgesehen davon, dass Tellkamp mit aller Wahrscheinlichkeit  einen Verlag für seinen neuen Roman Lava finden wird und dass dieser Verlag vermutlich Suhrkamp sein wird, stellte sich heraus, dass das Buch wohl einfach noch nicht fertig lektoriert und gar noch nicht fertig geschrieben war. Was die Welt jedoch nicht davon abhielt schnappatmend einige Menschen (die “Intellektuellen” nämlich), nach ihrer Meinung zu “Suhrkamps Dilemma” zu befragen, was man jedoch nicht lesen konnte, außer man hätte dem Springer-Verlag 10€ im Monat bezahlt, um zu erfahren was beispielsweise Rüdiger Safranski dazu zu sagen hat – und wer will das schon. Wir dagegen haben 700 Intellektuelle gefragt, was sie zu der Welt-Aktion zu sagen haben, aber was das ist, kann man erst lesen, wenn man 54Books+ abonniert hat.

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Der True Crime Hype ist aus den USA mittlerweile erfolgreich nach Deutschland geschwappt und alle spielen bei der journalistischen Vergoldung von schnödem Voyeurismus mit. Auch der Stern hat keinerlei Probleme damit, einen amerikanischen Artikel von 1993 (!) übersetzen zu lassen und ihn dem gierigen Publikum als frische Ware zu präsentieren. Wir dürfen gespannt sein, aus welchen Archiven noch “lange, hervorragende und sensibel erzählte Geschichten” ausgegraben werden, um die Gruselwollust des Publikums zu kitzeln. Denn wie absurd der Publikumshunger nach den vermeintlich wahren schaurig-schönen Gewaltverbrechen inzwischen ist, zeigt auch ein Blick in die Podcast-Sparte auf Spotify. Dort präsentieren ARD, ZDF und funk die beiden Podcasterinnen “Paulina und Laura” seltsam sexualisiert auf dem Cover eines Podcasts, der zu allem Überfluss auch noch “Mordlust” heißt. Während hier über die Hintergründe von Morden gesprochen werden soll, informiert der grinsende Philipp in “Verbrechen von Nebenan” über “True Crime in der Nachbarschaft” – von den Öffentlich-Rechtlichen, über Zeit und Stern, alle sind dabei beim wohligen Palaver über Femizide, Sektenmorde und den Killer aus der Nachbarschaft.

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Unsere Kultur lässt uns nichts in Würde vergessen. Erfreulich still war es etwa um die Ultraromantik, bis dieser Tage plötzlich Leonhard Hieronymi – Verfasser des zugehörigen, im Korbinian-Verlag herausgegebenen, Manifestes – wieder mit einem Essay in der SZ auftauchte. Die intertextuellen Referenzen aus dem Text lesen sich wie ein Panini-Album gepflegter Herrenkultur: Chatwin, Herzog, Rimbaud, Buddha, Meister Eckhart, Helmut Newton (Jodie Foster darf als Objekt eines Bildes von Newton immerhin als Metapher für den Verfall der Literatur stehen). Mit literaturhistorisch geschultem Blick wundert man sich etwas über einige der breitbeinig aufgestellten Behauptungen, besonders über die erstaunlich blinden Flecken in Bezug auf Literatur der 90er, die jenseits von Pop-Literatur, Crichton und Grisham stattfand. Der wirr-assoziativ geschriebene, aber mit großer Pose präsentierte Text, steigert sich dann zu einem Rant gegen erzählerische Linearität und amerikanische Popkultur, was sich liest, wie der dritte Aufguss eines Teebeutels mit Literaturtheorie der Postmoderne. Zu diesem Gefühl von Regress passt es, dass einem jungen Mann derart viel Platz für seine halbgaren Gedanken eingeräumt wird. (Wieviel lieber hätte man stattdessen einen Essay von Enis Maci gelesen, die zumindest auch von Hieronymi zitiert wird). Der Verfasser des Essays wird übrigens mit der steilen Behauptung vorgestellt: “Dass es sich bei [Hieronymis] ‘Formalin’ um die beste Kurzgeschichte handelt, die in jenem Jahr [2017] in deutscher Sprache erschienen ist, wird heute kaum mehr bestritten.” Diese Behauptung ist gleichermaßen frech und zutreffend. Niemand bestreitet das, und niemand kann es bestreiten, denn niemand hat die Erzählung gelesen. […] [Aus einem Interview mit den Hieronymi-Verlegern vom Korbinian Verlag: “Bei „Ultraromantik“ von Leonhard Hieronymi, dem ersten Buch von uns das in den Feuilletons kursierte, war es so, dass er dieses aus 15 Punkten bestehende Manifest geschrieben hatte, aber gar nicht von alleine darauf gekommen ist, uns das als Buchidee vorzuschlagen. Eine Verkettung günstiger Umstände führte dazu. Wir wurden damals von Felix Stephan interviewt, der mittlerweile bei der Süddeutschen Zeitung ist, damals aber noch für die Literarischen Welt schrieb, und dem hatte Leo das Manifest auf den Tisch gelegt. Ein paar Wochen später waren wir alle zusammen zu siebt in Leipzig in einer Air BnB-Unterkunft für drei Leute und dann…”]

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Der Autor Till Raether stickt Plattencover, aktuell “Prefab Sprout – Andromeda Heights”. Wunderschön!

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Noch bis März kann man in der Arte-Mediathek eine Dokumentation sehen, die es in sich hat: die junge saudi-arabische Dichterin Hissa Hilal trat 2010 mit kritischen Gedichten bei der Fernsehshow Million’s Poet in den Vereinigten Arabischen Emiraten an, die Reality TV Show ist eine der erfolgreichsten Fernsehsendungen der Region und vergibt Preisgelder in Millionenhöhe. Hissa Hilal gewann zwar nicht, riskierte aber ihr Leben für die Lyrik. Dass ihre Lyrik noch nicht auf Deutsch erschienen ist, verwundert uns leider nicht, aber wir würden sie gerne lesen. Und ganz nebenbei haben wir hier auch noch einen Vorschlag gefunden, was man anstatt des wieder aufgegossenen Literarischen Quartetts hätte produzieren können: einen guten alten Dichterwettstreit, gepaart mit einer dicken Menge Entertainment. (Danke an Nadire Y. Biskin für den Hinweis)

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Zu allem Überfluss ist im Februar auch noch Karneval und als ernsthaftes Literaturportal haben wir noch schnell herausgesucht, ob man “Schriftsteller” als Kostüm kaufen kann. Antwort: Man kann, sieht dann zwar aus wie ein Polyester-Shakespeare, aber zumindest liest sich die Produktbeschreibung selbst wie Poesie. (“Es ist ein kostüm exklusive Atosa. mit große menge ornamentacion Es ist. QUALITÄT pasamaners und texturen. Alle die endungen und kanten sind gut”).  Für “Kostüm Schriftstellerin” gab es – wer hätte das ahnen können – übrigens kaum Resultate.

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„Wir sind uns unserer Verantwortung als Deutschlands größte Publikumsverlagsgruppe bewusst und wollen konsequent die ökologische Wende im Verlagswesen vorantreiben, indem wir unseren CO2-Ausstoß nachhaltig reduzieren“, sagt Random House CEO Thomas Rathnow. Die Verlagsgruppe will den Anteil klimaneutral produzierter Titel jährlich um 20% steigern. Das passt gut zum Start des neuen Sachbuch Paperback Programms beim Random House Verlag Goldmann, bei dem man “gesellschaftlich prägende und sich neu entwickelnde Trend- und Zeitgeistthemen für ein wachsendes Lesepublikum veröffentlichen” möchte. Dieser Ausstoß an Produkten wird dann wohl wieder klimamäßig neutralisiert. Ist es das, wovor Rüdiger Safranski gewarnt hat, als er befürchtete “Bald wird vielleicht auch die Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks gesehen.”

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Wo gezählt wird, da entstehen Daten, und diese Daten erzählen eine Geschichte. Zum Beispiel, dass die Kolumnenplätze im Printteil großer Zeitungen und Magazine nach wie vor überwiegend männlich besetzt sind. Das hat Julia Karnick in einem umsichtigen und klugen Text auf ihrem Blog herausgefunden, der von dort aus rege Verbreitung im Internet fand und schließlich über ein Interview mit der taz wieder im Print landete. Dort wiederholt Karnick noch einmal die wichtigste These, die aus der Interpretation der Zahlen abgeleitet wurde. Bei der Frage nach der Form (Kolumne) geht es um Macht: “Natürlich gibt es andere relevante Formate. Aber Kolumnen waren schon immer Aushängeschilder. Da steht jemand mit Gesicht, Namen, Stil und seiner Haltung für ein Medium.”

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Am 29. Januar ist Christoph Meckel gestorben. In der FAZ erinnert sein Lektor Wolfgang Matz in einem kurzen Nachruf an ihn. “Die frühe Entscheidung für die Kunst hat er mit störrischem Eigensinn durchgehalten.” Auch in anderen Medien wurde Meckel mit ausführlichen Nachrufen bedacht. Die große Bestseller-Queen Mary Higgins Clark verstarb am 1. Februar. Einen wirklich ausführlichen Nachruf, mit Würdigung des umfangreichen Werks der global erfolgreichen Krimi- und Thrillerautorin und einer literaturkritischen und zeithistorischen Einordnung haben wir leider nicht gefunden. Zumindest war sie in vielen Medien mit einer Meldung vertreten. Am 17. Februar ist außerdem Ror Wolf verstorben, es gab zahlreiche Nachrufe und auch auf Twitter wurde mit vielen Tweets an ihn erinnert.

Chronik: Januar 2020

Das Jahr begann mit einer Kontroverse, die keiner gebraucht hatte und einer Debatte, die überfällig war. Zunächst ein Video, über das jedes Wort zu viel gewesen wäre, nämlich das unwitzige Umweltsau-Lied, das der WDR in die Öffentlichkeit entließ, um danach in jede Falle der rechten Medienstrategie hineinzutappen. Dabei wurden vor lauter Entschuldigungs- und Distanzierungsgeilheit leider die eigenen Mitarbeiter*innen dem rechten Mob ausgeliefert. Soweit zum Thema: Debatten, die zu verhindern gewesen wären. Am 31.12. dann veröffentlichte der Journalist Richard Gutjahr einen erschütternden offenen Brief, der sich zu Jahresbeginn schnell verbreitete, und in dem er berichtete, wie sein Arbeitgeber, der Bayerische Rundfunk, ihn über Jahre hinweg mit einer rechtsradikalen Hetzkampagne allein gelassen habe. Überliefert wird der Kommentar von leitender Stelle, “man könne ja nicht jedem freien Mitarbeiter gleich einen Anwalt stellen, nur weil man mal im Netz ‘angepöbelt’ werde.” Man möchte den Zuständigen beim WDR und BR dringend empfehlen, sich einmal selbst eine Weile in diesem Netz  aufzuhalten, denn dort passieren Dinge, die gesellschaftlichen und kulturellen Einfluss haben (und gefühlt 90 Prozent aller ‘Pöbeleien’).

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Auf Theodor (Fontane-Jahr 2019) folgt Ludwig, denn der Geburtstag des “Bonner Battle-Badass” Beethoven jährt sich dieses Jahr zum 250 Mal und gewohnt geniekultig wird der Komponist auf dem Titel der Zeit 2/20 als “genialer Berserker” bezeichnet, der so – anders als Kinderchöre der Gegenwart – für die Beschimpfung seines Publikums gelobt wird. Andere nennen den Komponisten nur noch liebevoll Ludwig van (“Ludwig van macht das Vierteljahrtausend voll, und alle Menschen werden Ludwig-Fans. Freude, schöner Götterfunken. Da-da-da daaaa. Jubeln, Dudeln, Runternudeln.”) und lösen damit einiges an Reaktionen aus. Und pünktlich zum Jahresanfang erschien Ludwig van auch noch auf Twitter als Bot. Bereits 2024 dürfen wir uns dann auf das Kant-Jubiläumsjahr freuen, über Ludwig und Immanuel schreibt Matthias Warkus in seiner Kolumne: “In der Beethoven-Interpretation ist der Kant-Bezug ein derartiger Allgemeinplatz geworden, dass umgekehrt Kants erstes Hauptwerk, die »Kritik der reinen Vernunft«, schon despektierlich als »die 9. Sinfonie der Philosophie« bezeichnet wurde.” Katharina Herrmann richtet angesichts dieser ganzen Jubiläumsfreude den Blick auf die Jubilarinnen des neuen Jahres: “Es gab auch ein paar Frauen in dieser deutschsprachigen Kulturgeschichte und auch von diesen feiern 2020 ein paar ihren runden Geburtstag.”

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Einen “Frühling der Frauen” kündigte Mara Delius in der WELT an und stellte in ihrem Artikel den Blick auf einzelne Autorinnen gegen die Praxis des Zählens von Autorinnen in den Frühjahrsprogrammen der deutschsprachigen Verlage. Inwiefern sich der Blick auf einzelne Autorinnen und die quantitativ aussagekräftige Arbeit, die von vielen Freiwilligen unter #vorschauenzählen geleistet und von Nicole Seifert und Berit Glanz ausgewertet wurde, eben nicht ausschließen, zeigt Johannes Franzen hier auf 54books. Die nachfolgende Debatte, die sich unter anderem in einem Gespräch zwischen Mara Delius und Berit Glanz im DLF Kultur und einer Diskussionsrunde mit Nicole Seifert, Rainer Moritz und Susanne Krones im SWR, den sozialen Medien und zahlreichen Artikeln abspielte, führte wiederum dazu, dass die WELT jetzt bei den Verlagen nachfragte. Die Antworten stimmen größtenteils hoffnungsvoll, so meint Kerstina Gleba von KiWi:  “Der Schmerz, der entsteht, wenn wir realisieren, dass wir in dem Bemühen, die seit Jahrhunderten bestehenden patriarchalen Strukturen des Literaturbetriebs zu überwinden, noch nicht so weit sind, wie wir möchten, ist ein guter Ansporn, fokussiert in dieser Richtung weiterzuarbeiten.“ Beendet ist diese Debatte bestimmt noch lange nicht, wollen wir aber hoffen, dass sie in dieser Richtung weitergeht. 

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Takis Würger ist wieder da. In einem Rezensionsporträt der Autorin Lisa Taddeo und ihrem Buch Three Women gelingt es ihm, gleichermaßen unkritisch und ausgesprochen seltsam zu sein. Sollte man etwa, fragen wir uns an dieser Stelle, die Rezension zu einem Buch über sexuelle und emotionale Ausbeutung von Frauen so beginnen: “Ganz am Anfang, als Lisa Taddeo, 39, noch dachte, sie möchte ein Buch über Sex schreiben, fand sie sich zwischen den Beinen eines der größten lebenden Reporter wieder.” Auch das wunderliche Bild von der Reportage als “Wurstmaschine” lässt uns eher ratlos zurück. Kurz darauf wurde das Buch dann auch in schneller Abfolge mehrfach brutal verrissen, eine Masterclass in kritischer Feuilletonarbeit. Zum Beispiel von Juliane Liebert in der ZEIT, die in ihrer Besprechung anmerkte: “Natürlich ist Twilight, ebenso wie Drei Frauen, aus feministischer Perspektive ein Scheißbuch.” Diba Shokri unterzog das Buch in der FAS einer literaturwissenschaftlichen Kritik, die vor allem die erzählerischen Probleme dieser Art des narrativen Heranwanzens an reale Personen zeigte. 

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Im Jahr 2008 gab der Autor David Shields mit seinem Manifest Reality Hunger einer ästhetischen Tendenz einen Namen, die seitdem die Kunstgeschichte der Gegenwart bestimmt: Der Hunger nach Realem, die Fiktionsmüdigkeit, die Freude an realen Geschichten, Autofiktion etc. Wir fragen uns: Lässt sich gerade ein Backlash gegen diese Entwicklung erkennen? Ein Müdigkeit der Fiktionsmüdigkeit? Dann wäre nicht nur der kollektive Unwille in Bezug auf ein Werk des narrativen Journalismus wie Taddeos Three Women ein Zeichen dafür, sondern auch der Aufsatz, den Wolfgang Ullrich in der FAZ veröffentlicht hat. Ullrich fragt darin, ausgehend von der Kritik der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk an einem Mangel an Fiktionskompetenz, ob wir uns (kunstgeschichtlich) in einer „Krise der Autonomie“ befinden. Es überwiege eine Lust an „Reality-Kunst“. Faction zähle mehr als Fiction – „jede Zutat, die zur Aktualität und Dringlichkeit beiträgt, wirkt statussteigernd, Verbindungen zur harten Realität sorgen für ontologische Zugewinne.“ Ullrich fragt, ob die Kunst möglicherweise mit dieser Realitätsversessenheit auf die Tatsache reagiert, dass unser Alltag „von zahllosen kleineren und größeren, läppischen, aber durchaus auch sinnstiftenden Fiktionalisierungen“ durchsetzt ist? Allerdings möchte er angesichts dieser Entwicklungen nicht in „Kulturpessimismus“ verfallen. Die Kunst fällt eben nur gerade aus dem kurzen modernen Intermezzo der Autonomie zurück in eine Welt heteronomer Begehrlichkeiten. Wir können an dieser Stelle eine gewisse Vorfreude darauf, dass das dogmatische Modell der Autonomie zumindest ein paar Dellen und Risse bekommt, nicht verschweigen.

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Für eine längere Zeit war es angenehm still um den Großschriftsteller Uwe Tellkamp. Doch nun macht er wieder von sich Reden; es geht auch in diesem Fall um seine Meinungsfreiheit, sprich, seine Freiheit überall und ungebremst, vor allem aber ohne Widerrede alles sagen zu können. Im Rahmen einer Veranstaltung der rechtsradikalen Zeitschrift Tumult wurde ein Lesungstermin in Dresden von den Betreibern der Spielstätte abgesagt. Nun leben wir in einer Zeit, in der eine Raumabsage starken Nachrichtenwert zu besitzen scheint, weil sie ein Symptom darstellt für etwas, was die Leser*innen interessieren könnte. Wir wissen nur leider nicht was. Vor allem rief sie aber den ehemals sehr mächtigen (jetzt Focus) Kolumnisten Jan Fleischhauer auf den Plan, der herumnölte, Autoren wie Grass und Böll hätten sich unbehelligt politisch äußern dürfen, aber weil Tellkamp die Rolle des engagierten Autors von rechts ausfülle, werde er sehr schlimm behandelt. Auch in diesem Fall holt Fleischhauer die grundsätzliche Tragödie seines Wirkens ein, dass nämlich das, was er schreibt, nicht stimmt. Die engagierten Autoren vergangener Zeiten mussten sich noch vom Bundeskanzler persönlich als “ganz kleine Pinscher” beschimpfen lassen. Böll wurde nach seinem tatsächlich reichlich verunglückten medienkritischen Artikel “Will Ulrike Gnade oder freies Geleit” zum Opfer einer brutalen Kampagne, an der auch zahlreiche Politiker beteiligt waren. Tellkamp kann, wenn überhaupt froh sein, dass der Politik heute Schriftsteller und ihre Romane egal sind. Der Rest dessen, was Fleischhauer schreibt, stimmt übrigens auch nicht. Samira El Ouassil hat in einem Artikel für Übermedien darauf hingewiesen, dass die Ausladung nicht Tellkamp persönlich galt, sondern dem Veranstalter seiner Lesung, der Zeitschrift Tumult. Aus dieser Zeitschrift werden dann allerlei abscheuliche Dinge zitiert, die vor allem die Frage aufwerfen, mit welchen Menschen Tellkamp sich gerne abgibt? El Ouassil hat dazu das angemessene Fazit: “Der Skandal ist also nicht, dass Uwe Tellkamp nicht im Schloss lesen durfte, sondern dass Tellkamp dort im Auftrag von Tumult gelesen hätte.

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Szenen (im Sinne von Szene-Lokal) sind Orte, wo Menschen auf eine Art dünnhäutig sind, die schon einen halben Meter außerhalb dieser Szene unverständlich erscheint. Und für kaum eine Szene gilt das mehr als für die deutsche Lyrikszene. So liest man diese Replik des Autors Şafak Sarıçiçek auf eine nur mittelbegeisterte Rezension seines Bandes Jamsids Spiegelkelch von Slata Roschal in den Signaturen mit Verwunderung. Ist es nicht an sich schon verwunderlich (böse Zungen würden es illoyal nennen), dass eine Zeitschrift einem besprochenen Autor überhaupt Raum für eine solche Gegendarstellung einräumt? In Sarıçiçeks Replik wird nicht nur Beschwerde geführt gegen eine Besprechung, sondern es werden gleich Thesen zur “Poetik” dieser Besprechung aufgestellt. Thesen, Poetik… Wir befinden uns im Bereich der deutschen Gegenwartslyrik, und es macht Spaß. These 6 etwa lautet: “Al Hallaj wurde gekreuzigt, hätte sich die Verfasserin mit Al Hallaj auseinandergesetzt, wäre ihr dies bekannt. Die botanische Auseinandersetzung mit diversen Blütenformen werden sicherlich auch ergiebig sein hinsichtlich dem Erkennen von Kruzifixästhetiken.” Und nun sind wir wirklich im tiefen Herzen der Szene, wo die Voraussetzung, überhaupt ein Gedicht zu verstehen, ist, sich mit Blütenformen, Kruzifixästhetiken, und damit, wer wo gekreuzigt wurde, intim auszukennen. Doch damit nicht genug: in den sozialen Medien, besonders auf Facebook (dem Stammlokal der Lyrikszene?) brennt der Konflikt weiter. Und nicht nur das Spiel aus Rezension, beleidigter Stellungnahme, wutentbrannter Gegenrede auf Facebook und einem abschließenden mehrseitigen Dropbox-Dokument von Şafak Sarıçiçek bewegt die Lyrik-Szene, auch die Vergabe des Peter-Huchel-Preises an Henning Ziebritzki sorgt für Aufruhr und erhitzte Debatten. 

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In der NZZ fabriziert Simon M. Ingold einen gewohnt wohlig dampfenden Text zu Wokeness, Political Correctness und den bösen Radikalen. Der Artikel ist weitgehend uninteressant, bedient nur die Checkliste hergebrachter Ressentiments und Argumentationsreferenzen (Bret Easton Ellis anyone?), und endet auf einer etwas bemühten Synthese, damit die dumpfe Einseitigkeit der vorhergehenden Absätze nicht zu stark ins Auge fällt. Spannend ist nur die Verwendung des Wortes Twitterati-Klasse: Die geballte anonyme Mehrheit, angeführt von Influencern und der Twitterati-Klasse, hat das erste und letzte Wort und verschiebt laufend den Rahmen dessen, was in ihre binäre Weltsicht passt. Wer es wagt, dem moralischen Konsens zu widersprechen, wird zum Paria erklärt.” Das Wortspiel Twitterati lehnt sich an den Begriff Glitterati an, im Cambridge Dictionary definiert als rich, famous, and fashionable people whose activities are of interest to the public and are written about in some newspapers and magazines.” Wenn es nicht so abwertend gemeint wäre, könnte man sich mit dieser Beschreibung beinahe anfreunden. Ach, was soll’s, wir bekennen uns dazu, hemmungslose Twitteratis zu sein.

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Mit Gudrun Pausewang ist am 24. Januar 2020 eine der prägendsten Jugendliteratur-Schriftsteller*innen der Bundesrepublik gestorben. Am nachhaltigsten haben wohl ihre Romane Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987) die (nicht nur jugendlichen) Leser*innen beeindruckt und verängstigt. In diesen Jugendbuch-Schockern beschrieb sie die Auswirkungen eines Atomkrieges in einer fiktiven deutschen Kleinstadt und die eines Reaktorunfalls. In einem ausführlichen Nachruf in der ZEIT zeigte Johannes Schneider auf, wie umfang- und facettenreich Pausewangs Werk tatsächlich war und ordnet die beiden Romane, die sonst alles andere in den Hintergrund drängen, in das Gesamtwerk ein. Die Angst, die ihre Romane bei Jugendlichen ausgelöst haben, sieht er als notwendig: “Sie hat so mit kleinen Schocks greifbar gemacht, dass der große Schock möglich ist, und vielleicht gerade damit geholfen, ihn hier und dort zu verhindern.” Ihr literarisches Engagement begründete Pausewang mit ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Erst nach dem Krieg habe sie sich vom Nationalsozialismus abgewandt und verstanden, “dass es nicht genügt, sich alle vier Jahre an der Wahlurne fragen zu lassen: Wie hätten Sie’s denn politisch gerne?”

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“Heute hier, morgen dort” kennt man vorrangig aus qualvollen Musikunterrichtsstunden, seit Ende Januar scheint es das Motto von Rowohlt und dem jetzt Ex-Verleger Florian Illies zu sein. Nachdem der Holtzbrink Konzern erst im Sommer 2018 der damaligen Rowohlt-Verlegerin Barbara Laugwitz in einem mindestens fragwürdigen Vorgang gekündigt und sie durch den ehemaligen Feuilletonisten und Bestseller-Autor Florian Illies ersetzt hatte, hat dieser bereits nach weniger als anderthalb Jahren das Handtuch geworfen. Zum Herbst diesen Jahres wird er bei Rowohlt ausscheiden und begründet dies mit seinem Wunsch, wieder mehr schreiben zu wollen.  “War doch nicht so toll” stellt Sandra Kegel in einem Kommentar für die FAZ fest und zeigt noch einmal die unübersichtlichen Verstrickungen dieser Literaturbetriebsaffäre auf, die mit dem Abgang von Illies ein weiteres Kapitel bekommen hat. Um es dann erneut mit Hannes Wader zu sagen: “Trotz alledem” wünscht man sich ein besseres Händchen für die Auswahl der nächsten Person, die eine Runde im Rowohlt’schen Personalkarussell drehen darf. 

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Es ist davon auszugehen, dass der Rowohlt Verlag auch ohne Florian Illies ein Programm wird auf die Beine stellen können, dagegen wird der Unsichtbar Verlag den Betrieb 2020 gänzlich einstellen. In einem Statement auf der Verlagsseite listet der Verleger Andreas Köglowitz die Gründe hierfür auf. Diese lesen sich – der Frust und die Enttäuschung seien Köglowitz zugestanden – doch etwas wie Nachtreten: Autoren, die mäkeln, Buchhändler, die bei Bestellungen beduppen, Käufer, die das Falsche kaufen, Kulturförderung, an die Falschen. Aber wie gesagt, man kann den Frust verstehen.

Was man lesen kann – Frühjahrsempfehlungen von 54books

Wer einmal über eine der beiden großen Buchmessen Deutschlands in Leipzig und Frankfurt gelaufen ist, hat eine Ahnung davon bekommen, wie viele Bücher jedes Jahr im Frühjahr und in der Herbstsaison erscheinen. Niemand kann da den Überblick behalten, und warum auch? Von den rund 70 000 Büchern, die jährlich in Deutschland auf den Markt kommen, kann und will man nicht einmal einen Bruchteil lesen. Und selbst diejenigen, die man gerne lesen würde, wird man nicht alle innerhalb des Jahres lesen können. Es scheint ein schier unmögliches Unterfangen zu sein, eine Schneise der Empfehlungen in dieses Dickicht aus Neuerscheinungen zu schlagen.
Und dennoch, wir haben es versucht, uns durch eine Liste von 50 Verlagen mit über 500 Neuerscheinungen im Frühjahr 2020 gearbeitet und herausgesucht, was für uns interessant, nennenswert oder auch nur zumindest relevant erschien.

Wir präsentieren euch die 54books-Vorschau des ersten Halbjahres 2020

 

Sprache und SeinWie beeinflusst Sprache unser Denken? Welche normativen Überlegungen folgen aus dem, was wir darüber wissen? Und was hat das alles mit Feminismus zu tun, mit Emanzipation, mit Rassismus, mit Diskriminierung und Befreiung? In Sprache und Sein, einem erzählenden Sachbuch, geht Kübra Gümüşay, immer wieder mit autobiographischer Färbung, diesen Fragen nach.

(Kübra Gümüşay Sprache und Sein, Hanser Berlin, erscheint am 27. Januar 2020)

Der Verbrecher Verlag hat in den letzten Jahren für einige positive Sonne, Mond, ZinnÜberraschungen gesorgt und auch Alexandra Riedels Debüt Sonne Mond Zinn verspricht anhand des ersten Eindrucks der Leseprobe, ein guter Roman zu sein. Über den Inhalt selbst erfährt man nicht viel aus der Vorschau, aber die Haltung, mit der die Erzählfigur in einem lockeren Ton an ein Du gerichtet in den Roman einsteigt, lässt auf ein geschmeidig fließendes Erzählen hoffen.
(Alexandra Riedel Sonne Mond Zinn, Verbrecher, erscheint am 28. Januar 2020)

Der Titel des neuen Roman von Bov Bjerg bietet Raum für Interpretationen. Serpentinen handelt von einem Vater, der mit seinem Sohn auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit geht. Beinahe metaphorisch, meint man, steht der sich schlängelnde Weg den Berg hinauf für die Reise in die Kindheit des Vaters. Düsterer als Bjergs Bestseller Auerhaus wirkt dieser Roman und der reduzierte, parataktische Stil der Leseprobe verspricht ein zurückgenommenes Erzählen über die Männer einer Familie.
(Bov Bjerg Serpentinen, Claassen, erscheint am 31. Januar 2020)

Tine Høeg Buchcoverhat mit ihrem ersten Roman Neue Reisende den Debütpreis einer Dänischen Buchmesse erhalten und eigentlich schreckt uns die Ankündigung erst ab, denn eine junge Lehrerin lernt auf dem Weg zum ersten Arbeitstag einen verheirateten Mann kennen und dann Affäre und dann Drama, schaut man aber in die Leseprobe, flattern einem die Sätze nur lose gesetzt um die Ohren und es könnte sein, dass das auf 200 Seiten ganz fürchterlich in die Hose geht oder ganz, ganz grandios ist.
(Tine Høeg Neue Reisende, aus dem Dänischen von Gerd Weinreich, Droschl, erscheint am 7. Februar 2020)

Es fällt schwer, sich das Buch Eisfuchs der kanadischen Autorin Tanya Coverbild Eisfuchs von Tanya Tagaq, ISBN 978-3-95614-353-3Tagaq nicht von der Ankündigung des Verlags verderben zu lassen, die nicht nur in der marktschreierischen Rhetorik dieser Texte ein „atemberaubendes Debüt“ ankündigt, sondern auch alle YA-Klischees abdeckt, die in den letzten Jahren bis zum Überdruss verbraten wurden: Kindliche Perspektive, bedrohliche Erwachsenenwelt, Magie, Füchse. Allerdings erreicht uns dieses Buch auch mit einer kurzen sehr positiven Notiz des New Yorker, die uns gespannt macht: “This mystical novel draws on the author’s life to tell the story of a young girl growing up in Nunavut in the nineteen-seventies, in an Inuit community that has experienced ‘government relocation, the shift into capitalism, and the moulting of the Shaman Skin.’” Wir sind optimistisch, und vertrauen in dieser Hinsicht dem New Yorker, der uns einen ernsten poetischen Text verspricht.
(Tanya Tagaq Eisfuchs, aus dem Englischen von Anke Caroline Bruger, Kunstmann, erscheint am 11. Februar 2020)

Interessant klingt allein schon der Titel von Valerie Fritschs Roman Die Herzklappen von Johnson & JohnsonHerzklappen von Johnson & Johnson und auch die Handlung von einem jungen Paar, das ein Kind bekommt, das keinen Schmerz empfinden kann, ist vielversprechend. Wie eine außerhalb der Zeit stehende Litanei ziehen die ersten Seiten dieses Romans die Leser*innen hinein. Dabei spannt die Autorin einen Bogen von den Erinnerungen der Großmutter der kleinen Alma bis in die Gegenwart des Kindes.
(Valerie Fritsch Die Herzklappen von Johnson & Johnson, Suhrkamp, erscheint am 17. Februar 2020)

Der Ruf nach mehr Zeitgeschichte in der Gegenwartsliteratur wird allzuoft mit Romanen beantwortet, die thesenhaft und aufgesetzt allerlei Talking Points zu literarischen Handlungen verrühren. Am Ende hat man dann Palast der Miserableneine Peinlichkeit wie Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen. Von Abbas Khiders neuem Roman Palast der Miserablen, der vom Leben einer Familie im Irak unter Saddam Hussein erzählt, versprechen wir uns im Gegenteil ein Buch, das den Horror der Geschichte nicht nur benutzt, um einen Leitartikel zu vertonen, sondern um echte Literatur zu schaffen. Die Ankündigung des Verlags, uns erwarte ein „persönlicher, höchst lebendiger Roman voll unvergesslicher Figuren“ klingt zwar einigermaßen bedrohlich, aber wir hoffen das Beste.
(Abbas Khider Palast der Miserablen, Hanser, erscheint am 17. Februar 2020)

Liest man durch das Programm von Blumenbar, drängt sich der Eindruck auf, die Voraussetzung in dieses aufgenommen zu werden sei eine Menge Instagram-Follower: Die Gedichte von Yrsa Daley-Ward lesen „im Internet Hunderttausende“ (@yrsadaleyward), Morgane Ortin hat gar aus ihrem https://i0.wp.com/www.aufbau-verlag.de/media/Upload/cover/9783351050795.jpg?resize=246%2C382&ssl=1Instagram Account einen Roman gezimmert (@amours_solitaires). Damit kann Mary Gaitskill nicht dienen, aber mit ihrem „Skandalbuch“ von 1988, dem Kurzgeschichtenband Bad Behavior, der ein Jahr später auf Deutsch erschien, aber nicht mehr lieferbar war. Ihre Geschichten drehen sich um Drogenmissbrauch, Prostitution und BDSM. Die englische Wikipedia fasst das knackig zusammen:
Gaitskill’s fiction is typically about female characters dealing with their own inner conflicts, and her subject matter matter-of-factly includes many “taboo” subjects such as prostitution, addiction, and sado-masochism.
(Quelle: Wikipedia, letzter Abruf 17.1.2020).
Obvious, warum das Buch aktuell ist und warum man sich das ruhig mal auf den Zettel schreiben darf.
(Mary Gaitskill Bad Behavior – Schlechter Umgang, aus dem Englischen von Nikolaus Hansen, Blumenbar, erscheint am 18. Februar 2020)

In einer Zeit, in der Ereignisse gemacht werden, um das Konstrukt einer politisierten Realität zu bestätigen, kann man nicht genug darüber lesen, wie die Medien funktionieren, und darüber, was guten und was schlechten Journalismus ausmacht. 2019 erschienen mit Ronan Farrows Catch and Kill und She Said von Jodi Kantor und Megan Twohey zwei Bücher über heroischen Journalismus und die sinistren Kräfte, die sich ihm entgegenstellen. Von den sinistren Kräften innerhalb des Journalismus erzählte Juan Morenos Tausend Zeilen Lügen. Nun veröffentlicht der Secession Verlag das Buch Breaking News. Das Ende des Journalismus und seine Zukunft von Alan Rusbridger, dem ehemaligen Guardian-Chefredakteur. Wir hoffen auf eine spannungs- und anekdotenreiche Geschichte und Analyse des Journalismus in den letzten Jahrzehnten.
(Alan Rusbridger Breaking News – Das Ende der Journalismus und seine Zukunft, aus dem Englischen von Joachim von Zeppelin, Secession, erscheint im Feburar 2020.)

Passend zur Poschardt-Monografie (siehe weiter unten) liefert der Heidelberger Geschichtsprofessor Edgar Wolfrum uns mit Der Aufsteiger, der „ersten historischen Gesamtdarstellung der Berliner Republik“ den Buchdeckel „978-3-608-98317-3Hintergrund. In den vergangenen Jahren ist klar geworden, dass Kämpfe um die Deutung der jüngsten Geschichte dieses Landes möglicherweise von größerer Bedeutung sind, als man es noch vor einem knappen Jahrzehnt hätte meinen können. Das Urteil eines seriösen Historikers dazu zu hören kann nicht schaden.
(Edgar Wolfrum Der Aufsteiger, Klett-Cotta, erscheint am 22. Februar 2020)

Wense, Hauptfigur und Namensgeber des Romans von Christian Schulteisz wird als „Universaldilettant“ angekündigt. Sowas bin ich ja auch – sind wir das nicht alle? Von allem ein bisschen, da und dort, reinschnuppern, ausprobieren, weglegen, vergessen.

[I]ch bin kein schriftsteller, kein literat, kein dichter, kein gelehrter, kein musicus, vielmehr nichts als ein mensch, d. h. philosoph, ein rebell!

Aus: Von Aas bis Zylinder. Werke. Das Briefwerk. Hrsg. Reiner Niehoff und Valeska Bertoncini. 2 Bde. Zweitausendeins, Frankfurt 2005.

Der Roman, soviel wird in der Vorschau zumindest verraten, beruht auf dem Leben Jürgen von der Wenses, aus dessen Leben und Werk der blauwerke Verlag auf Twitter postet. Der Wikipedia Eintrag von Wense ist uns zusammen mit dem Wort „Universaldilettant“ bereits Grund genug, diesen Roman auf dem Zettel zu haben.
(Christian Schulteisz Wense, Berenberg, erscheint am 25. Februar 2020)

Im Guardian wurde Saskia Vogels Roman Permission so beschrieben: „Permission is a story about grief, loneliness and sadomasochism.” Und mehr müssen wir eigentlich über dieses Buch gar nicht wissen, um es interessant zu finden. Außer vielleicht die Ankündigung, dass die Klischees von BDSM, die sich durch Heuler wie 50 Shades of Grey in unserer Kultur sedimentiert haben, konsequent unterlaufen werden.
(Saskia Vogel Permission, aus dem Englischen von Benjamin Dittmann, Secession, erscheint am 28. Februar 2020)

Die Fiktionalisierung von Biographien bleibt offenbar Trend. Das Mädchen mit der Leica ist Gerda Taro, eine in 1910 in Stuttgart geborene Fotografin, die 1937 im spanischen Bürgerkrieg starb. Mit 23 verließ Taro das nationalsozialistische Deutschland und ging ins Pariser Exil. Bei ihrer Das Mädchen mit der LeicaBeerdigung führten Pablo Neruda und Louis Aragon den Trauerzug an, ihr Grabmal schuf Giacometti. Dem Leben der ersten weiblichen Kriegsfotografin spürt Helena Janeczek nach, Aufhänger ist die (reale) Wiederentdeckung eines Koffers mit Negativen von Taro in Mexico.
(Helena Janeczek Das Mädchen mit der Leica, aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Berlin Verlag, erscheint am 2. März 2020)

Der andere Roman dieses Frühjahrs, der mit dem Bild der Serpentinen im Titel spielt, ist Olivia Wenzels Debüt 1000 Serpentinen Angst. Hier 1000 Serpentinen Angstbekommt die Metapher aber noch einmal eine ganze andere Wucht. So atemlos wie der Titel es vermuten lässt, scheint sich auch die Handlung durch die Jahrzehnte der wiedervereinigten Bundesrepublik zu winden. Schon die Vorschau ruft einige wichtige Ereignisse der letzten Jahrzehnte auf und positioniert die Erzählerin dazu. Nach einigen Theaterstücken dürfte Wenzels vielversprechender Roman die Autorin auch auf anderen Feldern der Literatur bekannt machen.
(Olivia Wenzel 1000 Serpentinen Angst, S. Fischer, erscheint am 4. März 2020)

Im Dezember 2019 erschien ein Text in der ZEIT, der die 122 Morde an Frauen in Deutschland durch Männer und Lebensgefährten im Jahr 2018 in horrend effektiver Weise einfach aufzählte. Ebenfalls 2019 wurde Rachel Louise Snyders No Visible Bruises, eine Reportage über häusliche Gewalt, auf die Liste der besten Bücher des Jahres gesetzt. Gewalt gegen Frauen als epidemisches und allgegenwärtiges Phänomen ist – viel zu spät – zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden. 2020 veröffentlicht der Kunstmann Verlag nun Christina Clemms Akteneinsicht. Geschichte von Frauen und Gewalt. In der Coverbild AktenEinsicht von Christina Clemm, ISBN 978-3-95614-357-1Verlagsvorschau heißt es darüber: „Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutsch­land von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Welche Lebensgeschichten sich hinter dieser erschreckenden Zahl verbergen, davon erzählt die Strafrechtsanwältin, empathisch und unpathetisch.“ Wir hoffen vor allem, dass die Vorgaben „emphatisch“ und „unpathetisch“ eingehalten wurden, und ein Buch entstanden ist, das auf nicht-exploitative Art und Weise einem Phänomen, das existieren kann, weil es oft im Privaten stattfinden, mehr Öffentlichkeit verschafft.
(Christina Clemm Akteneinsicht. Geschichte von Frauen und Gewalt, Kunstmann, erscheint am 3. März 2020)

Sibylle Berg hasst oder liebt man, und es gibt gute Gründe, sie mindestens anstrengend zu finden. Genau deswegen ist sie wiederum wahrscheinlich die Beste, um mit 17 renommierten Wissenschaftlern über den Zustand unserer Welt zu sprechen. Nerds retten die Welt entstand während der Recherchen zu GRM und wir möchten gerne, dass Sibylle Berg uns auch einmal interviewt.
(Sibylle Berg Nerds retten die Welt, Kiepenheuer & Witsch, erscheint am 05. März 2020)

Nicht nur, aber vor allem in Deutschland kommt spätestens seit Anfang der Nullerjahre keine technikpolitische Diskussion ohne den Verweis auf China aus. Dass irgendetwas Technisches in China schneller, früher oder Die Frage nach der Technik in Chinaenthusiastischer betrieben werde als anderswo, ist ein Standardkommentar geworden. Da kann es nicht schaden, sich damit zu beschäftigen, ob es tatsächliche Unterschiede im Technikdenken zwischen China und »dem Westen« gibt. Der international tätige chinesische Philosoph Yuk Hui, derzeit Dozent in Weimar, beschäftigt sich in dem Großessay Die Frage nach der Technik in China mit der Suche nach einem genuin chinesischen Denken über Technik in Anschluss an „westliche“ und „östliche“ Literatur.
(Yuk Hui Die Frage nach der Technik in China, Matthes & Seitz, erscheint am 6. März 2020)

Der Titel Von den Deutschen lernen ist gewagt und erzeugt allein dadurch schon Aufmerksamkeit. Von der jüdischen amerikanischen Von den Deutschen lernenPhilosophieprofessorin Susan Neiman kann man sich aber tatsächlich eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der Frage erhoffen, was an der spezifisch deutschen Art des Umgangs mit dem Bösen in der eigenen Vergangenheit wertzuschätzen sein könnte, ohne dass es in der typisch deutschen Selbstzufriedenheit der „Erinnerungsweltmeister“ versinkt.
(Susan Neiman Von den Deutschen lernen, aus dem Englischen von Christiana Goldmann, Hanser Berlin, erscheint am 9. März 2020)

Nicht nur ein Sachbuch, das sich mit dem Thema häusliche Gewalt gegen Frauen auseinandersetzt, erscheint dieses Frühjahr, sondern auch ein schon hochgelobter Roman. In Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau erzählt Meena Kandasamy autobiographisch gefärbt von der Ehe zwischen einer jungen Frau und einem Professor, der sich nach kurzer Zeit vom „perfekten Mann“ zum „perfekten Monster“ (Verlagsvorschau) entwickelt. Die Vorschusslorbeeren, mit denen dieser Roman jetzt nach Deutschland kommt, sind groß, aber man darf zu Recht hoffen, dass er ihnen gerecht wird.
(Meena Kandasamy Schläge. Porträt der Autorin als junge Ehefrau, aus dem Englischen von Karen Gerwig, Culturbooks, erscheint am 9. März 2020)

Dass die Deutschen ein ganz eigenes Verhältnis zu ihren kreuzungsfreien Fernstraßen haben, pfeifen die Spatzen von den Heckspoilern. Auf der Buchdeckel „978-3-608-50448-4Autobahn ist der Deutsche ganz bei sich, am liebsten im schwarzen TDI mit 190 auf der linken Spur – oder bei Sanifair und Riesenbockwurst. Soweit das Klischee. Zugleich ist die ohnmächtige Wut auf den Autoverkehr in seiner spezifisch hässlich-deutschen Machart seit Langem nicht so laut und präsent gewesen wie heute. Michael Kröchert hat ein Jahr lang die deutschen Autobahnen bereist: genau zur rechten Zeit.
(Michael Kröchert Autobahn, Tropen, erscheint am 11. März 2020)

Als Katharina Herrmann ihren Beitrag Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen für 54books schrieb, avancierte dieser über Nacht zu dem meistgelesen und -diskutierten Beitrag auf diesem Blog. Rund drei Jahre später erscheint nun bei Reclam das gleichnamige Buch Dichterinnen & Denkerinnen. Von Luise Gottsched bis Marieluise Fleißer: Katharina Herrmann stellt zwanzig Autorinnen und deren (mal mehr, mal weniger) vergessene Werke vor. Wer die Artikel der Autorin kennt, weiß, dass man sich über 200 Seiten bestens unterhalten und hinterher klüger fühlen wird. Ganz klar: absolutes Muss im Frühjahr!
(Katharina Herrmann Dichterinnen und Denkerinnen, Reclam, erscheint am 11. März 2020)

Poschardt? Soll das ein Witz sein? »Drulf«, wie Kenner den schneidigen Franken nennen, der seinen Doktorgrad bei Formularen gerne mit ins Vorname-Feld einträgt, hat seinen Ruhm eher als ständiges mediales Buchdeckel „978-3-608-98244-2Ärgernis erworben denn als seriöser Autor. Von einer Art porschefahrendem Maskottchen der frühen Berliner Republik hat er sich inzwischen zum Chefredakteur bei Springer und Lieblings-Twittertroll der Boomer-Jahrgänge hochgearbeitet, aber: Sollte man denn ein Buch von ihm lesen? Ja, man sollte Mündig lesen, und sei es, um sich fundierter ärgern zu können. Auf Twitter postet er ja keine zusammenhängenden Sätze mehr.
(Ulf Poschardt Mündig, Klett-Cotta, erscheint am 14. März 2020)

Cover ZerstörungÜber das Schreiben in einer Diktatur, die unerwartet über die Erzählerin hereinbricht, erzählt Cécile Wajsbrot in ihrem Roman Zerstörung. Die Inhaltsangabe des Verlags über eine Diktatur, die die Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht und Geschichte tilgt, klingt nach einem Roman, der auf aktuelle politische Entwicklungen in Europa und dem Rest der Welt reagiert.
(Cécile Wajsbrot Zerstörung, aus dem Französischen von Anne Weber, Wallstein, erscheint am 20. März 2020)

Da heutzutage jeder Hinz und Kunz im politischen Tagesgeschäft mit irgendwelchen Rekursen auf kulturelle »Eigenbestände« von wem auch immer hausieren geht, ist es dringender denn je notwendig, sich ein wenig fundiert damit auseinanderzusetzen, was ein Kulturelles Erbe überhaupt sein könnte. Sabine Benzer beschäftigt sich im Dialog mit einer Reihe hochkarätiger Expert*innen mit unterschiedlichen Aspekten des Themas. Sicherlich lesenswert und erfreulich dünn.
(Sabine Benzer (Hg.) Kulturelles Erbe, Folio, erscheint am 31. März 2020)

Im April veröffentlicht Rowohlt die Übersetzung des vierten Romans von Khaled Khalifa. Das Buch trägt den Titel Keine Messer in den Küchen dieser Stadt (zuerst veröffentlicht 2013) und erzählt anhand des Schicksals einer Familie in Aleppo die Geschichte des modernen Syrien. Der Erzähler wird geboren während Hafiz al-Assad die Macht im Land an sich reißt. Man kann nur hoffen, dass die Übersetzung das Versprechen dieses Buches einhält. Verheißungsvoll klingt bereits, was der Guardian über die englische Version schreibt: „The writing is superb – a dense, luxurious realism pricked with surprising metaphors.“
(Khaled Khalifa Keine Messer in den Küchen dieser Stadt, aus dem Syrischen von Hartmut Fähndrich, Rowohlt, erscheint am 21. April 2020)

Ungewöhnlich und vermutlich eine Beschreibung eines Gemäldes ist der Titel von Alena Schröders Roman über drei Frauen Bildergebnis für Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleidim 20. und 21. Jahrhundert. Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid erzählt von den Umwegen, auf denen das Kunstvermögen einer jüdischen Familie im Jahr 2017 zu der 27-jährigen Hannah Borowski gelangt. Nach den unerwarteten Verstrickungen von Lebensläufen klingt die Handlung um die junge Senta Köhler in den 1920er Jahren, die ihr Kind aus erster Ehe beim Vater zurücklassen muss, und Hannah Borowski in der Gegenwart des 21. Jahrhundert. Wer der Autorin in ihrem Podcast sexy und bodenständig im Gespräch mit ihrem Kollegen Till Raether zugehört hat, weiß schon ein paar Dinge über die Entstehung dieses Romans.
(Alena Schröder Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid, Ullstein, erscheint am 24. April 2020)

Einen Schreibtisch mit Aussicht braucht frau, um zu schreiben. Ausgehend von Virginia Woolfs Aussage, eine Frau brauche nur 500 Pfund im Monat und ein eigenes Zimmer (A room of one’s own), um große Literatur verfassen zu können, versammelt diese Anthologie (herausgegeben von Ilka Piepgras) Essays, in denen sich Schriftstellerinnen mit ihrem Schreiben auseinandersetzen; darunter Autorinnen wie Eva Menasse, Sybille Berg, Zadie Smith, Sheila Heiti und Joan Didion. Der Essayband reiht sich damit ein unter Bände mit unterschiedlichen Autor*innen, die in den letzten Jahren erschienen sind.
(Ilka Piepgras (Hg.) Schreibtisch mit Aussicht, Kein & Aber, erscheint am 12. Mai 2020)

Drei 34-jährige Kulturjournalisten aus Berlin und eine 31-jährige Kulturjournalistin aus Berlin unterhalten sich in Liebe, Körper, Wut & Nazis über „Fragen, die niemand zu stellen wagt“. Das klingt entsetzlich. Man Buchdeckel „978-3-608-50465-1möchte es aber trotzdem gerne lesen, denn entweder ist der „Selbstversuch“ von Jennifer Beck, Fabian Ebeling, Steffen Greiner und Mads Pankow wirklich aufschlussreich; oder man lernt bei der Lektüre zumindest etwas über Illusionen und blinde Flecke eines bestimmten Segments des Literaturbetriebs. (Offenlegung von Matthias Warkus: Ich habe einmal in einer Marburger WG gewohnt, in der Steffen Greiner ab und zu am Küchentisch saß.)
(Jennifer Beck et al. Liebe, Körper, Wut & Nazis, Tropen, erscheint am 23. Mai 2020)

Das ist sie, die Liste der Neuerscheinungen des Frühjahrs, die das 54books-Team für erwähnens- und empfehlenswert hält. Und nun lest!

Feuilleton auf unserem Planeten

Als Tilman Winterling im November 2012 einen Beitrag mit dem Titel “Startschuss!” auf seiner neuen Homepage 54books.de veröffentlichte, stand dort lediglich “Hier soll in nächster Zeit mein Blog entstehen.” Einen genauen Plan gab es damals eigentlich nicht, Tilman hatte sich im Vorfeld nicht mit anderen Blogs, Twitter oder Rezensionen beschäftigt; er war nach eigener Aussage ein Hobbyleser, wie es bis heute Bloggern vorgeworfen wird. 

Aber 54books.de blieb nicht der Blog einer einzelnen Person. Mit dem Einstieg von Katharina Herrmann – die inzwischen wieder auf Kulturgeschwätz bloggt –  erweiterte sich der Blog zu einem Projekt, das immer neue Stimmen in sich vereinte und eine kleine, aber stets lebendige Plattform für Texte über Literatur, den dazugehörigen Betrieb und literarisches Leben wurde. Matthias Warkus fuhr im Bloggerbus nach Görlitz, Berit Glanz rief mal eben schnell #54reads ins Leben, Samuel Hamen entwickelte tendenziöse Thesen zur Literaturkritik, Simon Sahner schlug sich durchs Dickicht des Literaturbegriffs, Johannes Franzen sezierte Robert Menasses Fiktionen und Nichtfiktionen, Elif Kavadar deckte die Absurdität des Zensurvorwurfes auf und Peter Hintz flanierte mit Nobelpreisträgern.

Als Wolfram Eilenberger 54books im Interview mit dem Tagesspiegel als “fast schon zu niveaubetont” bezeichnete, deutete sich an, dass hier vielleicht etwas entstanden war, das man weiterverfolgen und vorsichtig ausbauen sollte. Aber wie? Wir wollen uns Kathrin Passigs Aussage über 54books zu Herzen nehmen: “Ich glaube, das war tatsächlich das erste Mal, dass ich so was Literaturfeuilletonartiges gelesen habe und dachte “Hey! Das spielt ja auf meinem Planeten!”

Wir wollen versuchen mit 54books eine Lücke zu schließen. 54books soll ein Ort sein, von dem einerseits schnell und unkompliziert auf aktuelle Debatten reagiert werden kann, der uns und diversen Gastautor*innen Raum bietet, Gedanken auszuarbeiten und zur Diskussion zu stellen, und der uns andererseits die Flexibilität gibt, auch Themen zu bearbeiten, die sonst nicht vorkommen oder zunächst auf wenig Interesse stoßen und dabei nicht an Zeichenlängen gebunden zu sein. In sozialen Medien finden so viele spannende und inspirierende Gespräche über Literatur und alles, was damit zusammenhängt statt. Dafür einen ergänzenden Ort zu haben, ist die Idee von 54books.

Wie wäre es also, wenn das Feuilleton ins Internet käme? Wenn all die Menschen, die sich tagtäglich online in Deutschland über Literatur austauschen, selbst auf dem Feuilleton Platz nehmen würden? Wenn es einen Ort gäbe, an dem die langen Threads, die Twitter-Gespräche und Facebook-Diskussionen zu längeren Texten ausgearbeitet werden können? Wo aber auch die Formen und Längen, die im Feuilleton keinen Platz mehr haben, wieder einen Raum bekommen? Diese Vorstellung unter einem Schirm Autor*innen zu versammeln, die sonst auf eigenen Blogs, in Twitter-Threads, längeren Facebook Statusmeldungen oder mal in Magazinen und Zeitungen Rezensionen und Essays veröffentlicht hatten, hat sich aus dem Blog 54books langsam entwickelt. Nun wollen wir 54books auch ganz offiziell zu diesem Raum machen, den wir mit euch gestalten wollen. Dazu nehmen wir gerne Vorschläge für Essays von euch entgegen, die wir dann besprechen können. 

Aus einem Blog, auf dem immer dann etwas erschien, wenn eines der Mitglieder, einen Text geschrieben hatte, soll ein regelmäßiges Magazin für Feuilleton im Internet werden. Im Wochenrhythmus sollen jeden Mittwoch Beiträge veröffentlicht werden. Neben längeren Essays (3x im Monat, jeweils mittwochs) soll monatlich auch ein literarischer Text veröffentlicht werden, so wollen wir den Grundgedanken von www.54stories.de in 54books integrieren. Wir wollen  Gastautor*innen dazu holen, neue Stimmen suchen und schon etablierten einen freieren Raum bieten. Außerdem werden wir selbst Essays beisteuern, fremdsprachige Texte übersetzen (lassen), Gastbeiträge redaktionell betreuen und das Ganze mit einer kürzeren, wöchentlichen Kolumne und einem monatlichen Presserückblick abrunden. Und all das wollen wir bezahlen, zuallererst natürlich die Texte, die Menschen für uns schreiben und übersetzen. Wir sind daher auf Unterstützung durch unsere Leser*innen über Steady und andere Förderungen angewiesen. Dabei legen wir Wert darauf, dass wir die Schreibenden bezahlen können, aber auch darauf, dass Menschen nicht ausgeschlossen werden, die sich ein Abo im üblichen Preisbereich nicht leisten können. Deswegen bleiben wir mit unserem niedrigsten monatlichen Betrag bei Steady unter den gewohnten Abo-Preisen und die Seite wird die erste Zeit ohne Paywall bleiben. 

Alles in allem und kurz gesagt: Wir wollen mit 54books Feuilleton auf unserem und hoffentlich eurem Planeten machen und freuen uns darauf, aus unserem privaten Blog jetzt ein Online-Sofa zu machen. 

Gezeichnet, das 54books-Team 

Rückblick auf 2019

Welches war das beste Buch, das du 2019 gelesen hast?

Matthias Warkus: Sachbuch – James Donovan: Shoot for the Moon; Essayband – Jia Tolentino: Trick Mirror
Johannes Franzen: Emily Nussbaum: “I like to Watch”
Berit Glanz: Ich fand “Rage Becomes Her: The Power of Women’s Anger” von Soraya Chemali sehr interessant, viel habe ich über “Vom Fischen und von der Liebe – Mein irisches Tagebuch” von Benoîte Groult nachgedacht und ich habe sehr gerne Nella Larsen und Karin Boye (wieder)gelesen. Außerdem hatte ich viel Freude daran “Zwei für mich, einer für dich” von Jörg Mühle vorzulesen.
Tilman Winterling: Ich hab 2019 durchaus ein paar sehr ordentlich Sachbücher gelesen. “Der Klang von Paris” von Volker Hagedorn hat mich angeregt, mir Spaß und mich neugierig gemacht.
Simon Sahner: Wirklich beeindruckt hat mich Maggie Nelson “The Argonauts”, das ist wirklich großartig.
Samuel Hamen: Jeanette Winterson: “Frankissstein” (bitte nicht vom albernen Titel blenden lassen)
Peter Hintz: “Eine Frau” von Annie Ernaux war wunderbar (wie alle ihre Bücher), sehr gut gefallen hat mir aber auch “Fliegen” von Albrecht Selge.
Elif Kavadar: “Unerhörte Stimmen” von Elif Shafak habe ich sehr gerne gelesen. Zuletzt hat mich “Loyalitäten” von Delphine de Vigan aber auch sehr beeindruckt. Nicht zu vergessen: “The Color Purple” von Alice Walker.

Welches war das schlechteste Buch, das du 2019 gelesen hast?

Berit Glanz: Es gab einige, die ich rasch abgebrochen habe.
Johannes Franzen: “Die Geschichte der Frau” von Feridun Zaimoglu:
Tilman Winterling: “Der Lesebegleiter” von Tobias Blumenberg war schon ausgesprochen ärgerlich. Meine jährliche Martin-Walker-Lektüre war wieder die zu erwartende Enttäuschung (freue mich schon auf 2020).
Simon Sahner: Ich habe es rechtzeitig abgebrochen, aber Edgar Rai “Im Licht der Zeit” war in jeglicher Hinsicht schlimm.
Tilman Winterling: Da fällt mir ein, ich höre gerade so einen Krimi als Hörbuch “Todesfrist” von Andreas Gruber, das ist auch wirklich ausgemachter Quatsch – nebenher spiele ich Fifa 20 auf der Playstation und bin momentan mit dem SC Freiburg ganz gut in der Champions League dabei, was ich wiederum nicht auf den Krimi zurückführe.
Matthias Warkus: Ich habe mich ziemlich geärgert über das neue Buch von Anke Stelling und über »Proleten, Pöbel, Parasiten« von Christian Baron. Würde ich aber beide nicht direkt »schlecht« nennen.
Samuel Hamen: Axel Milberg: Düsternbrook

Das überflüssigste Buch 2019 war?

Johannes Franzen: Ulrich Tukurs neuer Roman stellvertretend für alle Romane von Promis, die die Verlage als große Titel in ihre Programme gehievt haben. Stop doing that.
Berit Glanz: Ich bin kein Fan von all den Selbstoptimierungsratgebern, aber zu faul da jetzt einen Titel zu nennen.
Matthias Warkus: Michael Winterhoff, »Deutschland verdummt«. Man muss es gar nicht gelesen zu haben, um das zu wissen.
Tilman Winterling: Diese “Lesebegleiter”-Bücher, für die “Der Lesebegleiter” stellvertretend steht: was soll das? einen traditionellen Kanon, der schon 5.400 mal durchexerziert wurde, nochmal und nochmal wiederkäuen – bitte neue Perspektiven oder einfach lassen.
Simon Saher: Solange Martin Walser noch alte Notizzettel zu veröffentlichen hat, wird dafür jedes Jahr wieder Papier verschwendet werden. Überflüssig waren aber auch wieder einige Bücher, bei denen man merkte, dass der Autor Kumpels in einem Verlag hat, weswegen der Nostalgieflash dann veröffentlicht wurde.
Tilman Winterling: Man sollte eigentlich noch viel mehr Promiromane verlegen, es gibt doch mit Sicherheit noch paar so komisch Fernsehhanseln, die noch auf etwas brüten. So Menschen, die auf einer Party sagen “Ich schreibe ja auch!”, dann wackeln sie ein bisschen rum und “naja, eine Kurzgeschichte (2 Seiten) und einen Romananfang (2 Seiten)” – da wird man noch was drauszaubern können. Ich erstelle mal eine Liste von Leuten, die sollten:

  • Beckmann (saunachdenklich, bisschen kritisch, bisschen politisch, eigentlich Punk)
  • JB Kerner (kumpelig, kernig!)
  • Barbara Schöneberger (freches Frauenbuch)
  • Horst Lichter (kölscher Krimi)

Dabei fällt mir ein, man könnte das auch mit Influencern machen. Welcher Roman wohl in Bibi schlummert?!
Samuel Hamen: Wolfgang Joop: “Die einzig mögliche Zeit”.
Peter Hintz: Das Jahrzehnt, das mit “Deutschland schafft sich ab” von Thilo Sarrazin begann, endet mit “Erst die Fakten, dann die Moral!” von Boris Palmer. Passt. Leider.
Elif Kavadar: “Stella” von Takis Würger hat ziemlich viel von dem vereint, was an der Literaturbranche fragwürdig ist. Hätte nicht sein müssen, das Buch.

Welches war die interessanteste Feuilleton-Debatte/der interessanteste Feuilleton-Artikel des Jahres?

Johannes Franzen: How to choose. Es war eine reiche Ernte dieses Jahr! Aber ich sage: Immer noch die Kontroverse um “Stella” von Takis Würger
Tilman Winterling: Es gibt keine interessanten Feuilletondebatten. An der “Stella”-Debatte hat mich durchaus interessiert, dass dieser Furor noch möglich ist, ein Buch so aufregen kann – das ist an sich ja wirklich erfreulich.
Berit Glanz: Ich habe aus einigen Beiträgen zur Debatte um ”Stella” und zu der Nobelpreisverleihung an Peter Handke viel gelernt. Ansonsten gab es viele interessante Feuilleton-Artikel in diesem Jahr.
Simon Sahner: Am wichtigsten war wahrscheinlich wirklich die Debatte um “Stella”, interessant fand ich aber auch die Diskussion um Karen Köhlers “Miroloi”, die war vor allem entlarvend. Was da an fragwürdigen Dingen gesagt wurde, war schon beeindruckend.
Matthias Warkus: Tatsächlich interessant fand ich die Debatte um Antisemitismus und Architektur, die sich an dem antisemitischen Ezra-Pound-Zitat, das Hans Kollhoff an seinem Walter-Benjamin-Platz in Berlin untergebracht hat, entsponnen hat.
Samuel Hamen: Ich würde Frage 4 & 5 so beantworten wollen: Die Debatte, die nicht im ausreichenden Maß geführt wurde, gilt der Distributionsproblematik, mit der die Branche zu kämpfen hat. Also: Das Barsortiment bei den Großhändlern ist teils dramatisch geschrumpft, die Händler klagen über immer kleinere Margen, die Verlage darüber, dass ein Teil ihres Programms nicht mehr in Umlauf gebracht wird. Das Feuilleton widmet sich (zurecht) ästhetischen Fragestellungen, aber diese strukturelle Facette, die das Lesen und Schreiben ebenfalls stark beeinflusst, bleibt größtenteils außen vor – vielleicht weil sie sich nicht so hübsch / hyperklug in vergeistigter Form verhandeln lässt. Mittel- und langfristig wird sich dieses Strukturdefizit vielleicht stärker auf die literarische Vitalität auswirken als der neue schlechte Würger, der sicherlich gerade in der Mache ist und auf den sich die gesammelten Feuilletonistas- und -os mit Sicherheit stürzen werden.
Peter Hintz: Die das ganze Jahr andauernde Kanonisierungs- und Dekanonisierungsdebatte, die anhand verschiedener Schriftsteller*innen ausgetragen wurde (von Hölderlin bis zum #vorschauenzählen), habe ich mit großem Interesse verfolgt. Außerdem die vielen Faktualitäts- und Fiktionalitätsdebatten (Stella, Relotius, Hingst, Handke).
Elif Kavadar: Auch “Stella” und Handke, wobei ich die Debatten nicht interessant fand, sondern ärgerlich. Beiden Debatten liegt ähnliches zugrunde (Privilegien und das Nicht-Abgeben-Wollen von Definitionsmacht). Still a long way to go.

Welches war die überflüssigste Feuilleton-Debatte/der überflüssigste Feuilleton-Artikel des Jahres? Welches war die Feuilleton-Debatte, die am weitesten vom wirklichen Leser entfernt war?

Johannes Franzen: Nach dem fünften empörten Artikel über Petra Hartliebs Buchpreis-Bericht hat sich zumindest bei mir eine gewisse Ermüdung eingestellt.
Tilman Winterling: Feuilleton-Debatten sind per definitionem vom wirklichen Leser entfernt. (Als Aussage von mir natürlich Müll, weil das auch nur Öl ins Feuer dieses platten, ewigen “Feuilleton ist am Leser vorbei” ist; daher nehme ich es wieder zurück.)
Berit Glanz: Ich bin keine Freundin der Twitter-vs.-Feuilleton-Beiträge, dazu gab es ja in den letzten Monaten einiges. Auch die wiederholt aufgekochten Beiträge zu Identitätspolitik / Political Correctness / Kulturverfall fand ich sehr ermüdend und ärgerlich.
Matthias Warkus: Am überflüssigsten sind jedes Jahr die FAZ-Beiträge, in denen sich gealterte Professoren darüber echauffieren, wie dumm die Studierenden seit Neuestem wieder seien.
Simon Sahner: Jeder Artikel, der zum gefühlt 1000. mal die Fahne der Freiheit gegen scheinbare Sprachverbote schwenkt.
Elif Kavadar: Was Berit sagt. Und dieser eine Text von Martenstein übers Sensitivity Reading. Generell alle Texte von alten Männern, die in großen Zeitungen von Zensur sprechen.

Das beste/schlechteste lektürebegleitende Lebensmittel 2019?

Matthias Warkus: Salatherzen. Einfach mit Vinaigrette aus der Hand essen! Spart Zeit und Schüsseln!
Tilman Winterling: Ich hab 2019 durchaus eine beachtliche Zahl an Nüssen gegessen. Das soll sehr gesund sein, kleckert nicht – aber ich habe diese irrationale Angst vor Mandeln mit Blausäure. Wahrscheinlichster Tod von mir: selbst vergiftet mit blausäurehaltigen Mandeln beim Lesen.
Berit Glanz: Dominosteine, Lakritz, Käsebrote sind gut. Passen auch alle prima zu den vielen Bechern Kaffee, die meine Lektüren immer begleiten.
Simon Sahner: Mandeln sind ein Kindheitstrauma von mir, weil meine Mutter immer sagte, ich solle nicht so viel davon essen, wegen der Blausäure…einem Kind sagen, in etwas, das es gerne isst, sei eine Säure. Ich glaube, ich habe viel Sellerie gegessen dieses Jahr und Ingwer literweise getrunken.
Tilman Winterling: Ich würde da auch mit dem Finger auf meine Mutter zeigen wollen, die ich im übrigen sehr, sehr schätze!
Johannes Franzen: Man isst nicht beim Lesen!
Samuel Hamen: gut: die katastrophal misslungenen Kekse, die Kinder befreundeter Eltern mit ihren Tollpatschhänden backen – sie sind viel zu fest, krümeln also nicht und schmecken nach so wenig, dass die Textaufmerksamkeit nicht gestört wird. Schlecht: die gut gebackenen Kekse der Streberkinder – zu viel Marmelade, zu viele Krümel, zu viel Ablenkung.
Peter Hintz: Eigentlich kann man alles außer Lakritz essen.
Berit Glanz: Das ist leider falsch, Peter.
Elif Kavadar: Was Berit sagt (generell ist das eine gute Lebensdevise). Und Sonnenblumenkerne.

Berit Glanz: Vielleicht sollten wir “54Books & 54Snacks” als Kochbuch schreiben.

Der unnötigste sachliche Fehler in einem Artikel/Buch im Jahr 2019 war….?

Tilman Winterling: Ich will hier nur reinschreiben, dass Matthias immer so schöne Fehler findet. Mir fallen die ja gar nicht auf.
Matthias Warkus: Auf Befragen fallen mir natürlich keine ein.
Tilman Winterling: Sicher?
Berit Glanz: Fehler in eigenen Texten ärgern mich am meisten, bei anderen bin ich recht nachsichtig.
Matthias Warkus: OK, Tilman, dann sag ich halt: die atemberaubend, unverfroren, hirnschüttelnd miserabel falsche französischsprachige Passage in Takis Würgers »Stella«. Die ist symptomatisch für so vieles.

Ulkigste Äußerung einer Person des öffentlichen Lebens zum Buchmarkt 2019?

Tilman Winterling: Richtig super finde ich, dass jeder Verlag, der groß posaunte “WIR LASSEN DIE FOLIE WEG!” eine Meldung in sämtlichen Branchenblättchen wert war.
Berit Glanz: Tilman, ich finde das mit der Folie gut.
Johannes Franzen: Also, dass Denis Scheck gesagt haben soll, durch den Nobelpreis für Handke habe die “politische Korrektheit” eine “krachende Ohrfeige” erhalten, hat mir zumindest ein gequältes Schmunzeln abgerungen. Vor allem, wenn man bedenkt, was für einen Ohrfeigenhagel es danach setzte.
Peter Hintz: Stimme Johannes zu.
Matthias Warkus: Da fällt mir tatsächlich nichts Konkretes ein.
Samuel Hamen: Dass Twitter das Ende des Denkens bedeutet, dass die Plattform anti-literarisch ist und so weiter und so fort.
Berit Glanz: Einige Aussagen von Bildungsministerin Anja Karliczek zu den schlechten Lesekompetenzergebnissen der Pisa-Studie fand ich ärgerlich, weil sie nicht am zentralen Punkt ansetzen, dass sehr viel mehr Geld in das Bildungssystem investiert werden muss. Ist das überhaupt noch Buchmarkt? Im weitesten Sinne schon, oder?

Hast du 2019 ein Buch wiedergelesen oder wiederentdeckt?

Matthias Warkus: Einige. U.a. John Keegan, »The Face of Battle« – wenn man im Leben nur ein einziges Buch über Militärgeschichte liest, dann bitte dieses.
Simon Sahner: Joan Didions Essays. In die hatte ich mit 18/19 mal reingelesen und fand sie langweilig, dieses Jahr hab ich “The White Album” gelesen und war begeistert.
Berit Glanz: Karin Boye “Kallocain” habe ich wiedergelesen und sehr gemocht.
Johannes Franzen: Anlässlich der vielen Preisskandale in diesem Jahr habe ich Edward St. Aubyns supervergnügliche Satire “Lost for Words” wieder als Hörbuch gehört.
Samuel Hamen: Die “Pariser Briefe” des luxemburgischen Schriftstellers Frantz Clément, der zwischen 1924 und 1933 in Paris lebte und Freund*innen zuhause von allem und nichts berichtete: von der Einsamkeit des Exilierten, von dem Pochen der Metropole, von der Sehnsucht nach einem Heimatgefühl abseits extremistischer / exkludierender Konnotationen. Auch, etwas jünger: Thomas Stangls “Der einzige Ort”.
Peter Hintz: Die neue Susan-Sontag-Biografie von Benjamin Moser kann ich nur mit Vorbehalten empfehlen, die Essays von Sontag (z.B. die Sammlung “Against Interpretation”) sind aber immer wieder eine Lektüre wert.
Elif Kavadar: Äh, ich habe wieder “Harry Potter und die Heiligtümer des Todes” gelesen/gehört und entschieden, dass ich die Bücher immer noch sehr mag, J.K. Rowling aber so gar nicht.

Hat sich 2019 dein Leseverhalten verändert?

Tilman Winterling: Hab mir immer noch keinen eReader gekauft. Aber z.B. das digitale SZ Abo verlängert, weil mich Zeitungsformat (als das Format von Zeitungen, nicht das Format Zeitung) schon immer genervt hat. Wahrscheinlich habe ich insgesamt ein bisschen weniger gelesen.
Simon Sahner: Ich glaube dieses Jahr war das erste Jahr, in dem ich mehr Literatur, die von Frauen geschrieben wurde, gelesen habe und ich glaube, ich habe vieles gezielter gelesen, im Sinne von “Das ist wichtig, das sollte ich lesen.”
Johannes Franzen: Es stellt sich heraus, dass mehr Arbeit mit weniger Lesen einhergeht, was ziemlich traurig ist, wenn dein Beruf eigentlich das Lesen ist.
Matthias Warkus: Ich habe endgültig beschlossen, dass es okay ist, mehr Bücher zu kaufen als man dann auch liest.
Samuel Hamen: Nein, ich lese vielleicht öfters schlecht abfotografierte JPEG-Handyfoto-Texte, das macht sehr wenig Spaß.
Berit Glanz: In diesem Jahr habe ich viel geschrieben und hatte dadurch etwas weniger Zeit zum Lesen. Das frustriert mich manchmal. Ich lese momentan vermehrt lange Artikel (“Longreads”) in Zeitschriften und online, dadurch lese ich wahrscheinlich etwas weniger Romane.
Elif Kavadar: So sehr wie noch nie. Ich habe viel, viel weniger gelesen (was schade ist), mich dafür aber viel bewusster damit beschäftigt, was mich wirklich interessiert und weitaus mehr Sachbücher gekauft und gelesen als je zuvor. Außerdem habe ich mein Regal radikal aussortiert und besitze im Vergleich zu vorher kaum mehr Bücher, was irgendwie sehr befreiend, früher aber undenkbar gewesen wäre.

Welcher Indie-Verlag hat 2019 immer noch zu wenig Aufmerksamkeit erhalten?

Tilman Winterling: Auf der einen Seite will man immer sagen “alle Indie Verlage”, andererseits ist auch dieses ewige Lobhudeln falsch, es gibt doch auch Indies, die fürchterlichen Quatsch machen, für die Entscheidung, ob man Quatschbücher verlegt, ist es völlig unabhängig ab man “abhängig” oder “unabhängig” ist. Und trotzdem: ganz viele bekommen zu wenig Aufmerksamkeit und jedes Jahr kann man sagen Frohmann, Mikrotext, Weidle, Lilienfeld und viel andere, die irre gutes Zeug abseits des Mainstream machen.
Simon Sahner: Letztes Jahr habe ich Frohmann-Verlag gesagt, das gilt natürlich immer noch, aber dieses Jahr ist mir dank Sina Kamala Kaufmanns “Helle Materie” vor allem Mikrotext aufgefallen.
Johannes Franzen: Verbrecher (Es war schon reichlich, aber es könnte noch mehr sein.)
Matthias Warkus: Was Johannes sagt, denke ich mal.
Berit Glanz: Ich bin Fan von Reprodukt, die können meiner Meinung nach immer mehr Aufmerksamkeit bekommen. In diesem Jahr habe ich versucht mehr Bilderbücher aus unabhängigen Verlagen zu kaufen und empfehle den Kullerkupp Verlag und Baobab Books, die haben tolle Bücher im Programm.

Welcher literarische Trend wird 2020 vorherrschen?

Matthias Warkus: Der Trend zum irgendwie mit Sex und fahrlässigen Geschichtsdeutungen vollgestopften Dickbuch aus außerliterarisch bekannter Feder (»Tatortkommissarroman«) wird sich sicherlich weiter verstärken.
Tilman Winterling: Trends sind einfach richtig geil. Ist Waldbaden schon wieder durch? Neulich hat eine Kollegin – die nicht wusste, dass ich sie höre – zu einem anderen Kollegen gesagt: “Tilman macht das schon, der ist Narzisst.” War bestimmt fürchterlich lieb gemeint, seitdem sehe ich überall Bücher über Narzissten. Ansonsten sollte man mehr Bücher über Leute machen, die gar nichts zu erzählen haben und ihnen dann Raum geben, damit sie den großen Roman, der bestimmt in ihnen schlummert, endlich schreiben können.
Simon Sahner: Ich denke das essayistische Selbsterzählen, Personal Essays werden noch stärker in den Fokus rücken und Autofiktion scheint ja immer weiter auf dem Vormarsch zu sein. Generell eine Stärkung faktualer oder autofiktionaler literarischer Texte. Das fände ich auch persönliche keine schlechte Entwicklung.
Samuel Hamen: ganz grundsätzlich Romane, die es sich konsequent mit vielem zu einfach machen, mit ihren Szenarien (einfalls- und hilflose Dystopien werden sicherlich zuhauf kommen), mit ihrer immunisierenden “Wokeness”, mit ihrer Medienkritik, mit ihren einfältigen Geschichtsbildern und Gesellschaftsdiagnosen, mit ihren antimodernen Ressentiments, die als legitime Einwände verschnürt werden, also eigentlich mit allem. Sobald die Texte ahnen, dem sog. Zeitgeist auf der Spur zu sein, wirds gefährlich / öde / vorhersehbar.
Berit Glanz: Der Sachbuchboom wird weiter um sich greifen und wahrscheinlich auch zu noch mehr schnell zusammengeschusterten Debattenbüchern führen.
Elif Kavadar: True Crime wird 2020 einen Höhepunkt erreichen, glaube ich.

Auf welche Neuerscheinung 2020 freust du dich besonders?

Tilman Winterling: Der neue Martin Walker Krimi! Freue mich sehr auf Katharina Herrmanns “Dichterinnen und Denkerinnen”.
Simon Sahner: Ich bin sehr gespannt auf Olivia Wenzels “1000 Serpentinen Angst”, Sarah Bergers neues Buch und auf Sjón “CoDex 1962”.
Tilman Winterling: Ich freue mich auf alle hochgejazzten Debüts, die mehr als 150k Vorschuss bekommen haben.
Matthias Warkus: Ist es sehr schlimm, überhaupt nicht zu wissen, was 2020 Wichtiges rauskommt?
Samuel Hamen: Schimpft mich Fanboy, stempelt mich als Badminton-Simplizist ab, aber: Leif Randts “Allegro Pastell”. Auf was ich mich auch freue: Valerie Fritschs “Herzklappen von Johnson & Johnson”.
Peter Hintz: “Death in Her Hands” von Ottessa Moshfegh.
Berit Glanz: Wenn man sich hier als letztes äußert, kann man den anderen nur zustimmen. Das tue ich hiermit. Ansonsten freue ich mich besonders auf eine Neuerscheinung (ich sag noch nicht welche), die im Herbstprogramm 2020 kommen wird. In den Frühjahrsprogrammen habe ich soviele spannende Bücher gesehen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Es freut mich aber wirklich, dass nun bald auch meine deutschen Freunde “CoDex 1962” von Sjón lesen können und ich bin gespannt auf Alena Schröders Roman bei Ullstein.

Welche Neuerscheinung 2020 lässt du lieber liegen?

Simon Sahner: Das Buch, das Peter Handke hoffentlich nicht über das zweite Halbjahr 2019 schreiben wird.
Johannes Franzen: Wie jedes Jahr den neuen Walser.
Matthias Warkus: Wie jedes Jahr den neuen Winterhoff und den neuen Spitzer.
Berit Glanz: Ich lasse bei dem großen Angebot an Büchern ja zwangsläufig mehr liegen, als ich lesen kann. Momentan versuche ich noch diverser zu schauen, von mir bis jetzt übersehene Bücher von Autorinnen zu lesen und übersetzte Bücher aus kleinen Sprachen gezielt zu suchen. Liegen bleiben dann wahrscheinlich Neuerscheinungen von kanonisierten Großliteraten.

Welchen (vergessenen) Klassiker sollte man 2020 wiederlesen bzw. neulesen?

Matthias Warkus: Jetzt wo die Neuausgabe endlich raus ist, natürlich Klaus Theweleit, »Männerphantasien«. Wenn man die unzähligen Satzfehler erträgt, heißt das. Inhaltlich rentiert es sich, und das Buch ist sicher aktueller, als es je war.
Simon Sahner: “Männerphantasien” liegt schon auf meinem Nachttisch, das also auf jeden Fall. Und ich möchte es endlich schaffen “Effingers” von Gabriele Tergit zu lesen. Nach der Lektüre von Maren Lickhardts “Pop in den 20er Jahren” will ich außerdem mehr Literatur von Frauen aus der Dekade lesen.
Tilman Winterling: Gerade flippen ja alle regelrecht auf “Middlemarch” von George Eliot aus, das kann ich bestimmt auch 2020 lesen. Ich wollte echt mal Johnsons “Jahrestage” lesen.
Matthias Warkus: »Jahrestage« habe ich nach mehreren Jahren On-/Off-Dranrumlesen irgendwann im Laufe dieses Jahres abgeschlossen. Weiß gar nicht mehr genau, wann.
Tilman Winterling: Ja, irgendwas klingelte da auch bei mir. Hast Du es Dir komplett reingezogen? Sollte man das tun? Bewundere bei Johnson immer am meisten, dass er so einen unfassbar prächtigen Eierkopf hatte. Gleichzeitig diese tragische Biographie, totgesoffen in einem Haus in England, Tilman Jens bricht ein und wühlt in deinen Unterlagen – bei welchem Schriftsteller heute, stürbe er, würde jemand einbrechen, wer ist noch so groß, so wichtig, so interessant – doch wieder nur Tukur oder?
Johannes Franzen: Kein “Klassiker” in dem Sinne, aber ich trommele ja immer noch für den Erzählband “Barbara the Slut and Other People” von Lauren Holmes. Außerdem wird mir Jane Smiley im deutschsprachigen Raum zu wenig gelesen.
Matthias Warkus: »Jahrestage« lohnt sich wirklich, ich bereue keine Stunde, die ich hineingesteckt habe.
Peter Hintz: “Franziska Linkerhand” von Brigitte Reimann war nie vergessen, wird aber gerade erneut neu entdeckt, was gut ist.
Berit Glanz: Cora Sandel sollte mehr gelesen werden (“Café Krane” ist 2019 bei Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus erschienen). Ich hoffe außerdem auf eine Neuübersetzung von Karin Boyes “Astarte.”

Die Freiheit, Last und Unmöglichkeit „Ich” zu sagen – Ein Gespräch über das Schreiben zwischen Identitätsdiskursen und Buchmarkt

Ein Beitrag von Asal Dardan, Berit Glanz und Simon Sahner

Im Frühjahr 2014 startete Florian Kessler mit dem Vorabdruck eines Anthologie-Beitrags eine Debatte in der ZEIT, in der er die Zusammensetzung der Studierendenschaft an der noch jungen Schreibschule in Hildesheim und an dem bereits 1955 gegründeten Literaturinstitut in Leipzig kritisierte und die Studierenden demselben saturierten Milieu” zuordnete. Auch wenn Kessler selbst mittlerweile etwas zurückgerudert ist und seine Thesen als hölzerne Polemik” bezeichnet, so hat die als Arztsohn-Debatte bekannt gewordene Diskussion doch einigen Nachhall erzeugt, stellt sie doch konkrete Fragen nach der Diversität der Autor*innen an Schreibschulen, die als Nachwuchs wesentlich die Gegenwartsliteratur beeinflussen. Eben diese Diversitätsfrage brannte im Juli 2017 wieder auf, als zunächst am Hildesheimer Institut und anschließend  in Beiträgen auf dem Blog der Zeitschrift Merkur eine Debatte zu Sexismus an Schreibschulen begann, die in den sozialen Medien mit dem Hashtag #WriteWhatWeKnow versehen wurde. Anhand dieses Schreibschulmantras, das in zahlreichen Schreibratgebern und Leitfäden eine zentrale Position einnimmt und dementsprechend intensiv diskutiert wird, wollen wir uns zu dritt darüber austauschen, was das Paradigma, nur darüber zu schreiben, was man kennt, für Schreibende bedeutet und welche Auswirkungen es auf Literatur und Buchmarkt hat. Wir haben uns entschieden, dieses Thema als Dialog zu bearbeiten, weil wir uns sicher sind, dass auch Fragestellungen, die eine Meta-Ebene der Literatur- und Literaturbetriebskritik betreffen, am besten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. Gerade der Austausch untereinander hat erheblich zur Schärfung unserer eigenen Überlegungen beigetragen.

BERIT:
Das Verhältnis der Autor*innenbiographie zu den produzierten literarischen Texten ist im Jahr Zehn nach Knausgaard in aller Munde. Besonders in den identitätspolitisch aufgeheizten Debatten der letzten Monate müssen auch Schreibende es sich gefallen lassen, dass literarische Texte in ein Verhältnis zu ihrer Identität gesetzt werden. Dieses Verhältnis wurde in der Arztsohn-Debatte bereits implizit mitgedacht, könnte man doch auf Kesslers Feststellung eines saturierten Herkunftsmilieus der Schreibschüler*innen auch entgegnen, dass nicht nur die individuelle Identität der Schreibenden, sondern auch das Konzept eines Autors Konstrukte sind, die nicht notwendigerweise Einfluss auf die Rezeption eines Textes haben sollten. Dieser Konflikt zwischen einem identitätsorientierten und einem konstruktivistischen Zugang zu literarischen Texten wurde erst kürzlich im New Yorker diskutiert:

If it is a game, then, does it really matter who wrote it? The old literature-professor response was that authorship, like identity, is a construction, and so it doesn’t. The response of what Miller calls “the new identitarians” is that we should not accept representations of experiences that the author could not have known, and so it does. Both arguments are provocations. They should get us thinking about what we mean by things like authenticity and identity.”
(Louis Menand: Literary Hoaxes and the Ethics of Authorship.” New Yorker, 10.12.2018)

Das Schlachtfeld von Identität, Wirklichkeit, Narration, Rezeption, Authentizität, Wahrheit und dem narrativen Eigentumsrecht von Individuen und Gruppen verdient es also näher betrachtet zu werden, möchte man nicht bei einem schlichten write what you know” verharren.  

SIMON:
Es zeigt sich vor allem deutlich, dass – unabhängig von dem Grund, aus dem eine Person sich selbst oder einen Teil ihrer Identität zum literarischen Thema macht – ein gesteigertes Interesse an vermeintlich authentischen Geschichten besteht und dass es sich bei dem Wunsch nach Authentizität offenbar um ein aktuelles Paradigma des deutschsprachigen Literaturbetriebs handelt, das sich auch in einigen anderen Ländern deutlich wiederfindet. Nicht allein das Phänomen Knausgaard, der offensichtlich autofiktional schreibt – der Untertitel der deutschen Ausgabe Das autobiographische Projekt suggeriert gar eine autobiographische Lesart – sondern auch der große Erfolg, den Elena Ferrante mit ihren Romanen in den USA und Europa erfahren hat, sind ein Beispiel dafür, dass der Wunsch nach Erzählungen, die in Bezug zu ihrem*r Verfasser*in stehen, sehr groß ist. Das zeigt sich gerade bei Romanen wie denen von Ferrante, die anders als die Werke von Knausgaard nicht ganz so offensichtlich eine autofiktionale Lektüre forcieren. Doch obwohl es sich hier deutlicher um einen Roman, einen also per Definition fiktionalen Text handelt, wurde schnell die Vermutung angestellt, es handele sich um die Geschichte der Autorin, was auch damit zusammenhing, dass durch Verschleierung ihrer Identität ein großes Augenmerk auf die Identität der Verfasserin selbst gelegt wurde. Um ein letztes Beispiel zu nennen: auch der Umgang mit dem Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen von Lukas Rietzschel, der im Zuge der Marketingkampagne des Verlags in ein direktes Verhältnis zu seinem Roman gestellt und zum vermeintlichen Experten in der Frage zur Entstehung und Verbreitung rassistischen und neo-nazistischen Gedankenguts in den neuen Bundesländern erklärt wurde, weist auf ein Bedürfnis hin, den literarischen Text durch die Brille der Autor*innenidentität wahrzunehmen. Dieses erkennbare Suchen nach autobiographischen Hintergründen von an sich fiktionalen Texten, wird einerseits vom Literaturbetrieb dankend als Möglichkeit zur Aufmerksamkeitserzeugung aufgegriffen, und andererseits befeuert es das Entstehen von Texten, die eine solche Lesart ermöglichen.

 

Die Freiheit, Ich” zu sagen

In those days, in the late 1970s, nearly all of the children’s literature that was available in Moroccan bookstores was still in French. The characters’ names, their homes, their cities, their lives were wholly different from my own, and yet, because of my constant exposure to them, they had grown utterly familiar. These images invaded my imaginary world to such an extent that I never thought they came from an alien place. Over time, the fantasy in the books came to define normalcy, while my own reality somehow seemed foreign. Like my country, my imagination had been colonized.”
(Laila Lalami: So To Speak, World Literature Today, September 2009)

BERIT:
Diese von Simon angesprochene aktuelle häufig anzutreffende Rezeption von Romanen mit übergroßem Fokus auf die Verfasser*innen zieht einige Fragen nach sich. Im Spannungsfeld aktueller identitätspolitischer Debatten wird oft über das Eigentumsrecht von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen an ihrer Geschichte gesprochen, hierbei geht es vor allem darum, welches Recht Schreibende haben eine Geschichte zu erzählen. Darf beispielsweise ein deutscher Autor eine Geschichte aus der Perspektive einer syrischen Geflüchteten erzählen? Mit welchem Recht können Autor*innen die traumatischen Erlebnisse bestimmter Gesellschaftsgruppen aufgreifen und fiktional verarbeiten? In der Vergangenheit gab zu diesem Problemfeld einer möglichen narrativen Enteignung einige große Skandale. Johannes Franzen schreibt dazu:

Auch die fiktionale Verarbeitung bestimmter Stoffe unterliegt also einem Autorisierungsgebot, das nur durch biographische Betroffenheit erfüllt werden kann.”
(Johannes Franzen:
Indiskrete Fiktionen. S. 333)

Dieses Eigentumsrecht lässt sich insofern um die Forderung erweitern, dass Gruppen von Menschen, die bisher im Literaturbetrieb kaum eine Chance dazu bekamen, ihre Geschichten selbst erzählen sollten. Obwohl einige Autor*innen mit dem Verweis auf die Freiheit der Fiktion das Argument vertreten, dass beispielsweise auch ein weißer männlicher Autor aus der Perspektive einer jungen schwarzen Frau schreiben darf, denke ich, dass es ein starkes Argument dafür gibt, eine Vielfalt an Stimmen direkt zu Wort kommen zu lassen. Das Recht auch literarisch Ich” zu sagen, das Recht auf Nabelschau und auf Thematisierung der subjektiven Identität wurde ja in einem Literaturbetrieb, der lange wesentlich die Texte weißer Männer veröffentlichte und kanonisierte, großen Gesellschaftsgruppen vorenthalten.

SIMON:
Das spricht einen wichtigen Punkt an. Es geht in dieser Frage ja nicht darum, dass alle Ich” sagen, sondern darum, dass Menschen, die Gruppen angehören, die bisher wenig bis gar nicht literarisch zu Wort kamen, ihrer eigenen Geschichte eine Stimme geben. Niemand wird fordern, dass der sogenannte alte weiße Mann endlich seine Geschichte aufschreibt. Im Gegenteil, die Forderung, dass bisher kaum vernehmbare Stimmen mit ihren Erzählungen Ich” schreiben, impliziert auch eine Absage an das Ich” der weißen Männer. Ebenso ist das vermeintliche Verbot, die Perspektive anderer einzunehmen, auch – zurecht – kein ausgeglichenes. Aus dem Blickwinkel einer anderer Person zu schreiben, ist immer eine Machtgeste. Man eignet sich die Gedanken, Emotionen und die Sprache eines anderen Menschen an und äußert gleichzeitig, dass man in der Lage sei, diese adäquat wiederzugeben. Mit Blick auf die Vergangenheit ist eine solche Machtgeste eines weißen Mannes gegenüber eines Menschen, aus einer gesellschaftlich weniger privilegierten Gruppe, problematisch. Aus einer ethischen Perspektive werden damit gerade weißen Männern, also auch mir, berechtigterweise Möglichkeiten des fiktionalen Erzählens genommen – das Spektrum möglicher Geschichten aus der Feder weißer Männer wird kleiner.

ASAL:
Das Spektrum wird in der Tat kleiner, weil nun alle, also auch die weiße, männliche Stimme, die bisher als Autorität für fast alles gelten konnte, auf sich selbst und ihre Limitationen zurückgeführt werden. Das ist verständlicherweise ein schmerzlicher Prozess für den Einzelnen. Doch den Schmerz, nicht immer und überall Gehör zu finden, nicht zu jedem Thema sprechen zu dürfen oder auf das reduziert zu werden, was man ist, den kennen bisher marginalisierte Menschen nur zu gut. Nun teilen wir diesen Schmerz – das ist auch eine Geschichte, die man erzählen kann.

Niemand braucht ein Sprachrohr, stattdessen bedarf es Zugang zu einem Publikum, das hören und lesen möchte. Aber diese Geschichten müssen von jenen, deren Stimmen bisher keinen Raum fanden, auch erst einmal entdeckt werden. Sie müssen ihr eigenes Vokabular finden, neue Bilder entwerfen, andere literarische Wege einschlagen. Das Ich” findet nämlich nicht nur Ausdruck in neuen Geschichten, es muss sich eine ganze Sprache zu Eigen machen und sich von den bestehenden Narrativen befreien. Meine Geschichte lässt sich nicht erzählen wie die von Wolfgang Herrndorf, ebenso wie meine Geschichten sich nicht wie seine anhören werden. Das ist eine immense Herausforderung für die Schreibenden, ebenso wie für den Literaturbetrieb und die Leserschaft, die sich öffnen und umgewöhnen müssen. Sucht der Literaturbetrieb jedoch nur Menschen, die bestimmte neue Kriterien erfüllen, sich aber in die tradierten Marketingmuster und den etablierten Habitus drängen lassen, dann haben wir vielleicht etwas mehr Abwechslung bei den Identitätsentwürfen, aber eine Veränderung der Machtverhältnisse findet damit noch lange nicht statt. Der Markt verleibt sich ja nur zu gern Neues ein, reduziert dabei aber die Komplexität von Themen und Lebenswelten. Diese Gefahr sehe ich derzeit bei all den Büchern, die zu stark auf die Person und Biografie der Autor*innen zurückgeführt werden. Das kann man den Schreibenden nur selten vorwerfen, sie wollen schreiben, sie wollen gehört werden und sie wollen vor allem auch von etwas leben. Die Frage ist, wie viele von ihnen veröffentlicht und gelesen würden, wenn sie sich stärker widersetzten und versuchten, über etwas zu schreiben, das nicht auf den ersten Blick in ihren Gesichtern, Körpern und Biografien abgelesen werden kann.

 

Die Last, Ich” sagen zu müssen

Ein Schriftsteller, der über Dinge schreibt, die er nicht kennt, ist wie ein Stierkämpfer, der die Bewegungen macht, ohne daß ein Stier da ist.”
(William S. Burroughs über Jack Kerouac, zitiert nach Jörg Fauser: „Die Legende des Duluoz.” In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959 – 1987, Berlin 2014, S. 391)

BERIT:
Als Saša Stanišić 2014 seinen Roman Vor dem Fest veröffentlichte, wurde er von Maxim Biller in der ZEIT für seinen antibiografischen Themenwechsel” kritisiert. Am 31. Mai 2016 begründete Biller in der taz seine Kritik folgenderweise:

Weil er keine Ahnung von der Uckermark hat – und wenn, dann nur wie ein Tourist, wie ein siebengescheiter Reiseschriftsteller. Er war natürlich richtig sauer auf mich. Es gibt immer wieder Menschen, die nach Deutschland kommen, und die wollen dann unbedingt dazugehören. Aber wenn sie älter werden, werden sie schon merken, dass das nicht funktioniert. Statt aus der Not eine Tugend zu machen, versuchen sie sozusagen ihre Gesichter weiß zu malen.”

Ich frage mich jedoch inzwischen, ob sich aus diesem Recht an der eigenen Geschichte umgekehrt auch eine Verpflichtung auf das Erzählen eben dieser Geschichten ableitet. Wenn Maxim Biller seine Kritik an Saša Stanišićs Uckermark-Roman damit begründet, dass dieser keine Ahnung von der Uckermark haben könne und stattdessen anerkennen müsse, dass er nicht dazu gehöre, dann wird eben ein Schriftsteller anhand eines sehr engen biographischen Rahmens auf eine Geschichte festgelegt und ihm so letztlich auch die Freiheit genommen, andere Geschichten zu erzählen als die eigene.

ASAL:
Kein Mensch hat bloß eine Geschichte zu erzählen und vielleicht ist jene, die er über sich selbst zu erzählen hat noch nicht einmal die beste. Billers Kritik an Stanišić besteht allerdings aus einer literarisch-ästhetischen und einer politischen Ebene, die nicht unbedingt zusammen gehören. Zum einen steht die Frage im Raum, welche Geschichten man erzählen darf und soll, wie viel von einem selbst in diesen Geschichten sein muss. Was bedeutet es schon, eine Ahnung von der Uckermark zu haben? Wie viele Tage, Jahre, Generationen muss man dort verbracht haben, um etwas über sie schreiben zu dürfen? Auch wenn ich verstehe, dass Biller sich mit seiner Kritik lange vor der Publikation von Max Czolleks Desintegriert Euch! (2018) gegen die Anpassung an die dominante Kultur wehrt, erscheint mir sein Ansatz recht deutsch, deutscher als ich es ihm zugetraut hätte. Es steckt doch schon eine extreme Mythologisierung und Romantisierung darin, so auf die Beziehung eines Menschen zu einem Ort, zu einer Herkunft, zu blicken. Und das ist die zweite Ebene der Kritik, nämlich die Frage nach der gesellschaftlichen Verortung eines Menschen, der nicht in diesem Land geboren wurde. Er spricht von Zugehörigkeit, als sei Gleichheit ihre Voraussetzung und übernimmt damit die Idee, dass das konservative Leitkultur-Wir eine Entsprechung in der Realität hätte. Aber es ist ein Konstrukt, das man eben nicht nur dadurch auflösen kann, indem man als Marginalisierte von der eigenen Marginalisierung spricht, sondern auch, wenn man wie Stanišić sagt, ich schreib mal  über eure Uckermark, weil es auch meine Uckermark ist. Es gibt einen Unterschied zwischen write what you know” und write what you are”, und der ist in dieser Frage gravierend.

BERIT:
Genau deswegen finde ich es so spannend, wenn marginalisierte Stimmen nicht nur auf die eine Geschichte festgelegt werden, für die sie mit ausreichend autobiographischem Kapital bürgen können. Wenn man für jede erzählte Geschichte biographischen Rückhalt haben muss, also qua Identität auf ein Alleinstellungsmerkmal festgelegt wird, dann wird einem eben auch der Raum genommen sich mit Fiktionen an der Realität abzuarbeiten. Vielleicht bin ich aus diesem Grund skeptisch, wenn es um die autofiktionale Bearbeitung biographischer Traumata geht, besonders dann, wenn Autor*innen aufgrund ihrer Identität auf diese Narrative festgelegt zu werden scheinen. So werden seelische Verwundungen auf ein Reservoir für literarische Bearbeitungen reduziert, begründet durch beinahe fetischisierte Vorstellungen von Authentizität und mit einem voyeuristischen Beigeschmack. Für mich kommt das überspitzt gesagt einer Art narrativer Selbstausbeutung gleich, bei der die Teilhabe am Literatur- oder Kulturbetrieb mit dem Leiden der Schreibenden legitimiert werden muss. Es liegt eine subversive Kraft darin, die eigene Geschichte erzählen zu können, nicht sprachlos bleiben zu müssen, aber was passiert, wenn man nur auf diese eine Geschichte festgelegt wird? Wird dann die Identität zu einem Korsett für das eigene Schreiben?

ASAL:
In einem sehenswerten Gespräch mit Günter Grass erzählte der erst kurz zuvor aus der DDR ausgereiste Thomas Brasch, wie deprimierend er es als Dissident und Autor finde, dass solange man die Erwartungen der Öffentlichkeit bediene, niemand sage lieber Freund, da ist der Stil nicht gut.” Ich möchte dir also zustimmen, nicht zuletzt weil ich immer wieder merke, wie mir dieses Korsett angelegt wird oder ich es mir selbst anlege. Aber ich zögere auch, weil ich mich frage, ob man die Werke von Jeanette Winterson von der Armut in Manchester und die von Derek Walcott vom postkolonialen St. Lucia trennen kann oder ob Audre Lorde nicht immer wieder darauf hätte hinweisen sollen, dass sie eine Schwarze lesbische Poetin ist? An welcher Realität soll man sich abarbeiten, wenn nicht an der eigenen? Aber es stimmt, ohne identitätspolitische Schubladen kommt man heute nur sehr schwer weiter. Sie haben eine wichtige politische Funktion, von der sie allerdings nicht getrennt werden sollten. Sonst werden sie schnell zu einem Instrument der Reduktion anstelle der Weitung. Die Selbstausbeutung, von der du sprichst, ist eine von außen auferlegte. Was soll man tun, wenn man schreiben will und muss, wenn man das geschriebene Wort gewählt hat, um in die Welt zu treten? Das Dilemma ist, gehört werden zu wollen, aber auf Ohren zu treffen, die nur gewisse Klänge wahrnehmen möchten. Und selbst, wenn man es schafft, daraus auszubrechen, kommt einer um die Ecke und sagt, schreib doch lieber über dich selbst, du bist doch hier nur Tourist*in.

SIMON:
Die Anforderung an eine*n Autor*in, über sich selbst zu schreiben, ist in diesem Fall ja meist eine Forderung, die eigenen Traumata literarisch aufzuarbeiten. Daher auch die Ansicht, dass jemand wie Stanišić eben über seine Rolle als Kriegsgeflüchteter aus Bosnien-Herzegowina schreiben solle, auch wenn er vermutlich genauso über anderes aus eigener Erfahrung schreiben könnte – auch über die Uckermark, wenn er eine zeitlang dort verbracht hat. Es handelt sich hierbei, denke ich, um einen Blick auf das Schreiben, der das Erzählen der eigenen Geschichte zum Einen als Verarbeitung eines belastenden Ereignisses denkt, zum Anderen aber auch als politisch oder gesellschaftlich wichtigen Akt, im Sinne einer Forderung nach Aufklärung durch die Betroffenen. Im ersten Fall ist es auch der Wunsch des Publikums und des Literaturbetriebs sich selbst mit dem erfahrenen Leid, das nun vermeintlich literarisch verarbeitet wird, zu schmücken, indem man es honoriert. Der Nachweis der Bedeutung dieser Texte ist dann – wie Du, Asal, das mit dem Zitat von Brasch ja auch gesagt hast – nicht die literarische Qualität, sondern ihre Authentifizierung durch eigenes  Leid. Es ist die vermeintliche Nähe zum Leben einer anderen Person, die Leid erfahren hat, an dem man durch das Lesen dieser Erzählung teilnimmt. Die Honorierung dieser Geschichte ist dann gleichzeitig wieder in gewisser Weise ein selbstnobilitierender Vorgang.

BERIT:
Natürlich kann Literatur auch eine politische und gesellschaftliche Funktion erfüllen, es ist jedoch ein Problem, wenn bei den Texten bestimmter Autor*innen immer diese Funktion dominieren muss. Dann kommt es beinahe zwangsläufig zu einer Gleichförmigkeit sowohl in der Narration, nur bestimmte Themen und Erzählmuster werden diesen Autor*innen vom Literaturbetrieb gestattet, als auch in der Rezeption, indem jeder Text auf Bezüge zur Autor*innenbiographie heruntergebrochen und nicht mehr als vieldeutiger ästhetischer Texte rezipiert wird. Und die sehr eng abgesteckte Nische, die dann bestimmten Gruppen zum Publizieren ermöglicht wird, limitiert dann eben auch die Möglichkeiten dieser Autor*innen eine genuin eigene Stimme zu entwickeln. Es soll schon politisch sein, aber gleichzeitig muss es auch gefällig sein, nicht zu wütend, nicht zu bitter und schon gar nicht desillusioniert. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass Anke Stelling, eine der Autorinnen mit wirklich eigener Stimme zum Thema Mutterschaft, die sich in ihren Romanen mit der ganzen emotionalen und sozialen Komplexität der Angelegenheit befasst, es schwer hatte, für diese Texte einen Platz in einem Literaturbetrieb zu finden, der diesem Thema viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt:

“In den Ablehnungen ging es nie um den literarischen Wert, erzählt Stelling. Stets war von Aufhängern die Rede, die man für Buchhandlungen, Kritik, Leserinnen finden müsse. Für die Verlage war die Inzestgeschichte offenkundig ein absolutes no-no gewesen. Aber auch Mutterschaft als Thema schien ein Problem, jedenfalls dann, wenn die Erzählung die negativen Seiten, freundlich gesagt, nicht verschweigt.”
(Ekkehard Knörer: Fata, Libelli. Literaturkolumne. 20.2.2018)

Ich bin oft überrascht, wie abwesend Kinder und Mütter in vielen Romanen sind und wenn sie überhaupt als Nebenfiguren auftauchen dürfen, wie stereotyp dann über sie geschrieben wird. Dabei würde die Erfahrung von Elternschaft, in all ihrer großartigen Ambivalenz, der intensiven Liebe, der gehirnzerfressenden Langeweile und der körperlich wahrnehmbaren Erfahrung des Würgegriffs gesellschaftlicher Strukturen, ein großartiges und spannungsreiches Erzählfeld bieten. Doch dazu bedarf es einer Stimmenvielfalt, die weit über die Grenzen der bürgerlichen Kleinfamilie hinausgeht, deren Rahmen noch das Erzählen von Elternschaft dominiert. Gerade am Beispiel der Erzählung von Mutterschaft wird sehr deutlich, wie dominante Narrative eine Komplexität und Vielfalt, die dem Thema angemessen und dringend nötig wäre, unterdrücken.

 

Die Unmöglichkeit, weiter so  Ich” zu sagen, wie bisher

„Mein Ziel ist eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit. Sartre hat gesagt, engagierte Literatur, das ist die Freiheit, sich zuzuwenden. Ich möchte etwas anderes. Ich möchte eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit, in der er lebt.”
(Édouard Louis im DLF Kultur 23.7.2018)

SIMON:
Wenn ich an meine Jugend denke, die sich größtenteils in einer südwestdeutschen Kleinstadt in den Nullerjahren abgespielt hat, tauchen sofort bestimmte Bilder auf: Sommernächte an Flussufern, heiße Augustnachmittage auf Wiesen, weite Felder in der Sommerhitze, vertrödelte Nachmittage nach der Schule. Die gleichen Bilder kenne ich aus Romanen – vorrangig von Männern, die in den 80er und 90ern ihre Jugend erlebt haben – wie Wolfgang Herrndorfs In Plüschgewittern und Thomas Klupps Paradiso. Diese beiden Romane sind nur die ersten, die mir einfallen, aber Erzählungen von Männern, die zwischen 1965 und 1985 geboren wurden und über eine Jugend schreiben, die ihre sein könnte, sind in den letzten zwanzig Jahren unzählige erschienen, flankiert von Filmen, die ähnliche Geschichten erzählen (beispielsweise Schule (2000)). Diese Romane affirmieren das Bild einer heilen Kindheits- und Jugendwelt in den 80er und 90er Jahren. Insbesondere durch Rückblicke der inzwischen erwachsenen Erzähler, die meist im gleichen Alter und Umfeld wie die Autoren sind, werden diese westdeutschen Idyllen aufgerufen:

In meiner frühsten Erinnerung läuft meine Mutter mit nackten Füßen durch den Garten auf mich zu. Sie trägt ein gelbes Kleid aus Leinen und um den Hals eine Kette aus rotem Gold. Wenn ich an diese ersten Jahre meines Lebens zurückdenke, ist immer später Sommer, und es kommt mir vor, als hätten meine Eltern viele Feste gefeiert, auf denen sie Bier aus braunen Flaschen tranken und wir Kinder Limonade, die Schwip Schwap hieß.
(Takis Würger: Der Club (Kein & Aber 2017)

Durch die Omnipräsenz dieser Geschichten, die einem ganz bestimmten Schema einer idealisierten Jugend und Kindheit in einer vermeintlich sicheren Umwelt folgen, habe ich das Gefühl, dass meine eigenen Erinnerungen in diese angelesenen, kollektiven Erinnerungen eingebettet werden, sie werden in gewisser Weise zu einem Teil einer großen Erzählung einer Mittelstandsjugend in Westdeutschland. Das führt in meiner Wahrnehmung zu zwei Phänomenen: Zum Einen führt es dazu, dass ich mir teilweise meiner eigenen Erinnerung nicht mehr sicher bin – spielen Felder in der Sommerhitze wirklich eine so große Rolle in meiner Jugenderinnerung oder ist das eine Verklärung anhand von angelesenen, vergleichbaren Erzählungen? Zum Anderen führt es dazu, dass das Erzählen meiner eigenen Geschichte beinahe unmöglich wird. Sie ist schon x-mal erzählt worden. Der erste Kuss auf einer Party im Sommer, während die anderen um das Lagerfeuer sitzen – das könnte auch Benjamin von Stuckrad-Barre erzählen, man würde es ihm glauben. Ist das noch meine Geschichte oder ist es einfach eine mögliche von tausenden ähnlichen?

ASAL:
Mir kommen diese Bücher und Filme und diese westdeutschen Urbilder, die sie kreieren, ebenfalls vertraut vor, wenngleich meine eigene Kindheit und Jugend an den Rändern dessen stattfanden, was dort beschrieben wird. Eben deshalb habe ich geschrieben, dass es einer neuen Sprache bedarf, nicht nur neuer Erzählender.

Für mich, die ja auch in Hildesheim Kulturwissenschaften studiert hat, steckt hier eine doppelte Erdrückung. Zum einen, weil mir als Heranwachsende meine Lebenswelt nirgends gespiegelt wurde, ich mich in keinen Büchern, Filmen und anderen Darstellungen wiederfand. Ich fühlte mich nicht gesehen und sah auch niemanden, dem ich mich nah fühlen konnte. In Hildesheim bewarb ich mich mit einem Text über einen politischen Häftling im Iran, der einen Brief an eine geliebte Person schreibt. Er erzählt darin, wie er immer wieder eine Waffe an den Kopf gehalten kriegt und jedes Mal wünscht, es möge nun doch endlich vorbei sein. Vermutlich alles etwas melodramatisch, aber ich war zwanzig Jahre alt und hatte fast ein Jahr in der internationalen Nachrichtenredaktion von CNN.com gearbeitet, wo die Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg zu meinem täglichen Job gehörte. Ich wollte über meinen Vater schreiben, aber das hätte ich damals noch nicht geschafft. Der Prüfer sagte mir dann, es klinge alles ein wenig wie Peter Maffays Über Sieben Brücken Musst Du Gehen. Ich wurde dennoch angenommen, geweint habe ich an dem Tag aber nicht aus Freude. Ich war eine wütende Studentin, aber ich war auch gut. Und obwohl ich das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören, saß ich mit den Leuten, die Florian Kessler in seinem Artikel erwähnt, in denselben Räumen und habe meistens innerlich, ganz selten auch öffentlich, gezetert über diese bürgerlichen Geschichten, die immer wieder wie Variationen der gleichen Geschichte wirkten. Irgendwann blieb ich diesen Schreibseminaren fern und konzentrierte mich auf jene, wo ich gehört und gefördert wurde. Im Anschluss an mein Studium in Hildesheim habe ich viele Jahre nicht geschrieben. Es ging einfach nicht. Erst mit Florian Kesslers Artikel, den ich sehr befreiend fand, und den ich ganz und gar nicht als hölzerne Polemik empfinde, wurde in mir eine Tür geöffnet. Ja, ein weißer, bürgerlicher Jungautor hat das für mich gemacht, weil meine eigenen Worte in der Zwischenzeit verschüttet wurden. Es hätten vielleicht meine sein können. Heute finde ich den Text von Selim Özdogan, der vor kurzem hier auf dem Blog veröffentlicht wurde, wesentlich wichtiger und dringlicher. Inzwischen schreibe ich auch wieder. Und werde schreiben und schreiben.

BERIT:
Es bedarf dann jedoch nicht nur einer neuen Sprache, wie du es ausführst Asal, sondern auch eines Literaturbetriebs, der sich solchen Schreibweisen öffnet und die Vermittlung neuer Ästhetiken unterstützt. Eine solche Öffnung kann jedoch nicht nur darauf basieren, dass neuen Stimmen wieder ähnlich festgelegte Narrative aufgedrückt werden, wir also der Erzählung einer westdeutschen Vorortkindheit nur einige neue statische Muster an die Seite stellen.

Es spricht im übrigen ja gar nichts dagegen, dass bestimmte gehäufte Weltzugänge und -wahrnehmungen sich auch in zahlreichen Texten wiederfinden, schwierig wird es dann, wenn Literatur zunehmend die Funktion einer Weltsichtbestätigung der Leser*innen erfüllt und es nicht mehr vermag diese zu Durchbrechen. Natürlich ist eine Bestätigung der eigenen Weltdeutung durch konventionalisierte Erzählverfahren und inhaltliche Stereotype etwas, das den Bedürfnissen vieler Menschen entspricht. Nicht zufällig verkaufen sich bestimmte Genreromane, die immer wieder die gleichen Erzählmuster mit kleinen Abweichungen durchspielen, hervorragend. Das ist auch nicht grundsätzlich negativ, manchmal möchte man eben einfach ausgelatschte Hausschuhe tragen oder sich in seine Lieblingskuscheldecke wickeln, nicht jeder literarische Text muss aufrütteln oder verstören. Texte können uns durch Vorhersehbarkeit auch ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, von einer Welt die nach geordneten Regeln funktioniert, in der die Guten gewinnen, die Bösen bestraft und die armen Stieftöchter zu Prinzessinnen werden können. Auch die Realitätsflucht durch Immersion in eine spannende Erzählung erfüllt eine Funktion für die Lesenden. Dennoch ist es zu kritisieren, wenn ein verstärkt unter ökonomischen Druck geratener Buchmarkt immer mehr auf wahlweise solche Kuscheldeckenliteratur setzt oder auf Romane, deren Autor*innen uns autobiographisch rückkoppelbar die Welt erklären sollen, weil solche Bücher ein größeres Marktpotenzial haben. Dieser durch Marktlogiken begründete Fokus äußert sich dann eben einerseits inhaltlich, indem bestimmte Geschichten wieder und wieder erzählt und Autor*innen qua ihrer Identität auf bestimmte Erzählmuster festgelegt werden, aber auch ästhetisch, beispielsweise in der Dominanz realistischer Erzählverfahren.

SIMON:
Es bleibt noch die Frage im Raum stehen, was weiße Mittelstandsmänner dann aktuell noch schreiben können, ohne wiederholt in die gleichen Muster einer westdeutschen Kleinstadtkindheit und -jugend zu fallen oder sich die Erzählungen von Menschen aus marginalisierten Gruppen anzueignen. Für mich sind an dieser Stelle die Romane und die darin angewendeten Erzählverfahren von Jakob Nolte eine mögliche Variante, sich neue Inhalte und Strategien des Erzählens zu erschreiben. Der Roman Alff (2014) erschien zunächst frei zugänglich auf der digitalen Leseplattform fiktion.cc und erst später im Verlag Matthes & Seitz. Mit parataktischer Sprache und filmischer Erzählweise, die die schnellen Schnitte amerikanischer Kinder- und Jugendserien der 80er und 90er Jahre imitiert, wird die Geschichte einer Mordserie an einer US-amerikanischen Highschool erzählt. Der Text ist beinahe überladen von Referenzen an die Popkultur der letzten dreißig Jahre und entfernt sich deutlich von realistischen Erzählmustern. Damit schafft Nolte einen Verweisraum, der sich zwar auf seine eigene Kindheit und Jugend bezieht, sich jedoch deutlich abkoppelt von den Schreibweisen und Zugängen der oben genannten Autoren und auch nicht im wiederholten Nacherzählen der eigenen Kindheitsidylle verharrt. Der zweite Roman Schreckliche Gewalten (2017) erweitert diesen Verweisraum auf die durch Hyperlinks geprägten Gedankensprünge und Querverweise im digitalen Raum. Diese und ähnliche Romane – auch die letzten beiden von Clemens Setz würde ich an dieser Stelle nennen – sind Beispiele für Auseinandersetzungen weißer, männlicher Autoren mit ihrer Lebenswelt und ihrer Jugend, die neue Wege suchen, diese literarisch umzusetzen.

ASAL:
In dem, was du schreibst, Simon, zeigt sich, dass es sich hier nicht bloß um eine Umkehrung handelt, in der nun jene Autor*innen verdrängt werden sollen, die bisher dominierten. Vielmehr geht es in dem, was wir hier gemeinsam herausgearbeitet haben darum, wie  wichtig es auch im Literaturbetrieb ist, eine Vielfalt herzustellen, in der so viele Stimmen wie möglich Platz haben.

BERIT:
Dafür bedarf es einer wirklichen Bibliodiversität nicht nur in der Verlagslandschaft, sondern auch in den Verlagsprogrammen, den Förder- und Stipendienstrukturen und den Zielgruppen der Literaturvermittlung.

 

Jahresrückblickssause 2018, bastelt mit!

Das Team von 54books hat sich zusammengesetzt, um das Jahr 2018 Revue passieren zu lassen. Der geneigte Leser möchte, so er sich dazu berufen fühlt, gerne aufgeworfene Fragen ebenso in den Kommentaren beantworten. Wir bedanken uns für die Aufmerksamkeit, den Zuspruch und das Mitlesen in 2018 und im Voraus für dasselbe in den kommenden Jahren.

1. Welches war das beste Buch, das du 2018 gelesen hast?

Tilman: Der Eindruck ist noch frisch, das beste Buch ’18 las ich gerade erst: Maya Angelou – Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Das hat mir die Schuhe ausgezogen. Außerdem mochte ich Tante Julia und der Kunstschreiber bzw. (in der neuen Übersetzung) Tante Julia und der Schreibkünstler von Vargas Llosa sehr. Das habe ich mal vor hundert Jahren gelesen und hatte es jetzt für meine Reise nach Peru im Gepäck. Gute Unterhaltung ohne platt zu sein. Apropos Ausland, nach Peru war ich in Bolivien, daher las ich vorher Die Affekte von Rodrigo Hasbún, das knallt!

Simon: Am meisten beeindruckt und zum Nachdenken gebracht hat mich Bettina Wilperts nichts, was uns passiert. Ob es DAS beste Buch war, kann ich nicht sagen, aber es ist mir am meisten positiv im Kopf geblieben aus diesem Jahr.

Katharina: Habe dieses Jahr sehr viele sehr gute Bücher gelesen, und dann habe ich gerade mal wieder “A Christmas Carol” von Dickens gelesen. Dickens. Man sollte nur noch Dickens lesen. Allein wie der Häuser beschreibt.

Samuel: Heinz Helles “Die Überwindung der Schwerkraft”

Berit: Ich habe, nachdem ich es ewig geplant hatte, endlich Audre Lordes Sister Outsider. Essays and Speeches by Audre Lorde gelesen und es war großartig. Danach hatte ich die Gelegenheit mit einigen Freundinnen und Bekannten in einem Gruppenchat via Skype über das Buch zu sprechen und es war wirklich bewegend, wie sehr es alle berührt hatte. Außerdem hat das Buch Match Deleted: Tinder Shorts von Sarah Berger bei mir nachhaltigen Eindruck hinterlassen, weil ich die Erzählweise innovativ und inspirierend fand.

Elif: Am meisten beeindruckt hat mich Bleib bei mir von Ayòbámi Adébáyò. Mit Du wolltest es doch von Louise O’Neill und Was ist schon normal? von Holly Bourne sind aber auch ein paar eindrucksvolle Jugendromane erschienen, die sich mit Themen wie Rape Culture und Feminismus auseinandersetzen. Max Czolleks Desintegriert euch! zähle ich auch dazu, hat mir sehr gut gefallen.

Matthias: Ich lese ja nicht so wahnsinnig viel. Das Buch, das mich 2018 am meisten fasziniert hat, habe ich vor 2018 angefangen und werde ich dieses Jahr nicht mehr abschließen, nämlich Uwe Johnsons Jahrestage. Max Czollek fand ich aber auch sehr klasse.

2. Welches war das schlechteste Buch, das du 2018 gelesen hast?

Simon: Ohne wenn und aber Andreas Eschbachs NSA – Nationales Sicherheits-Amt, das hat in diesem Jahr in vielerlei Hinsicht den Vogel abgeschossen.

Tilman: Boah, gab schon paar schlechte. Die siebte Sprachfunktion hat mich enttäuscht. Vieles war einfach so ein Grundrauschen, was nicht so richtig schlecht war, aber eben auch nicht gut.

Katharina: Habe ich alle rechtzeitig abgebrochen.

Samuel: Christian Torklers “Der Platz an der Sonne”

Berit: Mir hat Donna Haraways Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän nicht gefallen, das mag aber auch an mir liegen.

Elif: Ohne Zweifel Peter Stamms Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. So nichtssagend. Ja, er spielt mit Zukunft und Vergangenheit und bla, aber im Grunde will ein alter Typ nur die ganze Zeit was mit einer jungen Frau haben und ist ganz melancholisch. Wie gefühlt jede 0815-Geschichte eines weißen, (mittel)alten Mannes. Vielleicht bin ich dadurch auch einfach nicht das Zielpublikum. Wäre auch meine Antwort für die nächste Frage, weil ich wirklich nichts aus diesem Buch ziehen konnte.

Matthias: Richard David Precht, Jäger, Hirten, Kritiker. Ein durchweg ärgerlicher, vorhersagbarer, schlecht gemachter und zu allem Überfluss heftig nach rechts anschlussfähiger Schinken. Den habe ich auch für 54books rezensiert.

Tilman: Ich muss mich hier nochmal einschalten und Bezug auf Elif nehmen. Ich war bei Peter Stamm völlig ratlos, was genau an diesem Buch erzählenswert ist, “nichtssagend” trifft es perfekt.  Wäre Walser jünger, er schriebe Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt.

3. Das überflüssigste Buch 2018 war?

Tilman: Ich finde diese ganzen Aufgüsse von alten Texten immer fürchterlich überflüssig. Stuckrad-Barre nennt das selbstentlarvend immer Remix, verkauft sich wie geschnitten Brot, gönn ich ihm – aber wenn jetzt jeder Internetschreiberling anfängt nur seine alten (also die letzten zwei Jahre) Texte aus dem Internet zusammenzusuchen und zu drucken .. schade um das Papier und das Geld und die Zeit und das Internet.

Simon: Martin Walsers Gar alles oder Briefe an eine Unbekannte, das waren vermutlich einfach Texte, die Walser noch rumliegen hatte, die er irgendwie zusammengeschraubt hat und weil Martin Walser drauf steht, wirds gedruckt. Auch überflüssig fand ich Marc-Uwe Klings Qualityland, das war nur platte Pauschalkritik und banaler Hihi-Humor.

Katharina: “Zusammenleben” von Leander Scholz, ein Buch, das so tut, als wäre ganz Deutschland eine Kleinfamilie aus der Mittelschicht.

Samuel: “Die Hungrigen und die Satten” von Timur Vernes

Berit: Überflüssige Bücher gab es einige, mich ärgern besonders “Debattenbücher” von Menschen, die mit einer sich verändernden Gesellschaft nicht klarkommen, der Schutzheilige dieser schmierigen Nische ist sicher Thilo Sarrazin.

Matthias: Im Zweifel immer der neue Maschmeyer.

Tilman: Es gibt einen neuen Maschmeyer?

4. Welches war die interessanteste Feuilleton-Debatte/der interessanteste Feuilleton-Artikel des Jahres?

Katharina: Ganz pauschal würde ich ja sagen, dass das Feuilleton an sich interessant ist und dass da viele, viele, viele interessante und lesenswerte Sachen geschrieben worden sind, dass es viele spannende Rezensionen gegeben hat und dass das Feuilleton halt häufig leider gerade da am uninteressantesten wird, wo es sich am meisten darum bemüht, interessant zu sein, eben deswegen, weil es oft sehr bemüht wirkt, wie Schattenboxen oder wie ein angestrengter Kompromiss.

Simon: Persönlich fand ich die Debatte – wenn man das in diesem Fall so nennen kann – im Anschluss an die Poetikvorlesung von Christian Kracht sehr interessant.

Berit: Ich habe gerne die Beiträge von Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski zu digitalen und Tech-Themen in der NZZ gelesen.

Matthias: »After the Fall«, Adam Gopniks gigantischer Rezensionsessay von Patrick Sharkeys Buch Uneasy Peace über das faszinierendste soziale Phänomen der letzten Jahrzehnte, nämlich den drastischen und nachhaltigen Rückgang der Kriminalität; und »Safer Spaces«, Jia Tolentinos Reportage über evidenzbasierte Maßnahmen, um sexuelle Übergriffe auf amerikanischen Hochschulcampi zu reduzieren. Beides natürlich im New Yorker. (Ist das Feuilleton? Ich behaupte einfach mal: Im New Yorker ist immer alles Feuilleton.)

5. Welches war die überflüssigste Feuillleton-Debatte/der überflüssigste Feuilleton-Artikel des Jahres? [Welches war die Feuilleton-Debatte, die am weitesten vom wirklichen Leser entfernt war?]

Katharina: Die “Debatte” um Simon Strauß war ein phänomenaler Tiefflug, den zu unterbieten auch in kommender Zeit schwierig werden wird – immerhin haben sich in ihrem Kontext aber einige mühevoll als Ulknudeln positionieren können, die zwar Angst vor dem angenommenen Männlichkeitsbild von Simon Strauß haben, gerne aber öffentlich auf ihre Begeisterung für Haftbefehl hinweisen, als würden nicht tausende Teenager dessen “Rollenprosa”, sowohl die misogyne wie die antisemitische, sehr unironisch hören und auswendig lernen. Da sieht man halt, dass es eigentlich nicht so sehr um sachliche Fragen oder Inhalte ging, sondern viel mehr um die Positionierung im literarischen und kulturellen Feld.

Berit: Die Kollegah-Debatte hat mich sehr genervt und führte teilweise zu wirklichen Meisterwerken selbstgerechter Verblödung. Ich wäre dankbar, wenn ich in 2019 nie wieder Rollenprosageschwafel und Grenzüberschreitungsanhimmelei von saturierten Feuilletonbros hören muss.

Simon: Ich schließe mich hier Berit an!

Matthias: Wie seit Jahren war auch 2018 nahezu jede Äußerung des Feuilletons zu Verkehrsthemen großer Unfug, und den Vogel haben wie immer die Einlassungen von Ulf Poschardt zum Thema Autofahren abgeschossen. Möglicherweise hat auch Rainer Meyer, dem es aus mir komplett unverständlichen Gründen sogar von seriösen Medien gestattet wird, unter dem infantilen Pseudonym »Don Alphonso« zu schreiben, etwas zum Thema Auto gesagt, das könnte dann sogar noch schlimmer sein, ich traue mich aber nicht nachzuschauen, weil mich das dümmer machen würde.

6. Das beste/schlechteste lektürebegleitende Lebensmittel 2018?

Tilman: Habe mir gestern die Hände eingecremt – das war die Hölle, alle Seiten fettig.

Simon: Das beste war und ist ohne Frage heißer Ingwer mit Zitrone und Honig, aber so stark, dass es milchig ist, sonst kann man es auch lassen. Am schlechtesten alles, was fettig ist, da hat Tilman recht!

Katharina: Wenn man sich allerdings die Hände nicht eincremt und zu trockener Haut neigt und dann zu eingerissene Haut an den Fingern hat, die auch manchmal blutet, ist das auch nicht gut, dann hat man Blutflecken im Buch.

Samuel: Buttrige Artischockenblätter

Berit: Sehr gut und richtig sind Kaffee und Lakritz, sehr schlecht sind Lutschbonbons, die einem die Zähne zur Maulsperre zusammenkleben, wenn man abgelenkt beim Lesen darauf herumkaut.

Elif: Bei mir gibt es nur Mate. All day, every day.

Matthias: Ich esse und trinke eigentlich selten beim Lesen von Büchern. Beim Lesen am Bildschirm schaufle ich in mich hinein, was eben da ist, und muss dazu feststellen, dass die Bunten Schnecken von Haribo echt was taugen. Wie immer enttäuschend: Paprikachips in zu großer Menge.

7. Der unnötigste sachliche Fehler in einem Artikel/Buch im Jahr 2018 war….?

Katharina: Als ob mir sowas auffiele.

Samuel: Deportationen nach Auschwitz im Sommer 1939 stattfinden zu lassen (in einem Familienroman)

Berit: Mir ist keiner aufgefallen, vielleicht lese ich nicht genau genug?

Simon: Ich erinnere mich, irgendwo einen gesehen zu haben, aber offenbar war er nicht gravierend genug, mhm.

Matthias: Michael Naumann in seiner Rezension der Tagebücher von Lion Feuchtwanger: »Arno Schönberg«. Dass der Großjournalist das einfach so hinschrieb und die größte deutschsprachige Wochenzeitung des Universums es unkorrigiert durchwinkte – das war ein Lehrstück in Sachen deutscher Medienbetrieb. Es sind die Kleinigkeiten und Äußerlichkeiten, die den Kampfgeist ausmachen (glaubt das nicht mir Ungedientem, glaubt es Norman Schwarzkopf jr., den ich damit sinngemäß zitiere).

8. Ulkigste Äußerung einer Person des öffentlichen Lebens zum Buchmarkt 2018?

Katharina: “Was fehlt, ist eine Arbeiterliteratur, die erzählt, was Menschen überall in Deutschland weg von Linkspartei und SPD in die Arme der AfD treibt.” (Ulf Poschardt) Als gäbe es dafür nicht Sachbücher und als gäbe es nicht – inzwischen bekanntermaßen – auch sehr finanzkräftige Unterstützer der AfD, deren Motivation ja auch ganz spannend wäre. Was fehlt, ist eine Arbeiterliteratur, die nicht der argumentativen Verzweckung von irgendwem untergeordnet ist.

Samuel: Waren mehrere … man müsse Christian Kracht jedes Wort 1:1 so abnehmen, wie er es in Frankfurt anlässlich seiner Poetikdozentur vorgetragen habe, kam bei vielen Berichten einer Verkennung der Ambivalenz des inszenierten literarischen Sprechens im hyperöffentlichen Raum der Vorlesung gleich, in dem ja beides zugleich möglich ist: Aufrichtigkeit und Maskerade, Transparenz und Opazität.

Berit: Die Reaktionen von zentralen Instanzen des Buchbetriebs auf die Leserschwundstudie des Börsenvereins und den durch die Digitalisierung ausgelösten Marktveränderungen schwankten zwischen völliger Fassungslosigkeit angesichts eines seit Jahren absehbaren Paradigmenwandels und wirklich amüsant-verzweifelten Anrufen einer Art Buchhygges, in der das Buch dann rasch auf eine Ebene mit dem Gläschen Wein oder einer entspannten Yoga-Einheit gesetzt wurde. Lesen als “Oase der Entschleunigung” und die Zeitdiebe aus Michael Endes Momo als Metapher für die Digitalisierung.

Matthias: Ganz eindeutig die Forderung danach, die Anzahl der Neuerscheinungen im gesamten Markt zu reduzieren, weil ja niemand mehr alles lesen könne. Das macht aus Lesen ein komplettistisches Hobby wie Münzensammeln und erklärt zudem alle Bücher für irgendwie gegeneinander austauschbar. Unfug, wie auch immer man es dreht und wendet.

9. Hast du 2018 ein Buch wiedergelesen oder wiederentdeckt?

Tilman: Ja, der oben erwähnte Llosa, das war wirklich schön. Außerdem habe ich meine jährliche Dosis Die Welt von Gestern nicht verpasst. Grandioses Buch!

Simon: Ich habe noch einmal Jakob Noltes Alff gelesen, das mich vor vier Jahren vom Hocker gerissen hat und ich habe zufrieden festgestellt, dass es mich immer noch begeistert. Außerdem im Zuge meiner Dissertation sogar zweimal Jack Kerouacs On the Road, das war vor allem interessant, weil ich es zuletzt mit 19 gelesen hatte und einen völlig anderen Blick darauf hatte.

Katharina: Habe “Das Ungeheuer” von Terézia Mora nochmal gelesen und wieder sehr gemocht – ich weiß gar nicht mehr, warum ich “Der einzige Mann auf dem Kontinent” so unfassbar zäh fand, vielleicht sollte ich das auch nochmal lesen.

Samuel: Weiß nicht, ob das als “Wiederentdeckung” zählt, aber César Airas “Stausee” von 2000 (Droschl) ist sehr irre / merkwürdig / toll.

Berit: Herman Bang wiedergelesen, Herman Bang weiterhin gemocht.

Elif: Äh, ich leshöre grade nur Harry Potter und der Halbblutprinz wieder. Es ist immer noch sehr gut.

Matthias: Ich habe Mutanten auf Andromeda von Klaus Frühauf gelesen, ein Buch, das mich in meiner Kindheit so fasziniert hat, dass ich es ca. viermal gelesen habe. Und was soll ich sagen? Es ist Science-Fiction-Meterware aus der DDR, spannend, aber etwas hölzern geschrieben, hochwertig hergestellt, avantgardistisch illustriert, linientreu und letzten Endes langweilig. Ich habe ein ganzes Regalbrett mit dem Zeug, allmählich sollte ich es doch mal lernen.

10. Hat sich 2018 dein Leseverhalten verändert?

Tilman: Nicht das Lesen an sich, aber der Besitzstand. Schlechte Bücher verlassen meinen Haushalt – meist gratis auf die Fensterbank. Ich brauche Platz im Kopf, im Regal und im Herzen.

Simon: Sehr! 2018 war mein erstes Jahr auf Twitter und ich habe so viele Menschen (Wissenschaftler*innen, Autor*innen und Verlage) kennengelernt, die meine Perspektive auf Literatur sehr erweitert und verschoben haben.

Katharina: Nein, aber ich finde mein eigenes Leseverhalten inzwischen derart unerträglich, weil ich so langsam lese, dass ich mir vorgenommen habe, 2019 endlich nur noch schnell und oberflächlich und ohne Notizen zu lesen. Man kommt ja sonst zu nichts.

Samuel: Vielleicht ist es rationaler geworden, um das hässliche Wort “ökonomisch” zu vermeiden. Habe schneller den Drang, ein Buch nach 10, 20 Seiten als lesenswert bzw. abbrechbar zu rubrizieren, das hat ab und zu den Effekt, dem Buch nicht ausreichend viel Chancen-Freiraum zu geben, in dem es sich entfalten könnte.

Berit: Ich begleite mein Lesen noch mehr als früher bei Twitter und führe dort die interessantesten Gespräche über Texte, das war sehr bereichernd. Mein Lesen verändert sich ständig, gerade lese ich Abends manchmal wieder Print und nicht mehr nur eBooks.

Elif: Für mich war das ein Lyrik-Jahr. So viele Gedichtbände wie in 2018 habe ich noch nie gekauft und gelesen.

Matthias: Ich habe tatsächlich mal ein bisschen mehr gelesen als sonst. Also immer noch fast nichts, aber mehr als die letzten Jahre. Danke, 54books!

11. Welcher Indie-Verlag hat 2018 immer noch zu wenig Aufmerksamkeit erhalten?

Tilman: Jeder. Toll die Aufmerksamkeit für Sebastian Guggolz! Aber bitte noch mehr Aufmerksamkeit für Christiane Frohmann, für den Lilienfeld Verlag und alles Gutverkäufliche von Random House, Bonnier und Holtzbrinck!

Simon: Der Frohmann Verlag, der hat mich auf jeden Fall mit der spannendsten – für mich neuen – Literatur konfrontiert. Sehr gefreut hat mich die große Aufmerksamkeit für den Verbrecher Verlag dank Manja Präkels Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß.

Katharina: Neben den schon genannten vermutlich Kookbooks. Ah ja, und ich mag den Elif Verlag. Der macht schöne Bücher, in manchen kommen Mäuse vor. Albino macht auch gute Sachen. Ansonsten mag ich alle Verlage, die klingen wie Brauereien, also beispielsweise Schöffling.

Samuel: Diaphanes, ed[ition] cetera, Wunderhorn Verlag

Berit: Reinecke & Voß macht spannende Lyrik. Mikrotext, Guggolz und Frohmann sind ebenfalls großartig. Noch mehr mediale Aufmerksamkeit würde ich außerdem Reprodukt gönnen, die machen wunderschöne Bücher, besonders die Kindercomics sollten in jedem Kinderzimmer stehen.

Matthias: Im Zweifel alle, es sei denn, sie korrigieren nicht ordentlich, das braucht kein Mensch.

12. Welche ist deine Katze des Jahres?

Tilman: Die Katze meiner Mutter: Bebra. Sie ist benannt nach einer sehr hässlichen, hessischen Stadt. Meine Schwester behauptet, das sei ihre Idee gewesen. Das ist natürlich Unfug: Ich war es.

Katharina: Meine.

Simon: In meinem Leben gibt es keine Katzen und das ist sehr schade.

Samuel: Meiner (ein Kater). Er heißt Heng, wie der luxemburgische Großherzog, ist dementsprechend edel. Er leckt sich immer sehr aristokratisch das Fell und guckt wie der letzte Snob. Und er trinkt ausschließlich Évian – wie Madonna oder so.

Berit: Ich habe ein wenig Angst vor Katzen, schaue sie mir aber gerne aus der Ferne an. Christiane Frohmanns Kater Laser gefiel mir sehr gut, als ich ihn traf. Er war wunderschön wildtigrig und wollte nicht auf meinem Schoß sitzen – Perfekt!

Elif: Die Katzen von Sarper Duman. Besuch der Instagramseite auf eigene Gefahr – ihr werdet vielleicht schmelzen, Herzchenaugen kriegen, weinen, euch verlieben und die Seite nie wieder verlassen. Er adoptiert regelmäßig Straßenkatzen, spielt mit ihnen Klavier und hat inzwischen keine Ahnung wie viele.

Matthias: Meine Katzen des Jahres sind selbstverständlich Chewbacca (aka Chewie aka Tchou-tchou) und Fluse (aka Flusi aka Flou-flou), die beiden Katzen, die meine Frau und ich diesen Sommer adoptiert haben.

13. Welcher literarische Trend wird 2019 vorherrschen?

Tilman: Das gänzlich unliterarische Scheißbuch. Das kann sowohl der x-te Promiquatsch sein (von Promis, die das Leben erklären, bis zu Promis, die literarische dilettieren) als auch diese ganze andere Massmarket Mist. Ich habe sowieso die Hoffnung aufgegeben, nicht nur für 2019.

Simon: Ich habe die Hoffnung, dass es noch mehr Literatur geben wird, die sich der Schreibweisen und der Kommunikation annimmt, die im digitalen Raum immer mehr Alltag werden. Außerdem denke ich, dass noch einiges zu #metoo erscheinen wird, das vielleicht nicht direkt darauf Bezug nimmt, aber das Thema Geschlechterverhältnis/Machtstrukturen aufgreift. Außerdem scheint, wenn man sich in den Verlagsankündigungen umschaut, das Thema “dystopische Zukunft” weiterhin im Trend zu sein.

Katharina: Ich glaube tatsächlich, dass die Klassenfrage mehr und mehr zurückkommt – in der Theorie wie in der Literatur. Es wird Romane zu #unten geben und man kann nur hoffen, dass sie sich nicht mehrheitlich in Klischees und/oder Sozialromantik verheddern. Persönlich würde ich mir einen dauerhaften Trend hin zu einer Romanlänge von maximal 250 Seiten wünschen. Man kommt ja zu nichts.

Samuel: Die Deklination von Heimat in allen möglichen Fällen: kritisch, affirmativ, sarkastisch, naiv. Die normative Engführung von Relevanz und Literatur: Nur Bücher, die einen auf den ersten Blick ersichtlichen / konsumierbaren gesellschaftskritischen Beitrag liefern, sind “IN DIESEN ZEITEN” gefragt. Bücher, die es sich und der Leserschaft schwieriger machen, sind fatales Geplänkel zur falschen Zeit. Das wird die Unachtsamkeit gegenüber sprachlicher Verfahren sowie die Diskreditierung des Ästhetischen zugunsten einer Idee von Literatur als (er-)klärendem Diagnose-Service befeuern. (Ist aber auch schon länger so.) Positiv, hoffentlich, als Trend: dass mehr über Repräsentationen nachgedacht wird, wer wie bei wem auftritt, wem welcher Raum zugestanden wird, etc., zugleich hoffe ich, dass es auch hier nicht zu so einer Engführung kommt nach dem Motto: Ausschließlich Bücher, die eine Diversitätsquote erfüllen, sind wertvolle Bücher. Aber die Frage wird hoffentlich stärker gestellt und klüger beantwortet als bisher.

Berit: Ich prognostiziere eine Verstärkung des Trends zur Lyrik, auch vermehrt mit ästhetischen Verfahren, die dem digitalen Raum entstammen. Außerdem werden wir weiterhin die Tier- und Pflanzenwelt auf Buchdeckeln finden – Käfer, Vögel, Fische, Farne usw. Mit dieser gestalterischen Faszination für Flora und Fauna schleicht sich meiner Meinung nach die latente Wahrnehmung von Klimakatastrophe und Artenschwund auf die Cover. Persönlich hoffe ich daher auf Bücher, die sich auch zwischen den Buchdeckeln mit innovativen erzählerischen Verfahren mit dem Klimawandel befassen, gerne auch in ästhetisch herausfordernder Art und Weise, beispielsweise in Langgedichten oder mit phantastischen Elementen.

Matthias: Im Sachbuchbereich geht der Trend weiter Richtung Krempel und Nachahmertitel, vermute ich. Plus vermutlich eine Lawine billig runtergeschriebener Politsachbücher über den Wachwechsel bei der deutschen Christdemokratie und verwandte Phänomene.

14. Auf welche Neuerscheinung 2019 freust du dich besonders?

Tilman: Das Buch von Berit, das im Herbst 2019 bei Schöffling erscheint.

Katharina: Was Tilman sagt. Und es gibt einen neuen Roman von Streeruwitz, die ich gerne lese.

Simon: Was Tilman sagt. Und ich bin auf Yannic Han Biao Federers Debüt gespannt.

Samuel: Ann Cottens “Lyophilia”, Sibylle Bergs “GRM”, bien sûr auch Berits Roman, was sonst?

Berit: Ich freue mich sehr auf all die norwegischen Bücher, die zur Buchmesse erscheinen werden, ganz besonders darauf, dass nun auch meine Freunde Johan Harstads Max, Mischa und die Tet-Offensive lesen können. (Es wäre außerdem gelogen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich mich riesig auf mein eigenes Buch freue.)

Elif: Schließe mich allen an. Außerdem freue ich mich auf Eure Heimat ist unser Albtraum, Schamlos, beides aus der Perpektive von migrantischen und/oder muslimischen Menschen und auf die Jugendbücher On the Come Up und King of Scars.

Matthias: Was Tilman sagt. Und möglicherweise die Neuedition von Kants Kritik der Urteilskraft in der Akademie-Ausgabe, ich habe gehört, eventuell wird die tatsächlich bald mal fertig.

15. Welche Neuerscheinung 2019 lässt du lieber liegen?

Katharina: Gibt es wirklich noch Leute, die sich auf den neuen Roman von Houellebecq freuen? Ich habe den wirklich mal sehr gerne gelesen, “Die Möglichkeit einer Insel” ist einer meiner Lieblingsromane aus der internationalen Gegenwartsliteratur, aber der schreibt doch auch schon länger einfach nur immer wieder dasselbe Buch mit wechselnden “Zeitdiagnosen”, und wenn ich mir die Zeit erklären lassen will, lese ich Sachbücher von Leuten, die noch bei Trost sind, bei Houellebecq habe ich da meine Zweifel, schon allein, weil er einen Blick für soziale Themen haben mag, einen sehr männlichen, aber immerhin einen Blick – für politische Fragen hat er keinen. Und dieses “der arme einsame Mann in der sozialen Kälte unserer Zeit”-Ding reicht halt irgendwann vielleicht als literarischer Zugang auch nicht mehr, um abendfüllend zu sein.

Simon: Jedes Buch, das mir penetrant etwas erklären will: Sei es meine Generation, den Rechtsruck oder was auch immer.

Samuel: Jan Brandts “Ein Haus auf dem Land”

Berit: Selbstbespiegelnde Bücher arrivierter Autoren, wer interessiert sich schon für die filzigen Flusen aus deren Bauchnabel. Außerdem habe ich die Faustregel, dass ich nie Bücher lese, die kultige Kiezgrößen romantisieren.

Matthias: Grundsätzlich lasse ich jedes Buch liegen, das aus der Feder einer dieser typischen deutschen Themenpundits kommt. Wir haben ja für jedes wissenschaftliche Thema in Deutschland jemanden, der dafür als Experte herumgereicht wird, ohne ein nennenswertes Standing in der entsprechenden akademischen Disziplin zu haben. Leider muss ich den Quatsch trotzdem manchmal rezensieren.

16. Welchen (vergessenen) Klassiker sollte man 2019 wiederlesen bzw. neulesen?

Tilman: Ich werde mir Die Elenden von Hugo reinknattern, außerdem Große Erwartungen von Dickens und Die Auferstehung von Tolstoi, ob man das soll – das weiß ich erst hinterher.

Simon: Wolfgang Borcherts Gesamtwerk (ist ja leider nicht so lang). Ich werde mir im kommenden Jahr mal Hannah Arendt und Simone de Beauvoir vornehmen.

Katharina: 2019 ist Fontane-Jahr und Fontane mag ich. Ansonsten kann man halt mal wieder Gedichte von Lasker-Schüler lesen. Grundsätzlich will ich aber sowieso viel mehr Bücher von toten Menschen lesen – die schreiben einem keine nöligen eMails und außerdem gibt es so viele Klassiker und man kommt ja zu nichts.

Samuel: In der Hinsicht bin ich leider so ein kanonistischer Idiot, der sagt: die Novellen von Heinrich von Kleist.

Berit: Gedichte von Sibylla Schwarz sollte man mal anschauen, weil Barocklyrik fetzt. Ich werde 2019 etwas von der Norwegerin Cora Sandel lesen (Norwegen ist Buchmessegastland 2019) und etwas aus der Sandalen-Serie des dänischen Gladiator Verlages, die spannende nicht-kanonisierte Klassiker wiederauflegen.

Elif: Ich habe mir vorgenommen, Tess of the d’Urbervilles und Rebecca endlich zu lesen. Der ein oder andere Roman von Jane Austen könnte auch wieder dabei sein.

Matthias: Wie gesagt, ich bin immer noch an den Jahrestagen dran.

17. Wird es Print 2020 noch geben?

Tilman: Klar, Promis erscheinen nicht als ebook!

Katharina: Print lebt ewig weiter, wird aber eben zunehmend ein Liebhaber-Ding und verliert weiter an Einfluss. Stand neulich in einem Glückskeks (auch Print).

Simon: Solange Richard David Precht vor Regalen posieren will, wird es gedruckte Bücher geben.

Samuel: Na ja.

Berit: Spannender ist doch die Frage, ob es 2020 in Flaschen abgefüllten Buchseitengeruch und Bücher auf Esspapier geben wird!?

Elif: Solange es Bookstagram und Booktube gibt, wird Print leben. Was soll man sonst fotografieren und in die Kamera halten? E-Reader sehen nicht hübsch genug aus.

Matthias: Natürlich.

18. Welches ist dein liebster Knallkörper?

Tilman: Ich halte es da wie mit Kfz – Hauptsache schön laut!

Katharina: Seit ich sehr alt bin, also seit 2012, schätze ich es nicht mehr so, wenn es knallt und kracht. Da fällt mir ein, man hätte hier einen Wortwitz mit “Kracht” unterbringen können. Zu spät.

Berit: In Island gibt es so winzige Militärfahrzeuge/Panzer mit Böllerantrieb, die eine kurze Strecke fahren und dabei Funken sprühen. Daraus haben wir einmal eine sehr lange Reihe gebaut, dann den ersten angezündet und die Kettenreaktion beobachtet. Es war großartig!

Matthias: Als möglicherweise deutschester Mensch der Welt und allgemeiner Normcore-Typ bin ich tatsächlich ganz angetan von diesen großen Pappkisten, die man hinstellt, an einer Seite anzündet und die dann den Rest von alleine machen. Aber immer nur auf eine waagerechte Oberfläche, Kinder.