Blutsbrüder

Manchmal gibt es ja solche Wiederentdeckungen. Was nicht alles noch für Schätze ungehoben in Archiven, Antiquariaten und auf Dachböden liegen mögen – nun, nach der Wiederauflage von Blutsbrüder von Ernst Haffner, einer weniger.

Die Schwierigkeiten der Zwischenkriegszeit, also zwischen 1918 und 1933, die Otto Normalverbraucher beschäftigten – Wirtschaftskrise, Inflation, Massenarbeitslosigkeit – ist ein vielbehandeltes Thema vom Geschichtsbuch über die Biographie von Zeitzeugen (e.g.Stefan Zweig, Sebastian Haffner, mit Ernst Haffner (wohl) nicht verwandt) bis hin zu Verarbeitungen in Romanen (e.g. Fabian von Erich Kästner), doch das Schicksal von Kindern und Jugendlichen ist nur selten Thema. Etwas überraschend daher, auch für mich, der ich mich in dieser Zeit inzwischen recht  gut auskenne und mich auch für wohl informiert hielt, dass es der Jugend so dreckig ging.

blutsbrueder haffner

In Berlin schlägt sich eine Gruppe von jungen Männern durchs Leben. Nicht “richtige” junge Männer, vielmehr Heranwachsende ab 15. Getürmt von zu Hause, aus Erziehungsanstalten oder dem Gefängnis, ohne Papiere versuchen sich die Jungs mit Gelegenheitsjobs, kleineren Diebstählen, aber auch Prostitution ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Geschildert werden ihre Bemühungen ein Bett für die Nacht, einen warmen Aufenthaltsort für den Tag und Geld für das Essen zu besorgen. Als die Blutsbrüder in einer Clique organisiert schlagen sie sich gemeinsam durch.

Die Lebensläufe zweier Ausreißer aus Entziehungsanstalten werden detaillierter herausgegriffen: ihr Leben in der Gewalt der Anstalt, ihre Flucht und die Aufnahme bei den Blutsbrüdern, die erste Geborgenheit unter Gleichaltrigen in Freiheit, aber auch die aufkommenden Sorgen vor der Polizei, ob des Lebens ohne Papiere. Als aus der Clique immer mehr eine Verbrecherbande wird, tauchen die beiden unter und versuchen sich mit (halbwegs) ehrlicher Arbeit bis die Polizei diesem vorerst wieder ein Ende bereitet.

Fast unglaublich, dass ein solches Buch, ein solches Dokument der Zeitgeschichte, so lange unveröffentlicht blieb. Ernst Haffner schildert eindrücklich-bedrückend das Leben eines großen Teils einer ganzen Generation im Elend. Die Umstände werden umso erschreckender, wenn ich mir vor Augen führe, dass ich diesem Alter kürzlich erst entwachsen bin und welche Sorgen mich zwischen 15 und 21 umtrieben; das Schönreden der eigenen Prostitution gehörte nicht dazu, ebenso wenig die beste Technik für Trickdiebstahl im Kaufhaus oder das Reisen unter (!) einem Zug von Köln nach Berlin.

Das Schicksal von Willi und Ludwig, der beiden Protagonisten, ist beklemmend und wird durch den Optimismus und die Zuversicht der Beiden nur noch verstörender. Auch wenn ein Vergleich “Wem ging es dreckiger” nicht möglich ist, muss einen doch die geraubte Kindheit dieser Jungen, der Mädchen, die sie als Prostituierte wiedertreffen, erschüttern und beschäftigen.

Und die Erkenntnis seiner versauten Jugend war so grauenvoll, daß Gefängnis oder Fürsorge ihm als kleinere Übel erschienen. Er wird bestimmt keinen Fluchtversuch aus der Anstalt unternehmen. Nur noch still, nicht mehr träumend, wird er die Qual des Anstaltslebens hinnehmen. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag, vielleicht auch wegen der guten Führung schon eher, verläßt ein Mensch ohne Rückgrat, eine Knechtsnatur die Anstalt, um den Kampf mit dem Leben aufzunehmen.

[…] Es wird wieder werden wie es immer war, vor der Zeit mit Jonny und Fred: Auf den Strich gehen, gelegentlich einen Taler dabei verdienen und sonst hungern und hungern, daß die Schwarte knackt. Obdachlos, so lange schon obdachlos, daß eine Matratze in einer Massenherberge ein Paradies ist.

Auch wenn man die abgebrühte Jugend (Stichwort: Blutzbrüdaz) in den Schulen wohl nicht mehr so einfach für Stimmungen und Umstände des vergangenen Jahrhunderts begeistern kann – ich rede schon kulturpessimistisch wie ein alter Mann – diese Geschichte betrifft uns heute genauso wie vor fast 100 Jahren und diese Schicksale sollten uns heute eine Mahnung sein. Warum nicht mal die Schullektüre von Ein Kind unserer Zeit von Ödön von Horvath, das ich selbst sehr schätze, durch Blutsbrüder ersetzen. Leichter zu lesen ist es und in seinem Nachhall ebenso eindrücklich. Dem Metrolit Verlag kann man zu dieser (Wieder-)Entdeckung nur gratulieren und uns weitere solche wünschen.

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Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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