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Der Gefangene der Freiheit

Ein Essay von Christian Johannes Idskov, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich

 

Am 30. April kam die Nachricht von Yahya Hassans Tod. Der Dichter wurde nur 24 Jahre alt. Dieser Essay wurde am 03. März fertiggestellt und war als Beitrag für die erste diesjährige Vagant-Ausgabe mit einem Thementeil über Ungleichheit und soziale Absicherung geplant. Wir veröffentlichen ihn an dieser Stelle ungekürzt und unverändert.

 

Wie konnte das geschehen? Weshalb musste es ihm so ergehen? Vielen in Dänemark erschien Yahya Hassan lange als schwer zu verstehender Fremder. Doch jetzt, da man die Umrisse seines Lebenswegs erkennt – vom unangepassten jugendlichen Kriminellen zum landesweit bekannten Dichter und später zum Gewaltverbrecher in Isolationshaft und Drogensüchtigen im Entzug –, ist man dennoch schwerlich überrascht. Hatten wir, die wir ihm in den letzten sieben Jahren mit Hilfe der Medien folgten, wirklich etwas Positiveres erwartet? Eine glückliche Entfaltung? Ein geborgenes und sicheres Leben? Stattdessen hat Yahya Hassans gesellschaftlicher Aufstieg die Vorurteile der Öffentlichkeit scheinbar bestätigt: dass man den Jungen vielleicht aus dem Brennpunkt, nicht aber den Brennpunkt aus dem Jungen entfernen kann. Bereits im Debütband schien er zu wissen, dass sein Schicksal besiegelt war: „MEINE PORNOSEELE MEINE GELDSEELE MEINE GEFÄNGNISSEELE / NEHMT MICH RUHIG GEFANGEN“.

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Natürlich war es Yahya Hassan, der sagte: „Ich verstehe ihn.“ Es ist das Jahr 2015, zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Debüts, und Yahya Hassan ist auf dem Höhepunkt seines Starstatus. Der Mann, von dem der junge Dichter spricht, heißt Omar Abdel Hamid El-Hussein. Der Terrorist, der am 14. und 15. Februar 2015 in einem der größten Terroranschläge in Dänemarks Geschichte den Journalisten Finn Nørgaard und den jüdischen Türsteher Dan Uzan erschoss sowie fünf Polizeibeamte verletzte – bevor er in einem Schusswechsel mit dem Sondereinsatzkommando der Polizei selbst auf offener Straße getötet wurde.

Yahya Hassan brachte El-Husseins Verbrechen keine Sympathie entgegen – „natürlich sollte man so einen Idioten bekämpfen“, sagte er der Zeitung Politiken in der Zeit nach dem Anschlag (20.05.2015) –, doch wenn man heute die Äußerungen des Dichters liest, ist ein Zweifel unmöglich: Yahya Hassan sah in dem drei Jahre älteren Omar eine Schicksalsgemeinschaft.

In ihrer Kindheit lebten beide in Flüchtlingslagern im Mittleren Osten, sie wuchsen in sozial benachteiligten dänischen Wohngebieten auf und waren in gewalt- und bandenkriminellen Milieus aktiv. Yahya Hassan lief Omar El-Hussein niemals über den Weg, aber sie beide waren junge, wurzellose Kleinkriminelle, die das Gefühl hatten, ihr Dasein befände sich außerhalb der eigenen Kontrolle: „Wie ich steckte auch er ganz unten in der Gesellschaft fest. Die palästinensische Situation erzürnte, der Rechtsruck in Europa verwirrte ihn.“ Und Yahya Hassan sagte auch: „Er beging Verbrechen, während er boxte und seine Leidenschaft und sein Talent zu finden versuchte. Ich machte Verbrechen wieder gut, während ich einen Gedichtband schrieb. Er verlor seinen Boxkampf und machte mit der automatischen Schusswaffe weiter. Ich hatte das Glück, veröffentlicht zu werden.“ Zum Schluss fügte er an: „Ich sagte nicht, dass ich als Terrorist geendet wäre, aber ich hätte in einem ähnlichen Umfeld festgesessen.“

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Liest man heute YAHYA HASSAN (2013), seinen ersten Gedichtband, ist der Eindruck auf vielerlei Arten ein anderer als beim Erscheinen im Oktober 2013. Die Gedichte haben nichts eingebüßt, im Gegenteil, sie wirken hemmungsloser und komplexer. Kann man sagen, dass sie unabhängiger von der Welt geworden sind? Vielleicht dürfen sie sich erst jetzt als Lyrik offenbaren.

Damals, 2013, ließ sich das Debüt unmöglich von der politischen Debatte getrennt lesen. Viele betrachteten den Gedichtband als Augenzeugenbericht aus einem Brennpunkt, den zu betreten nur wenigen gestattet war. Der Grund dafür war einleuchtend. Zwei Wochen vor der Veröffentlichung hatte Yahya Hassan einen gewaltigen Aufruhr verursacht, als er im meistgelesenen Interview in der Geschichte der Zeitung Politiken (05.10.2013) von einer Unterschichtenkindheit erzählte, die geprägt war von Gewalt und Vernachlässigung: „Ich habe einen verfickten Hass auf die Generation meiner Eltern.“ Wie so viele andere Einwandererfamilien kam seine eigene in den Achtzigerjahren nach Dänemark. „Wir, die Ausbildungen abgebrochen haben, wir, die kriminell geworden und wir, die zu Pennern geworden sind, wir wurden nicht vom System vernachlässigt, sondern von unseren Eltern. Wir sind die elternlose Generation“, sagte er.

Zu dieser Zeit hatte der junge Dichter im Fernsehen und in Zeitungen eine ganze Menge zu erzählen. Er erzählte vom Leben in einem Brennpunkt mit einer „durchgängigen sozialen Verderbtheit“ und einer „moralischen Heuchelei ohnegleichen“. Seine Geschichten handelten von einer neudänischen Unterschicht, kontrolliert von gewalttätigen Vätern, die willig waren, den Koran zu rezitieren, in die Moschee zu gehen und „Heilige zu spielen“, wohingegen sie gleichzeitig kein Problem damit hatten, „das Sozialsystem auszutricksen und zu betrügen“, wie Hassan es im Politiken-Interview ausdrückte.

Heute lässt sich schwer übersehen, wie der erst 17-, 18-jährige Dichter nahezu eigenhändig andere Maßstäbe für eine vollkommen festgefahrene Debatte über Brennpunkte, Geflüchtete und den Islam in Dänemark setzte. Die Kritiker der Rechten hatten in den vergangenen Jahren durchgehend moniert, es käme zu einem Kampf zwischen den Kulturen, weil radikale Muslime die Freiheitsrechte einschränken würden, wohingegen die Linke die Kritik an der kulturellen Begegnung ablehnte und die Fahnen der Toleranz hisste, wenn sie Einwanderungsprobleme nicht gerade äußerst wohlwollend als ein Klassenproblem beschrieb. Der Wertekonflikt der dänischen Nullerjahre hatte eine neue Hauptperson bekommen. Nach der Veröffentlichung von YAHYA HASSAN waren die meisten sich einig, dass es in betroffenen Einwanderermilieus Probleme gab, die jetzt auf einmal – blitzartig – unmöglich zu ignorieren waren.

Aber was ist mit den Gedichten? Hatten die etwas mehr zu erzählen? Zuvorderst waren sie von einer an subjektzentrierte Lyrik erinnernden Verbrecherattitüde angetrieben, die mit einem singenden, zornerfüllten Koranvokal und überraschenden, provokanten Bildfindungen das Einwanderermilieu mit sozialer Unterdrückung und patriarchaler Gewalt verkoppelte: „FÜNF KINDER IN AUFSTELLUNG UND EIN VATER MIT KNÜPPEL / VIELFLENNEREI UND EINE PFÜTZE MIT PISSE“, lauteten die ersten Verse. Geschichten von Barbarei in intimsten Zusammenhängen waren es, die an mehreren Stellen den Gedichtband dominierten, und die Rechte guckte auf den jungen Dichter und sagte: Seht, wir haben es ja gewusst! Die Kultur der Muslime sei eine Kultur der Gewalt, die die unantastbare Freiheit des Individuums nicht verstehe. Und die Linke sagte: Vergesst es! Die Konzentration von Geflüchteten und Armut in Wohnblöcken schaffe soziale Probleme, die wiederum Gewalt und Vernachlässigung erzeugten. Nur von der muslimischen Minderheit wurde er nicht gelobt. Als er kurz nach der Veröffentlichung seine Gedichte im Odense-Vorort Vollsmose vortragen sollte, geschah dies mit Polizeiaufgebot, Helikoptern in der Luft und Live-Übertragung im Fernsehen. Ganz Dänemark war dabei, aber als der junge Dichter in den Wohnblock zurückkehrte, saß in den Zuschauerrängen des Saals fast niemand mit muslimischem Hintergrund. In Schweden schrieb die Dichterin Athena Farrokhzad in einer Besprechung des Buches (Aftonbladet, 17.03.2014), es gebe Themen, über die man ganz einfach nicht schreiben könne, wenn man aus einer muslimischen Minderheit komme. „Es fühlt sich unmöglich an, sie einer überwiegend weißen Öffentlichkeit zu schildern.“

Farrokhzads Kritik führte zu einer großen Debatte über die verschiedenen Erfahrungen von Minoritätsgruppen und wie diese literarisch umgesetzt und, nicht zuletzt, mit den weißen Mitmenschen diskutiert würden. Yahya Hassans Gedichtband war allerdings viel mehr als eine Kritik an der patriarchalen Gewalt- und Schnorrerkultur der neudänischen Unterschicht oder ein „Geschenk an die Dänische Volkspartei“, wie Farrokhzad meinte. Es war ein Buch, das bereits im ersten Gedicht den Blick vom sozialen Elend in den Wohnblöcken in Aarhus Vest auf einen Mittleren Osten mit Drohnen, Krieg, Flüchtlingslagern und Zerstörung lenkte. Es zeichnete die gesamte Reaktionskette nach, die der sozialen Katastrophe in Dänemark zugrunde lag. Kurz, die Gedichte waren die Antwort einer zornigen neuen Stimme: Hier stellte er die kriegsführenden Dänen vor die Konsequenzen ihrer politischen Handlungen. Geschichte und Globalisierung suchten nun diese naive Nation mit dem zornigen, jungen Dichter als Opfer und Boten heim. Bitteschön, Dänemark, hier habt ihr mich, eines der vielen kriegsgeschädigten Kinder des Mittleren Ostens!

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Die Vorstellung, dass Yahya Hassan sich bereits im Alter von siebzehn Jahren dazu berufen fühlte, sich selbst als Prophet zu porträtieren, ist unglaublich. Überall in seinem ersten Buch findet man diesen singenden Verkündungsdrang, ganz so, als wäre er endlich hier, Gottes ungezogene Sohn, der nächste falsche Messias, er, der sich vom Glauben entfernt hat: „DOCH SIEHE WAS SATAN HINTERLASSEN HAT / EINE EWIGE FLAMME AUS SEINER HÖLLE“. Yahya Hassan stellt sich selbst als Nachkommen vom Urmenschen der Zivilisation dar. Wieder und wieder beschreibt er sich als „Höhlenbewohner“, einen halben Mohammed, den gewöhnlichen Menschen des islamischen Glaubens, der jeden Tag versucht, aber dennoch niemals wünscht, die Offenbarung zu erlangen und sich als Allahs besonders Auserwählten zu zeigen. Wie Jesus trägt er die Leiden seines Volkes. Er ist ein exilierter, staatenloser Palästinenser mit einer gefährlichen Vaterbeziehung, ein zorniger, junger Mann, gefangen zwischen verschiedenen Identitäten. Kurz: ein Prophet mit vielen Identitäten.

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Mit am Interessantesten an Yahya Hassan sind seine Versuche, sich immerzu von den Fesseln, die ihn gefangen nehmen wollten, loszureißen. Auf paradoxe Art ist er immer gewesen, was sich die liberale Gesellschaft für das moderne Individuum erträumt hat: Er hat gegen seinen sozialen Hintergrund und sein Erbe aufbegehrt, den kulturellen Verbindungen, die ihm bei Geburt mitgegeben wurden, ist er ausgewichen, ebenso hat er sich einer rücksichtslosen und unbedingten Neuerfindung hingegeben: ja, größtenteils allen Arten der Befreiung, die wir aus der spätkapitalistischen Gesellschaft kennen.

Rückblickend ist es überhaupt nicht schwer, Yahya Hassan als das zu sehen, was Friedrich Nietzsche als „Legionär des Augenblicks“ bezeichnete. Der junge Dichter trat in einen Leerraum hinein, den vor ihm nur die wenigsten gesehen hatten. Obwohl sich auch hier die dänische Einwanderungsdebatte nicht überhören ließ, war sie auch im Pausenmodus. Der junge Dichter wollte sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite versöhnen. Er hatte die Gemeinschaften der Gesellschaft nicht aufgegeben, sondern meinte, sie selbst gestalten zu können. Anders ausgedrückt, Yahya Hassan sah die Möglichkeit, sich selbst in einem postrevolutionären Vakuum zu manifestieren, das zu  diesen nietzscheanischen Augenblickslegionäre gewesen ist: Emigrant*innen, Initiator*innen, Redakteur*innen, Dichter*innen, Scharlatan*innen und politischen Aufrührer*innen gehört hat. Personen, die sich selbst als Vorhut der Geschichte begreifen. Die, die das Chaos nicht fürchten, sondern davon zehren.

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Bei einer derartigen Manifestationskraft lässt sich nichts dagegen einwenden, dass sich Yahya Hassan eine Zeitlang als Politiker versuchte. 2014 wurde er Sprecher der Nationalpartei, gegründet von den Brüdern Kashif Ahmad, Aamer Ahmad und Asif Ahmad. Für die erste Pressekonferenz bemächtigte sich der junge Dichter der Bühne, als handele es sich um einen Gedichtvortrag. Vierzig Minuten lang las er aus einem politischen Manifest mit Ausrufezeichen und wütenden Schlachtrufen:

Wir sind keine bürgerliche Partei. Wir sind eine Partei der Bürger*innen und haben die Mitte eingenommen, um uns in Richtung der Vernunft vorzuarbeiten. Wir sind eine Plattform für unabhängige Stimmen, die nicht in die Mikrofone der Banken schreien. Die nicht in die Mikrofone der Waffenhändler*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamist*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamophoben schreien. Wir sind Dänemark.

Die Idee der Partei war, die politische Landschaft zu zersplittern und denjenigen Parteien, die in ihrer Ideologie verstaubt wirkten, den Rang abzulaufen. Es ging darum, den Einwanderern des Landes ein neues politisches Gesicht zu geben, doch zugleich hatte die Partei keine Angst, dort anzusetzen, wo eine Zerstörung des langweiligen gesellschaftlichen Erbes am meisten wehtat. Unter anderem wollte die Nationalpartei Geflüchteten verbieten, in die Brennpunktviertel der Großstädte zu ziehen, stattdessen sollten sie im Rest des Landes verteilt werden – ein Vorschlag, den die bürgerlichen Parteien 2018 mit der Linken an der Spitze beinahe eins zu eins mit Ja durchsetzten und der von Rune Lykkeberg, dem Chefredakteur der Zeitung Information, als endgültige Kapitulation vor den Sozialdemokraten bezeichnet wurde (02.03.2018). Das sogenannte Brennpunktpaket ist von der UN scharf kritisiert worden.

Yahya Hassans Karriere als Politiker sollte jedoch jäh enden. Weniger als elf Monate später wurde der Dichter aus der Partei geworfen, nachdem er unter Drogeneinfluss Auto gefahren war. Bis dahin war es zu mehreren Zwischenfällen gekommen, einige davon aufgezeichnet in seinem persönlichen Facebook-Livestream, in dem der junge Dichter Nachrichten an alle Personen aus dem Bandenmilieu schickte, die ihm anscheinend nach dem Leben trachteten. Während er eine kugelsichere Weste trug, sagte er zu Allan Silberbrandt, dem Nachrichtenmoderator des Senders TV2: „Die Sache ist die, dass ich der Partei und meinem Vorsitzenden zu einem frühen Zeitpunkt des politischen Prozesses klargemacht habe, dass ich eine Person bin, die bedroht wird und sich auf der Straße mit Leuten prügeln muss.“ Auf halbem Weg aus dem Studio setzte er seinen Monolog fort, ohne sich vom Moderator unterbrechen zu lassen: „Mit euch hab ich nichts mehr zu bereden. Wie es ums Land steht, hab ich schon gesagt. Fickt euch mit eurem bürgerlichen Wischiwaschi und euren ganzen Lügengeschichten. Intrigen anzetteln könnt ihr gegen mich und meinen Schwanz, so viel ihr wollt. Mein Schwanz ist beschnitten und schön. Dir noch ‘nen guten Abend, ich mag dich wirklich gern, und grüß Pia [Kjærsgaard, frühere Vorsitzende der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, A. d. Ü.].“ Via Facebook schickte er einen letzten Gruß: „Ab heute Abend schreibe ich nur noch Gedichte und Todesanzeigen.“

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Wenn man über Yahya Hassan spricht, ist eine Trennung von Maske und echtem Leben sinnlos. Größenwahn, knallharter Zynismus und Übertreibungskunst waren von Beginn an tragende Elemente seiner Selbstdarstellung – ganz gleich, ob es um seine lauthals vorgetragenen Gedichte, zügellosen Fernsehauftritte oder temperamentvollen Videos in sozialen Medien geht. Yahya Hassan ist auch ein Kind der modernen Technologie- und Informationsverbreitung. Er wurde sowohl verfolgt als auch verehrt, aber die öffentliche Ordnung hat er selbst zuerst gestört: Er hat gegen seine Herkunft aufbegehrt, sich aber niemals irgendeiner Art von dänischer Identität untergeordnet. Er hat die Autoritäten um sich herum niemals akzeptiert, aber er wollte sich auch nie etwas für sich selbst aufbauen. Er war, wie der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk es formulieren würde, zur Freiheit gezwungen. Man könnte ihn als einen Gefangenen der Freiheit bezeichnen. Einen vaterlosen, staatenlosen Palästinenser ohne Furcht vor oder Vertrauen auf die großen Gemeinschaften. Er hat versucht, die Verbindungen zu seiner Vergangenheit zu kappen, allerdings ist es ihm nie so recht gelungen, sich in seinem neuentdeckten Freiheitsparadies einzufinden. Als er noch auf dem Vormarsch war, ließ er sich beinahe als revolutionären Gesellschaftswandler betrachten, der versuchte, das Leben eines ganzen Milieus zu verbessern. Jetzt, da er den Kampf gegen seine eigene Vergangenheit verloren zu haben scheint und Gefängnisstrafen wegen Gewalttaten verbüßt hat sowie in der forensischen Psychiatrie behandelt worden ist, fragt man sich, ob überhaupt irgendwer imstande war, ihm zu helfen oder sein Leben zu verbessern. Yahya Hassan ist selbst zum Bild des sozialen Elends Dänemarks geworden. Der dänische Traum ist eine Lüge. Selbst für die Talentiertesten gibt es keinen leichten Weg aus dem Brennpunkt hinaus.

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Als die dänische Premierministerin am 01. Januar ihre Neujahrsansprache hielt, erzählte sie, sie glaube an eine Gesellschaft, in der jeder Mensch eine grundlegende Verantwortung für sein eigenes Leben trage. Aber sie sagte auch, dass wir dem Einzelnen nicht die komplette Verantwortung überlassen könnten. „Wenn die Kindheit bestimmt, was im späteren Leben passieren wird, dann ist das Muster immer noch zu stark und die Gemeinschaft zu schwach.“

Mette Frederiksen erinnerte insbesondere an die Kinder, die es am allerschwersten haben. Kinder, die zu Hause Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben. Der Ministerpräsidentin zufolge sei es jetzt an der Zeit, die Berührungsangst aufzugeben: „Wir müssen als Gesellschaft sichtbar werden. In Zukunft müssen mehr Kinder als heute ein neues Zuhause finden können. Und die Bedingungen für Kinder in Familien und Hilfseinrichtungen sollen noch viel stabiler sein.“

Es waren Kinder wie Yahya Hassan, von denen sie sprach.

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Im Laufe der Jahre haben sich viele auf Yahya Hassans Kritik am Brennpunktmilieu versteift, aber weitaus weniger haben sich seiner Schilderungen der unmenschlichsten Seiten des Wohlfahrtsstaates angenommen. Leicht lässt sich sein Gedichtdebüt als Reise durch die dänische Sozialhilfe beschreiben. Nach etwa einem Drittel des Buches lernt man dieses engmaschige Netz aus Aufenthaltsorten, Jugendeinrichtungen, Erziehungsbeiständen, Gefängnissen, Urinproben und Pädagogen kennen, die als Türsteher für einen mit seinem Leben unzufriedenen Teenager agieren.

Natürlich ist Yahya Hassan die Hauptfigur dieser Anti-Bildungsreise, auf der sich alles drum herum als anonyme und einengende Ausübung von Macht beschreiben lässt. In diesem System macht er keine hilfreichen Erfahrungen, erlebt nichts Positives, bis zu dem Punkt, an dem er einer neuen und ungewöhnlichen Kontaktperson begegnet, die ihn auffordert, zu schreiben und ihn auf die Spur der Literatur bringt. Kurze Zeit darauf stiehlt Yahya Hassan eine Kiste Bücher, und darin findet er den ersten Band von Karl Ove Knausgårds autofiktionalem Romanzyklus. Die Literatur, nicht die Sozialbehörden, werden zu seiner Rettung. Glaubt man dem Gedichtband, dann findet er seinen Weg ins Leben hier.

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Die Arbeiterliteratur ist reich an Geschichten, die zeigen, dass der Versuch, etwas an den Bedingungen der Schwächsten zu ändern und sie bloßzustellen, ein ungeheuer feiner Balanceakt ist. Noch 2016 musste sich der französische Autor Édouard Louis nach der Veröffentlichung seines Debütromans Das Ende von Eddy (Seuil, 2014) schwere Anschuldigungen gefallen lassen. In der Essaysammlung Etter i saumane. Kultur og politikk i arbeidarklassens hundreår (Unter die Lupe genommen. Kultur und Politik im Jahrhundert der Arbeiterklasse; Gyldendal Norsk Forlag, 2016) bezeichnete Kjartan Fløgstad Louis‘ Kindheitsschilderungen des postindustriellen Nordfrankreichs als „klassistisch“. Fløgstad zufolge machte sich Louis der Klassenverachtung schuldig, wobei das Bürgertum die „Erlösung“ sei, die Reise aus der Arbeiterklasse hingegen der reinste „Aufstieg in den Himmel“. Fløgstads Kritik, auf die Édouard Louis später in Morgenbladet antwortete, war geradezu das Echo einer Debatte, die zwei Jahre zuvor in französischen Medien stattgefunden hatte. Hier wurde Louis genauso angeklagt, klassistisch zu sein und die Arbeiterklasse in eine Kategorie mit „Natur“ und „Barbarei“ gesteckt zu haben. Fløgstads Einwände gegen Louis unterschieden sich also nicht allzu sehr von Hassans Kritik an der neudänischen Unterschicht.

Von intellektueller Seite wurde Yahya Hassan vor allem von Athena Farrokhzad kritisiert. Beging Hassan ein Sakrileg, dann lag das der schwedischen Dichterin zufolge nicht daran, dass seine Beschreibungen der Gewalt in den muslimischen Milieus unzutreffend waren. Sie meinte bloß, er hätte mehr Umsicht beweisen sollen. Kurz, die solidarische Perspektive hätte vor dem Befreiungskampf einer einzelnen, männlichen Person of Color Vorrang haben müssen. Die Frage, wie eine neudänische Unterschicht sich am besten vor der herrschenden (weißen) Klasse schützen sollte, ging Farrokhzad eher von der kollektivistischen als von der individualistischen Seite an.

Dass Yahya Hassan niemals des Klassismus beschuldigt wurde, liegt hauptsächlich daran, dass er zu keiner Zeit vorgab, das Kulturbürgertum biete irgendeine Erlösung. Als wir ihn sechs Jahre nach Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes in YAHYA HASSAN 2 (Gyldendal, 2019) wiedersehen, hat er die Türen zum dänischen Kulturparnass eingetreten. Diesmal läuft die Reise durch die Institutionen der Gesellschaft in die entgegengesetzte Richtung. Das Buch beginnt mit Gedichten, in denen er auf dem Weg zu seinem Lektor im Verlag Gyldendal im Zentrum Kopenhagens ist. Er übernachtet im Bett des Journalisten Martin Krasnik, weil er sich nicht frei bewegen kann, und er steht unter ständigem Polizeischutz. „Prämien-Perker“ [Anm. d. Ü.: Das unübersetzbare Wort „Perker“, zusammengesetzt aus „perser“ und „tyrker“, ist eine rassistische Bezeichnung für Menschen mittelöstlicher oder arabischer Herkunft], so heißt das erste Kapitel des Buches, in dem er sich in einen Samtanzug kleidet, die Königin besucht und als Politiker und öffentlicher Debattenteilnehmer durch die Lande reist. Er spricht nicht mehr mit seinen Verwandten, sondern auf Versammlungen und fühlt sich von oben und unten, von allen Seiten beständig unter Druck gesetzt. Genau hier bricht die Vergangenheit wieder durch: „ICH WERDE GERADE ZWISCHEN ZWEI MACHTSTRUKTUREN ZERQUETSCHT (…) ICH STRÄUBE MICH MIT ARMEN UND BEINEN“. Er erzählt, die Anzüge hingen wie „SCHLAPPE LEICHEN“ über dem Ständer. Er „SCHLÄNGELT SICH UM DIE GESELLSCHAFT HERUM“ und schrumpft zu „IMPULS UND INSTINKT“. Er ist auf „UNTERGANGSFORTSCHRITT MIT DER MENSCHHEIT“.

Zeichnet das erste Buch einen Aufstieg von ganz unten in die Gesellschaft hinauf, dann stürzt Yahya Hassan im zweiten vom Gipfel hinab. Yahya Hassan beschreibt den totalen Niedergang, menschlich und sozial, durch ein System bürgerlicher Codes, staatlicher Institutionen und Kontrolle. Doch was er im ersten Buch erlebt, ist weder besser noch schlimmer. Aus den ehrwürdigen Geschäftsräumen des Gyldendal-Verlags geht er in einer rasenden Geschwindigkeit, die ihm selbst nicht einleuchtet, an den Kartoffelreihenhäusern der Østerbro-Sternchen bis in den Brennpunkt, das Gefängnis und die Psychiatrie. „ICH NAHM DAS WORT IN MEINE OHNMACHT“, schreibt Yahya Hassan an einer Stelle. Und an einer anderen: „ICH SÜNDIGTE WIDER DIE VERBESSERUNG MEINES WESENS“. Wie in seinem Debüt besteht ein deutlicher Kontrast zwischen ihm und der Gesellschaft, die immer durch fremde Instanzen repräsentiert wird, welche ihn in Schach zu halten versuchen: Polizei, Banden, Richter*innen, Gefängniswächter*innen, Psychiater*innen, Ärzt*innen, Medien und Verlage. Yahya Hassan ist ständig auf der Flucht vor der Gesellschaft – vor ganz oben wie auch vor ganz unten. Er ist an den Wurzeln ausgerissen, findet aber außerhalb des Brennpunkts anscheinend zu nichts irgendeine Verbindung. Er ist zu einem zornerfüllten und enttäuschten Touristen geworden, der sich apathisch und verantwortungslos zu allen um sich herum verhält: „ICH GLAUBE NICHT AN MEIN LACHEN / ICH GLAUBE NICHT AN MEIN SCHLUCHZEN / DANN LAUFE ICH UMHER UND RÄUSPERE MICH LEICHT / MAL SCHREIBE ICH GEDICHTE MIT GEBROCHENER HAND / IN EINER SPRACHE DIE NACH UND NACH ÜBERLADENER IST ALS MEINE MUTTERSPRACHE / MAL SCHIESSE ICH LEUTE AB / DIE NICHTS VERSTEHEN AUSSER SCHÜSSEN / MAL GEHE ICH FRÜH INS BETT / UM AUFZUSTEHEN FÜR NICHTS / MAL TRAINIERE ICH / UM WIEDER UMGENIETET ZU WERDEN / MAL HABE ICH NOCH EINEN WINTER ÜBERLEBT / UM NOCH EINEN SOMMER HINTER GITTERN ZU VERBRINGEN / MAL VERFLUCHE ICH WER FÜR MICH BETET / UND FINDE FRIEDEN IM NAMEN MEINES FEINDES“.

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In Yahya Hassans Gedichten gibt es keinen Ort, wo er sicher und geborgen ist. Ruhe findet er einzig und allein im Schicksal, wobei er weder vor den Repressalien der Götter noch des Vaters oder der Sozialbehörden Furcht empfindet. Zusammen liefern Yahya Hassans zwei Gedichtbände den Eindruck eines Menschen, der alles geopfert hat, aber dennoch zum Untergang in einer Gesellschaft verdammt war, die ihm niemals helfen konnte. Er ist das Symptom eines Problems, welches der Wohlfahrtsstaat nicht greifen und daher nicht beheben kann. Er demonstriert die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Wohlfahrtsstaates. Die letzten Verse in YAHYA HASSAN 2 klingen wie ein Punkt, der erst noch gesetzt werden muss: „GELDSTRAFEN HAFT UND GEFÄNGNIS PRALLEN AN MIR AB / NICHT WEIL ICH UNGEEIGNET BIN ZUR STRAFE / SONDERN WEIL ICH ZU SEHR GEEIGNET BIN DAFÜR“.

 

Die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN (2013) stammen aus Annette Hellmuts und Michel Schlehs deutscher Fassung (Ullstein 2014), die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN 2 (2019) von Matthias Friedrich.

Christian Johannes Idskov, 1989 geboren, studierte Literaturwissenschaften in Odense und Kopenhagen. Er ist Kritiker für die Zeitung Politiken und Online-Redakteur der skandinavischen Kulturzeitschrift Vagant.

Matthias Friedrich, 1992 geboren, studierte Kreatives Schreiben in Hildesheim und Skandinavistik in Greifswald. Er übersetzt norwegische Literatur, u. a. von Svein Jarvoll und Thure Erik Lund, und arbeitet gerade an Leif Høghaugs Roman Kælven (Arbeitstitel: Der Kälberich), der voraussichtlich 2021 erscheint.

Der Essay wurde ursprünglich auf der Internetseite der Zeitschrift Vagant veröffentlicht.

Geschichten der Seuche – Vier Sachbücher zur Pandemie

von Susanne Wedlich

Das öffentliche Interesse an Erregern und Epidemien war vermutlich nie größer und Mikrobenliteratur jeglicher Art hat neuerdings Massenappeal. Die Auswahl an Sachbüchern ist groß: in dieser Sammelrezension wird es um vier Werke zu den Grundlagen der Epidemiologie, den Gefahren neuer Erreger, den Schrecken der „Spanischen Grippe“ und zur Vision einer pandemiefreien Zukunft gehen.

Für die meisten von uns ist es eine neue Erfahrung, als Gesellschaft einem Erreger fast hilflos ausgeliefert zu sein. Dabei besteht das eigentliche Novum doch eher darin, dass uns dieses Trauma bislang erspart geblieben war. Die Geschichte der Menschheit war immer auch eine Geschichte der Seuchen, auch wenn unser kollektives Gedächtnis dieses Motiv fast schon aus den Augen verloren hatte.

Das ändert sich jetzt und literarische Wiedergänger wie Boccaccios Decamerone werden als brandaktuelle Lektüretipps gehandelt, während das Interesse an Sachbüchern zu Erregern und Epidemien wahrscheinlich nie größer war – auch bei mir. Als Biologin und Wissenschaftsjournalistin ist mir die Materie grundsätzlich vertraut. Neu ist aber die akute Dringlichkeit der Lektüre mit der Hoffnung auf ein viel tieferes epidemiologisches Verständnis als bisher.

Sehr viel mehr wäre nicht zu erwarten, richtig? Wie sollte das Wissen um historische Ausbrüche helfen, wenn ein ganz neuer Erreger unser Leben umkrempelt? Was würden die Kenntnisse um frühere Quarantänen bringen, wenn sich derzeit die Lage in Deutschland nicht einmal mit der Situation in Italien vergleichen lässt? Wie faktenfixiert und falsch das gedacht war, zeigte allerdings die Lektüre jedes einzelnen der vier Bücher, um die es hier gehen soll.

Denn jetzt fehlte der gewohnte geistige Sicherheitsabstand. Sachbücher zu Seuchen hatte ich bislang anscheinend wie Krimis gelesen, also als höchstens theoretisch relevant, letztlich aber unendlich weit weg. Nun geht alles unter die Haut, historische Auswüchse lesen sich zum Verwechseln aktuell und für das Werk eines sonst hochgeschätzten Autors hätte meine Geduld fast nicht ausgereicht.

Den Anfang macht der schmale Band Seuchen von Kai Kupferschmidt. Der Wissenschaftsjournalist berichtet oft über Ebola und andere Epidemien, hält auch jetzt ein internationales Publikum in Sachen COVID-19 auf dem Laufenden. Sein Buch ist die Notfallapotheke für epidemiologisch interessierte Leser: Corona-bedingt sind viele der Fachbegriffe und Konzepte jetzt zu hören und zu lesen. Hier werden sie noch einmal klar und angenehm schnörkellos auf den Punkt gebracht.

Das Terrain ist abgesteckt, wird von dem amerikanischen Wissenschaftsautor David Quammen in Spillover auf über 500 Seiten aber ungleich tiefer umgepflügt. Wie springen Erreger auf den Menschen über? Warum treten diese Zoonosen immer häufiger auf? Und was macht sie so gefährlich? Quammen beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesem Thema und hat selbst schon Forscher bei der Suche nach neuartigen Erregern und ihren natürlichen Reservoirs begleitet.

Dazu gehören Expeditionen in den kongolesischen Regenwald, auf chinesische Wildtiermärkte oder ins Hinterland von Bangladesch – um möglicherweise infizierte Fledermäuse zu jagen. Quammen hat unglaublich viel zu erzählen und zieht seine Geschichten frei nach Agatha Christie als Whodunits auf: Welcher Erreger hat´s ausgelöst und welches Tier ist sein Handlanger, äh, natürlicher Wirt? Die Rolle der Schnüffler übernehmen natürlich die wagemutigen Forscher.

Quammen macht dabei viel richtig, erzählt vor allem Wissenschaft nicht linear. Stattdessen räumt er neben den Erfolgsgeschichten auch den Irrungen und Wirrungen auf dem Weg dahin viel Platz ein. Es ist also sicher der aktuell angespannten Lage geschuldet, dass ich den sonst so verehrten Autor hier streckenweise eher gnadenlos weitschweifig denn als begnadeten Erzähler empfand und auf die eine oder andere launige Anekdote gern verzichtet hätte.

Widerstand ist aber zwecklos und weil in der Fülle der Details grandiose Geschichten stecken, habe ich mich ab der Hälfte des Buches lieber Quammens mäanderndem Erzählfluss anvertraut. Der führt in die Seitenarme der Seuchengeschichte mit unbekannteren Erregern wie dem Hendravirus, macht aber auch lange bei den großen Stationen wie Cholera, HIV und SARS Halt.

Die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney wiederum fokussiert in 1918. Die Welt im Fieber auf die Spanische Grippe, eine Pandemie, die den Planeten in mehreren Wellen überrollte und bis zu 100 Millionen Menschenleben gefordert haben könnte. Spinneys wunderbares Werk beschränkt sich nicht auf den Westen, sondern dokumentiert unter anderem auch Ausbrüche in Australien, Brasilien und China.

Warum hat diese „beinahe vergessene Katastrophe“ kaum Spuren in unserem historischen Bewusstsein hinterlassen? Es habe keine Sieger gegeben, die Geschichte hätten schreiben können“, schreibt Spinney: „Nach einer Pandemie gibt es nur Besiegte.“ Und Nutznießer, ließe sich ergänzen. Denn Seuchen leisten damals wie heute Verschwörungstheorien und xenophoben Ressentiments Vorschub.

So hält US-Präsident Donald Trump hartnäckig an seiner Formulierung vom Chinese virus fest. Im Internet wird der Erreger zuweilen auch zur menschengemachten Biowaffe ernannt, eine Behauptung, die in den vom Krieg zerrütteten Ländern auch über die Grippe von 1918 kursierte, wenn sie nicht Ländern wie Spanien, Deutschland und Brasilien zugeschrieben wurde – trotz oder gerade wegen ihres bis heute nicht eindeutig geklärten geografischen Ursprungs.

Furchtbar modern liest sich auch ein Magazinartikel von 1918, wonach Behörden die Gefährlichkeit der Krankheit übertreiben würden, die „nur alte Menschen“ dahinraffe. Und ein Historiker befand in Bezug auf die Influenza, dass demokratische Strukturen für die Kontrolle einer Pandemie nicht besonders hilfreich seien, weil unterschiedliche Belange konkurrieren würden. Denn wer sich für „eine blühende Wirtschaft einsetzt, höhlt zwangsläufig die Gesundheitsfürsorge aus.“

Eine Szene aus Spinneys Buch schließlich überlagert sich besonders schmerzlich mit dem Bild, das in meinen Augen wie kein anderes für COVID-19 steht: So wie kürzlich Militärfahrzeuge in dunkler Nacht die Toten aus Bergamo holen mussten, stauten sich 1918 zweihundert Särge auf einem New Yorker Friedhof, weil die Gräber nicht schnell genug ausgehoben werden konnten. Die Grippe hatte eine spezifische Gruppe von Einwanderern außerordentlich hart getroffen: die Italiener.

Alles Vergangene ist jetzt und alles Ferne ist nah. Kein noch so großer räumlicher oder zeitlicher Abstand in den Erzählungen kann mehr Distanz schaffen. Das gilt, wenn Kupferschmidt am Anfang von einem kleinen Jungen in Westafrika berichtet, der im Dezember 2013 mit als Erster einer Ebola-Epidemie zum Opfer fiel. Das gilt auch, wenn Nathan Wolfes The Viral Storm (auf deutsch Virus: Die Wiederkehr der Seuchen) in Thailand beginnt, wo im Dezember 2003 ein anderer kleiner Junge an der neu aufgetretenen Vogelgrippe starb.

Der amerikanische Virologe Wolfe skizziert in seinem Buch ebenfalls historische Ausbrüche, hat den Blick aber fest auf die Zukunft gerichtet. Denn er arbeitet an einer Utopie, die angesichts unserer aktuellen Lage fast unvorstellbar scheint: Wolfe möchte ein Virenfrühwarnsystem einrichten. Als globales Immunsystem soll es das Auftreten neuer und bereits gefürchteter Erreger antizipieren oder wenigstens so schnell registrieren, dass eine großflächige Ausbreitung verhindert werden kann.

Für eine pandemiefreie Zukunft müssten biologische und digitale Daten aus verschiedenen Quellen integriert werden: Wo sind die Menschen? Was sorgt sie? Womit sind sie infiziert? Wohin bewegen sie sich? Mit wem stehen sie in Kontakt? Große Populationen können und sollen nicht überwacht werden. Stattdessen setzen die Forscher auf Menschen, die aufgrund ihres Standorts oder ihres Verhaltens ein hohes Infektionsrisiko tragen.

Zu diesen viralen Wachposten gehören etwa all jene, die im zentralafrikanischen Regenwald Primaten und andere Wildtiere jagen, zerlegen und essen. Über deren Blut und andere Körperflüssigkeiten kommen sie mit neuartigen Mikroben in Kontakt, die möglicherweise im Menschen ausharren und irgendwann ausbrechen können. Über Routinekontrollen in lokalen Labors sollen diese biologischen Zeitbomben künftig aber aufgespürt und entschärft werden.

Neben der biologischen Überwachung könnten digitale Daten viral chatter vermelden, also potenziell krankheitsbezogene Auffälligkeiten. Alarmierend wäre beispielsweise die lokal gehäufte Recherche von schweren Symptomen im Netz. Die Nutzungsmuster mobiler Geräte lassen außerdem Kontakte zwischen Menschen nachvollziehen. Das sind Daten, die auch jetzt schon in Bezug auf COVID-19 und die freiwillige soziale Isolierung der Bevölkerung ausgewertet wurden.

Das ist umstritten, aber gibt es eine Wahl? Wolfe zufolge können wir bei Ausbrüchen vorerst nur hektisch reagieren, schnell Impfstoffe und Medikamente entwickeln sowie unser Verhalten ändern. Und wer würde hier widersprechen? Doch die Frequenz der Ausbrüche könnte noch zunehmen, weil uns unsere globalisierte Lebensweise verwundbar macht. So exquisitely susceptible to pandemics sei unsere moderne Gesellschaft, schreibt Wolfe, also ganz außerordentlich anfällig für Pandemien.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (12)

Dies ist der zwölfte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11)

Das mittlerweile über 150 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

Woche 8: 27. April bis 3. Mai

 

27.04.2020

 

Shida

Es gibt Lockerungen und es gibt Maskenpflicht, beides ändert für uns hier in der Pampa einfach mal gar nichts (die Maske trug ich beim wöchentlichen Einkauf auch so, andere Orte gibt es hier nicht). Alles bleibt unverändert und ich stelle pessimistische Prognosen auf („Keine Pläne mehr für dieses Jahr. Urlaub findet nicht statt, Buchmesse findet nicht statt, Weihnachten findet nicht statt.“) einfach nur, um mich selbst als Herrin der Lage zu fühlen (was ist Herrin eigentlich für ein Wort?). Ich gehe nicht davon aus, bald wieder in meiner eigenen Wohnung zu wohnen und seit der Fire TV-Stick uns hinterhergezogen ist, fehlt mir mein richtiges Zuhause auch nicht mehr. Um noch eins drauf zu setzen, habe ich auch noch angefangen, zu joggen, obwohl ich Joggen noch viel mehr hasse als Spazierengehen. Aber der Effekt auf Körper, Gemüt und Müdigkeitsstatus ist so gigantisch, dass ich mich weiterhin überwinde.

Letzte Woche hatte ich zum ersten Mal eine Online-Lesung. Ich war von Anfang an skeptisch, vielleicht, weil das Internet für mich nie ein Kommunikationsraum war und das, was ich an Literaturveranstaltungen liebe, eben die Kommunikation davor, danach, währenddessen, vor allen Dingen währenddessen ist. Ich dachte, dass ich zwar skeptisch bin, weil ich so eine Internetskeptikerin bin, dass das aber am Ende eine der Erfahrungen wird, nach der man denkt: „Ahhh! Es ist ja doch ganz toll! Zum Glück bin ich um diese Erfahrung reicher geworden! Danke Schicksal, danke Welt!“. Pustekuchen. Am Ende ist mir nur noch mal bewusst geworden, dass ich den Autorinnen-Job auch deswegen über alle Maßen abfeiere, weil es die schönsten literarisch- zwischenmenschlichen Begegnungen sind, die ich auf Lesungen und Veranstaltungen erfahre. Online-Lesungen sind zum Zuschauen und Zuhören vielleicht ganz ok (das weiß ich nicht, weil ich aus der Härte der Corona-Tage abends nicht dazu in der Lage bin, Zuhörerin zu werden und mich gebührend zu konzentrieren), als Lesende gibt man irgendwas in den luftleeren Raum und verschwindet danach wieder in der stillen Isolation. Keine Gespräche, keine Diskussionen, kein Wein, kein Lächeln, keine verhalten wütende Kritik, kein Erfahrungsaustausch, kein lautes Lachen, kein zweiter Wein, und, zur Hölle, was soll der Geiz: Auch kein Applaus. Vielleicht bin ich wie die Schulen, die jetzt merken, dass sie sich schon längst der Digitalisierung hätten öffnen müssen, um mithalten zu müssen, vielleicht geht Corona so lange, dass ich wohl oder übel meine Meinung überdenken muss. Aber erst mal bin ich trotzig weiterhin skeptisch und wünsche mir zu Weihnachten die Leipziger Buchmesse.

Schimpftirade Ende.

Hier scheint immerhin die Sonne und meine Manuskriptabgabe ist in zwei Wochen. Ich sollte also wieder meine Zeit mit dem anderen Teil des Autorinnen-Daseins verbringen, das Schreiben nämlich funktioniert weiterhin selbstbewusst Corona-Frei.

 

28.4.2020

 

Slata, München

Weiße gibt es, grellweiße und leicht gelbliche, in breiter Auswahl, wie Hochzeitskleider, hellblaue auch, gemusterte handmade und stylische schwarze, kochfeste Baumwolle oder durchsichtige, um das Gesicht geschlungene Schals, hochgezogene Rollkragen, das bringt mich aus der Fassung, wenn Leute das Beste aus jeder Lage machen, es zustande kriegen, ihre Individualität zu unterstreichen, und sich gleichzeitig Maulkörbe besorgen, alles machen, was sie machen sollen, eigentlich gibt es ja kein Argument dagegen, aber das bringt mich aus der Fassung.

 

Fabian, München

Die Leute werden kreativ und liefern tolle Bilder. Offenbar, darauf lässt zumindest der Radfahrer am Heimweg heute schließen, der offenbar begeistert das, angenommen, Pärchen drüben auf der anderen Straßenseite beim erstaunlich selbstverständlichen oder erfolgreichen Versuch filmte, an der Befestigungsmauer der Kirche entlangzubouldern. Dabei stand’s grade gestern zur Disposition, dass die Aktualitäten der Ereignisse die Geschwindigkeit der letzten Wochen langsam einbüßen – und dann springt so’was in die Bresche.

 

Svenja, Köln

Ich träume seit einigen Tagen von Arbeitsblättern. Kurz vor dem Aufwachen höre ich meine Stimme, sie diktiert genaue Anweisungen, bemüht sich um klare Formulierungen, und dann mache ich die Augen auf.

30.4.2020

 

Sandra, Berlin

Wo war ich? Der letzte Eintrag ist ewig her. Ich tauche aus meinem Zeitloch.
Hallo.
Mir gehts-
Äh-
Nein-
Und ihr so?
We are all together in this. Are we?

Ich muss meinen Kalender nehmen und rekapitulieren. Was habe ich eigentlich gemacht? Da war die Sache mit dem Finger, dem Splitter, dem Unfallchirurgen.

Dabei habe ich nur ein Buch vom Boden aufgehoben und mir dabei einen langen Holzsplitter tief unter meinem Fingernagel versenkt. Ich konnte das Stückchen Holz durch den Nagel sehen, und später, wie die Entzündung sich ausbreitet, der ganze Finger anschwillt. Natürlich dachte ich, das geht schon, ich hol das selbst raus, ok, hat dann nicht geklappt, aber es wächst ja eh irgendwann raus. Dabei fiel mir der Spiegel-Artikel ein, in dem ein Prepper erzählt, dass er „für den Ernstfall“ geübt und sich selbst als Test einen Zahn gezogen hat. Trotzdem. Kam mir lächerlich vor, mit meiner Verletzung zur Hausärztin zu gehen, bis C. mich überredet hat, aber die Ärztin wollte das nicht mal anfassen, Oh-oh, nein, das kann ich nicht machen, hat gleich eine Überweisung zum Chirurgen geschrieben. Dann der schlechtgelaunte Chirurg, der an meinem betäubten Finger herumwerkelt, der prüfende Blick der Arzthelferin der hin- und her geht zwischen meiner Hand und meinem Gesicht, während der Arzt komische Geräusche macht. Wirklich komische Geräusche. Soll ich hinsehen? Lieber nicht. Das war kurz vor der Maskenpflicht. In den Praxen war die aber schon angekommen und somit war es der erste Vormittag, an dem ich die Maske lange am Stück trug. Das Atmen fällt wirklich schwerer damit, dabei ist es nur eine Stoffmaske. Das beste war eigentlich das Verbandwechseln am übernächsten Tag, das hab ich dann als Mikro-Story vertweetet.

 

We are all together in this. Are we?

Ich nehme selten Medikamente, nach der Betäubung muss ich mich zuhause hinlegen, verschlafe einen ganzen Nachmittag. Später: Die letzten Korrekturen im Manuskript tippe ich mit neun Fingern, der verbundene zehnte weit abgespreizt, die arbeite immer noch im Bett liegend, im Pyjama. Dann: Das Email abschicken. Dem swooosh lauschen, der die Arbeit von fünf Jahren ein Stück weiter hinaus in die Welt trägt.

Und apropos WE ARE ALL TO-whatever … Die letzte Woche haben sich in die anfangs so schönen freundlichen Chats mit Freund*innen andere Themen gemischt. Ängste, Spekulationen und Nachrichtenmeldungenhamstern aus strangen Quellen – all das mischt sich in den Köpfen und in den Gesprächen geht es plötzlich um Überwachung, Bedrohung, Verschwörungstheorien. Ich kann das meiste davon Null nachvollziehen. Wir diskutieren, streiten, dann Funkstille. Bin ich intolerant? Ah, was bin ich müde.

Da fällt mir ein – morgen ist der erste Mai. Ich muss an den Wiener Prater denken, und daran, wie ich mit meinen Freund*innen dort einen großartig sonnigen besoffenen ersten Mai hatte.

We are all together in this. Are we?

Und ihr so?

 

Nabard, Bonn

Ich wollte hier so vieles schreiben, was ich schönes die letzten Tage erlebt und gefühlt habe. Aber ich bin müde, erschöpft. Mir fehlt Tag für Tag die Kraft. Nicht weil wir im Krankenhaus jeden Tag einen neuen Fall bekommen, die Patienten jünger werden, Neugeborene, Jugendliche, vormals gesunde Kinder.

Nein, weil die Ignoranz von so vielen mich erschlägt. Ihre Verschwörungen. Ihre Behauptungen es sei doch alles nicht so schlimm. Ich wünschte ich könnten ihnen die Patienten zeigen. Wie sie leiden. Und wie ihre Angehörigen leiden.

Ich bin müde. Ob es mir irgendwann egal sein wird wie viele eigentlich erkranken und sterben werden?

Meine Schwester deckt den Tisch für das Iftar gerade, wie schauen über Satelliten-Tv BBC Farsi. Im Süden Tajikistan’s sind jetzt Corona Fälle bekannt geworden.  Es ist also wohl eine Frage der Zeit bis in Kunduz und Chah-Ab, unserem Heimatdorf, das Virus gelangt. Mama spricht ein Stoßgebet.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich treffe mich mit 17 Fremden zum gemeinsamen Schreiben. Nach und nach poppen die Zoom-Fenster auf. Frauengesichter, Männergesichter, mit und ohne Bart. Einblicke in kleinere und größere Räume, eine Küchenzeile, Wandschmuck, eine runde Korbschaukel. Zwei von uns verbergen ihre Umgebung hinter einem Strandbild mit Sand und Palmen, in dem die Sonne sommerhell scheint. Sehnsuchtsidentität eines kleinen Studentenwohnheimzimmers: S. ist besonders gefährdet und hat es seit Wochen nicht verlassen. Beim gegenseitigen Vorstellen erzählen wir, wo und wie wir wohnen, wie es uns im Lockdown ergeht.

Unsere Zimmerkästchen sind über mehrere Kontinente verteilt: Schottland, England, Chile, die USA, Norwegen, Dänemark. Zählt man die Herkunftsländer einiger dazu, lassen sich Italien, Deutschland, Mexiko, Südafrika mindestens anfügen. Wir haben viel gemeinsam: das Gefühl des Beengtseins; die Freude, Spaziergänge in freier Natur machen zu können oder in der Nähe eines Flusses, Meers, Hafens; die Dankbarkeit für ein Haus am Stadtrand; das Leiden unter kleinen Wohnungen im Stadtzentrum. Eine von uns strickt. Es wirkt beruhigend. Ab und zu trinkt jemand etwas. Espresso, Tee, Wasser. Zwei Wissenschaftler der Universität von Edinburgh moderieren.

Eine Viertelstunde lang schreiben wir. Alle stummgestellt vor der Kamera. Darüber, wie es uns jetzt geht, was uns bewegt, in einer Form unserer Wahl. – Ich lasse mich von der Sprache treiben. Sehe aus dem Fenster auf die weichen Linien draußen, alles erwartet Regen. Der Wetterbericht hatte ihn für gegen drei oder vier Uhr nachmittags angekündigt. Wie wäre es, klappert die Metaphernkiste, wenn wir eine Lockdown-Vorhersage hätten? Wie spielt sich das Corona-Wetter ab? Ist der Sturm schon vorbei? Auf wen bricht er herein? Auf wen nicht? Ist er überhaupt real, wenn wir ihn nur als Vorhersage kennen, nur andere ihn erleben? … –

Nach fünfzehn Minuten kommen wir wieder zusammen und lesen. Nacheinander. Kommentiert wird nicht. Nicht gewertet. Nur zugehört. Wirklich zugehört. Es wird geweint. Gelächelt. Gelacht. Genickt. Gefühlt. Mitgefühlt. Nachgefühlt. Wir schreiben über Ängste; den Schmerz darüber, einen trauernden Menschen nicht in den Arm nehmen zu dürfen; die Suche nach Stärke in der Erinnerung an überstandenes Leid; das Bedürfnis, andere zu umsorgen, zu beschützen; wie man als Einwanderer während der Pandemie noch mehr zum Außenseiter wird; wie Covid-19 hilft, eine Revolution in den Kinderschuhen zu ersticken; inwiefern das ritualisierte Klatschen für die NHS-Helden jeden Donnerstagabend um 8 Uhr Fassade ist, um Missstände zu verdecken; über einen veränderten Fokus auf die eigenen Bedürfnisse, deren Befriedigung; Alpträume, in denen die soziale Distanz nicht eingehalten wird; Wut; die Suche nach einem Ort der Ganzheit des Selbst; ob das Draußen noch existiert, wenn das Leben sich nur drinnen abspielt; über den Rückzug von allen Nachrichten; dass frau jetzt anders hört, wahrnimmt; in der Falle sitzt; scheinbare Normalität in idyllischer Umgebung; über das Schreiben, um nicht den Verstand zu verlieren und das Schreiben um des Schreibens willen, das keinen Sinn schafft.

–––– Es ist eine enorm intensive Erfahrung. Alle lesen. Vor Menschen, die sie bis vor einer Stunde nie gesehen hatten, in einem geteilten virtuellen Raum, in dem alle den gleichen Platz haben, das gleiche Recht auf Zeit und Aufmerksamkeit, Unterstützung, Zeugenschaft, Begegnung. Es ist überwältigend, berührend. Wir danken einander. Für den Mut, uns einander zu öffnen. Jemand bemerkt, dass es sich jetzt so anfühle, als kenne man sich. Ich sage, dass ich mir wünschen würde, alle wiederzusehen. In zwei Wochen, vielleicht drei. Wer weiß, wie es uns dann geht?

 

1.5.2020

 

Slata, München

Coronababys wird man sie nennen, die zwischen Dezember dieses und, schätze ich mal, Sommer nächsten Jahres Geborenen, es werden ruhige, entspannte Kinder, die im Liegen, im Sitzen zuhause aufwuchsen, ausgeglichen ernährt, mit Mozart frühentwickelt, mit Büchern unterhalten, von der Sonne auf dem Balkon gebräunt. Kindergärtner werden ihre Gruppen Alpha, Beta, Gamma nennen, Lehrer werden sich darum streiten, eine Klasse mit Coronakindern zu bekommen, mit besonders gutem Ruf, vielleicht wächst dreißig Jahre später abrupt die Anzahl der Mediziner, Biologen, Virologen, ernst und charmant alle, wie Drosten. Das Einzige, wozu die Zeit vom Nutzen wäre, Babys auszutragen.

 

Sandra, Berlin

Wir verschlafen den ersten Mai. Es ist der stillste erste Mai, seit ich in Berlin lebe. Keine Openair-Party, keine Demo, kein Picknick, nicht mal eine Deadline. Ruhiger noch als letztes Jahr, als das Kind knapp sieben Monate alt war. Als ich endlich aufwache, sind C. und das Kind weg. Es ist selten, und fast schon unheimlich, dass ich allein und in einer stillen Wohnung aufwache. Auch auf der Straße ist niemand unterwegs. Kein Mensch hinter den Fenstern gegenüber. Ich denke spontan an den Anfang von „The walking dead“, wenn der Protagonist im verlassenen Krankenhaus aufwacht. Gestern Abend, kurz vor Dämmerung, als die Straße in surreal pastellfarbenes Licht getaucht war und gleichzeitig ein Regenguss runterkam, standen wir am Fenster, um das Schauspiel zu betrachten, und in den Nachbarhäusern ringsum unzählige Gesichter an den Fenstern, Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Dann lief eine Frau die Straße runter, mitten auf der Straße, durch den Regen, barfuß, laut lachend, eine Szene wie in einer Romcom.

C.s Whatsapp.-Nachricht sagt mir, dass alles in Ordnung ist, die Apokalypse noch etwas wartet, er und das Kind spielen draußen. Mein Kind ist jetzt schon sehr viel länger zuhause, als ich mir das jemals vorgestellt habe, ich wollte nach 12 Monaten Betreuung in Anspruch nehmen – davon schrieb ich ja schon im Rahmen dieses Tagebuchs. Erst schien es unmöglich einen Platz zu bekommen. Und jetzt scheint es keine Ende nehmen zu wollen, dass wir Arbeit und Kind ohne Betreuung jonglieren. Kurz vor der Kita-Eingewöhnung kam der lockdown. Nach den neuesten Regelungen erfüllen wir zwar die Anspruchsbedingungen für die Notbetreuung, auch eine Eingewöhnung, aber unsere Kita ist ganz klar überfordert und verunsichert und stellt sich quer. Die Verunsicherung finde ich einerseits total nachvollziehbar, aber leider gibt es keinen nennenswerten Dialog darüber, stattdessen werden diese Überforderung undoder diese unausgesprochenen Ängste einfach auf unserem Rücken ausgetragen. Wir sind beide erschöpft. Wir müssen raus aus der Alltagssituation, wenigstens für eine Woche. C. nimmt sich Urlaub.

Der Ausnahmezustand der Belastung ist auf Dauer für niemanden zumutbar: Es müssen Lösungen gefunden werden, für alle Eltern und Alleinerziehenden.

Am späten Abend fassoniere ich C.s undercut nach, wie ich es seit Beginn des lockdown schon öfter gemacht habe. Ich bin ehrgeizig. Diesmal will ich den Übergang besonders gut hinbekommen, und rasiere dabei ein kahles Loch mitten in seine Schädelflanke. Unser Lachen hallt im Badezimmer. This too shall pass.

 

Rike, Köln

was habe ich gesehen. ich habe gesehen: verschiedene menschen in 3,5m entfernung halten plakate hoch, sie stehen in abgeklebten gaffa-dreiecken einzeln. ich vermute, dass die sprechchöre nicht aufkommen (können), weil der menschliche abstand zu groß ist. es wirkt so: den leuten ist die demo oder das demonstrieren eher peinlich. aber das ist es nicht, nur mir ist es peinlich, oder unangenehm, wer wie klingt, könnte man genau raushören. Ich will in einer masse untergehen. eine lose bekannte legt sich ohne atemschutzmaske mit einer polizistin an, die eine modische brille trägt, die sich drüber aufregt, dass sie von der losen bekannten geduzt wird. die frau sagt: aber du wirst immerhin gut bezahlt, nachdem die polizistin etwas sagt, das auf eine 12stundenschicht hindeutet. die polizistin möchte verstanden werden und nicht immer die böse sein (meine interpretation). Ich wackle zwischen empathie für beide hin und her. ich mag das goldene gestell ihrer brille. Ich lasse jeden oberflächlichen gedanken zu. ich bin immer noch eine demonstrationstouristin. das hier, das macht nicht mut, es ist nur absurd. der mann, der das einzige megaphon bedient, das da ist, hat immer wieder hustenanfälle, während er von systemrelevanz, geschlossenen krankenhäusern, und etwas anderem erzählt. ich mache ein albernes selfie von mir in meiner blauenwolkenmaske, die mich aussehen lässt wie ein riesenbaby und den blauen beamten im hintergrund, die mit schnabelmasken eng aneinander gedrängt verloren neben einer garage stehen. sie sind nicht verloren. Der mann macht witze, dass sie die 3,5m nicht einhalten, ins megaphon. Ich mache witze über die ironie der neuen vermummungspflicht auf demos. Nachmittags: Es gewittert an vielen stellen in einem der länder mit den zufälligen grenzen (zufällig meins). Ich will nicht die Nachrichten lesen. (Es hilft gerade nicht weiter). (Heute aufgeben, vielleicht kommt morgen eine neue idee.)

 

2.5.2020

 

Jan, Hannover

Diese Müdigkeit ist eine einzige, unhaltbare Zumutung. Betont beiläufig kam sie vor ungefähr zwei Wochen angeschlendert, vergrub sich eines Nachts tief in meinem Körper und verschanzt sich seither dort. Jetzt schleppe ich mich durch die Tage, Last und Lastenträger zugleich, ein Packesel meiner selbst. Wenn ich an die frische Luft gehe, überkommen mich ausdauernde Gähn-Attacken, von denen mir am Ende des kleinen Ausmarschs die Kiefergelenke schmerzen. Drinnen geht es. Das wäre überhaupt ein guter Titel für meine Autobiographie: «Drinnen geht es».

Für gewöhnlich bereitet mir ein Gähnen schamloses Wohlgefühl, aber das Gift liegt in der Dosis, wie ein früherer Chef (in anderem Zusammenhang) so häufig zu mir sagte, dass ich ihm schließlich recht geben musste. «Ich bin so müde, vergähne mein Leben im Zeitlupentempo», sang Christiane Rösinger, die große Songwriterinnen-Liebe meines Lebens, und überhaupt fühlt sich der Lockdown mittlerweile an, als wäre er nur nach ihrem alten Lassie-Singers-Stück «Ist das wieder so ’ne Phase» geformt. Ich schlurfe durch die Tage, durch die Wohnung, diesen Parcours meiner ziellosen Selbstbeschäftigung, mit hängenden Schultern, mit gesenktem Kopf, die Augen jucken, die Fußsohlen schleifen träge übers Industrieparkett. Drinnen geht es, oder, wie Christiane Rösinger mit ihrer zweiten Band Britta sang: «Alles, was draußen liegt, tut weh.»

Früher wurden in dem Gebäude, in dem ich in diesen Wochen den Lockdown aussitze, Fabrikwerkzeuge hergestellt, mit denen wiederum Lokomotiven, Traktoren, Kanonen, U-Boot-Teile und Baumaschinen produziert wurden. Heute ist mein Werkzeug ein Notebook, das ich auf meinen übereinandergeschlagenen Oberschenkeln balanciere und in das ich Worte eingebe und noch mehr Worte, ohne dass sie eine Richtung einschlagen oder einen Rhythmus aufnehmen wollen.

Seit ich mich in Distanzierung vom äußeren Ansteckungsgeschehen in den umbauten Raum zurückgezogen habe, auf die mir zugeschriebenen Quadratmeter des Dämmerns und  Vor-sich-hin-Wohnens, habe ich nicht mehr richtig Musik gemacht, vielleicht ist das ein Grund dafür, dass ich keinen Groove mehr finde. Das Leben schlurft, und die Müdigkeit frisst sich durch alles hindurch. Mein Lesesessel, der auch zum Schreib- und Surfsessel geworden ist, passt sich dem Druck und der Form meines Körpers an, verschmilzt mit ihm, wächst um ihn herum, er nimmt meine Müdigkeit auf und gibt sie an mich zurück. Gemeinsam sind wir eine mächtige Maschine des Stillstands. Es ist eine Zumutung.

 

Berit, Greifswald

Ich leide unter Monotonie. Jeden Tag laufe ich 5000 Schritte die Straßen hinauf und hinab, jeden Tag bearbeiten die Kinder Arbeitsbögen, jeden Tag versuche ich einige der anfallenden Aufgaben zu erledigen, jeden Tag räumen wir Abends die Spielsachen zusammen. Nach wenigen Tagen liegt wieder auf allem Staub und es geht wieder von vorne los. Ich habe irgendwann zwischendrin vergessen, welcher Wochentag ist, einen wichtigen Termin verschlafen, einen Brief nicht rechtzeitig abgeschickt. Manchmal frage ich mich, ob die Zeit dadurch langsamer oder schneller verläuft?

 

Svenja, Köln

Die Autos sind wieder da. Sie fahren vor meinem Fenster, fast so laut wie vor der Krise. An der Eckkneipe stand heute eine Gruppe von Menschen um einen Tisch auf der Straße. Im Supermarkt ist es voll, niemand benutzt mehr Einkaufswagen und eine Frau kommt mir mit heruntergezogener Maske entgegen. Ich zucke zusammen und versuche mir vorzustellen, dass es einen guten Grund für ihr Verhalten gibt. Ich möchte allen Menschen sagen, dass sie ihre Masken nicht unters Kinn klemmen sollen, dass die Beule für die Nase ist, dass sie immer noch Abstand halten sollen. Die Stimmung auf der Straße ist ausgelassener und rücksichtsloser. Vielleicht können Menschen nicht lange in der Krise sein.

Am Abend verlinkt jemand einen Artikel aus dem New Yorker. Ich lese von dem anderen Krankheitsverlauf, von Lungen-, Nieren-, Gehirn- und Herzschäden, von Blutgerinnseln, unauffälligen Symptomen und ärztlicher Ratlosigkeit.

 

3.5.2020

 

Fabian, München 

Wie wäre es eigentlich, den Fußballbedürfnissen diverser gesellschaftlicher Größen dahingehend nachzugeben, die einschlägigen Austragungsorte zu Hochsicherheitseinrichtungen mit eigenen Laborkapazitäten und Testproduktionsanlagen aufzurüsten, zur möglichst autarken Kasernierung der Spieler et al.. Gut, geisterspielen müsste man dennoch, und auch gerade der internationale Austausch als vielleicht wesentliche Grundlage fantastischer (oder feuchter) Transfairzahlungsträume fiele aller Wahrscheinlichkeit nach aus, aber zumindest dem Fernsehpublikum wäre etwas geboten, und wer weiß, der eine oder andere Privatsender hätte sicher Interesse, das Leben der Spieler zwischen Feld und Tribünen nach dem Vorbild bekannter Scripted Reality-Formate zum sozialen Experiment aufzuwerten.

 

Sandra, Berlin

Es ist Sonntag Abend. Wir haben beschlossen, Montag fällt aus. Die ganze nächste Woche fällt aus. Wir nehmen uns eine Woche raus aus allem. Geht sich das aus? Wir werden sehen. Ich werde berichten.

4.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Meiner älteren Nachbarin ist langweilig. Sie sieht traurig aus, als sie mir meinen Teller (ich hatte ihr frischgebackene Ingwerkekse vor die Tür gestellt) über den Gartenzaun reicht. Wie mir stehen ihr die Haare zunehmend zu Berge. Sie vermisst ihre Unabhängigkeit. Allein einkaufen zu gehen. Alte Freundinnen zu besuchen, die weiter weg wohnen, so, wie sie es jedes Jahr macht. Eine von ihnen hatte am Telefon gesagt, dass sie Glück hätten, weil sie an das Alleinsein gewöhnt seien. “Wie aber geht es jetzt denen, die gerade jemanden verloren haben? Ich erinnere mich noch gut daran, wie das bei mir damals war.” –– Andere Frauen, mit denen ich mich austausche, erleben den Lockdown auch als positiv. Mehr Zeit für den Garten, das Kind. Das Leben entschleunigt. Trotz neuer Herausforderungen, wie der digitalen Lehre, oder, im Gegenteil, der Abwesenheit von Berufstätigkeit, weil frau in den bezahlten Urlaub geschickt wurde. –– Im Deutschlandfunk kommentiert ein Soziologe, dass es zwei Gruppen von Menschen gebe: jene, die den Lockdown fast unerträglich finden und jene, die sich darin nicht nur eingerichtet haben, sondern sogar wohl fühlen. Ich befinde mich irgendwo dazwischen, denke ich erst, erkenne aber dann, dass ich einem Selbstbetrug aufsitze, denn was mir wirklich zunehmend fehlt, ist Bewegungs-, Reise-, Interaktionsfreiheit. Nicht Freiheit in einem abstrakten, wie auch immer idealen oder idealisierten Sinne, sondern ganz praktisch. Spezifisch die Freiheit, meine Familie zu besuchen. –– Dazu passt die verstärkte Polizeipräsenz, die mein Mann und ich auf unserem wochenendlichen Spaziergang bemerken. Fünf Polizeiwagen auf Streife in einem Zeitraum von zwei Stunden (wohlgemerkt am Stadtrand). Das ist nicht normal. Das ist einfach nur neu. Und es bereitet mir enormes Unbehagen. Da kann ich verstehen, warum andere, gerade frisch eingezogene Nachbarn, zumindest in ihren Garten immer mal einen Gast einladen, oder zwei. Oder dass es mittlerweile Untergrund-Friseur-Netzwerke gibt. Oder Menschen, die dagegen aufbegehren, nachts nicht mehr unterwegs sein zu dürfen, dabei wollen sie doch nur Sternschnuppen beobachten. Unter Einhaltung aller Abstandsregeln, versteht sich. Langweilig ist mir übrigens nicht. Oder vielleicht doch.

Tag für Tag festhalten, reflektieren, revidieren – Notizen zur Zeitwahrnehmung in Corona-Tagebüchern

Tagebücher als Krisenphänomen: Während der Corona-Pandemie tauchten vielerorts und in verschiedenen medialen Formaten Journale auf und werden zum Teil bis heute weiter fortgesetzt. Die Konjunktur des Tagebuchs wurde auch vom Feuilleton schnell als Thema aufgegriffen, wenn auch nicht unbedingt mit positiver Wertung. Julia Encke schrieb in der FAS vom 5. April von „Gedankenkitsch“ und urteilte, dass „mit diesem ganzen hohlen Pathos und der Trostprosa […] gar nichts gewonnen“ sei. Marie Schmidt verschob in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April den Akzent ein wenig. Auch sie beschreibt zwar das „Protokoll der Krise“ als so „vielstimmig und wirr wie die Krise selbst“, stellt aber die Frage, wie denn überhaupt literarisch über sie zu schreiben sei. Beide greifen in ihren Beiträgen Fragen auf, die Kathrin Röggla schon in einem Text in der FAZ vom 21. März mit dem Titel „Prognosefieber“ thematisiert hatte: dass jene Versuche des Auf- und Mitschreibens vor allem in Hinblick auf Verschiebungen in der Zeitwahrnehmung zu perspektivieren seien. Literatur müsse sich einmal mehr als Zeitkunst beweisen. Diese Forderung steht im Kontext unzähliger Äußerungen zur Zeitwahrnehmung in der Corona-Pandemie, die im Philosophie-Magazin genauso zu finden sind wie im Tagesspiegel, in den Twitter-Timelines genauso wie in den angesprochenen Tagebüchern. Um diese geht es im Folgenden im Besonderen. Als Gegenstand der Diskussion im DFG-Forschungsprojekt „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren nach der Digitalisierung“ an der Universität Greifswald  dienten insbesondere das kollektive Tagebuch auf 54books, das Journal von Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung sowie das mehrstimmige Tagebuch auf der Internetseite des Literaturhauses Graz unter Beteiligung von Kathrin Röggla.

 

Welchen Wert haben Tagebücher, die wissend für die Öffentlichkeit geschrieben werden? Unter einem Tagebuch versteht man zunächst die Sammlung intimster Gedanken, es ist eine Form der privaten Reflexion, es wird nicht geschrieben, um eine Wirkung auf Lesende zu haben. Besondere Formen stellen die Journale von Literat*innen dar, da diese sich der nachträglichen Veröffentlichung vielleicht schon beim Verfassen bewusst waren. Bei den Corona-Tagebüchern, die momentan überall und in jeder Form (als Video, Podcast oder Text) zu finden sind, gibt es verschiedene Ansätze. Teils schreiben (oder streamen) Privatpersonen, teils Menschen aus unterschiedlichen Bereichen, wie etwa der Wirtschaft. Es sind häufig Texte von Menschen, die von Entschleunigung sprechen und diese auch persönlich im Home-Office in den eigenen vier Wänden, oft mit Balkon oder Garten, wahrnehmen. Verzerrt es nicht die Realität, wenn hauptsächlich die dokumentieren, die vom Kampf gegen die Pandemie am wenigsten spüren? Wenn sie nicht aus dem Krankenhaus, dem Supermarkt oder vom Leben auf der Straße berichten, was für eine Funktion haben die Tagebücher dann? Sie versuchen, den Ausnahmezustand festzuhalten, zu verarbeiten, zu bewerten, jedoch nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen. Wie der Hashtag #weareallinthistogether vermitteln die Tagebücher Trost und stiften Gemeinschaft. Aus ihnen ist herauszulesen, dass die Monothematik der Coronapandemie und der gesteigerte Nachrichtenkonsum mehr und mehr Menschen bedrücken. Für wen sind die öffentlichen Tagebücher dann geschrieben? Wenn das gegenwärtige Publikum nicht interessiert ist, bleibt der Blick in die Zukunft. Coronatagebücher sind Dokumente, die für die Zeit nach Corona geschrieben werden und vermutlich auch im Herbstprogramm der Verlage zahlreich vorhanden sein werden.

Auf dem Blog 54books  ensteht ein kollektives Tagebuch von 29 Autor*innen, das mit dem Ziel geführt wird, Veränderungen zu dokumentieren und u.a. Tweets zu archivieren. Das gemeinsame Schreiben an einem Projekt, das die durch die Pandemie geschlossenen Landesgrenzen überwindet, führt schon während des Entstehungsprozesses zur psychischen Erleichterung bei den Autor*innen: „Ich merke, wie gut mir das Schreiben an diesem kollektiven Tagebuch tut. Manchmal, wenn ich eine Notiz hinterlassen will, sehe ich, dass andere gerade auch schreiben, und ich stelle mir vor, wie sie irgendwo auf dem europäischen Festland vor ihren Bildschirmen sitzen und tippen und korrigieren, während ich hier an meinem Schreibtisch auf der Insel genau das Gleiche mache. Eine Gemeinschaft von Schreibenden in Zeiten der sozialen Distanz“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books). Die unmittelbare Gegenwart im Schreibprozess kombiniert mit der Gleichzeitigkeit des Schreibens als Erfahrung gemeinsamer Gegenwart steht der verzögerten Veröffentlichung gegenüber: Die Texte sind schon veraltet, wenn sie erscheinen.

Es sind Spannungsverhältnisse, die die Zeitwahrnehmung dominieren: Hartmut Rosa spricht von einer erzwungenen Entschleunigung, die für uns körperlich und wirtschaftlich spürbar ist. Diese Lücke, die die scheinbar freie Zeit mit sich bringt, wird nach Rosa von der „mediale[n] Berichterstattung über das Fortschreiten der Epidemie in Echtzeit […| symptomatisch“ ausgefüllt. „Das soziokulturelle Leben spaltet sich gerade in ein physisch entschleunigtes ‚realweltliches‘ und ein hyperventilierendes digitales Leben.“ Auch in den Tagebüchern von 54books spiegelt sich dieser Aspekt wider. Auf der einen Seite wird die Entschleunigung des Alltags bemerkt, die sich bei einem Autor sogar auf das Lesetempo auswirkt: „Ich lese mehr, ich lese langsamer“ (Viktor Funk, 54books). Auf der anderen Seite steht ein zunehmendes Unwohlsein, das sich im Umgang mit den Sozialen Medien entwickelt: „Die Menge an Berichterstattung und digitalem Lärm steht in einem schwer aushaltbaren Missverständnis zur (scheinbaren?) Ungewissheit der Situation“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books). Oder: „Ich lese regelmäßig twitter und merke, dass es nicht gut tut, ich es aber auch nicht lassen kann. Jede*r postet ständig Artikel wie es jetzt weitergehen könnte. Es entstehen Diskussionen über Fake-News, die heute keine Fake-News mehr sind. Alle regen sich auf, niemand weiß genaues“ (Charlotte Jahnz, 54books). Die Stimmung ist angespannt und dominiert von der Sorge um eine ungewisse Zukunft. Marlene Kayen, die Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs, begründet in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung die Konjunktur des Tagebuchschreibens wie folgt: „Ich habe den Eindruck, dass sie sich einen kleinen Fluchtraum aufbauen, in den sie sich zurückziehen und ungefiltert Sachen aufschreiben. Vielleicht lassen sich deshalb an Tagebüchern so gut psychische Entwicklungen beobachten.“ In den Journalen werden nur die subjektiven Wahrnehmungen der Pandemie festgehalten, hier wird die enge Verknüpfung von persönlicher Wahrnehmung und Zeit besonders deutlich. Es ist eine gegenwärtige Fokussierung auf den Moment, ein Konservieren des Jetzt und eine Form der Beruhigung, da es für den Moment des Schreibens nur um das Jetzt geht. Die wegfallende, gewohnte Strukturierung eines Tages, verbunden mit dem Warten auf Neuigkeiten und das Ende der Pandemie, führen zu einem Schwebezustand, zu einem Leben neben der Zeit. Maike Ladage schreibt dazu auf 54books: „Immerzu verwundert. Ausnahmezustand ständig präsent, gleichzeitig seltsames Aus-der-Zeit-Fallen und ganz Gegenwärtig-sein.“ Das tägliche Schreiben liefert den Rhythmus, der dem Alltag mittlerweile fehlt, selbst die Bus- und Zugpläne folgen nun einer anderen Zeitrechnung: „Seit Mittwoch ist jetzt immer Samstag. Die Kölner Verkehrsbetriebe haben eine neue Zeitrechnung für uns angefangen.“ (Rike Hoppe, 54books)

Zuletzt sind Tagebücher aber auch eine Form, etwas von sich zu konservieren und zurückzulassen, weil selbst der eigene Ausgang ungewiss ist. Das Schreiben tritt somit dem Vanitas-Gedanken entgegen, der durch den Tod als definitiven Endpunkt der Lebenszeit aktuell präsenter ist: „Die Verheerungen, die das Virus anrichtet, sind unserer Fantasie überlassen. Sterbende bleiben isoliert, nicht einmal Angehörige dürfen zu ihnen. Der Weg, den letztlich jeder allein geht, ist nun ein einsamer. Ihre Gesichter sehen wir dann manchmal doch: Wenn sie uns aus italienischen Todesanzeigen entgegenblicken, noch aus dem Leben, aus ihrer Vergangenheit in unsere Gegenwart“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books).

(Lena Pflock)

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Bis vor einigen Wochen war es noch die Digitalisierung, die von vielen für eine grundlegend veränderte Zeitwahrnehmung, eine radikale Fokussierung auf die Gegenwart und einen neuen Begriff von Gegenwart verantwortlich gemacht wurde. Dabei war nicht immer klar, ob durch die digitalen Medien nun eine „breite Gegenwart“ (Gumbrecht) entstanden ist, die von nicht vergehenden Vergangenheiten überschwemmt wird, oder ob der „present shock“ (Rushkoff) im Gegenteil eine Kultur des Präsentismus hervorgebracht hat, in der Vergangenes instantan vergessen wird. Und auch die Frage, ob alles immer schneller wird, wenn alles jetzt passiert, oder vielmehr Stagnation und Stillstand zu verzeichnen sind, blieb zwischen den divers zirkulierenden gegenwartsdiagnostischen Statusmeldungen offen. Einig war man sich nur darin, dass sich die Wahrnehmung und das Verständnis von Gegenwart krisenhaft verändert haben und dass diese Veränderungen mit dem Schlagwort der Digitalisierung erfasst und begründet werden können.

Das neue Coronavirus sorgt nun für eine merkwürdige Überlagerung und Verschiebung dieser Thesen, Debatten und Szenarien, für eine verschobene Wiederholung, die die einschlägigen Stichworte aus dem Digitalisierungsdiskurs – weltweite Netzwerke der Übertragung, der Zustand des always-on, permanente Aktualisierung – wie auch die entsprechende Krisenrhetorik auf einer anderen Ebene reproduziert und reanimiert. „In der Krise, die uns alle derzeit so fordert, erleben wir einen Moment enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“, stellt, wie viele andere, Ende März 2020 der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Armin Laschet fest und folgert: „Das Jetzt fordert unsere ganze Aufmerksamkeit.“ Hier werden nun nicht die digitalen Medien, die alles auf die Gegenwart ausrichten, als Verursacher einer Krise identifiziert, der „Moment enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“ wird vielmehr auf ein Virus zurückgeführt. Auf ein infektiöses, halblebendiges Etwas, das, wie zwischenzeitig spekuliert wurde, auf „nassen Märkten“, zwischen weggespültem Blut und Dreck, von Tieren auf den Menschen übergesprungen sein soll, mittlerweile aber weltweit zirkuliert und mehr oder weniger zeitgleich die ganze Menschheit betrifft.

Dass viele darüber im Modus ständig aktualisierter, sich schnell ausbreitender Updates informiert werden, ist dann aber doch wieder der Digitalisierung geschuldet, die das etablierte System der Massenmedien durch die Kanäle der Sozialen Medien maßgeblich ergänzt und erweitert, sodass sich ein merkwürdige Parallelität der Topik des Viralen ergibt: Der exponentiellen Ausbreitung des Virus korrespondiert in noch nicht hinreichend berechneten Ausmaßen die rasante, durchaus treffend als ‚viral‘ bezeichnete Ausbreitung von Nachrichten, Gerüchten und individuellen Statusmeldungen zum Virus – und mithin auch die Ausbreitung der Auffassung, dass es unsere Zeitwahrnehmung grundlegend verändert. Verstärkt wird dieser Eindruck auch dadurch, dass dieses Coronavirus neu ist und seine Aktivitäten wie deren Folgen in vielen Hinsichten unabsehbar sind. Selbst diejenigen, die sich professionell mit Viren befassen, wissen immer noch vergleichsweise wenig über es und müssen den zwischenzeitig erreichten Wissenstand permanent revidieren, korrigieren und aktualisieren.

Auch deshalb liegt es nahe, dass der unübersichtlich mehrgleisigen Zirkulation viraler Prozesse zwischen Menschen und Medien geradezu massenhaft mit dem Schreiben von Tagebüchern begegnet wird. Der Rekurs auf ein etabliertes, spätestens seit Samuel Pepys Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert zudem epidemieerprobtes Medium ermöglicht es, den diffus global zirkulierenden Bedrohungsszenarien mit einer individuell begrenzten, selbst fokussierten Perspektive zu begegnen, die durch die Veröffentlichung in den Sozialen Medien aber zugleich den Anschluss an andere oder auch den öffentlichen Diskurs ermöglicht, über die vermeintlich eigene Filterblase oder die weiter ausgreifenden Netzwerke digital vermittelter Kommunikation.

Als Medium der Fokussierung auf die Gegenwart, mit dem man das, was aktuell passiert, Tag für Tag festhalten kann, in dem Veränderungen (wie auch deren Ausbleiben) schrittweise notiert, reflektiert und, gegebenenfalls gleich am nächsten Tag, revidiert werden können, wirkt das Tagebuch der derzeitigen Situation auf besondere Weise angemessen. Da es zugleich einen Rahmen bildet, in dem ohnehin häufig über Zeitverhältnisse reflektiert wird, insbesondere über die Aporien und Paradoxien der schriftlich vermittelten Gegenwartsfixierung, ergeben sich schnell weitere Interferenzen mit eben der Situation, die durch das Virus entstanden ist.

Viele der aktuell entstehenden Corona-Tagebücher thematisieren nicht nur, sondern reproduzieren auch selbst jenes Neben- und Miteinander von Verlangsamung und Beschleunigung, das auch im politischen Diskurs den Eindruck eines „Moments enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“ prägt. Einerseits liegt die „Halbwertszeit vom Neuigkeitswert“, wie Kathrin Röggla in ihrem Corona-Tagebuch auf der Website des Literaturhauses Graz feststellt, „bei ca. sechs Stunden“, andererseits ist, wie sie nahezu zeitgleich in einer Tageszeitung, der FAZ, ergänzt, „das öffentliche Leben stillgestellt, das Sozialleben eingefroren“. „Ich kann nicht Schritt halten, der Diskurs bewegt sich in rasender Geschwindigkeit vorwärts, die Situation kann sich jederzeit ändern. Was heute dementiert wird, ist morgen Realität“, reflektiert Röggla eine auch in vielen anderen Corona-Tagebüchern geteilte Wahrnehmung der aktuellen Situation. Wenn sie feststellt, dass sich alles „zu schnell“ bewegt und alles „morgen“ schon „durch neue Nachrichten“ abgelöst wird, beschreibt sie zugleich aber auch den üblichen Aktualisierungsmodus von Tagebuch und Tageszeitung. Der zeigt allerdings, trotz digitaler Vernetzung, in der gegenwärtigen Situation geradezu überdeutlich seine Grenzen: „Ich komme also nicht durch zu der Gegenwart der Lesenden“, schreibt Röggla angesichts einer fünftägigen Verzögerung bei der Veröffentlichung des Online-Tagebuchs, „bin irgendwie in der Vorzeit zuhause, aus der ich wie hinter dicken Glasscheiben winken kann, während es, kaum dass ich es niedergeschrieben habe, schon heißen kann: ‚Ha, damals, als wir noch diese Probleme hatten!‘“ Dieses eher redaktionell denn medial verursachte Problem verschiebt sich nochmals im Blick auf den Zeitindex der Maßnahmen und Prognosen, mit denen der Ausbreitung des Virus begegnet wird. Da man immer erst ein, zwei Wochen später wissen kann, was die aktuell durchgeführten Maßnahmen gebracht haben, ist im Prinzip auch die unmittelbare Gegenwart schon von dicken Glasscheiben umstellt, die verspätete Einsichten, verfrühte Aktivitäten und angemessene Aktualisierungen nicht immer als solche sichtbar machen (was aber vielen auch schon vor Corona als Kennzeichen der Gegenwart galt).

Röggla hebt noch eine weitere Form dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hervor, die gegenwärtig besonders deutlich hervortritt, aber genau genommen auch schon früher zu beobachten war: „Während immer neue Nachrichten hereinbrechen in immer engmaschigerem Takt, deren Hyperaktualität seltsamerweise noch nicht einmal enervierend wirkt, verhält es sich doch oft so, als würde ich das immer Gleiche lesen.“ Die monothematische Fokussierung nahezu aller Kommunikationsmedien zeitigt ihre hypnotischen, zugleich aufregenden wie beruhigenden Effekte nicht zuletzt dadurch, dass permanent auf allen Kanälen gesendet wird, auch wenn es, wie häufig, nichts, zumindest nichts Neues zu melden gibt. Die vielen Tagebücher und die ungezählten Statusmeldungen in Sachen Corona, die viele Timelines der Sozialen Medien wie einen monothematisch fokussierten Gruppenchat erscheinen lassen, reflektieren diese Konstellation gewissermaßen in Echtzeit – und setzen sie eben dadurch im Modus der Logik des Viralen auch fort.

„Kann es sein“, fragt sich Thomas Stangl im Grazer Corona-Tagebuch, „dass all das, was uns eben noch als gegenwärtig, aktuell, dringlich erschienen ist, von nun an völlig fremd wird, weil sich einfach das Koordinatensystem geändert hat?“ Und Kathrin Röggla schreibt: „Werde ich jetzt eine Springerin zwischen den Zeiten (Gegenwart, Zukunft 1 und Zukunft 2, rasende Vergangenheit)? Zukunft ist durch die drohende Destabilisierung auf heikle Weise wieder vielfältig geworden, die breite Gegenwart beendet. Diese Schwierigkeiten werden uns noch lange begleiten. Es ist nicht abzusehen, was das heißt, dass jetzt eine neue Ära beginnt.“ Der Vorschlag, den Röggla im Nachdenken über die Rolle von Prognosen aus ihren eigenen Prognosen ableitet, ist so einfach wie komplex und bildet nicht zuletzt einen brauchbaren Gegenentwurf zu der von Paolo Giordano in seinem Corona-Tagebuch schon jetzt in Buchform vorliegenden Forderung, „der Epidemie einen Sinn zu geben“.

Röggla setzt auf das Programm einer Literatur, das möglicherweise auch deshalb angemessen und zeitgemäß wirkt, weil es für viele – auch für Röggla – nur bedingt ein grundlegend neues Koordinatensystem oder den Beginn einer neuen Ära in Aussicht stellt: „Eigentlich wären Texte ja hilfreich, die versuchen, die Lage zu erkennen, und insofern sich doch der konkreten Beschreibung des Alltags zuwenden, aber eben einer, die nicht auf etwas hinaus will, der Matrix eines Alarmismus genauso wenig wie dem Programm einer Weltrettung folgend, einer der gemischten Realitäten, die dem Nebeneinanderher von neuer Logik, alten Problemen, unerwarteten Auswirkungen der Situation gerecht wird. […] Es wird ein Arbeiten mit verschiedenen Zeitmodi sein müssen, die Zeitebenen müssen wieder in Kontakt miteinander kommen, und so wird sich Literatur in dieser Situation mehr denn je als Zeitkunst erweisen müssen.“

(Eckhard Schumacher)

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Durch die Veröffentlichung im Wochentakt verlieren die Corona-Tagebücher bereits ihren unmittelbaren Tagesbezug: Es werden schon beim Lesen nur Rückblicke vermittelt, man denke beispielsweise an die inzwischen selbstverständlichen Kontaktsperren, die in den jeweiligen Beiträgen gerade erst erlebt werden. In dem Sinne ermöglichen Corona-Tagebücher auch schon Tage nach ihrer Veröffentlichung ein kollektives Erinnern an gemeinsam erlebte Maßnahmen, vertraute Gedankengänge werden dort noch einmal aufgerollt; sie haben aber auch eine schwierige Beziehung zu der gegenwärtigen Lektüre, streuen noch mehr Reflexionen in die Monothematik der Coronapandemie und geben Einblick in einen veränderten Alltag, dem die aktuell Lesenden bereits selbst ausgesetzt sind. Dementsprechend tragen sie zur Stiftung einer kollektiven Identität bei und dienen als Orientierungshilfe, funktionieren aber vor allem als (kulturelle) Archive für folgende Generationen, indem die Tagebücher als gewählte Publikationsform Authentizität und Teilhabe vermitteln können.

Gemeinsam ist den Tagebüchern allen: die Zeitphasen sind beleuchteter denn je. Ein rasantes Tempo in der Ausbreitung des Virus und die folgenden politischen Maßnahmen lassen Beiträge und Gedanken schnell als überholt erscheinen, die Berichterstattung in Echtzeit und die Omnipräsenz des Themas in den Nachrichten führen nicht selten zu dem Eindruck einer sich überschlagenden Gegenwart. Kathrin Röggla erkennt in ihren Beiträgen zum Corona-Tagebuch des Literaturhauses Graz darin ihre eigene Position als Schreibende, in der sie „nicht durch zu der Gegenwart der Lesenden“ kommen könne und stattdessen in der „Vorzeit zuhause“ sei.

Eben dort empfindet Nava Ebrahimi bereits den Ausspruch ihres Sohnes, er habe im Traum mit seiner Oma Pizza gegessen, „wie ein Echo aus einer anderen Zeit“. Schon die Monate vor Corona liegen im Zeitempfinden so weit zurück, dass die Vergangenheit weiter wegrückt, nicht mehr erreichbar ist. Die jetzt so erwünschte „Normalität“ wird wie aus einer anderen Welt erlebt, in der sich Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr richtig aneinanderfügen können. Der durch die Pandemie empfundene Orientierungsverlust wird von den einen durch eine Flucht in ihre Erinnerungen an vergangene Zeiten, Kindheitsmomente und frühere Reisen kompensiert, andere versetzen sich in eine imaginierte Nach-Corona-Welt, in der die Möglichkeiten wieder unbegrenzt erscheinen. Carolin Emcke hingegen stört sich in ihrem Tagebuch in der Süddeutschen Zeitung an den vielen Fragen des „Danach“, des Erinnerns an die Pandemie. Sie seien bloß „ein Fluchthelfer der Phantasie“, stattdessen empfindet sie die Gegenwart, ihre Gegenwart, als übrig gebliebenen Handlungsraum, der „sich verwandeln lässt in etwas, das [ihr] gehört“.

So unterschiedlich das Zeitempfinden bereits innerhalb der Tagebücher ist, so wenig bildet es dennoch das Empfinden derjenigen ab, die gar nicht die Zeit haben, um über das Verhältnis der Zeiten zu sinnieren. Tagebuch zu schreiben ist auch ein Privileg. Wenn der Soziologieprofessor Hartmut Rosa in einem Interview mit dem Philosophie Magazin äußert, dass wir nun dem „Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus“ entfliehen könnten und jetzt Zeit hätten, kann dies angesichts der Sorge um das finanzielle, vor allem aber gesundheitliche Überleben vieler und der intensiven Mehrbelastung systemrelevanter Berufe schwer für die Gesellschaft insgesamt greifen. Trotzdem sieht Rosa das Potenzial eines kollektiven Resonanzmomentes und damit von etwas kollektiv Neuem sowie die Chance, dem „Hamsterrad“ unserer auf Steigerung fixierten Gesellschaft zu entkommen und stattdessen zu entschleunigen. Es wird sich zeigen, wie allgemeingültig sich der Eindruck von Entschleunigung und einem anderen Lebenstakt halten kann, oder ob es, angesichts der jetzt schon wieder öffnenden Geschäfte und Lockerungen, für manche nur ein kurzer Ausflug in ein langsameres, verändertes Leben war. Vielleicht wird sich das Zeitverständnis nicht so monumental ändern, wie es aktuell stellenweise vermutet wird, sicher ist bloß: Die Zeit ist spürbarer geworden. Lebenszeit, Gesprächszeit, Kontaktzeit, Arbeits- und Freizeit werden für manche aus einer neuen Perspektive beleuchtet, für andere sind sie schwieriger einzuteilen, aber ob die Pandemie zur kollektiven Erfahrung eines neuen Zeitempfindens führt, wird sich angesichts der heterogenen Lebensrealitäten zeigen müssen.

(Annica Brommann)

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Die Krisentagebücher, die jetzt geschrieben werden, offenbaren auch eine Krise des Tagebuchschreibens – zumindest jenen Tagebuchschreibens, das versucht, die Krise zu erklären. Und sie offenbaren die Krise der Krise: Hartmut Rosa sieht die (Corona-)Krise als Bestätigung dessen, was ihm ohnehin bereits klar war: Dass die Krise der Dauerzustand ist, schon lange die Normalität ersetzt hat. Was will man also noch sagen bzw. schreiben? Und warum soll das jemand lesen? Wer überhaupt? Jemand aus der Zukunft? Schreiben für eine ‚neue Normalität‘, wie sie heute beschworen wird?

Marlene Streeruwitz schreibt auf ihrer persönlichen Homepage darüber‚ wie „die Welt geworden“ ist, ihren selbstbewusst bis augenzwinkernd betitelten „Covid19 Roman“. Es ist nicht irgendeiner, keiner unter vielen – es ist „Der Covid19 Roman“. Darin geht es um Betty, die ihr Haus nicht verlassen kann und die von Versionen ihrer selbst und ihren Gewissensbissen heimgesucht wird. Der Roman gibt sich in der Betitelung der einzelnen Kapitel als Fortsetzungsserie aus, die bis heute (21. April 2020) eine Season mit zehn Folgen hat – wie gemacht zum Durchbingen. Dieses online verfügbare und fortgesetzte Schreiben macht zumindest ein Angebot, was den Lektüremodus in Zeiten der Coronakrise angeht: Lesen und Scrollen und Geschriebenes inhalieren, bis nichts mehr da ist. Wenn dann die Browseraktualisierung per F5-Taste kein Update mehr bringt, steht man da, alleingelassen vor so viel Gegenwart, mit der man etwas anfangen muss – wie nach einem sonntäglichen Netflix-Binge. Vor einem ähnlichen Problem (einer ähnlichen Krise?) steht auch das Schreiben in Streeruwitz’ ‚Covid19 Roman‘. Es versucht, täglich neu anzusetzen, um einer Gegenwart zu begegnen, die gerade jetzt vor einem steht. Als „Fläche. Ohne Richtungen“, wie es dort heißt. Dauert Gegenwart nur drei Sekunden oder wird sie hier flächig und erhält damit ein ganz anderes Format? Wenn die Corona-Tagebücher eines zeigen, dann, dass irgendwann der Vektor, das Koordinatensystem abhandenkommt, wenn man nicht mehr für die Zukunft schreibt oder versucht, die Gegenwart, die vor und unmittelbar hinter einem liegt, auf eine Prognose hin zu befragen. Irgendwann ist alles nur noch da. Wie eine Fläche.

„Wenn alles jetzt passiert“, so der Untertitel der deutschen Übersetzung von Douglas Rushkoffs Digitalisierungskritik Present Shock, dann kann das auch ganz ohne Akzeleration zu viel sein. Nehmen wir einmal an, die Gegenwart dauert wirklich nur drei Sekunden, dann kommt ja trotzdem direkt danach noch eine. Und noch eine und wieder eine. „I can’t stand feeling like this another second, and the seconds keep coming on and on.” So versucht Kate Gompert, eine Figur aus dem 1996 erschienenen Roman Infinite Jest von David Foster Wallace, auszudrücken, wie sich die Depression anfühlt, unter der sie leidet. Die Gegenwart prasselt auf uns ein, gerade jetzt, als Sturzregen von Sekunden (während die Tagebuchlektüre zumindest die Einsicht zu Tage gefördert hat, dass es in der Wirklichkeit schon seit Wochen nicht mehr geregnet hat). Der Vergleich mit der Depression scheint nicht allzu abwegig, so schreibt auch Marie Schmidt in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April, Streeruwitz’ Texte handelten davon, „[w]ie sich die Gegenwart depressionsähnlich aufwölbt.“ Während Carolin Emckes Journal-Texte in der gleichen Zeitung flanierend und die Welt observierend Kreuzberg umschreiten, kommt hier die Risikogruppe zu Wort. Diejenigen, die die Wohnung nicht verlassen können und die in diesen Zeiten von… vor lauter Gegenwart nicht wissen, wohin. Das (Tagebuch-)Schreiben als therapeutische Maßnahme? Ein Schreiben, das nicht bereits im Moment des Entstehens auf Rezeption aus ist, das vielleicht sogar gar nicht um sie weiß, nur für sich schreibt, befreit von Aktualitätszwang?

Die Normalität, die Krise, die Gegenwart und wie man sie aufschreibt. Bei aller Aktualitätsforderung: Es scheint, als sei es gerade die Leere dieser Zeit, dem das Tagebuchschreiben begegnen könnte.

(Philipp Ohnesorge)

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Wann bricht ein Tagebuch ab? Kann man sich dafür entscheiden aufzuhören? Die Form der täglichen Eintragung könnte prinzipiell bis zum Tod des oder der Schreibenden fortgesetzt werden. Angenommen, der Anlass der Tagebücher, die die Corona-Pandemie begleiten, ist eine dreifache Verschiebung in der Zeitwahrnehmung: Erstens ein Bruch, der ein Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit eröffnet. Zweitens die konkrete Erfahrung eines Stillstands oder einer permanenten Gegenwart, ohne dass ein Danach denkbar wäre. Diese Erfahrung ist drittens begleitet von einer verstärkten Wahrnehmung insbesondere digitaler Informationsverbreitung als eine Form der Beschleunigung. Wann wäre es unter diesen Voraussetzungen Zeit, die Corona-Tagebücher wieder zu beenden?

Der Bruch in der Zeit macht je nach Perspektive entweder etwas ganz anderes sichtbar oder gerade das, was sowieso schon da war, aber nicht gesehen wurde. Beispiel für ersteres wäre das Corona-Tagebuch in 54books, dessen Anstoß die Vermutung ist, einer grundlegenden Transformation beizuwohnen: „In diesem kollektiven Tagebuch wollen wir sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert.“ Auch bei Carolin Emcke, die für die Süddeutsche Zeitung in einem „Journal“ „politische-persönliche Notizen“ aufzeichnet, findet sich die Rede von „Wörtern, deren Bedeutungen sich verschieben“. Gerade in der ersten Woche akzentuiert Emcke die zeitliche Dimension der Verschiebung: 1. durch ein Zitat aus Büchners Leonce und Lena, in dem vom Aus-der-Zeit-Gehen die Rede ist; 2. durch die Kontrastierung ewig göttlicher Gegenwart, die sich in der Musik Bachs zeige, mit den täglichen Aktualisierungen zur Lage; und 3. durch verschiedene Formulierungen, die um einen Takt und einen Rhythmus der Zeit kreisen, der wieder in Einklang mit dem individuellen Rhythmus gebracht werden müsse. Im Gegensatz dazu steht die zweite Lesart. Der Bruch wird beispielsweise von den Beschleunigungstheoretikern Armen Avanessian und Hartmut Rosa auf je unterschiedliche Weise ins Spiel gebracht, beide sehen in ihm aber eine Bestätigung dessen, was sowieso schon vorhanden war: Gerade durch diesen Bruch werden die grundlegenden Probleme der kapitalistischen Arbeits- und Lebensweise sichtbar und die Notwendigkeit der Veränderung wird umso dringlicher. Genau genommen erkennen sie eine Kontinuität in der Makroperspektive auf das politische und wirtschaftliche System, wenn auch, zumindest bei Rosa, in der Mikroperspektive des eigenen Erlebens ebenfalls der Eindruck der Entschleunigung zu dominieren scheint.

Für die Tagebücher scheint diese Kontinuität jedoch nicht denkbar. Sie gehen vom Bruch aus und stellen ihm die Regelmäßigkeit des täglichen Aufzeichnens gegenüber. Sie setzen täglich neu an und wiederholen dadurch den Bruch, während sie ihn zugleich kompensieren. Die „Normalität“, die dem Bruch vorausgeht und die Voraussetzung des Tagebuchschreibens ist, wird im regelmäßigen Takt des Schreibens wieder aufgegriffen. Die Tagebücher werden dann irrelevant, wenn wir sie vergessen können, weil wir die Regelmäßigkeit des Aufzeichnens nicht mehr als Ausnahme wahrnehmen. Wenn die Wahrnehmung der Differenz, die der Bruch ist, der Indifferenz gewichen ist.

(Elias Kreuzmair)

Okayfinden – Leif Randts ‘Allegro Pastell’

In Leif Randts handlichem Roman Allegro Pastell (Kiepenheuer & Witsch, März 2020, 288 S.) passiert wenig und die äußere Handlung ist mehr oder minder die abgeschmackteste, die man sich vorstellen kann: Ein nicht mehr ganz junger Mann führt ein zufriedenes Leben und eine glückliche Beziehung zu einer etwas jüngeren Frau, dann treten Irritationen ein, die unter anderem dazu führen, dass sie einem anderen Mann und er einer anderen Frau (die er aus seiner Vergangenheit kennt) näherkommt, und Entscheidungen werden erforderlich. Aber: In diesem Buch geht es nicht um die Handlung, sondern um anderes. Es steht in einer großen und alten Tradition des Erzählens, die die Fährnisse von Paarbeziehungen nutzt, um aus ihnen heraus Allgemeineres zu beschreiben. Was ist dieses Allgemeinere bei Allegro Pastell?

Vielleicht lässt es sich so sagen: Wenn man jung ist, möchte man sich auf eine beeindruckende, aber unaufgeregte Weise von anderen abheben, sich zugleich eine unverwechselbare Identität schaffen und dabei vor allem keine Fehler machen, um nicht hinterrücks angreifbar zu werden. Wenn man älter wird, erkennt man, dass es im Leben noch anderes gibt, und dass es nicht schlimm sein muss, in gewissen Hinsichten langweilig, unspektakulär, nervös oder auch fehlerbehaftet zu sein. Es ist jedoch eine zumindest in gewissen Kreisen beliebte Vorstellung, dass es selbst in diesem abgeklärten Zustand (der häufig mit Erwachsensein gleichgesetzt wird) noch Kriterien gibt, an denen sich die Qualität einer Lebensform im Vergleich zu anderen entscheidet. Diese Kriterien müssen dann notwendigerweise sehr subtil sein, da ja gerade entschieden wurde, dass Langeweile, Verwechselbarkeit, handelsübliche persönliche Schwächen und Ähnliches nicht mehr die Maßstäbe sein können. Vom Aushandeln und Anwenden solcher Kriterien handelt Randts Buch. Es stellt von der ersten bis zur letzten Seite in erster Linie extrem nuanciert dar, wie bestimmte Menschen in einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang über sich und übereinander urteilen, und das vor allem in ästhetischer Hinsicht.

Da mir zu Recht nachgesagt wird, dass die wenigen Rezensionen, die ich für 54books schreibe, immer zugleich die Verfasser*innen der Bücher als Personen in unzulässiger, höchst oberflächlicher Weise kritisieren, muss ich an dieser Stelle noch loswerden, dass ich von einem Autor, von dem es heißt, er lebe in Berlin sowie noch an einem zweiten Ort, und der auf offiziellen Fotos eine Baseballmütze trägt, ganz allgemein nur das Schlimmste erwartet habe und insbesondere nicht, dem skizzierten Projekt gerecht zu werden. Ganz im Gegenteil macht Randt seine Sache jedoch hervorragend. Ein so außerordentlich lesbares Buch, in dem es eigentlich um nichts geht, muss man erst einmal schreiben können. Doch zum Stil später mehr.

Die schwierige Sache mit dem Generationenbuch

Die ästhetische Grundoperation von Randts Figuren ist das Eigentlich-doch-ganz-okay-Finden, das von einem Hauch unaufdringlicher Kritik gefärbt ist. Die zugewandte, distanzierte, gleichschwebende Aufmerksamkeit, die sie sich selbst und einander widmen, immer im Bewusstsein eigener (leichter) Überlegenheit, hat etwas Therapeutisches, weswegen es nicht wunder nimmt, dass mehrere Personen im Buch Therapieerfahrung haben und eigentlich alle dazu neigen, wie Psychotherapeut*innen oder ihre Klient*innen zu reden, was im Text selbst reflektiert wird (94). Man könnte das Buch auf den simplen Nenner bringen: Einige westdeutsche Menschen im Jahre 2018 finden das meiste in sich und um sich herum eigentlich ganz okay, denken und reden in sehr reflektierter Weise darüber und erleben sich dabei ein ums andere Mal als lebenstauglich und stilsicher, gerade auch im Vergleich zu Dritten.

Es war wohl unvermeidlich, dass Randts Roman Generationenbuchcharakter zugesprochen wird. Nun ist es in Deutschland ohnehin schwierig geworden, als weißer, formal gebildeter Mensch unter 70 ein belletristisches Werk bei einem Verlag zu platzieren, das nicht irgendwie als Generationenbuch gelesen wird, aber Allegro Pastell hat es besonders dick abbekommen, denn die Hauptfiguren sind Tanja Arnheim (30), Berliner Autorin, die ihr erfolgreiches Romandebüt hinter sich hat, und Jerome Daimler, ein paar Jahre älter und selbstständiger Webdesigner. Die allen Generationenbuch-Verdikten zugrunde liegende falsche Gleichsetzung eines Milieus mit einer Generation bietet sich hier besonders an. Stellen wir uns vor, der kaum universeller zu denkende Plot um eine Fernbeziehung Maintal–Berlin und verschiedene Affären involvierte nicht zwei selbstbestimmt mediennah Tätige, sondern z.B. einen Verfahrenstechniker und eine Fachinformatikerin, jeweils festangestellt bei Sanofi bzw. der Telekom – viel repräsentativer für die jüngere deutsche Mittelschicht ginge es nicht, aber in Deutschland schreibt nun einmal niemand Romane über Fernbeziehungen zwischen Verfahrenstechnikern und Fachinformatikerinnen, hingegen rekrutieren sich Feuilleton und Literaturbetrieb aus auf Stilfragen fixierten Medienmenschen, wie sie diesen Roman bevölkern, weswegen verständlich ist, dass sie meinen, hier ginge es nicht bloß um sie, sondern um alle und alles. Dafür kann Randts Buch aber nichts, das nirgendwo einen universellen Anspruch auch nur impliziert. Dass er ein weiteres der vielen Bücher geschrieben hat, in dem es um Schriftsteller*innen geht, ist ihm nicht vorzuwerfen, und dass der Literaturbetrieb insgesamt es nicht schafft, einmal eine vergleichbar profilierte Neuerscheinung über das Leben von Thirtysomethings in repräsentativeren Lebenssituationen hervorzubringen, natürlich genauso wenig.

Alles eine Frage der Gestaltung

Worum geht es nun aber thematisch bei den feinen Unterschieden, die Arnheim und Daimler im allgemeinen Okayfinden dann doch machen? Was kennzeichnet das beschriebene Milieu außer einer Lebensform, die durch eine bestimmte Art ästhetischen Urteilens geprägt ist?

Da ist beispielsweise ein hochkompetenter, technisch perfektionierter Umgang mit Drogen, der durch das ganze Buch hindurch detailliert beschrieben wird, von Namen und Bruchrillen der verschiedenen Ecstasy-Tabletten, die per Smartphone-App identifiziert werden, bis hin zu Farbe und Modellbezeichnung des Vaporizers, mit dem Daimler »kleine Portionen verschiedener Hybridsorten« (112) Cannabis konsumiert. Im Gegensatz zum Klischee hergebrachter Popliteratur findet kein ostentatives Einordnen von Markenprodukten, Musik, Kultur und insbesondere überhaupt keine Ab- oder Aufwertung der Oberfläche der Konsumgesellschaft statt – mittelgutes asiatisches Essen in angejahrten Einkaufszentren oder Maultaschen im Speisewagen, selbstironisch Christ sein oder Hinduismus als Option zur Lebensgestaltung begreifen sind genauso einigermaßen in Ordnung wie Heiraten, mit 70 Datingapps benutzen, als nicht mehr junger Mensch hartnäckig einen »Melodic-Hardcore«-Lebensstil mit beginnendem Leberschaden (172) führen und alles andere auch. Die Charaktere beseelt ein Wille zur Offenheit, zum Gutfinden, dazu, »Freude nunmehr als eine stetige Option [zu] begreifen« (109). Dasselbe gilt für zwischenmenschliche Beziehungen, die in jeder Hinsicht (sexuelle Orientierung, emotionale Verbindlichkeit, Mono- oder Polygamie, Stellenwert von Sexualität überhaupt, Kinder haben oder nicht) Aushandlungs- und Gestaltungssache sind.

Implizit spricht daraus ein ums andere Mal, dass die Protagonisten sich als Menschen überlegen begreifen, die eine geringere Reflexionstiefe erreichen, nicht in der Lage sind, die Reize in ihrem Leben so sensibel auszutarieren und für die daher noch nicht alle Phänomene genauso »ungebrochen angenehm und entspannt, teils erlösend und schön, aber auch ein klein wenig austauschbar, unpersönlich und egal« (212) geworden sind, wie es etwa Sex für Daimler ist. Natürlich ist dieser Zustand nur auf dem Gipfel eines imposanten Berges aus Privilegien denkbar – Daimler wie Arnheim sind (insbesondere nach den Maßstäben ihres Milieus) körperlich sehr attraktive, sportliche, disziplinierte, intelligente und akademisch gebildete Menschen, deren Biographie keine Probleme aufweist, die ihre alltägliche Lebensführung materiell beeinträchtigen könnten, und deren Zukunft keine solchen erwarten lässt.

Was daher ebenfalls nicht in diesem Buch vorkommt, sind irgendwelche Geldsorgen, und alles andere würde auch das Konzept durchkreuzen. Soweit Finanzen überhaupt ein Thema sind, ist durch eine Balance zwischen ganz ordentlichem Einkommen aus selbstbestimmter, kreativer Tätigkeit, Absicherung durch reiche Eltern und selbstverständlichen Verzicht auf größere Ausgaben (wie etwa ein eigenes Auto) die Sicherheit gegeben, dass schon nichts passieren wird. Dies ist in der Tat die milieutypische, ja das geschilderte Milieu erst ermöglichende materielle Situation und zudem etwas, was in der Presse fortwährend als angebliches Generationenthema verhandelt wird. In Wirklichkeit ist das Erlangen und Behalten finanzieller Sicherheit für die Mehrheit der jüngeren erwerbsfähigen Deutschen natürlich eine der wichtigsten, wenn nicht überhaupt die wichtigste Lebenspriorität: Sämtliche einschlägigen Studien legen nahe, dass zwischen 60 und über 90 Prozent der Menschen in Arnheims und Daimlers Altersgruppe hierzulande großen Wert auf einen gesicherten Arbeitsplatz legen. Die junge »Generation«, der es »zu gut geht« und die daher Zerstreuung, existenzielle Herausforderungen oder Ähnliches sucht, existiert nicht als Generation (soweit Generationen überhaupt existieren, was die Sozialwissenschaft heutzutage mehrheitlich eher verneint). Sie ist lediglich ein Nischenmilieu, und es ist Randt zugute zu halten, dass seine Figuren niemals den Ausbruch suchen, weil ihnen bei aller Privilegiertheit doch sehr klar ist, wie gut es ihnen geht.

Keine Angst vor Adjektiven

Der Stil des Buchs ist das genaue Pendant zu seinem Inhalt: geschult am klassischen bürgerlichen Roman und in gewisser Hinsicht völlig konventionell, aber höchst ausgereift und vielfältig gebrochen. Das beginnt mit einem Einsatz englischer Vokabeln, der so übertrieben ist, dass er wie eine schiefe Anspielung auf die 80er-Jahre anmutet, in denen man deutschen Yuppies herablassend unterstellte, Ausdrücke wie »jetzt ist die Crew endlich komplett in der Location« zu benutzen. Wenn man bei Randt selbst durchaus noch einen »Vater«  hat, ist das korrekte Wort für einen Mann mit Kind im eigenen Alter »Dad«, alles ist »cute«, und »gebounct« wird auch. Die Beschreibungen sind stets dicht, präzise und wertfrei, und glücklicherweise ist nichts von der pathologischen Abneigung gegen Adjektive zu merken, die den deutschen Literaturbetrieb in weiten Teilen immer noch peinigt. Dabei transportieren die Adjektive stets Information, genauso wie die Dialoge, die die Großspurigkeit ebenso wie die Trivialität der Alltagskommunikation junger Akademiker*innen perfekt einfangen und dabei nie aufgesetzt oder unrealistisch wirken. Man kann es kaum hoch genug hängen, dass hier ein deutscher Roman vorliegt, in dem wirklich alle Dialoge gelungen sind und man niemals den Eindruck hat, hier würde nolens volens fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen geschrieben. (Sämtliche wörtliche Rede ist in diesem Buch übrigens, obwohl in Anführungszeichen stehend, kursiv gesetzt, was überraschenderweise nachhaltig irritiert.) Leise Ironie gegenüber den Charakteren zeigt sich bei den wenigen Unsinnsaussagen, die sie tätigen (wenn etwa Daimler Peter Handke zum Schweizer erklärt, 212) – fast wünscht man sich, Randt hätte darauf verzichtet zu demonstrieren, dass er dann doch noch eine Stufe höher steht als die eigenen Figuren.

Man muss das Konzept des Buchs nicht mögen, man kann es wahlweise statt als bloße Deskription auch als Anklage oder Bauchpinselung des beschriebenen Milieus lesen. Sicher lassen sich gesellschaftskritische Spitzen aus Allegro Pastell ableiten, lässt sich zeigen, dass das politische Bewusstsein der Protagonist*innen lachhaft unterentwickelt ist – wenn zum Beispiel Daimler über die gesellschaftsermöglichende Funktion von Antifaschismus reflektiert, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, ob er hierzu eigentlich beiträgt (83f.); oder wenn Arnheim vermutet, dass »die meisten in ihrem Umfeld sich eine globale Diktatur westlicher Wissenschaft wünschten, regional repräsentiert von Frauen, die viele Sprachen beherrschten und auf eine mütterliche Weise sympathisch aussahen« (222). Aber diese wenigen Momente sind nur eine Dreingabe aufs Dahinplätschern der glücksbewussten und lebenskompetenten Haupterzählung. Die Lektüre des Buchs lohnt sich so oder so bereits aufgrund der Qualität der Prosa. Tun Sie mir aber einen Gefallen und verzichten Sie darauf, wie Doris Akrap oder Ijoma Mangold zu glauben, es würde hier irgendeine Allgemeinaussage über »die deutsche Mittelklasse« oder eine ganze Generation oder gar Deutschland insgesamt gemacht. Das tut dieser Roman nicht und auch kein anderer.

Körperlos? – Theater im digitalen Raum

von Felix Lempp

 

Thomas Melle trägt einen dunklen Pullunder, sitzt mit locker überschlagenen Beinen auf seinem Stuhl und schaut ins Publikum:

„Alles hier ist live. Und gleichzeitig mache ich hier jeden Tag genau dasselbe. Sie sind die Unregelmäßigkeit, nicht ich. Sie leiden darunter, dass Sie wie ein Algorithmus Ihre eigene Position immer wieder neu im Verhältnis zu den anderen bestimmen müssen. Aber in der Summe verhalten sich auch Sie und die anderen Zuschauer in diesem Raum jeden Tag ungefähr gleich.“

Aber natürlich stimmt das nicht – nichts ist gerade gleich. Denn ich sitze nicht mit anderen Theaterbesucher*innen in den Münchner Kammerspielen, die Eintrittskarte zu Stefan Kaegis Uncanny Valley im Jackett, sondern gut 600 km nördlich ganz ohne Billett in meiner kleinen Hamburger Wohnung. In den Kammerspielen sitzt gerade niemand, dort wird auch auf absehbare Zeit niemand sitzen, solange ein Virus das ganze Land lahmlegt – und zwar anders, als uns Filme wie die Dokumentation über Internet-Viren Zero Days das angekündigt haben. Denn die Bedrohung ist keine digitale, ganz im Gegenteil: Verfolgt man in den letzten Wochen soziale Medien, kann man den Eindruck gewinnen, dass das, was viele Menschen in Zeiten von Corona psychisch auch gesund hält, gerade eine digitale Kommunikation ist, die die körperlich-zwischenmenschliche zwar nicht ersetzen kann, aber hilft deren momentane Einschränkung zu ertragen.

Was sich neben dem Austausch mit anderen Menschen auch ins Netz verlagert, ist ein Teil des kulturellen Lebens.  Dabei machen auch die Theater mit – und wie: Neben kleinen Lyrikhappen und Alltagsperformances der Theaterschaffenden stellen die Häuser vor allem Mitschnitte aktueller und älterer Inszenierungen (meist für einige Stunden) online. Das Branchenportal nachtkritik.de lud unter #streamingtrommeln und #smalltownstream sogar zum gemeinsamen Ansehen von Inszenierungen ein. Dies funktionierte auch deshalb so gut, weil mit Christopher Rüping und Falk Richter die beiden Regisseure von Trommeln in der Nacht  bzw. Smalltownboy im begleitenden Chat dabei waren und so dem gemeinsamen Theaterschauen und -diskutieren den Reiz des Making-of hinzufügten. Das Angebot der Theater ist divers und wird erkennbar über die Wochen weiterentwickelt. Also ein Hoch auf die Digitalisierung, ein Hoch auf Online-Kultur und -Theater – und alles ist gut? Nein! Denn natürlich ist alles komplizierter.

 

Leipzig ist überall – Berlin auch?

„Die Buchmesse ist überall“ – unter dieses Schlagwort stellte Deutschlandfunk Kultur seinen Bücherfrühling angesichts der abgesagten Leipziger Frühjahrsversammlung der Buch- und Medienbranche. Auch im Netz bemühten sich viele Leser*innen durch Empfehlungen und Diskussionen unter ähnlichen Mottos wie #lbmzuhause oder #virtuallbm, die finanzielle Katastrophe, die der Wegfall einer Präsentationsmöglichkeit in Leipzig gerade für kleinere Verlage bedeutet, abzufedern. Was sich hier also beobachten lässt, sind die Möglichkeiten, die das Internet einer gut vernetzten Community zur Herstellung von Sichtbarkeit bietet.

Die Leipziger Buchmesse ist aber natürlich nicht die einzige kulturelle Großveranstaltung, die dieses Jahr wegen der gesundheitlichen Gefahr ausfällt. Mit dem Berliner Theatertreffen ist – neben den meisten anderen Festivals – auch das wohl prestigeträchtigste deutsche Theater-Branchentreffen abgesagt. Führt also auch hier der Weg „von der Homepage zur Home-Stage“, wie nachtkritik.de angesichts der vielen Streaming- und Digitalformate titelte, die allerorts entstehen? Der Versuch jedenfalls wird unternommen, wie die Leitung der Berliner Festspiele jüngst unter der Überschrift “Theatertreffen virtuell” ankündigte: Sechs Inszenierungen der Zehnerauswahl sollen für jeweils 24 Stunden online gestellt werden, eingebettet in Nachbesprechungen und ein Kontextprogramm zur digitalen Praxis im Theater. Es wird spannend sein, dieses aus der Not geborene Experiment ab dem 1. Mai zu verfolgen, galt doch bisher, dass Theater eben gerade nicht überall sein kann – schon gar nicht im digitalen Raum.

Das hat mit den Spezifika dieser Kunstform zu tun, die sich (nicht erst in Abgrenzung zum Film) durch das unwiederholbare Ereignis der Aufführung definiert, die von Akteur*innen und Publikum gemeinsam an einem Ort geteilt wird. Romane kann man auch im stillen Kämmerlein lesen, aber für die im kulturellen Stadtgespräch gefeierte Inszenierung muss man sich doch ins Theater bewegen. Doch dann kam Corona und mit dem Virus die Schließung der Theater, die, das wird in der Debatte häufig übersehen, nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion neuer Inszenierungen und Formate hemmt, wie Christopher Rüping auf Twitter erklärt:

„Das Problem ist eben, dass wir bei geltenden Bestimmungen momentan keine Möglichkeit haben, auch nur zu dritt, viert oder fünft im selben Raum zu sein. Solange das so ist, bleiben die Möglichkeiten für wirklich innovative Formate digitalen Arbeitens begrenzt.“

So betrachtet ist das momentane Streaming von alten Inszenierungsmitschnitten weit weniger innovativ und zeitgemäß, als es zum Teil verkauft wird. Es erscheint vielmehr als die einzige Möglichkeit der Öffentlichkeitswirkung für die Theater.

Schon kommt aber die Frage auf, ob die Suche nach Öffentlichkeit gerade überhaupt die drängendste Aufgabe des Theaters sein sollte: So wirft die Dramaturgin Katja Grawinkel-Claassen den Häusern einen „Corona-Reflex“ vor, der im Sinne der neoliberalen Marktlogik eines kulturellen perform or perish zu einer „digitalen Überproduktion“ führe. „Hört auf zu streamen!“, fordert in diesem Sinne auch der Theaterkritiker Uwe Mattheiß und sieht in der gegenwärtigen Konjunktur der Online-Ersatzspielpläne gar den Kern der theatralen Kunst gefährdet:

„[W]as ist darstellende Kunst ohne die körperliche Präsenz von Akteur*innen und Publikum? Das ist keine analoge Nostalgie, sondern die Frage nach dem materiellen Substrat, das von der Kunst nicht abzutrennen ist, ohne das nichts Form wird, sondern nur die beliebige Reihung zufälliger Gedanken.“

Sollten also die Theaterschaffenden das Streamen beenden und sich in die künstlerische Isolation zurückziehen, um schon einmal den postpandemischen Spielplan zu planen, wenn die Häuser wieder öffnen und Zuschauer*innen wie Performende in trauter körperlicher Ko-Präsenz die Guckkastenbühnen deutscher Stadt- und Staatstheater aufs Neue beleben? Wird dann endlich wieder alles gut? Einiges spricht dagegen.

 

Körperkult

Was in der Verteidigung eines materiellen, körperlichen Kerns des Theaters, der durch seine Verlegung in digitale Räume irreparabel beschädigt würde, oftmals mitschwingt, ist die Vorstellung des ‚echten‘ und ‚authentischen‘ Theaters als eine Art Antidot gegen Globalisierung und Medialisierung. Wo der Schweiß spritzt und sich die Darstellenden verhaspeln, scheinen Kunst und Künstler*in unmittelbar und sinnlich erfahrbar zu sein, scheint der Gegenstand unserer Wahrnehmung nicht über tausende Kilometer, durch hunderte virtuelle Knotenpunkte und dutzende Insta-Filter zu laufen, sondern sich endlich wieder in der körperlichen Begegnung als direkte Kommunikation zu manifestieren. Insofern bringt das Theater tatsächlich die Welt auf die Bühne: nicht im Sinne eines naiv verstandenen Naturalismus als deren Abspiegelung, sondern als Inszenierung eines räumlichen Versuchsaufbaus, der allen Zuschauenden die Möglichkeit gibt, sich zu Welt in Beziehung zu setzen. Dass es diese Möglichkeit einer gemeinschaftlichen kulturellen Selbstverortung und damit letztlich auch identifikatorischen Selbstvergewisserung bieten kann, reklamiert das Theater seit jeher als eine seiner sozialen Leistungen.

Verfolgt man momentan den Diskurs über das Streaming und die digitale Diskussion von Inszenierungen in den sozialen Netzwerken, zeigt sich, dass es genau diese analoge Gemeinschaft ist, die gerade besonders vermisst wird: Was viele Theaterbegeisterte im gemeinsamen Rezipieren und Diskutieren der Inszenierungen zur Zeit suchen, ist nicht unbedingt ein ästhetisches Erlebnis, das dem der analogen Bühnensituation nahekommt. In der Versammlung um das ‚digitale Theaterlagerfeuer‘ hoffen sie in Zeiten sozialer Vereinzelung vielmehr auf die gemeinschaftsstiftenden Potenziale des Theaters. Während also die einen versuchen, zumindest einen Abglanz der theatralen Gemeinschaft in den digitalen Raum zu retten, sehen die anderen durch diesen temporären Umzug mit dem Verlust der analogen Materialität des Theaters auch seine künstlerische Berechtigung bedroht. Aber was genau ist das eigentlich für eine theatrale Gemeinschaft, um die derart verbissen gerungen wird?

 

Theatrale Gemeinschaft – und Selektion

Laut der Erhebung des Freizeit-Monitor 2019 der Stiftung für Zukunftsfragen, der das Freizeitverhalten der Deutschen untersucht, beantworteten die Frage, ob sie mindestens einmal im Jahr „eine Oper bzw. ein Klassikkonzert, ein Ballett oder ein Theaterstück“ besuchten, gerade einmal 22 % der Befragten mit ‘Ja’. Schon hier drängt sich der Eindruck auf, dass nur durch die Zusammenfassung all dieser Kunstformen, die die Studie dann auch als „Freizeittätigkeit ‚Hochkultur‘“ ausweist, überhaupt nennenswerte Prozentsätze unter den Befragten zusammenkamen.

Ein noch desolateres Bild ergibt sich, wenn man die Häufigkeit der Veranstaltungsbesuche genauer aufschlüsselt: Mindestens einmal im Monat besuchten nur  4 % der Befragten eine der genannten Veranstaltungen, auf wöchentlicher Basis (1 %) waren die Theaterschaffenden wohl so gut wie unter sich. Zum Vergleich: Mindestens einmal pro Jahr ein Buch lasen 68 % der Befragten, mindestens einmal pro Woche immerhin noch 31 %. Man muss also festhalten, dass die theatrale Gemeinschaft einen sehr kleinen Ausschnitt der Gesamtbevölkerung ausmacht – 88 % antworteten auf die Frage nach der Häufigkeit ihrer ‘hochkulturellen’ Freizeitaktivitäten mit ‚seltener als einmal jährlich‘. Hinzu kommt:  Diese Gruppe ist höchst selektiv. Welche Faktoren über die Zugehörigkeit bestimmen, dürfte niemanden überraschen –  es sind formale Bildung und Einkommen.

So besuchten immerhin 38 % der formal Höhergebildeten (Abitur / Studium) und 29 % der Besserverdienenden (Haushaltsnettoeinkommen von über 3.500 €) mindestens einmal jährlich Theater, klassisches Konzert, Ballett oder die Oper. Von den Befragten mit Haupt- oder Volksschulabschluss taten das nur 13 %, bei Geringverdiener*innen (Haushaltsnettoeinkommen von unter 1.499 €) waren es 15 %. Es ist also eine sehr spezifische Gemeinschaft, die im Theater entsteht. Vielleicht erscheint uns diese auch als unbedingt schützenswert. Wir müssen uns dann aber auch klar darüber sein, wie ausschließend und gesamtgesellschaftlich gesehen nischenhaft diese geschützte Gemeinschaft erscheint.

Selbstverständlich wäre es unsinnig, als Allheilmittel gegen diesen Befund die unbedingte Digitalisierung des Theaters anzuführen. Selektoren wie Einkommen oder formale Bildung haben natürlich auch und zunächst mit Vermarktungsstrategien und spezifischen Bildungsvoraussetzungen des Theaters zu tun. Aber wenn die Herausbildung dieser derart selektiven theatralen Gemeinschaft so stark über den geteilten Raum gedacht wird, wäre es dann nicht trotzdem an der Zeit, über Theater auch in seinen räumlichen Dimensionen nachzudenken? Wenn Theater nach wie vor Welt(bezug) auf die Bühne bringt, muss es dann nicht auch die eigene Rolle in den sich jetzt konfigurierenden digitalen Räumen reflektieren?

 

Meme-Fabrik Theater?

Dafür, dass mit einer Öffnung des Theaters hin zu dem, was in seiner programmatischen Verschiedenartigkeit oftmals als „Netzkultur“ zusammengefasst wird, auch eine Öffnung der theatralen Gemeinschaft einhergehen könnte, gibt es zumindest Indizien. So sieht der Co-Chefredakteur von nachtkritik.de Christian Rakow das Streamen in Zeiten von Corona als einen Schritt auf dem Weg zu seinem Traum, in dem auf Partys genauso aus Inszenierungen zitiert würde wie aus Filmen, „und zwar ganz selbstverständlich, ohne Bildungsdünkel, einfach weil man weiß, dass andere wissen“. Er beobachtet in diesem Sinne erfreut die „ästhetischen und kommunikativen Handlungen“, die an das Streamen von Inszenierungen anschließen. So entstehen gerade beispielsweise erste gifs und Memes, die sich am Material der Inszenierung bedienen, um einen kleinsten Ausschnitt des theatralen Gesamtgewebes zu isolieren und für die popkulturelle Anschlusskommunikation online zur Verfügung zu stellen.

Dass diese Meme- und gif-Produktion doch nur die Nische der Theater-Nerds bedient, ist fürs Erste richtig, zeigt aber auch, wie wenig viele Stimmen aus demjenigen Kulturbereich, den der Freizeit-Monitor 2019 als den “hochkulturellen” ausruft, von den produktiven Transformationskräften des Netzes wissen wollen. Denn noch vor einigen Jahren konnte man Gleiches über so gut wie alle Memes und gifs sagen, doch längst sind diese digitalen Kommunikationsformen ihren ursprünglichen Heimatplattformen entwachsen – heute diskutieren auf Twitter zum Beispiel Hochschuldozent*innen über Pro und Contra ihres Einsatzes in der universitären Lehre. Wenn die Büchse der Pandora einmal geöffnet wurde, verbreitet sich der Inhalt schnell. Und wer nicht glaubt, dass ihre eher symbiotische als parasitäre mediale Weiterverwendung auch der hochkulturellen Quelle nicht schaden muss, sollte Pandoras unboxing-Video schauen. Was das Streamen von Inszenierungen hier also ermöglicht, ist eine kulturelle Anschlusskommunikation, indem es das, was auf den Probebühnen der Nation in sechs Wochen erarbeitet und dann zwei Jahre lang gespielt wird, einer großen Gemeinschaft im Internet verfügbar macht.

Spätestens hier erfolgt nun sicherlich der Aufschrei vieler Theaterfreund*innen – und mit Recht. Denn natürlich stimmt das so nicht. Der Stream mach nicht das theatrale Erlebnis der Aufführung erfahrbar, sondern dampft die Inszenierung auf ihren „informativen Wert“ ein, wie es Christopher Rüping formuliert hat. Und deshalb liegt im aktuellen Streaming nicht nur eine Chance für das Theater im digitalen Raum, sondern auch eine große Gefahr. Denn wenn das Theater sich bei der Erschließung digitaler Räumlichkeit lediglich als Produktionsmaschine für Memes und gifs versteht, die ohne jeden Kontext im Internet zirkulieren – sind wir dann nicht auf direktem Weg zu dem Theater der substanzlosen beliebigen Reihung zufälliger Gedanken, vor welchem Mattheiß warnt?

Hier zeigt sich, dass Streaming auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Theater und digitalem Raum nur eine der Antworten darstellen kann – und es ist, trotz ihrer Dominanz in der momentanen Diskussion, keinesfalls die wichtigste. Denn entscheidender noch als ein erleichterter Zugang zu und die breite Diskussion von theatralen Produkten ist die Frage, wie Theater Digitalität ästhetisch-konzeptionell reflektiert. Bei keiner der gestreamten Inszenierungen ist ihre digitale Präsentation konzeptioneller Ansatz. Das Streaming ist und bleibt daher mal schlechter gemachte, mal besser begleitete Notlösung, bleibt Surrogat für die Unmöglichkeit der körperlichen Ko-Präsenz von Publikum und Performenden und markiert in diesem Sinne eher einen ästhetischen Mangel, als dass es ihn behebt.

 

Digitalität als Auftrag

Aber es gibt auch grundsätzliche und vor allem konzeptionelle ästhetische Überlegungen, wie Digitalität und Theater zusammengedacht werden können – und es gab sie schon vor Corona. Die Akademie für Theater und Digitalität beispielsweise wurde unter Direktion des Intendanten Kay Voges zur Spielzeit 2019/20 als sechste Sparte des Theater Dortmund gegründet. Sie fordert einen Beitrag des Theaters zur „epochalen Aufgabe, die zahlreichen neuen Verbindungen von digitaler und analoger Welt, also die Digitalität, zu untersuchen: phänomenologisch, soziologisch, philosophisch, technisch und – als Kerndisziplin der AKADEMIE – künstlerisch“. Die Fragen, die sich einem Theater stellen, das seine Aufgabe in solch einem ehrgeizigen Programm ernst nimmt, sind vielfältig:

„Wie reagiert das Theater auf diese Veränderungen? Mit welchen Erzählweisen, Versuchsanordnungen und technologischen Erfindungen? Welches Know-How brauchen Theaterschaffende jetzt? Und welches in der Zukunft? Welche Werkzeuge können und müssen die Theater selbst entwickeln?“

Die daraus erwachsenden Reflexionen zu Theater und Digitalität sind viel grundsätzlicher als die momentane Diskussion pro / contra Streaming. Mit ihnen muss sich das Theater aber zukünftig auseinandersetzen, wenn es nicht den Anschluss an die Lebenswelt seines Publikums verpassen will.

Entsprechende Überlegungen betreffen verschiedene, miteinander vernetzte Ebenen: Es geht zum einen um die vorurteilsfreie Beschäftigung mit ästhetischen und narratologischen Inszenierungsverfahren der Netzkultur, die beispielsweise den Besucher*innen von Jette Steckels aktueller Hamburger Hamlet-Inszenierung begegnen, wenn sie beim Vor-Aufführungs-Schampus in die Insta-Story der durchs Foyer streunenden Influencer Rosi und Güldi – aka Rosenkranz und Güldenstern – geraten. Es geht weiterhin um die konzeptionelle Auslotung der theatralen Potenziale von technischen Neuerungen wie VR, wie sie die Cyberräuber in ihrem Theater der virtuellen Realität einsetzen. Und es geht nicht zuletzt um Überlegungen, wie dem Publikum programmatisch die Partizipation an der Aufführung ermöglicht wird, ein Raum-Schaffen, das – wie der Dramaturg Cornelius Puschke anmerkt – nicht zwingend sofort etwas mit der Implementierung von Technik zu tun haben muss.

All diese Fragen zielen letztlich auf die Erforschung der Entstehungsfaktoren, Beschaffenheit und Aktionspotenziale der theatralen Gemeinschaft im digitalen Zeitalter, deren analoge Manifestation wir Theaterbegeisterte in der Krise alle so vermissen. Es wäre aber problematisch, die momentane Unmöglichkeit der körperlichen Ko-Präsenz nur als Mangel zu begreifen, der hoffentlich bald wieder aufgehoben sein wird. Stattdessen bietet es sich an, nach der Krise neue Wege zu erproben, die das Theater konzeptionell und ästhetisch gehen kann, um nicht nur digitale Räume, sondern vielleicht sogar neue Publikumsgruppen zu erschließen.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, die Krise neoliberal zur Chance umzuinterpretieren, sie ist für viele Beschäftigten an den Häusern – von der Freien Szene ganz zu schweigen – existenzbedrohend. Deswegen kann es gerade auch nur um ein Überstehen der Situation bis zu dem Zeitpunkt gehen, ab dem geregelte Arbeitsbedingungen auch im Theater wieder möglich sind. Vielleicht bleiben aus der Zeit des Virus aber neben all ihren Härten und Notlösungen auch Theaterprojekte wie die in Augsburg, Zürich oder Indie-Produktionen ganz ohne den institutionellen Rückhalt eines Hauses in Erinnerung, die die momentane Unmöglichkeit analoger Gemeinschaft als konzeptionellen Ausgangspunkt ihrer Theaterarbeit nehmen.

 

Die Melle-Maschine

Ganz egal, wie Theater nach dem Corona-Virus aussieht: Wir müssen keine Sorgen haben, dass es seine bisherigen Spielstätten endgültig verlassen wird und wir ihm für immer in die virtuelle Gemeinschaft der Chatrooms und Livestreams zu folgen haben. Eine Erkundung der Möglichkeiten und Aufgaben des Theaters im digitalen Raum bedeutet ja keinesfalls seine bedingungslose Unterwerfung unter die Regeln der Virtualität, ganz im Gegenteil. Genauso, wie ein Vergleich der gestreamten Inszenierungskonserven mit körperlich geteilten Aufführungen ihrem momentanen Charakter als krisenbedingter Notlösung nicht gerecht wird, blendet eine Verkürzung der Diskussion um digitale Theaterformen auf die Konservierung von Produktionen im Stream die Komplexität der Problemstellung aus.

Um zu zeigen, dass auch ein Theater, das die analoge Bühnensituation auf den ersten Blick nicht antastet, Fragen unserer digitalen Lebenswelt behandeln kann, kehren wir abschließend noch einmal zu Thomas Melle zurück, den ich zu Beginn der Überlegungen auf meinem Hamburger Bildschirm beobachtet habe. Denn jetzt kann ich es ruhig verraten: Eigentlich saß da gar nicht Thomas Melle, sondern ein Roboter mit Melles Gesicht, Körpergröße, Frisur. Eine Melle-Maschine.

Wenn also diese Melle-Maschine sagt, dass sie „jeden Tag genau dasselbe“ mache und nicht sie, sondern die Zuschauenden die Abweichung seien, dann ist das wörtlich zu verstehen. Ihr Programm läuft jede Aufführung gleich ab, spontanes Lachen oder Unruhe im Saal sind ihr egal. All die kleinen Mikrointerkationen zwischen Bühne und Publikumsraum, die die Gemeinschaftsbildung von Performenden und Zuschauenden eigentlich bedingen, finden nicht statt. Warum das alles also nicht grundsätzlich über den Bildschirm schauen? Was habe ich davon, dem Roboter gemeinsam mit anderen zuzusehen? Ist das hier eigentlich noch Theater – und wenn ja: Was für eines?

Diese Fragen führen mitten hinein in den Problemkomplex ‚Theater im digitalen Zeitalter‘, obwohl wir eigentlich im Publikumsraum vor der Bühne sitzen; ohne Corona zumindest sitzen könnten. Der Virus macht die Frage nach dem Raum des Theaters momentan zwar besonders akut, die Grundfrage nach neuen Möglichkeiten und Grenzen theatraler Gemeinschaftsbildung im Digitalen stellt sich aber auch unabhängig von Corona. Ein Theater, das sich der Auseinandersetzung mit dieser Frage reflexhaft durch den Hinweis auf die gemeinschaftsstiftende körperliche Ko-Präsenz aller theatralen Kunst zu entziehen versucht, macht es sich zu einfach. Ein Theater, das auf derartige Fragen lediglich mit dem Onlinestellen von Inszenierungen und ihrer digitalen Begleitung antwortet, aber auch.

Besser Scheitern – “Gravity’s Rainbow” als Hörspiel

von Christina Dongowski

 

Irgendwann, ungefähr am Ende des ersten Drittels im Hörspiel Gravity’s RainbowDie Enden der Parabel von Klaus Buhlert, hört man das Klick-Klick eines Tischtennisballs. Das ist seltsam, denn in der Szene geht es um Croquet. Tyrone Slothrop, die Hauptfigur des Hörspiels (wenn auch vielleicht nicht die der Romanvorlage) fällt, nur mit einem purpurroten Vorhang bekleidet, in eine Croquet-Partie ein, die gerade von einem namenlosen britischen General, seinen Offizieren und deren Damen in den Außenanlagen eines Casino-Hotels an der Côte d’Azur absolviert wird. Croquet spielte man 1945, da spielen Hörspiel und Roman, mit einem Ball aus Holz. Im Roman wird das Geräusch von hölzernem Schläger, der auf hölzernen Ball trifft, nachgeahmt: „In the silence, before he (d. i. Slothrop) can even register pain, comes the loud thock of wood hitting wood.“ In wenigen Sekunden werden sich der General und seine Entourage über Slothrop beugen. Aus einer temporeichen Verfolgungsjagd, die als Zusammenschnitt lustig-brutaler Szenen aus einem Hollywood-Slapstick- oder Zeichentrick-Film geschildert wird, fällt Slothrop in eine Szene, die aus einem Gilbert und Sullivan-Musical stammen könnte – oder aus den Alice-Romanen des Mathematikers Lewis Caroll, wo man ebenso unversehens in Situationen gerät, in denen man um sein Leben spielen muss. Am Ende dieser Episode im Roman „Gravity’s Rainbow“ hat Slothrop zwar nicht seinen Kopf verloren, dafür aber seine Identität. Als er zurück in sein Hotelzimmer kommt, ist dort alles spurlos verschwunden, was ihn bisher definierte: seine amerikanische Uniform, seine militärischen Ausweispapiere – und die junge Frau, Katje Borgesius, die er erst vor wenigen Tagen aus den Tentakeln eines Oktopus gerettet hat, der auf den Kosenamen Grischa hört.

Dem Hörspiel das Klicklick eines Plastikballs, statt des hölzernen thock im Roman, als Fehler anzukreiden, klingt nach kleinlicher Nerdkritik. Nach den zahllosen Fan-Kritikern, die in akribischer Kleinarbeit die Anschlussfehler in Filmen und Serien aufspüren oder den Machern der Lord of the Rings Filmreihe oder von Game of Thrones nachweisen, dass ein Detail an der Kurzwaffe des dritten Thronwächters von rechts nicht exakt den Angaben der Romanvorlage entspricht. Bloß gibt es in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow keine unwichtigen Details. Der Roman und sein Autor sind berühmt-berüchtigt für ihre Detailversessenheit – und für deren historisch korrekte Genauigkeit. Von Schnitt und Farbe der Kleidung der Protagonist*innen bis hin zu ihren Idio- und Soziolekten; von der korrekten Schilderung irgendwelcher historischer Stadtfassaden Nordhausens bis zum Grundriss eines Corporate Headquarters in Chicago. Und natürlich den technischen Details der A4/V2-Rakete und ihrer Zündungssequenz

Der Effekt dieser Detailanhäufungen auf die Leserin sind genauso delirant und paranoisch wie sie es für Tyrone Slothrop und die anderen Protagonist*innen des Romans sind: Aus der „Realität“ wird ein Dickicht aus Realitäten, Zeichen, Hinweisen, Symbolen, Codes, die etwas bedeuten oder vielleicht doch nicht. Oder schon etwas, aber nicht das, was man aus ihnen liest. Oder alles das, was man aus ihnen lesen kann, und deswegen gleichzeitig eben auch gar nichts. Das Croquet-Spiel mit seinen Assoziationen an Lewis Carolls Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln ist bei Pynchon eben nicht nur ein kleiner Gag, den man dann in einen netten Gag für die Ohren umwandelt: Jeder, der die Alice-Romane gelesen hat, weiß, dass hier hinter der spielerischen Fassade eines Märchens sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Grundfragen diskutiert werden – von einer 12jährigen, von Spielkarten, von allerlei sprechenden Tieren und Fabelwesen sowie einer gruselig-freundlichen Katze, deren wahre Motive im Unklaren bleiben. 

Lewis Caroll und die Alice-Romane sind, genauso wie Nabokov und sein Roman Lolita, wichtige Referenzen und erzählerische Vorbilder für Pynchon. Dazu gehört auch die Sexualisierung und Erotisierung von Mädchen und sehr junger Frauen, aber auch von Jungen: Gravity’s Rainbow ist nicht nur eine Master Class in der Narrativierung von Zeichen- und Erkenntnistheorien, es breitet auch in oft schwer zu ertragender Kälte der Beobachterhaltung das ganze Panorama dessen aus, was wir heute „toxic masculinities“ nennen: Hier werden an verschiedenen Typen die historisch und kulturell unterschiedlichen Mechanismen durchexerziert und rekonstruiert, mit denen der patriarchal organisierte militärisch-industrielle Komplex (der mehr und etwas deutlich Dunkleres ist als „der Kapitalismus“) sich Protagonisten erschafft, für die Sexualität, Macht, Gewalt sowie Glück und sogar Erlösung unlösbar ineinander verschränkt sind. Und für Figuren wie den SS-Offizier Weißmann aka Blicero sogar ein und dasselbe. Was Blicero, im Gegensatz zu den hochgradig materiell denkenden US-Offizieren im Roman, zu einer mythischen Figur macht. Die neuen amerikanischen Eliten dagegen sind entweder a-moralische Technokraten und Wissenschaftler oder schlicht brutale sexistische und rassistische Sadisten, die an der Drecksarbeit, die sie für die gesellschaftliche Ordnung verrichten, vor allem mal Spaß haben. Gravity’s Rainbow ist auch die Schilderung der Translatio Imperii von den alten europäischen Mächten und Nazi-Deutschland auf die USA . Die Differenzen zu den Nazis, die High Tech-Forschung und KZ zu einem Produktionszusammenhang machten, sind nur graduell. Eine der beeindruckendsten und niederschmetterndsten Szenen des Romans ist dann auch die Jagd, die der üble Rassist Major Marvy in den Gängen von Mittelbau Dora auf Slothorp veranstaltet, unter anderem weil der die Herero-Gruppe deckt, die sich selbst „Schwarzkommando“ nennt, während sich dort gleichzeitig die Geister der geschundenen KZ-Sklavenarbeiter materialisieren.

Von allem dem bekommt die Hörerin des 14-stündigen Hörspiels, das Klaus Buhlert im Auftrag von SWR und Deutschlandfunk aus Gravity’s Rainbow gemacht hat, nur am Rande etwas mit. Buhlert macht aus Pynchons Romanmonster, in dem man vorwarnungslos von der Erörterung der philosophischen Implikationen der Poisson-Verteilung in lustig-obszöne Soldatenlieder zur Sterbeszene einer in Mittelbau Dora für die Wunderwaffe zu Tode gearbeiteten Zwangsarbeiterin getrieben wird, ein „Paranoia-Drug-Sex Road Movie-Hörspiel“. So beschreibt es die Website, die der SWR 2 dem Mammutprojekt eingerichtet hat. Und das trifft es ganz gut: Buhlert streicht den Text sehr konsequent zusammen: auf die Geschichte der Jagd Tyrone Slothrops durch das vom Krieg verwüstete Europa, „die Zone“, auf der Suche nach dem „Schwarzgerät“, dem Herz und Gehirn der A4/V2.  Damit erspart er sich das Problem, für Pynchons barock-BusterKeatonesken Erzählen eine adäquate Hörspielform finden zu müssen. Allerdings handelt er sich dadurch ein anderes Problem ein: Pynchons metaphysisches Monster schrumpft auf eine Art „Born to be Wild – Easy Rider“-Hippie-Spionage-Roman zusammen.

Gegen die Komplexitätsreduktion des Ursprungtextes ist an sich nichts einzuwenden; dass Buhlert andere Priorität setzt als es die Pynchon-Fan würde, die diese Rezension schreibt, liegt in der Natur der Sache, aber: Buhlert reproduziert einen der ärgerlichsten Aspekte der Rezeption(sgeschichte) des Romans (nicht nur) in Deutschland – Gravity’s Rainbow als affirmativer Entwicklungsroman eines Weißen Mannes, der durch allerlei Irrungen und Prüfungen die Wahrheit über Politik und Gesellschaft als großen Corporate-Verschwörungszusammenhang erfährt. Im Prinzip Wilhelm Meister, nur mit deutlich mehr Drogen, Sex und Rock’nRoll. Und mehr von dem, was sich mancher im Feuilleton auch heute noch als subversiv und radikal transgressiv schön redet. Unter anderem Sado-Maso-Sex mit zwölfjährigen Mädchen. Besonders unangenehm zeigt sich das in zwei ästhetischen Entscheidungen Buhlerts: in der von ihm selbst komponierten und mit seinem Ensemble eingespielten Musik und bei der Auswahl der Sprecher*innen, hier vor allem die der männlichen Figuren.

Musik spielt im Roman eine zentrale Rolle. Slothrop ist begeisterter Mundharmonika- und Ukulele-Spieler; an entscheidenden Stellen des Textes brechen die Figuren oder die Erzählinstanz in Songtexte aus, die auf bekannte zeitgenössische Melodien zu singen sind; ständig werden Schlager, Swing und vor allem Schwarze populäre Musik der Zeit, aber auch klassische Musikstücke referenziert. Von all dem kommt im Hörspiel fast nichts vor, stattdessen dominiert eine diffuser 70er Jahre-JazzRock-Synthesizer-Gitarren-Sound den Hörraum. Was möglicherweise als Verfremdungseffekt gedacht war, passt in seiner Musikfrickelheros-Seligkeit leider nur zu gut in die Weiße-Männlichkeitsromantik der von Buhlert gebotenen Handlung. Die sehr konkrete historische Situierung des Romans, die im Zusammenspiel mit den mythisch-sagenhaften Elementen des Textes den seltsamen Zeitraum „der Zone“ auch für die Leserin erzeugt, verschwindet damit: Zweiter Weltkrieg wird zu einer mittels Rauschen und altertümlichen Kinoprojektor-Geräuschen aufgerufenen Kulisse. Die Paranoia des Romans, die auch die Leserin schnell befällt, bleibt im Hörspiel eher Behauptung, denn Erfahrung.

Buhlerts Vorliebe für einen ganz bestimmten Typ deutscher Theaterschauspieler-Stimme ist das Äquivalent des Frickel-Sounds auf Sprecherseite: Die meisten Männerstimmen sind sich alle viel zu ähnlich in der Tonlage und im Sprachduktus. Sehr viel raue, rauchige, ausgestellte Körnigkeit und Regie-Theaterdiktion, wodurch die problematischen Aspekte der deutschen Übersetzung von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz forciert werden – zu wenig Flow, zu langsam im Rhythmus und zu wenig sprachliche und stilistische Varianz der Register. Ob jetzt der Erzähler Frank Pätzold spricht oder der zum zweiten Haupterzähler beförderte „Pirate“ Prentice (Felix Goeser), ist schon am Anfang der 14 Stunden Hörzeit schwer zu unterscheiden und wird nach sieben Stunden nicht einfacher.

Und Bibiana Beglau als Katje Borgesius, in der Hörspielversion die weibliche Hauptrolle, ist leider eine Fehlbesetzung: Sie ist stimmlich zu alt. Der Projektionscharakter der Figur beziehungsweise ihre Fähigkeit, jedem Mann etwas anderes zu sein, bleibt in der Inszenierung uneingelöst. Stattdessen scheint Buhlert sich eine deutsche Version einer Film Noir-Heldin zusammenbasteln zu wollen. Corinna Harfouch als Ex-UFA-Diva und kinderverschlingende Grimm’sche Hexe dagegen ist fantastisch. Bedauerlicherweise setzt Buhlert Golo Euler, der Tyrone Slothrop mit einer jungen, zwischen Naivität und Gerissenheit changierende Stimme als eine Art Parsifal mit Can-Do-Attitüde spricht, viel zu selten ein

Überhaupt keine Gedanken scheinen sich Buhlert und sein Team rätselhafterweise darüber gemacht zu haben, wie sie die von Pynchon akribisch registrierten Unterschiede im Englischen auf Deutsch hörbar machen wollen. Dass man sich ständig missversteht, weil man die gleiche Sprache spricht, nur anders, ist eines der immer wieder variierten Motive des Romans. Von der Funktion der verschiedenen englischen Sprachen als sozialer Marker ganz zu schweigen. Davon bleibt im Hörspiel nichts. Im Gegenteil: Man hat des Öfteren den Eindruck, als wüssten die Sprecher*innen nicht immer, wie man einen englischen Namen oder eine Bezeichnung korrekt ausspricht.

Der SWR und der Deutschlandfunk, vor allem aber das Team um den Chefdramaturgen der Produktion, Manfred Hess, und Klaus Buhlert, sind für ihre Wagemut, ihre Sturheit und das schiere Durchhaltevermögen, sich und den Zuhörer*innen so eine Mammutproduktion zumuten zu wollen, zu feiern und zu loben. Und ja, wahrscheinlich ist Gravity’s Rainbow – Die Enden der Parabel. Das Hörspiel der Hörspiel-, vielleicht sogar der Radio-Höhepunkt dieses Jahres, als den es viele Kritiker preisen. Ein Denkmal dessen, zu was öffentlich-rechtlicher Rundfunk immer noch fähig ist, wenn er das selbstverordnete Format-Einerlei und die Überzeugung, Hörer*innen seien anspruchslose intellektuelle Einzeller, beherzt hinter sich lässt, ist das Projekt ohnehin. Dass man an einer Hörspielfassung dieses Jahrhundertromans, hier mal wirklich keine Phrase, nur scheitern kann, war allen Beteiligten sicher klar. Aber man hätte ästhetisch und konzeptionell deutlich ambitionierter und differenzierter scheitern wollen müssen. Dass das nicht gelungen ist, ist ein bisschen schade.

 

Photo by Alessandro Cerino on Unsplash

Wir Lektomaniker – “Ubiquitäre Literatur” von Holger Schulze

von Holger Schulze

 

Wir lesen immer. Überall. An beinahe jedem Ort ist etwas lesbar. Nicht erst durch die Allgegenwart von Text in den sozialen Medien und an anderen Orten des Internets sind wir zunehmend von Lesbarem umgeben. Daher kommt der neue Band der Reihe “Fröhliche Wissenschaft” von Holger Schulze “Ubiquitäre Literatur. Eine Partikelpoetik“, der am 30. April 2020 beim Verlag Matthes & Seitz erscheint zu dem Schluss: “Ohne Unterlass bewegt sich diese Literatur durch unsere Hände, von Kurznachrichten zu Bewegtbildern, vom Wortwechsel zur Verkaufsbotschaft, vom Werbefilm zum Diagramm. Denn diese neuen Formen des Textens bestehen aus Partikeln, aus den atomisierten Spuren der Digitalisierung.”

Aus diesem Band veröffentlichen wir vorab das einleitende Kapitel.

Das Wahrnehmbare lesen

 

Wörter sind immer
in unserem Blickfeld,
auf Etiketten, Bücherregalen,
Dateien und so weiter.
Schriftliche Sprache
ist allgegenwärtig,
nahtlos integriert
in unsere Umgebung.[1]
(Anahid Kassabian)

 

Im Wald der Lektüre

Ich stehe im Wald: einem Wald der Lektüre. Um mich herum stehen Säulen, auf denen Worte, Zeichen, schräg angeschnittene und übereinandergelagerte Buchstaben angebracht sind. Ein Lesewald in Nordrhein-Westfalen. Denn Worte, wie Anahid Kassabian schreibt, sind stets „integriert in unsere Umgebung“. Lassen Sie uns durch diesen Wald

© Ferdinand Kriwet, Fotografie: © Carsten Gliese

schweifen. Schön saftig und weit bietet eine Lichtung sich uns dar, lädt ein zum Liegen und Kugeln, Hocken, Trinken, Rauchen und Spintisieren – wie das der Locus amoenus so will. Doch ehe wir uns versehen, stolpern wir und prallen gegen etwas, das gar nicht hierherzugehören scheint. Vor uns steht eine Reihe von Säulen, weißlich oder durchscheinend, auf denen Zeichen angebracht sind. Keine lesbaren Zeichen, die uns bekannt sind – eher Brüche von Zeichen, Halbzeichen, Schrägbuchstaben, Schieflettern. Das hindert uns nun jedoch keineswegs daran, sofort zu versuchen, diese Chiffrenschliffe entziffern zu wollen. Versuchen wir’s!

Diese Säulen sind keine Naturerzeugnisse, auch keine Beispiele unbedacht hervorgebrachter Laienkunst. Es sind Texte. Wir befinden uns im Jahr 2002 in Mönchengladbach. Die Säulen dieses Lesewalds sind Teil einer Arbeit im öffentlichen Raum des Autors und bildenden Künstlers, Radioautors und Dichters Ferdinand Kriwet. Kriwet betrat die Kunst- und Literaturgeschichte zuerst in den 1960er-Jahren mit konkreter Poesie wie ROTOR [2] oder durch die runse auf den redder  [3]. Später entstanden großflächige Rauminstallationen unter Verwendung imaginärer Logos und Schriftschnitte wie im obigen Beispiel – etwa Mitmedien [4] oder Yester’n’Today [5]. Seine Hörstücke der 1970er- und 1980er-Jahre, die er „Hörtexte“ nannte, erhielten etliche Preise und wurden Klassiker: OOS IS OOS (1968), ONE TWO TWO (1968), RADIOBALL (1975) und Dschubi Dubi (1977). Neben diesen Hörtexten veröffentlichte er Vortragstexte, Sprechtexte, Vorlesetexte, Lesestücke, Schrifttexte, Schreibtexte. Die Möglichkeiten des Lesens und Schreibens unterscheidet er – begrifflich streng – somit ganz nach ihren Funktionen, Aufführungssituationen und Schreibtechniken. Alles Lesen und Schreiben wird bei ihm Text – und alle seine Texte entspringen aus Lesen und Schreiben.

Eine charakteristische Begeisterung der 1960er-Jahre für den öffentlichen Text wirkt hier nach, in dieser endlosen Vielfalt von Textformen, Schreibtechniken, Leseformen und Arten der Textaneignung im Werk Kriwets. Diese Begeisterung für Werbeslogans, Zeitungsanzeigen und Schlagzeilen, Fernsehwerbung und Fernsehseriendialoge, Schlagertexte und Hitlisten entstand freilich nicht erst in jenem Jahrzehnt. Sie lässt sich lange zurückverfolgen, bis hin zu Georg Christoph Lichtenbergs faszinierten Notizen aus London vom Ende des 18. Jahrhunderts; ein Jahrhundert später dann bei den Symbolisten und Naturalisten – die Metropolen-, Nachrichten- und Publikationsekstase nimmt zu –; schließlich technophil verschärft bei Futuristen und Dadaisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und bei den Spätavantgarden im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts: sei es bei den französischen Oulipo, bei William S. Burroughs oder FLUXUS-Komponisten, bei Happeningkünstlern der 1960er-Jahre. [6] Kriwet schließlich besingt diese veränderte Rezeption von Wort und Bild – so der Titel seiner Poetik – im Jahr 1965 wie folgt:

Sie wollen z. B. mit dem Autobus einen Bekannten besuchen; an der Haltestelle sehen Sie sich dem Fahrplan, einem Poem aus Zahlen und Ikonen, in Augenhöhe senkrecht gegenüber, während der Busfahrt blicken Sie Schilder („Mit dem Schaffner sprechen verboten!“, „Festen Halt suchen“, „Betätigung dieser Knöpfe nur durch den  Schaffner“ etc.) im Businneren an, derweil Reklametafeln, Neonschriften, Verkehrsschilder draußen für Sie an Häuserwänden, auf Bauzäunen, an Stangen und Masten posieren und Ihr Gegenüber liest vielleicht gerade die Zeitung, welche Ihnen ihre Rückseite zuwendet. [7]

 

Allgegenwartsliteratur

Text ist überall, Sprache ist überall. Abgebildet, notiert, in Verbindung mit Bildern, Ideogrammen, in Bewegung, animiert, abgefilmt, dargestellt und ablesbar. Unaufhörlich umgeschrieben, neu reingesendet als Untertitel, Kommentar und Anmerkung. Die Avantgarden und Spätavantgarden des 20. Jahrhunderts, zwischen Futurismus, Lettrismus und FLUXUS, dokumentierten die Wucht des sogenannten linguistic turn in jenen Jahren: Die Welt ist durch Sprache geformt und ohne das historisch und kulturell sich wandelnde menschliche Verständnis der Sprache zu verstehen, lässt sich auch die Welt nicht verstehen. Die Avantgarden ratifizierten die Kraft dieser faktisch zeichentheoretischen Erkenntnis – die das tägliche Leben durchdringt – auf eine material eindrückliche Weise: gerne befeuert von den je angezeigten Drogen, den Techniken zur Bewusstseinsveränderung oder -erweiterung und den Sexualentgrenzungen der Saison. Die Welt war ihnen nun vollständig lesbar, sprechbar, deutbar, vor allem aber auch beschreibbar und beschriftbar geworden. Die Omnipotenzfantasie der Sprach- und Textförmigkeit der Welt, der Handlungen, ja aller Dinge und Entitäten konnte künstlerisch und literarisch vorgeführt werden. Seit den Modernitätserfahrungen der ersten Metropolen – London, Paris, Rom, viel später New York, Berlin, schließlich Tokio, Hongkong, Schanghai – wurde eine Gleichzeitigkeit der Schriften und Statements, Ansagen und Zwischenrufe, des überhörten und der Fehllektüre, des Protokollierens, Rekombinierens und der einander neu interpretierenden Plakate nicht nur allgemein erfahrbar und diskutierbar, sondern zu einer identitätsstiftenden Erfahrung stilisiert: die Epiphanie des Ichs, das Textbruchstücke sammelt. Was zunächst künstlerisch vorgeführt wurde, in vielstimmigen Gedichten und arrangierten Bewusstseinsströmen, in Collagebildern und Textmontagen, Hitparaden und Produktlisten, in Zeitungsklebe- und -lesearbeiten, in der Aufzählung von Dingen, Situationen, Objekten und Gedanken, Autoren und Texten, Songs und Bands, Firmen- und Dragqueennamen, notiert in Sudelheften und Bumsbüchern, in Schmier- und Notizheften – all dies bestimmt mittlerweile, im 21. Jahrhundert, den breiten Strom, der durch alle Netzwerke und Nachrichtenkanäle fließt. Anfang der 1970er-Jahre jagte Rolf Dieter Brinkmann durch die Straßen von Köln und sprach in sein Aufnahmegerät, das ihm der WDR zur Verfügung gestellt hatte [8]:

Da gehe ich also jetzt an alten Läden vorbei. Ich gehe an alten Kleidern vorbei, an verblichenen Seidenstoffen. Ich gehe an Autolichtern vorbei. Die Autolichter tun meinen Augen weh. Die Pfützen, die Regenpfützen, die schmierigen Regenpfützen, die werden durch eine grüne Leon-…- richtreklame gefärbt. Sie werden durch weiße Neonlichter gefärbt. [9]

Denkempfindungen, Namen von Ladengeschäften, Aufschriften und Beobachtungen – instantan [10] aufgezeichnet, archiviert, umgeschrieben. Die Metropolenerfahrung bringt durch Kontingenz und Überlagerung eine andere Art zu schreiben hervor. Geschrieben wird an allen Orten, ganz dem Impuls hingegeben, der Umgebung und ihrer Zerstreuung, den kleinen Momenten und größeren Tollereien: ein dummes Schreiben [11] – im allerbesten Sinne:

Ich geh an – einem goldenen Schriftstück, das heißt: TRANSTÜRK HOLDING AG ALMANYA (KÖLN) BÜROSU. Das auf einem, das auf einer gläsernen Wand gedruckt ist, vorbei. Alles Büros. Alles Neonlicht-richtreklamen. Alles Kellner, die Pommes Frites-Büros, Pommes Frites, Büros, hehehe, haha, haha, ha. Pommes, „pom-mes“: Erde, „frites“: gebratene Erde! Gebratene-Erde-Büros! Kellner, die an Gebratene Erde-Büros entlang flitzen und die gebratenen Erde-Büros wiederum – puuuhh-tschschsche … Ist das ein kalter Wind! [12]

Die Konsistenz eines literarischen Werkes wird also zum Ende des 20. Jahrhunderts literatur- und kunstgeschichtlich noch weiter abgebaut: Das Werk ist nicht mehr nur offen, unfertig oder in progress – schlichtweg jedes Partikel wird als werkhaft gelesen und in sich selbst als abgeschlossen geformt begriffen. Umherschwirrende Partikel lassen das Unfertige und Skizzenhafte, das Kombinatorische und Materialhafte, das Hingeworfene und Improvisierte, die vermeintlich makellose Werk- und Formgestalt von innen heraus aufbrechen:

Ein Stereo-Gerät. Eine elektrische Ölheizung. Einige Bücher. Nein, an Literatur bin ich nicht mehr so wild interessiert. [13]

Meisterschaft und Abschluss wurden immer weiter verworfen, neu stilisiert, immer weiter aufgelöst und abgebaut. Im Abbau der Meisterschaft und der Kontrolle über das Werk wurde nun eine Meisterschaft zweiter Ordnung gefordert: Ein Werk sollte nicht mehr einen Zustand außerhalb des Alltäglichen repräsentieren. Die Arbeit musste vielmehr unausdenklich eng an die Alltagserfahrung, das gewöhnliche, wenig bemerkenswerte Erleben angenähert werden. Dieses Schreiben wurde nun allgegenwärtig. Die Menge des Geschriebenen und des Gelesenen wächst seither ins Maßlose. Manuskripte, Notizen und Materialien, Formulierungen, Worte, Schriftideen, Zeitungsausrisse, rauskopierte Netzfundstücke, Sprachpartikel wuchern zu gargantuesken Korpora. In den späten 1970er-Jahren schreibt William S. Burroughs:

Einiges von diesem Material verwende ich und anderes nicht. Ich habe hier buchstäblich Tausende von Seiten mit Notizen, roh, und ich führe auch ein Tagebuch. [14]

Wir Lektomaniker

Texte sind überall, wir lesen überall. Wir sind Lektomaniker: Manisch getriebene Leserinnen und Leser. Gebratene-Erde-Büros. Noch findet sich diese Diagnose nicht im neuesten Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Sie kann zu überraschenden Zwickmühlen führen:

Leute mit Text-Tattoos stellen mich vor harte Herausforderungen. Einerseits sind mir Respekt, nicht anstarren, persönliche Grenzen super wichtig. Andererseits ist da dieser Zwang, jedes verdammte Wort vor Augen zu lesen. [15]

Unaufhörlich lesen wir – und zwar nicht nur metaphorisch. Die gesamte Welt ist nun gepflastert mit mehreren Schichten aus Texten und Zeichen, Monologen und Nachrichten. Wir lesen wirklich die gesamte Welt um uns herum. Eine bewegliche, eine umtriebige Lektüre, allerorten. Freilich ist das noch lange nicht genug: Alle Texte auf Körpern und Fahrzeugen, Gebäuden und Möbeln, auf Tieren und Pflanzen nehmen wir gerne hinzu. Gebratene-Erde-Büros. Wir sind Lektomaniker, es ist ansteckend, wir werden nie wieder aufhören: „Graffiti is the Twitter of the streets.“ [16]

Ferdinand Kriwet, mit dessen Lesewald diese Einleitung begann, war zweifellos solch ein Lektomaniker. Gebratene-Erde-Büros. In einer Fernsehsendung formulierte er 1971 die Poetik seines Schreibens dann auch, während er im Fernsehstudio umherging, in dem einige seiner Arbeiten ausgestellt waren. Herumgehend, zeichnend, ausrichtend, abreißend formulierte er wie nebenhin seine Poetik der allgegenwärtigen Schrifthandlung und Schriftwahrnehmung:

Ich verstehe unter Schrift, beziehungsweise unter den Ergebnissen, die man mit Schrift machen kann – also Literatur –, alle Möglichkeiten der optischen Information. […] es gibt einen Satz von einem Kollegen von mir – Franz Mon – der besagt: Es gibt nichts Wahrnehmbares, was nicht auch lesbar wäre. [17]

Exaltiert und extremistisch mag diese Poetik damals erschienen sein. Offenbar brauchte es überambitionierte, weiße, männliche und junge Künstlerpersönlichkeiten, um dafür zu werben. Es ist nun der Alltag. Lesen im Netz findet allerorten statt, die geliebte „Transsubstantiation von graphischen Zeichen in Laute, Worte, propositionale Gehalte, Bedeutung und Sinn“ [18]. Die Literatur ist damit nun allerorten. Sie ist ubiquitär.

Dieser Band untersucht die ubiquitäre Literatur in zwei Teilen. Im ersten Teil, der Partikelpoetik, werden die Beweisstücke zusammengesucht, die belegen, wie die Schriftkultur unserer Gegenwart tatsächlich eine ubiquitäre Leseschreiblesekultur geworden ist: Eine Dichtkunst der Partikel. Der atomisierte Text, eine Art Partikelsuppe ohne Plot, veränderte die Lektüre zu Beginn des 21. Jahrhunderts und wird darum im ersten Kapitel verwundert bestaunt und betastet. Ein Zustand der publizistischen und ästhetischen Dynamisierung der Partikel lässt sich hier beobachten, dessen wichtigste Konsequenz das zweite Kapitel im Titel trägt: Kleine Formen koppeln gern. Der Kontext tanzt also – so auch der Titel des dritten Kapitels – um poetisch komplex geformte Texte herum, denn „Hermeneutik ist heilbar“ (Christiane Frohmann) und erzeugt erst die vielfältigen Spielformen der zeitgenössischen Memblematik, der Lust an den Missverständnissen und den medialen Springprozessionen. Dies alles bringt – wie die Überschrift des vierten Kapitels verheißt – die Partikel in Poiesis durch Kalauer-Kombinatorik, klebrige Texte, im Flow einer Textpersona und ihrer sardonischen Heuristik.

Der zweite Teil, über die ubiquitäre Literatur, beschreibt einzelne Situationen des allgegenwärtigen Leseschreiblesens: Eine Literaturtheorie des Ubiquitären. Im fünften Kapitel wird zunächst das zerstreute Ich gelobt, da es viele Unbekannte mitschreiben lässt und ein Fließgleichgewicht der Einflussnahmen ermöglicht. Es gilt somit: Dummheit schreibt, im sechsten Kapitel, ohne eine Idee, sondern aufgrund von Kohäsionskräften – und erzeugt just dadurch beeindruckende Genauigkeit, Anschaulichkeit und Haltbarkeit (in den Worten Italo Calvinos). Ist es nicht eine „Euphorie im Alltag“ (Katja Kullmann) und des „Instantanen“ (Christiane Frohmann), so frage ich mich im siebten Kapitel, die diese Instagrammatologie hervorbringt? Es entstehen schließlich Situationstexte, ein Bedürfnisse artikulierendes Mitschreiben an der Umgebung, das purer Genuss ist für Lektomaniker wie uns – und das im achten und letzten Kapitel dieses Buches mit einem neuen Ehrentitel bedacht wird: Ambient Writing.

Der Begriff der ubiquitären Literatur verdankt sich den Sound Studies: der Erkundung von Klangpraktiken und Klangtechnologien in Geschichte und Gegenwart. Klänge begleiten uns schon länger unaufhörlich. Es ist kaum ein Jahrzehnt her, dass Anahid Kassabian die Begriffe der „ubiquitous music“ [19] und des „ubiquitous listening“ [20] dafür einführte. Kulturpessimistische Erkenntnisverweigerung und störrisches Beharren auf Hörertypologien und Audiopietismen ließen sie hinter sich. Musik wird gegenwärtig vor allem als ubiquitäre Musik gehört, eine kulturprägende Form des Genusses, wie Anahid Kassabian schreibt:

Es gibt nur sehr wenige Arten von Musik, die nicht als ubiquitäre Musik gehört werden – tatsächlich werden die meisten nur auf diese Weise gehört. Von klassischer Musik in Restaurants und im Auto bis hin zu Techno in Clubs und auf Webseiten, die Wohneigentum bewerben, entgeht diesem Schicksal wohl kaum eine Musik. [21]

Das Lesen und Schreiben der flugs zirkulierenden Texte vollzieht sich nach diesem Vorbild des ubiquitären Hörens von Musik. Gebratene-Erde-Büros. Durch die Weisen des Hörens lassen sich auch die Weisen des Lesens besser begreifen. Literaturforschung profitiert von Klangforschung. Es gibt nichts Wahrnehmbares, was nicht auch lesbar wäre. Begleiten Sie mich in die zirkulierende Süße und Klebrigkeit der Lettern und der Worte, der Typografien:

TYPE IS HONEY. [22]

© 2020 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

 

Kurzbio: Holger Schulze, 1970 in Baden-Baden geboren, ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität  Kopenhagen und leitet dort das Sound Studies Lab. Seine Arbeiten zur Klang- und Medienkultur erschienen  zuletzt bei Matthes & Seitz Berlin, MIT Press und  Bloomsbury Academic. http://www.soundstudieslab.org

 

Anmerkungen:

1 »words are almost always in our field of vision, on labels, bookshelves, files, and so on. Written language is ubiquitous, seemlessly integrated into our environments.« Kassabian, Ubiquitous Listening: Affect, Attention, and Distributed Subjectivity, Berkeley 2013, S. 32 (Übersetzung: H. S.).

2 Ferdinand Kriwet, Rotor, Köln 1961.

3 Ferdinand Kriwet, durch die runse auf den redder, Berlin 1965.

4 Württembergischer Kunstverein Stuttgart 1975.

5 Kunsthalle Düsseldorf 2011.

6 Holger Schulze, Das aleatorische Spiel. Die Entdeckung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 179–262.

7 Ferdinand Kriwet, »Zur veränderten Rezeption von Wort und Bild«, in: ders., Leserattenfänge – Sehtextkommentare, Köln 1965, S. 14 f.

8 Rolf Dieter Brinkmann, Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973, München 2005 (Transkription: H. S.).

9 Brinkmann, Wörter Sex Schnitt, CD 3, Track 4 (Transkription: H. S.).

10 Christiane Frohmann, »Instantanes Schreiben«, in: Orbanism, 29. Mai 2015, online: {https://orbanism.com/frohmann/2015/instantanes-schreiben-christiane-frohmann-literaturinstitut-leipzig-20150529/}.

11 Kenneth Goldsmith, »being dumb«, in: The Awl, 23. Juli 2013, online: {http://www.theawl.com/2013/07/being-dumb}.

12 Brinkmann, Wörter Sex Schnitt, CD 3, Track 4 (Transkription: H. S.).

13 Brinkmann, Wörter Sex Schnitt, CD 1, Track 1 (Transkription: H. S.).

14 »Some of this material I use and some I don’t. I have literally thousands of pages of notes here, raw, and I keep a diary as well.« William S. Burroughs, Brian Gysin, The Third Mind, New York 1978, S. 5 (Übersetzung: H. S.).

15 Ute Weber, 13.08.2018, {https://twitter.com/UteWeber/status/1028982252179529729}.

16 Stephen King, 18.04.2018, {https://twitter.com/stephenking/status/986643494499438592}.

17 Ferdinand Kriwet, »Live«, in: Farbe bekennen. Auseinandersetzung mit der Kunst der Gegenwart – Ferdinand Kriwet, WDR 1970, ausgestrahlt am 14.5.1971 (Transkription: H. S.).

18 Simon Aeberhard, »Fehllesen«, in: Rolf Parr, Alexander Honold (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft , Berlin 2018, S. 177.

19 Anahid Kassabian, »Ubiquitous Musics: Technology, Listening, and Subjectivity«, in: Andy Bennett, Steve Waksman (Hg.), The SAGE Handbook of Popular Music, London 2015, S. 549–562.

20 Kassabian, Ubiquitous Listening.

21 Ebd., S. 109, »There are very few kinds of music that are not listened to as ubiquitous music, and in fact listened to frequently in that way. From classical music in restaurants and cars to techno in clubs and on condo websites, very little music escapes this fate.« (Übersetzung: H. S.).

22 Ferdinand Kriwet, »Type Is Honey – Rundscheibe VI (1962)«, in: Emmett Willams (Hg.), An anthology of concrete poetry, New York/Villefranche/Frankfurt a. M. 1967, »Kriwet, Ferdinand«.

Ethik gegen Ästhetik – Ein philosophischer Kampf

von Philip Schwarz

 

In den vergangenen Jahren hatten das Feuilleton und kulturinteressierte Menschen nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal Gelegenheit, die Freiheit der Kunst gegen moralische Urteile und Ansprüche der sogenannten “Politische Korrektheit” zu verteidigen. Eine Liste dieser Kontroversen, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf chronologische Ordnung erhebt, würde die folgenden Fälle enthalten: Rassismus in Kinderbüchern, Mohammed-Karikaturen, das Gomringer-Gedicht Avenidas an der Wand einer Berliner Hochschule, #vorschauenzählen, Dekolonialisierung des Kanons, Nobelpreis für Peter Handke, Woody Allens Memoiren. Auch in Bereichen, die zwischen den Polen E und U eher der Unterhaltung zugeordnet werden, ist diese Debatte lebendig, beispielsweise, wenn es um den Kampf gegen Sexismus in Videospielen geht, die sich in Bezug auf Ästhetik und Charakterdesign auf stereotype Weise  vorwiegend an ein heterosexuelles Cis-männliches Publikum richten.

In all diesen Fällen gibt es nicht wenige Kommentator*innen, die sofort bereit sind, darzulegen, warum die betreffenden Kunstwerke nicht Gegenstand einer moralisch motivierten Kritik sein könnten. Die Fälle sind sicherlich unterschiedlich, aber die Kommentierung ist in einer Hinsicht strukturell ähnlich: Sie etabliert eine Dichotomie zwischen der Kunst und der Moral. Die im traditionellen Feuilleton sowie in den sozialen Netzwerken vorgebrachten Argumente suggerieren, dass „die Kunst“ von „der Moral“ zu trennen sei. Dieses Argument wird selten explizit artikuliert, aber eine aufmerksame Lektüre der entsprechenden Wortmeldungen zeigt, dass es überall vorausgesetzt wird. Die Zurückweisung moralischer Kritik an Kunst bezieht ihre vermeintliche Autorität und Legitimität zu einem großen Teil aus dieser Voraussetzung. Dies äußert sich beispielsweise in der wiederholt vorgebrachten Argumentationsfigur von der Autonomie der Kunst, die diese gegen moralische Kritik immunisiere. Wenn die Sphäre der Kunst in sich geschlossen und gegenüber moralischer Kritik immun ist, lässt sich die moralische Kritik als unsachlich und dem Thema nicht angemessen zurückweisen, ohne dass eine inhaltliche Auseinandersetzung nötig wäre. Tatsächlich aber ist die These von der Abgrenzbarkeit zwischen Kunst und Moral hinfällig, weil die Forderung nach der Moralfreiheit der Kunst ihrerseits eine moralische Forderung darstellt.

Was genau ist nun gemeint, wenn Moral und Kunst voneinander getrennt werden sollen?

Wie man sich diese Trennung vorstellen kann, lässt sich zunächst metaphorisch mit zwei Brettspielen, für die unterschiedliche Regeln gelten, verdeutlichen: Die Kunst nach moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen wäre demnach ebenso sinnlos, wie die Schachregeln auf Mensch-ärgere-dich-nicht anwenden zu wollen und umgekehrt. Es spricht aber Einiges dafür, dass die Abgrenzung zwischen Kunst und Moral nicht so eindeutig ist, wie die zwischen den Spielregeln von Schach und Mensch-ärgere-dich-nicht. In beiden Bereichen haben wir es mit einer Form des Werturteils zu tun. Etwas kann moralisch wertvoll sein oder künstlerisch wertvoll oder auch beides gleichzeitig. Die Immunitätsthese geht davon aus, dass der künstlerische Wert den moralischen vollkommen verdrängt: Wenn etwas nur ausreichend künstlerischen Wert hat, wäre demnach die Frage nach dem moralischen Wert unerheblich.

Natürlich lassen sich Kunst und Moral unterscheiden. Bestimmte Dinge lassen sich moralisch beurteilen, aber es wäre sinnlos, nach ihrem künstlerischen Wert zu fragen. Umgekehrt ist etwa die Frage, welche Beethoven-Symphonie die schönste ist, eine nach dem ästhetischen Wert und nicht nach dem moralischen. Aber das bedeutet nicht, dass es sich bei Kunst und Moral um zwei autonome Felder handelt, deren jeweilige Gegenstandsbereiche sich wechselseitig ausschließen. Warum sollte der Umstand, dass etwas Kunst ist, es dem Bereich der moralischen Beurteilung entziehen? Moralische und künstlerische Urteile sind verschiedene Urteile, die sich auf verschiedene Kategorien beziehen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Kategorien wie etwa die juristische, die soziologische, die ökonomische usw. Die Kategorien und Urteile betreffen aber immer denselben Gegenstand, auf den sie sich beziehen.

Ein Verlag, der ein Manuskript im Postfach hat, kann fragen, ob es künstlerisch interessant ist, er kann fragen, ob es moralisch richtig wäre, es zu veröffentlichen, er kann fragen, ob es sich lohnt, oder ob es erlaubt ist. Jede dieser Fragen bezieht sich auf eine andere Kategorie der Bewertung, und jedes Urteil über eine der Kategorien steht erst einmal für sich. Insofern stimmt es auf den ersten Blick, dass Moral und Kunst voneinander unabhängig sind. Ein künstlerisches Urteil bezieht sich auf eine andere Kategorie – beantwortet eine andere Frage – als ein moralisches. Diese Kategorien sind aber nicht isoliert voneinander. Urteile, die sich auf eine Kategorie beziehen, sind für Urteile in anderen Kategorien nicht bedeutungslos. Wenn der Verlag zum Beispiel entscheidet, dass es juristisch nicht zulässig ist, ein Manuskript zu veröffentlichen, kann das auch bedeuten, dass es sich ökonomisch nicht lohnen würde, weil die Veröffentlichung einen teuren Gerichtsstreit nach sich ziehen würde. Es gibt auch Fälle, in denen der moralische Wert durch den künstlerischen Wert begründet wird: Würden wir nicht beispielsweise sagen, dass es moralisch falsch ist, einer anderen Person die Auseinandersetzung mit einem Stück Kunst aufzuzwingen, das diese Person als langweilig, hässlich oder anderweitig wertlos empfindet?

Worum geht es in der Moral? Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, das zu schützen, was wichtig ist, und Menschen zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. (Wer möchte, kann diese Bedürfnisse „Werte“ nennen.) Mit jedem Bedürfnis, das eine Person hat, geht ein moralischer Anspruch an andere Personen einher, dieses Bedürfnis zu berücksichtigen.

Was das Bedürfnis auszuschlafen damit zu tun hat

Einer Person den Besuch eines Museums, Films, Konzerts oder was auch immer aufzunötigen, dem sie künstlerisch nichts abgewinnen kann, ist also deswegen moralisch falsch, weil diese Person davon abgehalten wird, stattdessen etwas zu tun, das ihr wichtig ist. Wenn ich versprochen habe, Sonntags früh um acht beim Umzug zu helfen, wäre es moralisch falsch, einfach im Bett liegen zu bleiben, weil viele andere Personen Pläne gemacht haben, die sie aufgeben müssen, wenn ich nicht da bin, um zu helfen. Sie werden also in einem gewissen Umfang daran gehindert, das zu tun, was sie sich wünschen und dadurch in ihren Ansprüchen an mich verletzt. Anders stellt sich die Frage aber dar, wenn ich auf dem Weg zur Verabredung einer Person begegne, die Erste Hilfe benötigt und ins Krankenhaus gebracht werden muss. Ihr Bedürfnis nach körperlicher Gesundheit ist im Zweifel wichtiger als das Anliegen meiner Freund*innen, eine verlässliche Hilfe beim Umzug zu haben. Daher könnte man hier argumentieren, dass es moralisch falsch wäre, mein Versprechen zu halten, anstatt dem Unfallopfer zu helfen. Eine Entscheidung zu treffen, bedeutet immer, verschiedene Bedürfnisse abzuwägen. Für jedes Bedürfnis gibt es Gründe, ihm den Vorzug zu geben. Sie abzuwägen bedeutet zu entscheiden, welche Bedürfnisse aus guten Gründen wichtiger sind als andere. Wenn ich entscheide, im Bett liegen zu bleiben, wäge ich nicht etwa moralische Verpflichtungen gegen mein davon unabhängiges egoistisches Verlangen nach Schlaf ab. Ich urteile, dass mein Bedürfnis und damit mein moralischer Anspruch ausschlafen zu können Vorrang hat gegenüber dem Anspruch auf Zuverlässigkeit, den die anderen an mich haben. Auch egoistische Entscheidungen sind in diesem Sinne moralische Entscheidungen.

Genauso verhält es sich mit der Forderung, dass die Kunst gegenüber moralischen Ansprüchen immun bleiben müsse. Die Frage „Ausschlafen oder Versprechen halten“ ist keine Frage von Egoismus gegen Moral, sondern eine Frage danach, wessen Bedürfnisse wichtiger sind, und die Frage „Freie Kunst oder Political Correctness“ ist keine Frage von Kunst gegen Moral, sondern ebenfalls eine Frage nach dem Vorrang bestimmter Bedürfnisse gegenüber anderen.

In beiden Fällen geht es um verschiedene Dinge, die Menschen wichtig sind und dabei zumindest bis zu einem gewissen Grad unvereinbar. In dem Moment, in dem darüber diskutiert wird, welche Personen ihre Bedürfnisse erfüllen dürfen und welche dafür auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse verzichten müssen, führen wir unvermeidlich eine moralische Diskussion. Dass Kunst langweilig oder ästhetisch uninteressant wird, wenn sie moralischer Beurteilung unterworfen ist, ist nur dann ein Problem, wenn der Genuss interessanter Kunst als wichtiges Bedürfnis verstanden wird. Das Argument ist dann ungefähr folgendes: unser Leben wäre ärmer, wenn wir keinen Zugang zu interessanter Kunst hätten, und es ist moralisch falsch, Bedingungen zu schaffen, in denen unser Leben ärmer ist. Deswegen wäre es moralisch falsch, Kunst moralisch zu beurteilen. Aber genau das geschieht, indem dieses Argument vorgebracht wird. Es setzt ja voraus, dass das Bedürfnis nach interessanter Kunst Vorrang hat vor den Bedürfnissen, die in der Forderung nach politisch korrekter Kunst Ausdruck finden.

Noch offensichtlicher wird es, wenn die Immunitätsthese durch den Verweis auf Anliegen verteidigt wird, die außerhalb der Kunst liegen. Je nach Zusammenhang werden hier verschiedene Anliegen herangezogen. So wird etwa argumentiert, dass die Kunst eine gesellschaftliche Funktion erfülle und so dazu beitrage, Bedürfnisse zu erfüllen.

“Aber die weitaus ernstere Folge ist die Bedrohung des Lebensraums, nicht nur der Kunst, sondern auch der freien Entfaltung der Bewohner dieses Raums. Diese hängt ganz wesentlich mit unserer Befähigung zusammen, in Möglichkeitsräumen, im Imaginierten und im Geträumten unterwegs sein zu können, die Normativität des Faktischen zu durchbrechen und die Vorstellungskraft als Korrektiv einzusetzen.”

Ganz ähnlich ist das Argument, dass Satire wenn schon nicht alles, dann doch sehr viel dürfen muss, um ihre Funktion, wichtige Diskussionen anzustoßen, wahren zu können.  Hier wird also das Anliegen, eine bestimmte Art der Diskussion zu ermöglichen gegen das Anliegen der “Politischen Korrektheit” abgewogen und für wichtiger befunden. Dies wurde vor allem deutlich, in der Diskussion um die Entfernung von Eugen Gomringers Gedicht Avenidas von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule, in deren Verlauf die Übermalung zu einem „Generalangriff auf unsere Kultur und damit auf unsere Freiheit“ erklärt wurde. Gerade hier wird suggeriert, die Immunitätsthese habe mit Moral nichts zu tun. Auf der einen Seite die „Tugendterroristen“ mit ihren überzogenen moralischen Forderungen, auf der anderen Seite die Verteidiger (absichtlich nicht gegendert) der Freiheit. Wenn nun aber Freiheit kein moralisches Anliegen ist, weiß ich nicht, was überhaupt eines ist.

Auch die Forderung nach mehr Diversität und das Beharren darauf, dass nur Talent zählen solle, ist eine Variante dieses Konfliktes. Die Forderung, dass die Kunst von nicht-weißen, nicht-heterosexuellen oder allgemein von Künstler*innen marginalisierter Gruppen mehr Sichtbarkeit erhalten solle, wird oft dadurch zurückgewiesen, dass es doch nur um Qualität gehen solle. Auch dies ist ein moralisches Argument. Denn entweder heißt es auch hier wieder, dass die Kunst unabhängig bleiben müsse, um interessant sein zu können. Dann wird sie wieder als ein Bedürfnis behandelt, und es muss eine moralische Abwägung stattfinden. Oder aber der Gedanke ist, dass die Künstler*innen einen Anspruch darauf haben, für ihre Arbeit angemessen erfolgreich zu sein. Dann wäre das Argument, dass es unmoralisch sei, den künstlerischen Erfolg von anderen Kriterien abhängig zu machen als vom ästhetischen Wert des Werkes.

Die Sache mit den Kinderbüchern

Im Fall der Redaktion von Kinderbüchern wird mit Authentizitätsüberlegungen argumentiert:

„Einzelne Wörter in älteren Texten mögen aus heutiger Sicht problematisch scheinen, heißt es dann, aber das sei eben die Wortwahl der Autor/-innen, die dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit entspreche. In das so entstandene sprachlich-literarische Gesamtkunstwerk dürfe man nicht eingreifen. Wenn Preußler einmal N~lein geschrieben habe, solle er auch fünfzig Jahre später dazu stehen, und erst recht dürfe ein Text nicht verändert werden, wenn die Autorin – wie im Fall von Astrid Lindgren – bereits verstorben sei.”

Je nachdem, wie diese Argumentation verstanden wird, wird hier der Anspruch der Leser*innen auf das unveränderte Buch oder der Anspruch der*des Verfassers*in auf die Bewahrung des ursprünglichen Werkes gegen den Anspruch auf diskriminierungsfreie Sprache verteidigt. Auch dies ist eine Abwägung verschiedener moralischer Ansprüche.

Damit geht es nicht mehr darum die Kunst als autonome Sphäre vor dem ungerechtfertigten Angriff durch externe Maßstäbe zu verteidigen, sondern es geht um die Vermittlung zwischen verschiedenen Anliegen. Die Kunst kann also gar nicht frei von moralischer Beurteilung sein, weil bereits die Forderung genau danach eine moralische Bewertung der Kunst voraussetzt. Die Argumentation besteht im Wesentlichen darin, den Kritiker*innen entgegenzuhalten, sie hätten keine Autorität in der Angelegenheit, und sie seien deswegen gar nicht erst anzuhören. Aber wenn die Forderung, die Kunst müsse der Moral entzogen sein, um interessant bleiben zu können, ihrerseits eine moralische Forderung ist, dann haben wir es hier nicht mit zwei abgetrennten Bereichen zu tun.

Kunst moralisch zu beurteilen ist dann ähnlich wie die Frage, ob es in Ordnung ist, zur Verabredung zu spät zu kommen, wenn das die einzige Möglichkeit ist, dem Unfallopfer zu helfen. In beiden Fällen haben wir es mit verschiedenen Bedürfnissen zu tun, zwischen denen auf irgendeine Weise vermittelt werden muss.

Was bedeutet dies nun für die Debatte?

Wenn wir verstanden haben, dass die Verteidigung der Kunst gegen die moralische Kritik ihrerseits ein moralisches Bedürfnis vertritt, stellt sich die Frage, um die es hier geht anders dar. Die Beschreibung der Situation durch die Vertreter*innen der Immunitätsthese ist schlicht falsch. Es ist nicht so, dass an den in sich geschlossenen Bereich der Kunst äußere Maßstäbe angelegt werden, die hier nicht sinnvoll anwendbar sind. Es ist vielmehr so, dass verschiedene moralische Anliegen abzuwägen sind. Das Anliegen an interessanter Kunst ist eines davon, und es ist unbestreitbar ein berechtigtes Anliegen. Die Welt wäre in der Tat ärmer, gäbe es keine interessante Kunst.

Auch die anderen Bedürfnisse sind ohne Zweifel berechtigt. Die Kunst hat eine gesellschaftliche Funktion, durch die bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden. Diese müssen berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite stehen die Anliegen der Betroffenen: der Wunsch nicht mehr mit einer Sprache konfrontiert zu werden, die jahrhundertelang zur Rechtfertigung und Verharmlosung von Gewalt, Unterdrückung und systematischer Benachteiligung benutzt wurde. Der Anspruch, die eigene Geschichte zu erzählen und damit Gehör zu finden. Und – denn wir sollten uns keinen idealistischen Illusionen hingeben – das Anliegen, auf einem hart umkämpften Feld, in dem es nicht immer gerecht zugeht, wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Eine Entscheidung zu treffen und dabei Gründe abzuwägen bedeutet immer zu fragen, was wichtig ist und wie die Welt aussehen soll. Oft nur im Kleinen: Kaffee oder Tee? Aufstehen oder Liegenbleiben? Die Blaue Krawatte oder die Rote? Aber oft geht es um die großen Dinge: Freiheit oder Gerechtigkeit? Veränderung oder Status Quo? Immer wieder müssen wir aushandeln, welche Anliegen wichtiger sind, aus welchen Gründen sie das sind, und welche Gründe gute Gründe sind. Dies ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Aber wir tun dies tagtäglich in Bezug auf alle möglichen Fragen und sind dabei erfolgreich. Warum sollte es in dieser Frage anders sein?

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (10)

Dies ist der zehnte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9)

Das mittlerweile über 132 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

16.04.2020

 

Slata, München

Kinder sind schon immer Privatsache, ja, Privatsache von Frauen also, erstens, ist es klar, dass Frauen mit Kindern zuhause bleiben, zumindest die Verantwortung tragen für sie offiziell, und zweitens, sind sie selber schuld, dass sie Kinder haben, komisch, masochistisch. Und Akademiker und Lyriker, das sind die Letzten, die Kinder bekommen, und anfangen, sich Menschen vorzustellen, die Kinder haben, also Frauen, die mit Kindern zuhause bleiben irgendwie, offiziell, bis die Schule anfängt, bis der Hort öffnet, so Ende Mai vielleicht, vielleicht auch nicht, und dann die Sommerferien. Kein Problem, sage ich, Klar, Ich werde die Erste sein in der Geschichte der Graduiertenschule, die ihre Diss pünktlich abgibt, Ich halte mit.

 

Sonja, Köln

Ich treffe mich mit einer Freundin zum Mittagessen. Wir setzen uns auf eine Steinbank ohne Lehne und breiten das To-Go-Essen zwischen uns aus. Das Essen ist unser Abstand. Ein Kamerateam baut  sich vor uns auf. Ob sie uns was fragen dürften. Nein. Wie schmeckt deins? Zu der Coronakrise. Nein. Und deins? Nur kurz. Nein. Nächste Woche öffnen die Läden wieder. Wir essen und vermissen uns.

Marie Isabel, Dunfermline

Lockdown: Ein kurzer, unvollständiger Katalog der Veränderung im Stillstand (in no particular order)

  1. Das Wetter wird momentan von Kindern gemacht. Es besteht hauptsächlich aus Regenbögen, lächelnden Sonnen und verspäteten Ostereierschauern.
  2. Auf Spaziergängen entschuldige ich mich wortreich bei Hummeln, die in mich hineinbrummen. Fremde Abstandhalter, denen ich enthusiastisch zuwinke, quittieren das mit einem bestürzten Gesichtsausdruck.
  3. Wie sich herausstellt, teilen viele meiner Nachbarn ihr Heim mit mindestens einem Bären. Einer mit einem Dudelsack.
  4. Ich ertappe mich dabei, wie ich mein Essen rationiere. Mahlzeiten werden quasi militärisch geplant.
  5. Golfkurse eignen sich wunderbar als Parkersatz. Sieht man von Ballspielern, Radfahrern, Bunkermitsandkastenverwechslern und hundekackevergesslichen Leinenhaltern ab.
  6. Alles blüht irgendwie heller, bunter, lauter dieses Jahr. An grauen Tagen fast schrill.

Nach Monaten des Ringens um eine reguläre Schreibpraxis ist sie plötzlich da.

  1. Die kollektive Begeisterung darüber, nachts kurz nach 11 einen schon für ausgestorben gehaltenen Supermarkt home delivery slot zu ergattern, berührt unangenehm.
  2. Wochentage schmelzen ineinander. War heute Mittwoch?
  3. Fußläufe in der Umgegend sind länger geworden und erschließen neue Teile der Landkarte.
  4. Twitter entfaltet, neben seinen Rollen als Zeitfresser und Portal of Doom, neues Potential als Medium der Welterweiterung und des Zusammenhalts im poetischen Sinne.
  5. Manchmal ist mein Hunger nach frischer Luft schier unstillbar.

 

Fabian, München

Als ob das nötig gewesen wäre, aber jetzt hab ich eine neue Tastatur, und es schreibt sich nach kurzer Eingewöhnung doch recht gut damit. Noch nicht alle Tasten treffen sich mit den Fingerspitzen, vor allem die linke Shift-Taste bereitet, sobald ich darüber nachzudenken beginne, Probleme, aber auch das wird besser. Alles in allem ein schönes Gerät, auch wenn die Konfigurationssoftware, um mich den Worten eines Foristen in einem einschlägigen Forum anzuschließen, ein kompletter Fuckup ist im Vergleich mit den Versionen für ältere Geräte. Ein schönes Gerät, alles in allem zwar, aber bei der Software hat offenbar jemand um so viele Ecken gedacht, dass gar nichts auf Anhieb ordentlich funktioniert, und die Hälfte der Funktionen auch später nicht wie gedacht.

 

Berit, Greifswald

Gut ist, dass ich die Menschen mag, mit denen ich in dieser Wohnung aufeinander hänge. Meine Kinder schlafen jetzt manchmal Arm in Arm ein, sie sind sich sehr nahe gekommen, vielleicht sind sie bessere Freunde, als sie jemals zuvor waren. Vielleicht ist das wichtiger als die anderen Dinge.

Ich rechne aus, was es bedeutet, wenn die Kindergärten bis August zu bleiben, wenn ich noch viel mehr Monate alles parallel machen muss und dabei irgendwie stabil bleiben. Die Tage sind so lang geworden. Man muss in Krisensituationen Entscheidungen treffen, wenn man eigentlich überhaupt nicht dazu im Stande ist. Zum Glück habe ich das schon zuvor in meinem Leben üben müssen, denke ich gerade manchmal. Atmen, Essen kochen, weitermachen.

 

17.04.2020

 

Fabian, München

Hoffen auf mehr und jede kategorische Aussage vermeiden, jetzt tiefenentspannen und fünfzehn Kilometer zu Fuß gegangen sein, unter schönstem Spätfrühlingshimmel, blau und so sonnig und warm, dass ich mir hier nach dem Einkauf fast Sorgen mache, um die zwei Packungen französischen Käses und vier Packungen Wurst- und Schinkenaufschnitt, für die ich den Umweg, weil’s so schön war, nciht auf mich genommen habe, weil’s die gleichen Güter sehr viel direkter am gewohnten Weg gegeben hätte, und ganz ohne die dreiviertel Stunde weiteren, aber immerhin zügigen Fußwegs nach Hause, mangels praktikabler öffentlicher Verbindungen.

Beunruhigender, und selbst als das Gedränge an sich, ist die scheinbare Sorglosigkeit eines Gutteils der Mit-Konsumenten bezüglich der, zugegebenermaßen ist das schwer angesichts der vermutlich möglichst effizient angeordneten Regalreihen, einzuhaltenden Abstandsregeln. Wie unfreiwillig komisch dagegen die ab kommendem Montag geltende Verordnung des bayerischen Freistaats von Wegen jetzt einer genehmigten Kontaktperson außerhalb des eigenen Haushalts wirkt …

 

Marie Isabel, Dunfermline

Mein Tag beginnt mit einem Tombolagewinn. Eine Bekannte, die ihren Lebensunterhalt u.a. mit kreativen Näharbeiten verdient, hatte die Verlosung initiiert, um Spenden für die Foodbank vor Ort zu sammeln. Wie zeitgemäß das ist, spiegeln die BBC-Nachrichten am Abend: Die Nachfrage nach kostenlosen Essenspaketen hat infolge des Lockdown enorm zugenommen. Man spricht jetzt auch endlich darüber, dass sich im Windschatten der Pandemie eine Welle anderer gesundheitlicher Probleme anstaut: Herzinfarkte, die nicht behandelt, Krebserkrankungen, die nicht diagnostiziert werden, psychische Einschränkungen; Notfallmediziner berichten von Menschen, die auf teils brutale Weise versucht haben, ihr Leben zu beenden, von den vermehrt Hilfe suchenden Opfern häuslicher Gewalt. Die Nachrichten zeigen auch Bilder von jenen, die an Covid-19 verstorben sind, und erzählen einige ihrer Geschichten. Es schmerzt, dem zuzuhören, aber es heißt auch, wegzukommen von den Statistiken, den wertungslosen Zahlen, und daran zu erinnern, dass jede:r Verstorbene ein Individuum, eine ganze Welt für sich war, die nun verschwunden ist.

 

18.04.2020

 

Shida

Ich gehe nicht mehr ins Internet, ich lese keine Artikel mehr, seitdem geht es mir prima. Im Internet sind alle am Schimpfen und am Besserwissen, das ist im Internet immer so, mir kam es aber noch nie so feindselig vor wie in diesen Tagen. Vielleicht liegt es daran, dass aus allen Menschen veränderte Corona-Persönlichkeiten gewachsen sind und sich bisherige Allianzen und Vertrauenseben neu sortieren müssen. Ich hätte Grund, mich über die zu freuen, die meine aktuelle Lobby sein könnten, meine Lebenssituation unterstützen und kritisch bleiben. Meine neue Corona-Persönlichkeit aber hat neue Schwerpunkte, ist besessen von einer Virus-Bekämpfung und findet plötzlich eine Anschlussfähigkeit an konservativeren Haltungen, während sie feministischen Perspektiven gerade nicht wie sonst in allen Punkten dankbar zustimmt. Meine Corona-Persönlichkeit ist auf Durchhaltemodus geschaltet. Nicht nachdenken, auf keinen Fall hinterfragen, Augen zu, durch. Kein Platz für Ärger. Zu früh wach werden, arbeiten, care-arbeiten, drei Stunden Wein bzw. Tee vor Netflix bzw. Buch trinken, schlafen gehen, zu wenig schlafen. Das ist das, was ein kapitalistisches Leben normaler Weise mit uns macht und auf diese Art wird man stumpf und doof, ich weiß. Das ist mir aber gerade egal, ich muss hier einen Laden zusammenhalten (alle in meinem Laden müssen einen Laden zusammenhalten. Alle im Deutschland-Laden müssen den Deutschland-Laden zusammenhalten. Deswegen vielleicht bin ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht auf Seiten der klugen und kritischen Geister, denn sie sind nicht in den Modus mit den verkniffenen Lippen gewechselt). Weil all das ja irgendwann vorbei ist, mache ich mir keine allzu großen Sorgen, dass ich stumpf und doof bleibe.

Bleiben außerdem ja noch die 30 Minuten Spaziergang am Tag und das Hörbuch, das ich dabei höre. Ich hatte gehofft, dass die 20 Stunden nicht nötig sein werden, um Corona zu überstehen. Das hat sich also erledigt und langsam lacht man ja doch über das einstige Ich, das mal dachte, in ein paar Wochen sei der Spuk vielleicht vorbei. Bei meinen Spaziergängen hier auf dem Land habe ich noch keine Menschenseele getroffen. Ich gehe an Vorgärten vorbei, in denen die Menschen weiterhin mit ausgewählten Freund:innen im 2m-Abstand Kaffee und Kuchen trinken und freundlich winken. Bei denen sieht es irgendwie immer so aus, als würde es ihnen richtig gut gehen. Wenn sie sich verabschieden, geht es ihnen vermutlich wieder so, als hätten sie etwas Verbotenes getan (haben sie ja auch) und als wäre es das schale Gefühl nach einem Abschied ohne Berührungen irgendwie auch nicht wert gewesen.

 

Fabian, München

Den ganzen Tag lang Pynchon und Sauerteig und Haushaltsalltäglichkeiten und sonst gar nichts und gut ist’s und tut’s, wenn über’n allfälligen Kontakt und die üblichen Verdächtigen gar keine Welthaltigkeit den Tag kerbt. Zum Teil ist das natürlich nicht ganz wahr, aber gefühlt genug, um sich soweit optimistisch von den acht Stunden der ersten vier Kapitel von Gravity’s Rainbow aufmerksamkeitstechisch überfordern zu lassen und doch zumindest das Gefühl zu haben, bis jetzt noch nicht völlig den Faden verloren zu haben. Andrerseits rückt jetzt mal endgültig die Aussicht, dieses grandiose Monstrum von Buch in näherer Zukunft noch’mal zu ende zu lesen, in nicht absehbare Ferne.

 

19.04.2020

 

Slata, München

Die Einträge im Kollektiven Tagebuch bleiben aus, weil es den Leuten so gut geht auf einmal, seit den Lockerungen der Coronamaßnahmen, oder weil es ihnen so schlecht geht vielleicht. Mir geht es weder gut noch schlecht, mal so, mal so, auf ungewohnte Weise jeweils, ich übe mich in Geduld, gieße Kürbisse auf dem Balkon, versuche Wutausbrüche zu vermeiden, die Wut nicht auf Unschuldige zu projizieren, denn wer hat schon Schuld, an irgendwas, wahrscheinlich bin ich die Einzige, die etwas vorausgesehen haben müsste, umsortiert, vorbereitet, ein Beispiel an innerer Ausdauer und immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen, so müsste es sein. Die Diskrepanz zwischen Sein und Soll macht mich fertig. Und keinerlei Maßstäbe, keinerlei Gewissheiten, ob das, was ich eigentlich tue gerade, eher, was ich alles nicht tue, ob es alles einen Sinn hat und ob ich jetzt zu den gesetzestreuen, pedantischen, ängstlichen Bürgern gehöre, die ich verachtet habe.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Irgendwie haben wir es geschafft, uns mit dem Wochenende zu umspinnen, einem Kokon aus sommersprossenhervorlockendem Sonnenschein, einer Wanderung durch nahen Wald, an (irgendwie wieder mehr befahrenen) Straßen entlang und über frühlingsbestelltes Ackerland. Uns vollzusaugen mit Sonnenschein und Vogelspäherei (das erste Schwalbenpärchen!), Ruhe und Himmelblau, Zweisamkeit und Zweialleinsamkeit (je nach Bedürfnis). Uns zu beschäftigen mit Putzen, Backen, Kochen, etc.; die Liste der sich stets magisch erneuernden Hausarbeiten ist zum Alltagsanker in dem Meer aus Seltsamkeiten und unerträglichem Politikerversagen geworden [https://twitter.com/thesundaytimes/status/1251563504118771712?s=20], das momentan an unser Zuhause anbrandet. Zum Lesen reicht die Konzentration nur seitenweise, dabei ist der Wunsch durchaus da. Mein Mann steigt den Ben Nevis auf unserer kleinen Haustreppe hinauf und hinunter. Beim Abendbrot frage ich ihn, ob er unterwegs viele Leute getroffen hat. Er meint, auf dem pony track sei ja immer viel los. Die BBC strahlt One World: Together at Home aus, ein musikalisches Dankeschön an keyworkers on the front line – Wohlfühlfernsehen [https://twitter.com/jonoread/status/1251956332284063745?s=20]. Während die Rolling Stones in sozialer Distanz gemeinsam spielen You Can’t Always Get What You Want liege ich in der Wanne und simuliere ein Wellenbad (den Gelenken fehlt die Wassergymnastik). Andere Länder, Deutschland, Österreich, Dänemark, führen langsam Lockerungen ein. Hier diskutiert man darüber, ob man schon über eine Exit-Strategie diskutieren sollte. Ich häkele heftig weiter am Kokon.

 

Viktor, Frankfurt

Ich traue mich manchmal nicht, über etwas zu sprechen, was ich selbst als ein Problem begreife, aber wofür ich noch keine Lösungsideen habe. Seit Anfang der Corona-Krise beobachte ich unter Menschen, die ich alle einer ähnlichen Sozialisation zuordnen würde, sehr unterschiedliche Reaktionen und sehr unterschiedliche Emotionalität im Umgang mit der Krise. Grob umrissen: Es geht um die Frage, was der „vernünftigste“ Umgang mit der Krise ist, harter Lockdown oder Lockerung und mit der Krise leben lernen?

Unnötig zu sagen, dass es immer die persönliche Situation ist, die eher zu der Lockdown- oder zu der Locker-bleiben-Seite zieht. Das ist banal. Viel wichtiger – und trauriger – finde ich, dass es offensichtlich der einen wie der anderen Seite schwerfällt, empathisch mit der anderen Seite zu sein. Mit empathisch meine ich vor allem, die Motive der anderen Seite zu verstehen (nicht sie auch zwingend zu teilen).

Wut entlädt sich.

Es gibt Streit.

Und dabei übersehen wir oft, dass das, was uns aufregt, oft das ist, was wir selbst nicht aussprechen.

Ich hatte selber ein wenig Angst vor der Situation: Vater, Lehrer, Unterhalter und Versorger zu sein. Zu viele Rollen auf einmal, weniger Zeit für eigene Belange. Dann habe ich darauf geachtet, wann ich die Nerven für welche Rollen hatte und wann nicht. Hat nicht immer funktioniert, aber meistens hat das dann funktioniert, wenn ich mich in keine Rolle zwang. Bewegung hilft mir und meinem Sohn, viel Bewegung. Danach funktioniert das Lernen gut und die Motivation muss nicht mit Handy-Zocken oder YouTube-Schauen erkauft werden.

Aber das funktioniert nicht bei jedem und jeder, weil zB kein Park in der Nähe ist, oder einfach zu viele Menschen auf engem Raum sind. Was aber meiner Meinung nach immer hilfreich ist, offen auszusprechen, dass man/frau gerade wütend ist, oder hilflos oder einfach nur müde. Aber dafür muss mensch zuerst ehrlich zu sich selbst sein.

 

Fabian, München

Der Mensch ist, oder ist der Mensch, wenn er spielt, oder, der Mensch ist, was auch immer, wenn er irgend’was, spontaner Gedanke, um zu, irgend’was, bedenken, dass es vermutlich tatsächlich kein Modell gibt, das dieses epistemologische Etwas, um von allen möglichen Naturalisierungen menschlichen Verhaltens, ich bin sicher, ein komplexerer Gedanke, der mehr zu bieten hätte, oder weniger reduzierte, ruht im <hintergrund des Denkens grade hier und ist, wie üblich, dabei sich zu verflüchtigen, bevor er Wore gefunden hätte, und grade lässt sich das gut beobachten, nicht wesentlich anders, nur monotoner als sonst, treffend, beobachten, dass, quasi, torum pro parte, oder eher, ganz oder recht grenzdebil oder -verliebt, civitas, oder doch eher poplus pro civibus, schön, beobachten, dass alle Beteiligten die Funktionen der Menschen für die statt in der Gesellschaft doch eher recht arg auf ein paar viel weniger diffus zwischen Vergnügen und den Schrecklichkeiten der und in der Welt changierende semantische Felder reduzieren. Vielleicht macht das jede Krise, oder vielleicht machen das alle Menschheiten der Geschichte mit ihren Krisen, die Aufmerksamkeiten solange, oder mindestens ein paar Wochen lang so zu konzentrieren, dass man sich, oder als ganzes , die, dran gewöhnt, um mit dem funktionalen Differenzieren fortzufahren.