Kategorie: Kolumne

Offenes Selbstbild, verkrustete Strukturen [Queering Literaturbetrieb]

Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

eine Kolumne von Kevin Junk

 

Literatur gab mir mein Leben. Sie zeigte mir, dass mein Begehren seinen Platz in der Welt hatte. Um es mit trans YouTuberin Natalie Wynne zu sagen: „The only good thing about being gay is doing gay shit.“ Und den fand ich in der Literatur: Klaus Manns unglückliches Verliebtsein, Genets brachiales Begehren, Mishimas schüchterne Zärtlichkeit, Schernikaus süffisante Affären. Ich fand ihn auch bei Else Lasker-Schüler, die zumindest mit Queerness spielt, so wie sie mit dem Verliebtsein kokettiert, als wäre es eine Droge, die gerade erst synthetisiert wurde. Ich lernte von Audre Lorde über das Begehren, über die Politisierung von Körpern und Intersektionalität. So viele queere Intellektuelle fütterten mein Selbstverständnis als schwuler Mann. Aber diese Texte waren alle Zeugen ihrer eigenen Zeit. Was war mit meiner Gegenwart?

Unsere Stimmen haben gesamtgesellschaftliche Relevanz

2019 sah ich Ocean Vuong auf dem Berliner Literaturfestival. Auf die Frage, wie er queeres Schreiben verorte, antwortete der amerikanische Autor, dass wir als queere Personen eine Verantwortung für die Gesellschaft haben. Denn wir sind in der Lage, so beschrieb es Vuong, Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Diese Perspektive habe ihre Berechtigung und einen Wert, den wir als Schreibende nicht vergessen dürften. Das hat mich beeindruckt und den Blick auf meine eigene Arbeit nachhaltig geändert. Für mich heißt das nicht, dass ich einer mehrheitlich cis-geschlechtlichen, heteronormativen Gesellschaft mein queeres Begehren erklären muss. Aber ich adressiere auch kein exklusiv queeres Publikum. Meine Texte sind kein Nischenphänomen – sie sind die Arbeit eines Autors, der auch ein queerer Mann ist. Muss man ein queerer Mann sein, um über zwei Männer zu lesen, die sich verlieben? Kann ich denn keine Lust dabei empfinden, wenn Audre Lorde in einem Gedicht den Sex mit einer Frau beschreibt? Kann ich als schwuler Mann denn nicht die Liebe zwischen zwei cis geschlechtlichen Heteromenschen in einem Film sehen wollen (wobei ich davon, wenn ich ehrlich bin, genug hatte)? Von trans Männern und ihrem Schreiben dürfte ich mehr über Männlichkeit gelernt haben als von vielen cis Männern. Unabhängig von unserer intersektionalen Verortung sind wir alle Menschen und wenn Literatur eines ist, dann eine Übung in Menschlichkeit, in Vorstellungsvermögen und in Mitgefühl. Literatur ist für mich ein Raum kritischer Reflexion, von erotischer Freude und von rationaler Stärke. Literatur kann so viel sein – aber der deutsche Literaturbetrieb zensiert sich selbst.

Wer will schon einem queeren Arbeiterkind zuhören

Als queerer cis Mann, als neurodiverse Person, als Arbeiterkind finden so viele Aspekte meines Erlebens nur selten in kulturellen Erzeugnissen statt. Erst recht nicht gleichzeitig. Mir wurde bei Weitem kein Selbstverständnis im Umgang mit kultureller Produktion auf den Weg mitgegeben. Das ist keine Anklage an meine Herkunft – mehr eine Beschreibung von realen Verhältnissen. Meine Herkunft konnte ich erst durch die Reflexion mit Freund*innen spiegeln, denen dank ihrer Bildung, ihrer Klasse und ihrer Herkunftsfamilie mehr soziales und kulturelles Kapital gegeben war.

Bereits in der Grundschule hielt meine Klassenlehrerin mich für sprachlich wenig begabt. Sie attestierte mir, dass meine sprachlichen Fähigkeiten nicht für das Gymnasium ausreichten und schickte mich auf die Realschule. Als ich Jahre später vom Begriff „Kevinismus“ hörte, wurde mir klar: Vielleicht gab es einen Grund, warum die Bernds und Hannahs auf das Gymnasium kamen, Kevins und Kerstins aber nicht. Auch ein Kevin kann schreiben, das musste ich mir immer wieder sagen. Schreiben lernt man nur vom Schreiben, sagte mir eine Deutschlehrerin. Recht hat sie – und ich wollte Schreiben lernen, daran bestand kein Zweifel.

Aber Arbeiterkind sein, das hieß für mich: Scham. Also lieber verschweigen. Ich bin schon schwul, jetzt muss ich meine intersektionalen Mühen nicht noch verschlimmern und mich damit belasten, dass ich mir Bildung erarbeiten und zum Teil erkämpfen musste. Ich wollte einfach ein belesener junger Mann sein, der sich zwanglos mit Literatur auskennt. Ich bin ein Literaturnerd – aber habe ich was zu schreiben? Bestimmt nicht, wenn ich auch noch meine Mehrfachdiskriminierung zur Schau stelle. Mir war noch nicht klar, das genau darin mein kreatives Potenzial liegt.

Nerdgasm: Die erotische Kraft der Gegenwart

Ich war 20, als ich nach Berlin kam. Ich verlor mich im intertextuellen Austausch zwischen den schwulen Literaten des 20. Jahrhunderts, las Kurzgeschichten von Mishima über Radiguet, jagte nach alten Klaus Mann-Romanen auf dem Flohmarkt. Ich hatte schon ein Promotionsthema in der Schublade. Ich wusste, wo ich hinwollte. Wie so oft kam es anders. Wenn alles glatt gelaufen wäre, wäre ich dank des Vorsprungs, den ich durch mein Frühstudium hatte, noch mit 22 oder 23 mit dem Master fertig gewesen. Aber nach den sehr früh begonnenen Jahren in der akademischen Welt, fehlte mir etwas. Ich wollte am Leben teilhaben, wollte in dieses Berlin eintauchen. Ich wollte nicht nur in queerer Literaurgeschichte sein, ich wollte queere Lebensrealität erfahren. Was war all die Forschung wert, all das Lesen, wie sollte ich jemals selbst schreiben, wenn ich nie am Leben teilgenommen hatte?

Ich war ausgebrannt von der Universität und verliebt in die queere Gemeinschaft, die ich auf Tanzflächen und in Toilettenkabinen fand. Das, was ich auf den Seiten von Büchern zwischen den Zeilen durchscheinen zu sehen glaubte, was ich aus Party Monster kannte (die zärtliche Hassliebe zwischen Seth Green und Macaulay Culkin), diese erotische, alles durchdringende, radikal am Leben teilhabende Energie, ich hatte sie gefunden. Meine Herkunft war egal, meine akademischen und intellektuellen Leistungen waren egal, ich hatte durch meine bloße Existenz bereits kulturelles Kapital und Teilhabe. Kleidung, Tätowierungen, Habitus: Sie wurden zur Währung in einer Gemeinschaft, die sich außerhalb von heteronormativen Räumen bewegte. Flirts, Küsse, Musik: Sie wurden zu kleinen Ritualen der Aufmerksamkeit, zu Wertschätzung in einer Welt, in der wir als queere Menschen nicht begrüßt wurden. In einem Raum voller queerer Menschen zu stehen und zu tanzen hat mich befreit, weil wir uns in diesen Momenten unsere Lust und unsere Lebensfreude zurückholten.

Der Bruch zwischen der geradlinigen Akademia und dem frei schwebenden Zustand außerhalb von Bildungseinrichtungen und hinter gut bewachten Clubtüren, eröffnete mir eine neue Perspektive auf mein Leben als queerer Mann. Ganz auf mich gestellt, mit der Aufgabe betraut, meinem Leben selbst Richtung zu geben, hatte ich hier Inspiration gefunden. Meine Herkunftsfamilie konnte mir keine Karrieretipps geben, genausowenig konnte meine kulturwissenschaftliche Ausbildung mich auf ein Leben außerhalb der akademischen Weltvorbereiten.

Nach Jahren der Analyse von Romanen und Texten, nach Jahren der Theorie, war es an der Zeit, in die Praxis zu gehen. Ab 2013 schrieb ich regelmäßige kultur- und gesellschaftskritische Essays auf einem mittlerweile eingestellten Blog. Meine Essays zur Gegenwartskultur mündeten dann irgendwann in den Band “Berliner Befindlichkeiten”, den ich 2015 bei Culturbooks veröffentlichte. Aber ich  wollte einen Roman schreiben, der die Gegenwart in den Blick nahm, eine Geschichte erzählen, die Relevanz hatte, ohne dabei meine eigene Biografie in den Mittelpunkt zu stellen (das können Mittelschichtskinder bestimmt besser). Ich wollte von der erotischen Kraft der Gegenwart erzählen, so wie ein Genet mir von der erotischen Kraft eines Seemanns erzählt.

Wie ein Roman funktionierte, wusste ich durch Jahre der Analyse – aber wie schrieb man einen? Die Falle autobiografischer Nabelschau löste ich durch eine auf mehrere Figuren aufgeteilte Geschichte. Der Schreibprozess absorbierte mich komplett, so sehr, wie mich sonst nur akademisches Arbeiten absorbiert hatte. Feedback aus meinem direkten Umfeld gab mir das Gefühl, dass ich mit dem Text nicht komplett daneben lag. Also schloss ich den Roman ab und suchte mir eine Agentur. Glücklicherweise sah eine Praktikantin, wie mir eine spätere Agentin erzählte, das Potenzial im Text. Insgesamt sollte ich mit drei Agent*innen arbeiten, die mir alle das gleiche sagten: Es ist ein toller Text, du hast eine Stimme. Aber das Thema, die Figuren, das Set-up – das wird schwierig. Niemand sagte es so gerade heraus, aber der Roman war zu queer. Kein großer Verlag würde sich an den Stoff trauen.

Kann ein Roman zu queer sein?

Da war ich nun mit einem Manuskript in der Hand, das ich im Laufe der Jahre immer wieder anpasste, an dessen Relevanz ich glaubte, das mir als veröffentlichungswürdig attestiert wurde, und doch war etwas falsch daran: Es war nicht mein Talent, es war meine Geschichte. Es war die Beschreibung einer Realität, die scheinbar in der Literatur nicht sein durfte. Hätte ich den Roman einfach auf eine eher straighte Storyline umschreiben sollen? Nein, auf keinen Fall.

Ich wartete auf Mails von Agent*innen, hoffte auf eine Zusage und irgendwann gab ich auf. Ich hatte keine Hoffnung mehr in der Prosa. Zugleich hatte ich kleine Erfolge mit lyrischen Veröffentlichungen: Hier war ich nicht zu queer, hier konnte ich gar nicht queer genug sein. Vielleicht weil man mit Lyrik ohnehin kein Geld macht. Mit Lyrik wurde ich zu Anthologien eingeladen, von Magazinen zur Einsendung aufgefordert, fand Freundschaften und war Teil von Lesungen. Dann eben Lyrik, dachte ich mir. Aber die Prosa ganz aufgeben? Dazu war ich nicht bereit. Ich kann nicht sagen, ob es Sturheit oder Selbstbewusstsein war, aber als ich die Chance hatte, persönlich mit einem Verlag zu sprechen, brachte ich den Roman wieder auf den Tisch. Wir tauschten uns aus, wir näherten uns an – für den ersten schwul-lesbischen Verlag Deutschlands konnte ein Buch zumindest nicht zu queer sein. Während diese Zeilen entstehen, liegt das Romanmanuskript in den letzten Zügen des Lektorats – nach 8 Jahren Arbeit am Text wird „Fromme Wölfe“ im März 2021 im Querverlag erscheinen. Ein weiter Weg, der sich, um ehrlich zu sein, für den Roman als Projekt gelohnt hat. Aufgeben war nie eine Option.

Es gibt zu viele Barrieren

Karten auf den Tisch: Ich bin froh, in einem queeren Verlag zu veröffentlichen, fühle mich in der Autoren-Verleger*innen-Beziehung aufgehoben. Was ich dem allgemeinen Literaturbetrieb aber guten Gewissens vorwerfen kann, ist dass das offene tolerante Selbstbild leider mit der Realität kollidiert. Als schwules Arbeiterkind muss ich sagen: Es gibt viele unsichtbare Barrieren. Diese Barrieren sind in den Köpfen des Literaturbetriebs. Niemand will es zugeben, niemand will sein*ihr offenes Selbstbild mit der Realität kollidieren lassen. Aber die Barrieren werden anfassbar, wenn Aussagen kommen wie: “Das wird schwer zu veröffentlichen.” Diese Barrieren hemmen meine Finger beim Tippen und sie machen mich vorsichtig. Will ich veröffentlicht werden oder will ich mein Leben ungehindert ausbuchstabieren? Ich will ja noch nicht mal provozieren, ich will ja noch nichtmal anklagen, aber das, was für mich selbstverständlich ist, das wird bereits als Schreiben gegen Normen lesbar. Wo liegt der Unterschied zwischen einem nicht-veröffentlichten Roman, der aufgrund seiner schwulen Figuren nicht zu verkaufen ist, und den Menschen, die mich anspucken, weil ich schwul bin? Es fällt mir schwer, beides zu trennen, denn beides ist in letzter Konsequenz: homofeindlich. Beides limitiert meinen Ausdruck in der Welt, nur weil ich mich in Männer verliebe.

Zugleich ist der Literaturbetrieb reich an Beispielen, die meine Argumente widerlegen könnten. Wurde nicht Mishima kürzlich wieder aufgelegt? Gibt es nicht queere Arbeiterkind-Geschichten von Édouard Louis? Was diese beiden Beispiele gemein haben: Sie sind nicht in der deutschen Gegenwartskultur entstanden. Scheinbar kann das queere Erzählen im deutschen Literaturbetrieb nur als das andere, das übersetzte oder das historische passieren. Wir brauchen mehr queere Stimmen, wir brauchen einen ganzen Chor, der die Vielfalt und die erzählerische Kraft einer queeren Perspektive auf die Welt zeigt.

Aber die strukturellen Bedingungen machen es mehrfach diskriminierten Menschen nicht leicht, ihre Geschichten zu erzählen. Doch dafür genügen nicht Autobiografien queerer Menschen, die ihre Berechtigung haben. Es braucht jede mögliche Form des kulturellen und literarischen Ausdrucks, in jeder Form, von autobiografisch bis Science-Fiction. Wir können mehr als eine tokenisierte Sprecher*innenposition, aus der queere Menschen nicht ausbrechen dürfen Was wenn ich nicht so beharrlich gewesen wäre? Was, wenn mir Agent*innen und Weggefährt*innen nicht immer wieder Mut gemacht hätten? Wie viele Menschen gibt es, die weniger Privilegien haben als ich, die relevante und schöne und politische Geschichten zu erzählen hätten, aber leider nie die Chance auf eine Veröffentlichung bekommen?

Audre Lorde sagt in ihrem Essay “The Uses of the Erotic”, dass das erotische Erleben kein Zurück kennt:

Es drückt sich als ein inneres Gefühl von Befriedigung aus, das wir, sobald wir es einmal erfahren haben, immer wieder anstreben können. Weil wir die reiche Tiefe der Gefühle und die ihnen innewohnende Kraft erfahren haben, erwarten wir aus Ehre und aus Respekt vor uns selbst nicht weniger als eben diese Fülle von uns. [1]

Genau dieses Erleben speist literarisches Schreiben. Genau dieses Erleben speist mein Verständnis von Literatur. Und weil ich nicht weniger von mir erwarte, als genau mit dieser erotischen Kraft zu arbeiten, kann ich mich nicht zensieren. Als queere Schreibende haben wir die Chance unsere Lebensfreude, unsere Lust und unsere erotische Kraft in Texte zu gießen. Als queere Kulturschaffende können wir zu einer besseren, zu einer offeneren Gesellschaft beitragen. Wir haben das Privileg Räume der Gemeinschaft zu schaffen, unsere Imagination dazu zu nutzen neue Möglichkeiten des Mitfühlens zu schaffen. Unsere Geschichten haben Relevanz, gerade weil sie sich nicht in das heteronormative Normgefüge einordnen lassen. Wir müssen uns dabei nicht für unsere Queerness rechtfertigen, sie erklären. Sie darf einfach sein – denn auch wir verlieben uns, auch wir altern, auch wir kennen Rassismus. Auch wir schlendern durch Wälder und schreiben Gedichte. Auch wir haben etwas von Bedeutung und von Schönheit zu erzählen. Queere Autor*innen sind bereits ein integraler Teil der Literaturgeschichte und wir werden weiterhin da sein. Doch der deutsche Literaturbetrieb ist weniger mutig, weniger offen, als er sich gerne sehen will. Deswegen: Queering Literaturbetrieb. Und zwar jetzt.

 

[1] “It is an internal sense of satisfaction to which, once we have experienced it, we know we can aspire. For having experienced the fullness of this depth of feeling and recognizing its power, in honor and self respect we can require no less of ourselves.”

 

Photo by Jonathan Kemper on Unsplash

 

Der Pionier – ‘This American Life’ macht das Persönliche politisch [Podcast-Kolumne]

von Svenja Reiner

Ich bin mit der medial geprägten Vorstellung aufgewachsen, dass es sich bei den Tagen vor Weihnachten vor allem um eine romantische und besinnliche Zeit handelt. Glühwein, Weihnachtsmärkte und halb geöffnete Wintermäntel gehören zu den wichtigsten Accessoires einer guten Romcom, in der Schnee nur leise und vor allem so wohldosiert rieselt, dass keine Frisur zerstört und keine Mascara verwischt wird. Bis heute verfolge ich diese Filme mit großer Faszination, obwohl oder weil sie so fürchterlich wenig wie meine eigenen Feiertage aussehen. Der ästhetische Versuchsaufbau von Podcasts hingegen zielt ja eher auf das zynisch rationale Ohr denn auf das verliebte Auge, und folglich ist eine meiner Lieblingsfolgen von This American Life (TAL) die Nummer 47.: Christmas and Commerce.

Streng genommen ist TAL kein Podcast, sondern eine Radioshow, aber seit jeder Audiocontent, der ins Internet geladen wird, “Podcast” genannt wird, sehen wir das an dieser Stelle nicht so eng. TAL wird seit 1995 wöchentlich von Ira Glass gehostet und hat seitdem unglaubliche 619 Folgen produziert. Für seinen Storyjournalismus, mit dem TAL viele folgende Podcasts geprägt hat, wurden die Macher:innen mehrfach ausgezeichnet – zuletzt mit dem Pulitzer Prize, der zum ersten Mal an eine Radioshow oder einen Podcast vergeben wurde. Aus der TAL-Redaktion sind eine Reihe von weiteren erfolgreichen Podcaster:innen hervorgegangen, wie Sarah Koenig (Serial), Brian Reed (S-Town), Alex Blumberg (StartUp), Alix Spiegel (Invisibilia) und Jonathan Goldstein (Heavyweight). Lulu Wang schrieb ihre Story What You Don’t Know sogar in den erfolgreichen Kinofilm The Farewell um.

Obwohl der Titel Böses ahnen lässt, ist Christmas and Commerce keine trockene Konsumkritik am Ausverkauf von Weihnachten, sondern featured zwei der charmantesten und weirdesten Autoren, die als freie Mitarbeiter über viele Jahre Geschichten beigesteuert haben: David Rakoff und David Sedaris. David Sedaris ist in Deutschland spätestens seit der Veröffentlichung seiner Kurzgeschichtensammlung Calypso bekannt. In Santaland Diaries, der Nacherzählung seiner Weihnachtstage von 1986, etabliert er jenen humorvoll plauderigen, sarkastischen und sehr selbstironischen Ton, mit dem er seitdem tragische Geschichten aus seinem Leben erzählt. Zum Zeitpunkt der Erzählungist Sedaris 33 Jahre alt und nimmt den Job eines Weihnachtselfs im SantaLand der Kaufhauskette Macy’s an. Nach seiner ursprünglichen Vorstellung dieser Beschäftigung (“I told the interviewers that I wanted to be an elf because it was the most ridiculous thing I’d ever heard of”), stellt sich heraus, dass das ganze Unterfangen doch anstrengender und deprimierender ist als ursprünglich gedacht. In samtgrünen Elfhosen, zwischen riesigen Zuckerstangen und mechanisch tanzenden Pinguinen trifft Sedaris auf einen Reigen alltäglicher menschlicher Grausamkeiten: Sexistische Männer, rassistische Mütter, minderjährige Fisher Price-Models, entnervt schreiende und schlagende Eltern, Kinder, die sich verstorbene Familienangehörige zurückwünschen. 

Auch innerhalb des Weihnachtswunderlandcasts wird gelogen, betrogen, verletzt und gedemütigt. Die meisten Darsteller:innen sind junge Schauspieler:innen, die an den Broadway wollen, und die entsprechend verbittert darüber sind, Entrance Elf, Water Cooler Elf, Santa Elf oder Cash Register Elf spielen zu müssen. All diese Erlebnisse erzählt Sedaris tagebuchartig, so laid-back wie die E-Gitarre, die im Hintergrund klimpert, und macht gemeinsam mit der Santa Claus Is Comin’ to Town stolpernden Hammond Orgel ein realistisch New York zwischen all dem Kunstschnee sichtbar.

Eine andere Form der Begegnung macht der mittlerweile verstorbene David Rakoff, der viel nüchterner und schneller einsteigt: “I am the ghost of Christmas subconscious. I am the anti-Santa. I am Christmas Freud.” Rakoff verbringt die Tage vor Weihnachten ebenfalls in einem Verkaufsraum. Die New York Filialen von Barney’s verzichten auf klassische Dekorationen und widmen jedes ihrer Schaufenster einer historischen Persönlichkeit. Rakoff ist der einzige engagierte Schauspieler, und er spielt Sigmund Freud. Zunächst kommt er sich lächerlich vor, dann verschwimmen auch hier die Grenzen: Rakoff läd Freund:innen auf die Couch ein, mehr als eine Sitzung endet in Tränen. Das Schaufenster wird trotz Publikum weniger Aquarium als Versteck. Ist Rakoff, selbst Analysepatient, Therapeut geworden? Ist Freud der echte Weihnachtsmann? Gibt es wahre Intimität unter Aufsicht von Kaufhauskameras? Auch Rakoff trifft einen Kinderstar und bleibt nach dem zweireihigen Lächeln, den strahlenden Augen und der Intensität ihrer Worte zerrüttelt zurück. 

Vielleicht, so überlegt er zuletzt, liegen in den Liedern von Doris Day, Mae West oder Marlene Dietrich, mit denen das Kaufhaus die feierliche Zeit bespielt, die eigentliche Tragik. Heimliche Lieben, verlorene Geliebte, der Wunsch nach Verbundenheit mögen von Kritiker:innen nach wie vor als (zu) simple Themen oder vorhersehbare Plots belächelt werden. Trotzdem geben sie Einblicke in die unerreichbare Wunschvorstellungen vieler Menschen, in emotionale Bedürfnisse und die Tragik und Schwere von Einsamkeit.

Die musikalische Begleitung der Folge ist fantastisch: Neben der Auftragskomposition Christmas Freud Caroling von The Formerly Known As Family hören wir Sedaris, wie er Away in a Manger interpretiert “the way Billie Holiday might have sang if she had put out a Christmas album”. Wir hören verzerrte Stimmen, schiefe Tonlagen, dramatische Intonationen, die die erwarteten Christmas-Klassiker dehnen und biegen, bis sie endlich passen, denn: “Christmas is the time when everybody is who they normally are, but more so.”

Während Sedaris’ mit der Feststellung endet, dass Macy’s Weihnachtsland weder Kinderträume erfüllt noch das Weihnachtsmärchen wahr werden lässt, sondern einzig dazu da ist, elterlichen Vorstellung zu entsprechen, endet Rakoff ungleich sehnsüchtiger. Am Ende seiner Amtszeit sträubt es sich in ihm, das Schild abzunehmen. “I know this will pass, but for now I want nothing more than to continue to sit in my chair, someone on the couch, and to ask them, with real concern, ‘So tell me, how’s everything?’”.

 

Kassiber aus den Nischen des Alltags – Über Sorgearbeit vs. künstlerische Arbeit

von Jasper Nicolaisen

 

„A room of one´s own“ – Ein Zimmer ganz für sich, so lautet eine alte, aber leider keineswegs überkommene Forderung feministischer Künstler*innen. Virginia Wolf brachte in ihrem Essay von 1929 die Notwendigkeit auf den Punkt, dass Frauen für ihre Arbeit als Künstlerinnen – hier: Autorinnen – eben auch die grundsätzlichen Bedingungen ungehinderter, ungestörter Betätigung brauchen, wie sie Männer damals wie heute für selbstverständlich nehmen. Dieses „eigene Zimmer“ steht natürlich auch stellvertretend für den „Freiraum“, den ein solcher physischer Rückzugsort erst ermöglicht. Muße, Stille, Sich-Versenken-Können, Eintauchen in den Flow, Gelegenheit zur Detailarbeit, zum Verbessern, Überarbeiten, eben Raum, Zeit und Gelegenheit etwas zu tun, das keinem unmittelbaren Zweck dient.

Ein solcher Platz, eine solche Tätigkeit gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Erwartungen, die damals und allzu oft auch noch heute an Frauen gerichtet werden, nämlich die scheinbar zweckfreie Tätigkeit, die künstlerische Arbeit doch bitte abseits der täglichen Pflichten zu verrichten. Wenn alles erledigt ist, dann bitte gerne, schreibt, ihr Frauen, so viel ihr wollt, es kann ja auch was Schönes dabei rauskommen, und ein nettes Hobby hat noch keiner geschadet. Nur die Wohnung muss geputzt sein, der Einkauf gemacht, die Kinder versorgt und möglichst schon im Bett – und wenn eines aufwacht, dann bitte das Geschreibe unterbrechen, der Gatte muss sich ausruhen. Wer schon einmal hauptsächlich für die Sorgearbeit – so unser zeitgenössischer Begriff – verantwortlich war, weiß nur allzu gut: es hört nie auf, der Haushalt ist nie fertig und irgendein Kind wacht garantiert immer genau dann auf, wenn eine den Computer hochgefahren und die ersten Sätze getippt hat, wenn du denn vor lauter Müdigkeit überhaupt dazu kommst.

In meinem Fall zum Beispiel – und ich bin nicht mal eine Frau, sondern ein verpartnerter Mann, der zurzeit keiner Erwerbsarbeit nachgeht, sondern „nur“ einer freiberuflichen Tätigkeit, also noch relativ gut dran, im Vergleich mit den meisten Frauen zu Woolfs Zeit und auch heute noch – in meinem Fall tippe ich jetzt um kurz nach halb neun (abends) am Küchentisch, und mein Mann kommt rein und meckert, ich solle doch nicht immer seine Schlafhose waschen, die fehle ihm dann zur Nacht. Immerhin bringt er das größere Kind ins Bett. So kann ich schreiben, aber gleich, gegen neun, ruft jemand an, wegen meiner freiberuflichen Tätigkeit. Also tippe ich sehr schnell und achte erstmal wenig auf Schreibfehler. Meine Beiträge sind ohnehin immer legendär voll mit Schreibfehlern und Flüchtigkeitskommas. Ich habe oft keine Zeit, alles noch mal durchzulesen oder eine Nacht drüber zu schlafen.

Trotzdem schreibe ich – und nicht nur als Hobby. Für Geld, weil mir was wichtig ist, um mich auszudrücken, um an Diskussionen teilzunehmen, Zeitgenosse zu sein, um eine wichtige Seite meiner selbst zu erleben, aus Eitelkeit, for fun. Gut, dass das klappt.

Natürlich könnte ich viel mehr darum kämpfen, abends wirklich frei zu haben. Vielleicht sogar ganze Nachmittage. Tage! Wochenenden! Warum ich das nicht genug tue, also, das ist Stoff für eine Psychoanalyse oder wenigstens für einen viel längeren – ich traue mich gar nicht zu sagen – Essay, als ich ihn heute zwischen halb neun und neun schaffe. Kindheit, Konfliktverhalten, Selbstbild, man kennt es.

Natürlich könnte ich auch das, was mir im Leben am Wichtigsten ist, Schreiben, tatsächlich an erste Stelle stellen. Ich könnte mich scheiden lassen, die Kinder verlassen oder nur noch im Wechselmodell betreuen.

Tatsächlich liegt mir aber was an der Familie, auch wenn sie mich oft nervt. Das ist ja gerade die Falle, wie sie auch viele Frauen kennen. Die Sorgearbeit nervt, aber die Menschen, denen sie gilt, sind einem wichtig. Nicht immer sind diese Verhältnisse ausbeuterisch, voll Zwang, ein Gefängnis. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass mich die Familie auch als Autor weiterbringt. Sie verschafft mir Stoff, Stimmen, Dialoge, Figuren, die ich oft ziemlich eins zu eins weiterverwurste. Sie ist Hallraum, gibt mir Feedback, kritisiert und ermuntert mich. Sie gibt mir Sicherheit und schafft, bei aller Belastung, ein angstfreies Klima zum Schreiben. Was nützt mir alle Zeit der Welt, wenn ich von Ängsten und Neurosen geplagt am Schreibtisch sitze?

Ich kenne zu viele Kolleg:innen, die außer Schreiben nichts haben. Und die meisten Autor:innen rücken ja niemals in die finanziell und statusmäßig gut versorgten Ränge vor. Sie hangeln sich von Buch zu Buch, von Kleinverlag zu Kleinverlag, müssen immer wieder um Aufträge, Chancen und Wahrnehmung kämpfen. Das zehrt, wenn man irgendwann begreift, dass der Durchbruch nicht mehr kommt, dass man ewig ein:e Autor:in des Mittelfeldes bleiben wird. Wenn dann an das eigene Zimmer kein anderes anschließt, wird es schnell einsam, krank, von Süchten und Ängsten geplagt.

Manchmal habe ich sogar den Eindruck, die Familie, das Hickhack um die Sorgearbeit macht mich als Autor besser. Erstens habe ich weniger Ausreden. Ich kann es mir nicht leisten, auf Inspiration zu warten. Wenn Zeit ist, wird geschrieben. Ich schreibe prinzipiell anders als jemand, der alle Zeit der Welt zu haben glaubt. Ich blicke nicht zurück. Ich verliere mich nicht in Revisionen. Ich weiß: Texte entstehen in einer gegebenen Zeit. Sie müssen nicht perfekt sein, weil ich es mir nicht leisten kann, perfekte Texte abzuliefern. Sie dienen ihrem Zweck und fassen eine Kette von Gedanken, Gefühlen, Bildern so gut, wie ich es hier und heute abend (mir bleiben noch zehn Minuten bis neun) vermag. Wenn es nicht hinhaut, muss es der nächste Text richten. Ich erkenne auch immer wieder: weder die Leute, die mich drucken, noch die Leser:innen erwarten perfekte Texte. Gute Texte, engagierte Texte, Texte, die überhaupt da sind und fertig geworden sind, das ist mehr als genug.

So lange, bis die Zeit um ist, schreibe ich also. Zweitens muss ich mich immer wieder aufs Neue entscheiden, wie wichtig ich mich nehme, welche Rolle das Schreiben in meinem Leben einnehmen soll. Ich muss sagen: jetzt nicht. Heute Abend setze ich mich hin. Lasst mich in Ruhe. Das macht manchmal Verhandlungen nötig. Ohne Witz, ich kann bessere Figuren schreiben und ihre Konflikte schildern, weil es auch in meinem Leben nicht nur um mich geht.

Die Forderung nach dem eigenen Raum bleibt bestehen. Nicht nur, weil es vielen, vielen Frauen noch viel schwerer gemacht wird als mehr – von den vielen Vorteilen, die ich genieße, war hier noch kaum die Rede, angefangen von der warmen Küche und dem selbstverständlich funktionierenden Laptop (es wäre sonst auch noch ein zweiter und ein Handy da), bis zum nicht betrunkenen und gewalttätigen Ehemann. Auch für alle, die es so verhältnismäßig gut haben, wie ich, aus Solidarität und weil es ohne ein bisschen Ruhe eben doch nicht geht. Ich möchte (von 20:53 Uhr bis 21:01 Uhr) aber noch anmerken, dass ich die ergänzende Forderung nach der Möglichkeit, trotzdem und gleichzeitig in Beziehung zu sein, für ebenso wichtig halte.

Das Schreiben in absoluter Ruhe und Freiheit, die völlige Autonomie, das strahlende, eisige Genietum, das nur abseits der Welt gedeihen kann, ist auch ein fürchterliches Männerding. Allzu schnell wird daraus die Ausrede: ich kann jetzt nicht schreiben, ihr lasst mich ja nicht in Ruhe, ich kann mein großes Werk nicht vollenden, wenn ich mich allzu sehr auf dich einlasse, verstehe bitte, dass ich dich nicht unterstützen kann, ich bin ein wichtiger Künstler. Alles steckt darin, wenn der eigene Raum auf patriarchale Typen trifft, die maßlose Selbstüberschätzung der eigenen Kunst, die beschissene Ausrede für jedes schlechte Benehmen, weil man sich´s als Genie schuldig ist, und die ins ewige verlängerte Kindheit mit den Jungs beim Saufen und Frauenbelästigen, weil so eben das echte Künstlerleben ausschaut und man ja Inspiration braucht.

Autor:innen, die das eigene Werk etwas tiefer hängen (ohne es aufzugeben), die in Beziehung(en) sind – das muss keine klassische Familie sein, nicht hetero- oder homosexuell –, die gestresst und in Beschlag genommen sind, schreiben formal und inhaltlich anders, und ich behaupte: vielleicht nicht im absoluten Sinn besser, aber doch anders, als wir es so sattsam von den genialen Männern kennen, die außer der Großkunst nichts gebacken gekriegt haben.

Ich war gezwungen – von mir selbst gezwungen – einen kleinen Roman auf dem Handy zu schreiben, während mein zweites Kind im Tragebeutel vor meiner Brust hing, sonst war keine Zeit da. Dieses Buch ist notgedrungen kürzer, gedrängter, fetzenhafter, sicherlich unperfekter nach manchen Maßstäben, weniger geschliffen, mit weniger ausgefeilten inneren Bezügen versehen, als welche, die ich unter anderen Bedingungen geschrieben habe.

Punkt Neun. Schnell jetzt.

Aber es ist auch lebendiger, es geht neue Wege, es überrascht mich. Es ist vor allem inhaltlich und formal Ausdruck seiner Entstehungsbedingungen. So, wie wir erst heute lernen, Briefe, Tagebücher, Notizen und andere Literaturformen von Frauen neben die als  „groß“ angesehenen Romane und Stücke von Männern zu stellen, gerade weil sie nicht so sind und den dort implizit aufgestellten Ansprüchen, neun Uhr zwo, nicht genügen, uns andere Einblicke, andere Welten, okay, das Telefon klingelt, ihr wisst, was ich meine, es muss beides sein. Vielleicht sprechen solche Bücher mehr zu Leuten, die unter ähnlichen Bedingungen leben.

P.S. am nächsten Tag, kleineres Kind schläft, größeres ist in der Schule, Elterntermin aber mal wieder verpasst, peinlich: Ich sehe die Nachteile eigentlich wieder mehr. Vor allem mein Selbstbild: das Schreiben in den Nischen des Alltags lässt mich das eigene, na ja, Werk seltsam gering schätzen, ich erzähle oft nicht davon und stapele eigentlich immer sehr tief. Mir fällt es schwer, mich als „Autor“ zu bezeichnen und ich lade ungern alle meine Online-Kontakte zur Winzlesung in der Kirche von Sackdoden oder so ein als wär´s die Nobelpreisverleihung. Twitter-Diskussionen über „Autorendinge“ scrolle ich schnell weiter: ich habe da nichts verloren, ich „revise“ nicht und habe keine „beats“ und wo soll ich bitte die „draft readers“ hernehmen, die mir sagen, wie die dritte und vierte Manuskriptfassung aussehen soll, also ehrlich.

 

Photo by Ryan Wallace

Utopische Dystopie – Die DDR-Obsession der Rechten

von Peter Hintz

 

Es dürfte kein Geheimnis sein, dass deutsche Rechte seit Jahren eine Ostdeutschland-Obsession haben. So berichtet etwa der Journalist Roland Tichy in der aktuellen Printausgabe des nach ihm selbst benannten rechtspopulistischen Blogs Tichys Einblick von seinen eigenen Erlebnissen in der Wendezeit. Als sogenannter “Buschoffizier” der Bundesregierung war Tichy damals als Berater nach Ostdeutschland geschickt worden, um die staatlichen Strukturen der DDR abzuwickeln. Im Tonfall eines gealterten Kriegsreporters erzählt er unter anderem, wie man im Flugzeug von Köln nach Berlin die Beine der mitreisenden Sekretärinnen berührt hätte, aber vor allem, mit welchem Missionseifer er gekommen sei, um “Freiheit und Wohlstand” mitzubringen. Nach einigen Indiskretionen über seine ehemaligen Kollegen gibt sich Tichy aber geläutert und bekennt, dass es die Ostdeutschen selbst gewesen seien, die sich befreit hätten. Was wie eine Abrechnung mit westdeutscher Arroganz klingen soll, dient Tichy dann aber nur dazu, so über ostdeutsche Geschichte zu schreiben, dass die Deutung zu seinen eigenen Befindlichkeiten passt. In Tichys Text bedeutet das, Ablehnung der derzeitigen rechten Agenda unter Diktaturverdacht zu stellen und Ostdeutschland dafür zum Hauptzeugen machen.

So gut wie jede breite öffentliche Kontroverse des letzten Jahrzehnts – von der Eurokrise zur sogenannten Asylkrise bis zur Klima- und Coronakrise – wird von Tichy mit DDR-Vergleichen versehen: “Was die DDR im Notfall mit einer Kugel aus der Makarow erzwingen musste, geht freiwillig effizienter.” Unter Ablegung seiner Buschoffizier-Persona versteigt sich Tichy im selben Artikel sogar dazu, aus der Erzählperspektive eines Ostdeutschen zu schreiben: “Die im Westen waren immer schon an offene Grenzen gewöhnt und fühlen sich überall daheim; seit Corona sind sie wieder da, die Schlagbäume.” Dieses method acting des westdeutschen Ossis Tichy erinnert an den aus Rheinland-Pfalz stammenden AfD-Politiker Björn Höcke, der mit Verweis auf die Regierungspolitik einmal behauptete, “dafür haben wir nicht die Friedliche Revolution gemacht!”

Natürlich handelt es sich bei diesem Diskurs nicht nur um eine ideologische Vereinnahmung von Ostdeutschland durch in der ‘alten’ BRD aufgewachsene rechte Eliten. Vielmehr erzeugt sich die Identität ‘des Ostens’ als rechte Projektionsfläche in so engem gesamtdeutschen, Schichten übergreifenden Austausch, dass dahingehend von einer deutschen Binarität eigentlich keine Rede sein kann. Mit Slogans wie der “Vollendung der Friedlichen Revolution” und “Wende 2.0” holten die AfD-Wahlkämpfe in Sachsen und Brandenburg letztes Jahr jeweils rund 25% Stimmenanteil und DDR-Vergleiche gehören auch zum rhetorischen Standardrepertoire der rechtsradikalen Dresdner Bürgerbewegung PEGIDA. Das Selbstverständnis der Figur des Reaktionärs als Freiheitskämpfer gefällt offensichtlich auch in der DDR aufgewachsenen Intellektuellen wie Uwe Tellkamp, Neo Rauch oder Monika Maron. Rechte politische Positionierungen werden zu Dissidenz und Exil aufgewertet, als ob es Maron nach ihrem ‘Rauswurf’ bei S. Fischer nicht weiterhin offenstünde, ihre Bücher bei einem dezidiert rechten Verlag wie der Edition Buchhaus Loschwitz herauszugeben und sie auch nicht prompt neue Buchverträge bei Hoffmann und Campe bekommen hätte. Als Legitimationsstrategie werden dabei immer wieder biografisch begründete DDR-Dikatur-Vergleiche gemacht. So behauptete Maron bei ihrem Abgang von S. Fischer, dass diese “Situation der vor 40 Jahren ähnlich” sei, als ihr Roman Flugasche “im Osten nicht gedruckt werden konnte – wobei der Unterschied ist, dass damals mein Verlag zu mir gehalten hat.” Auch in der Pressemitteilung von Hoffmann und Campe berief sich Maron dann auf den “freiheitlichen Geist” des Exilanten Heinrich Heine, ihrer “literarischen Jugendliebe”, was ihren vorherigen DDR-Bezug seltsam affirmierte.

Ironischerweise ist die DDR aber nicht nur Dystopie der Rechten, sondern auch ein Sehnsuchtsort. Während sie einerseits als Diktatur instrumentalisiert wird, um sie mit der Bundesrepublik gleichzusetzen, wird sie andererseits auf merkwürdige Weise aufgewertet, um den Osten kulturell gegen den Westen auszuspielen. So wird spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 immer wieder positiv darauf verwiesen, dass die DDR einen viel geringeren Anteil von Migranten gehabt hätte als der Westen – was Soziologen häufig als eine Erklärung für stärker verbreiteten Rassismus in Ostdeutschland anführen. Verständnis für diese Mentalität steckt auch in Tichys abschätziger Bemerkung, “die im Westen waren immer schon an offene Grenzen gewöhnt und fühlen sich überall daheim.” So mache DDR-Erfahrung nicht nur immun gegen Autoritätshörigkeit, sondern gegen jede Form des Multikulturalismus.

Die DDR wird dabei als kulturkonservatives Refugium imaginiert, das kein ‘1968’ erlebt habe, also eine gesellschaftliche Liberalisierung verbunden mit dem Aufstieg der intersektionalen Neuen Linken. Obwohl die “Neue Rechte” sich theoretisch auf Augenhöhe mit den Linken sieht und sich strategisch – wie auch ihre Selbstbezeichnung signalisieren soll – von ihnen inspiriert fühlt, ist 1968 ihr Schreckgespenst. Mit Verweis auf die alte westdeutsche Studentenbewegung erinnerte im Jubiläumsjahr 2018 der Hallenser Ableger der rechten Jugendorganisation Identitäre Bewegung an “50 Jahre Gift für die Uni”. Nach dem DDR-Verständnis der sogenannten Neuen Rechten bewahrte der Eiserne Vorhang Ostdeutschland aber vor Verwestlichung im Sinne von Konsumgesellschaft und Neuer Linker. So bezeichnete ein (aus Österreich stammender) Autor der Antaios-Zeitschrift Sezession einmal die Mauer als “anti-antideutschen Schutzwall” und für einen anderen war die DDR die “letzte Variante deutscher Staatlichkeit.” Das ähnelt etwas dem aus dem Kalten Krieg stammenden Kampfnarrativ von der DDR als nationalistisch-militaristischem “Roten Preußen”, das nun allerdings nicht verächtlich, sondern aufwertend zu verstehen ist – was die rechte Autoritätskritik wohl relativiert.

Obwohl 2019 im Dresdner Buchhaus Loschwitz, das gemeinsam mit der Sezession die YouTube-Literatursendung Mit Rechten lesen produziert, sarkastisch “70 Jahre DDR” gefeiert wurde, sollte man nicht überrascht sein, wieviel tatsächliche DDR-Nostalgie in denselben Leuten steckt. Kultureller Verwestlichung wird der reale und vermeintliche Kulturkonservatismus der DDR entgegengehalten. Ingo Schulze porträtierte dieses Gefühl in seinem 2020 erschienenen Roman Die rechtschaffenen Mörder mittels einer Binnenerzählung, die von einem fiktiven, nach der Wende aus Sachsen weggezogenen Autor verfasst ist. Darin wird vom Dresdner Antiquar Norbert Paulini berichtet, der sich mangels anderer Freiheiten seit DDR-Zeiten als Hüter des klassischen literarischen Kanons versteht, bis ihm nach ‘89 westdeutsche Banausen und der freie Markt das Geschäft zunehmend verunmöglichen. Ebenfalls mit Fokus auf die Geschichte des sächsischen Bildungsbürgertums schwärmte zuletzt Uwe Tellkamps in der Edition Buchhaus Loschwitz erschienene Novelle Das Atelier von kleinen ostdeutschen Galerien und einem kultivierten Kombinatsdirektor, der die Kunst der klassischen Moderne sammelte und schützte, bis nach der Wende stilistisch die Postmoderne und wirtschaftlich der Neoliberalismus einbrach. Allerdings stellt Schulzes Roman durch Perspektivwechsel schließlich die Zuverlässigkeit der Paulini-Erzählung in Frage – und damit auch Romantisierungs- und Dämonisierungsmöglichkeiten der Figur des Ex-DDR-Bürgers.

Die Mehrdeutigkeit rechter DDR-Diskurse sollte nicht als Widerspruch begriffen werden. Vielmehr gehört die Funktionalisierung von ostdeutschen Erinnerungen zur rechten Geschichtspolitik dazu: Egal ob Ostdeutschland als ehemaligem Stasi- oder Leseland, jeweils geht es um die Legitimierung und Popularisierung gegenwärtigen rechten Protests.

 

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Weggemopst – Das Problem mit dem digitalen Gebrauchtbuchhandel

von Thomas Hoeps

 

In Lutz Seilers Mystizismus-Burner Kruso zerrt der Titelheld ein schleimiges „Zopftier“ aus dem Küchenabfluss einer Ausflugsgastronomie hervor, das sich dort über Monate hinweg aus Haaren, Essensresten und Schweiß alchemistisch zusammenlegiert hatte, den Lurch. Seit ich meinen Beitrag über den digitalen Gebrauchtbuchhandel aus Autor*innensicht vorbereite, gerät mir unerfreulicherweise dauernd das Bild dieses Lurchs vor Augen. Denn am Ende ist der unaufhaltsame Aufstieg der Buch-Reseller auch nur ein Teil einer recht unschönen Masse von Entwicklungen, die die prekäre Einkommenssituation von Autor*innen verschärfen. Einzeln betrachtet mögen sie dabei nicht unbedingt dramatisch wirken, in seiner Gesamtheit jedoch scheint mir dieser Lurch auf Dauer anders als in Seilers Roman kein Düngemittel, sondern toxisch zu sein.

Der Resellermarkt…

… ist ein sehr lukratives Geschäft geworden. Branchenführer Medimops hat seinen Jahresumsatz in nur vier Jahren von 120 Millionen Euro (2015) auf 250 Millionen Euro (2019) mehr als verdoppelt. 64 Prozent davon, gut 160 Millionen Euro, wurden über den Handel mit gebrauchten Büchern generiert, der Großteil davon in Deutschland. Dazu kommen nicht nur weitere Großanbieter wie rebuy, sondern auch die Professionalisierung des Privatverkaufs durch die Verbreitung über Plattformen wie ebay oder den Amazon Marketplace.

Natürlich gibt es den Handel mit gebrauchten Büchern, seit es Bücher gibt. Der zentrale Unterschied zu den Vor-Internet-Zeiten ist aber, dass man nicht mehr teils jahrelang physisch durch Antiquariate oder über Flohmärkte stromern muss, um an ein gesuchtes Buch zu gelangen. Eine kurze Rechercheminute genügt, das Buch nicht nur zu finden, sondern zugleich auch in der Angebotskonkurrenz zum Bestpreis kaufen zu können.

Bei nicht mehr lieferbaren Titeln ist das großartig, gleichwohl das Preisdumping im E-Commerce klassische Antiquariate unter massiven Druck setzt. Am besten aber, so berichtete der Momox-CEO Heiner Kroke im Börsenblatt, verkauften sich eh die jüngeren Bestseller. Kaum ist ein Buch auf dem Markt, läuft es auch schon sekundär über die E-Plattformen. Am komfortabelsten geschieht das für die Kunden von Amazon, wo direkt auf der Primärverkaufsseite der günstige Gebrauchtpreis für „wie neu“-Exemplare dafür wirbt, doch lieber gleich Second-Hand zu kaufen.

Von Platzangst, Nachhaltigkeit und Teilhabe

Toll also, dass es so leicht geworden ist, sich von Büchern zu trennen und kostengünstig an neue zu kommen. Und zugleich werden damit ja auch andere Probleme gelöst: Über die bange Frage hinaus, wo in der Wohnung denn noch Platz für das x-te Buchregal sein soll, betrifft es Aspekte von gesellschaftlicher Relevanz: Ist es denn zu verantworten, dass ein Buch nach ein paar Lektürestunden nicht mehr genutzt wird? Ist es nicht nachhaltiger und ressourcenschonender, ihm ein zweites, drittes, viertes Leben zu verschaffen, bei Käufer*innen oder – und hier wird dann auch noch kulturelle Teilhabe trotz Existenzminimum ermöglicht – bei den Nutzer*innen öffentlicher Bücherschränke?

Wer wollte gegen solche positiven Effekte ernsthaft Einwände erheben?

Von der Erschöpfung I

Als der ehemalige Buch-Vertriebsmanager Ulrich Erdle vor wenigen Monaten im Börsenblatt seinen Unmut über den umsatzstarken Zweitverwertungsmarkt von Momox & Co äußerte und eine Gebührenbelegung der gewerblichen Reseller ebenso wie der Verkaufsplattformen zugunsten der Autor*innen und Verlage forderte, zuckte die Justiziarin des Börsenvereins mit den Schultern: Kann man nix machen, ist Gesetz! Denn „das Verbreitungsrecht des Autors erschöpft sich gemäß § 17 Abs. 2 UrhG, nachdem das Buch erstmalig in den Verkehr gebracht wurde. Der Urheber wurde für sein Werk mit dem ersten Verkauf vergütet.“

Und Herr Momox behauptete daran anschließend, im Falle der Erhebung einer Zweitverkaufsgebühr müsste ja logischerweise „Neuware dann im Gegenzug günstiger werden, da von Vornherein ein Zweit- und Drittverkauf eingeplant ist.“

Von der Erschöpfung II

Wie könnte ich mich als Autor also gegen rechtliche Realitäten, wirtschaftliche Entwicklungen und gesellschaftliche Notwendigkeiten stellen und über entgangene Einnahmen aus Second Hand-Verkäufen klagen? Zumal ich ich angeblich doch schon hinreichend für diese weiterverkauften Bücher entlohnt wurde? Will dieser Autor jetzt also nur ein weiteres Mal frech abkassieren? Second Hand = Second Cash?

In der letzten Zeit spüre ich eine wachsende Erschöpfung, wenn die ökonomische Realität unserer Arbeit wieder einmal ausgeblendet wird. Soll ich erneut vorrechnen, wie viel Honorar Autor*innen für die oft zwei, drei Jahre Arbeit an ihrem Buch erhalten, wenn der marktübliche Satz von fünf und zehn Prozent vom Nettoverkaufspreis gezahlt wird und das Buch kein Bestseller oder gehobener Midlist-Titel wird? Dass die Kostenplanung von Büchern aber für alle Beteiligten feste (zugegeben, zuweilen auch prekäre) Monatsgehälter oder Stundensätze kalkuliert, nur für die eigentlichen Urheber Vorschüsse ansetzt, von denen oft kein halbes Jahr zu leben ist? Dass mehr nur hereinkommt, wenn das Buch dann doch deutlich über den Break-even-Punkt hinausschießt? Oder vielleicht noch einmal berichten, wie unerfreulich sich die durchschnittlichen Startauflagehöhen seit Jahren entwickeln und dass es darum bei vielen Büchern mittlerweile tatsächlich auf jedes einzelne verkaufte Exemplar ankommt. Zumal da definitiv kein Sekundärmarkt miteinkalkuliert ist, weil das Resultat nicht mehr marktgängige und sozialverträgliche Verkaufspreise wären?

Ich habe deshalb immer weniger Lust auf solche Erklärungen, weil es am Ende doch nur wie ein beleidigtes Mimimi klingt. Denn die Entscheidung, haupt- oder auch „nur“ nebenberuflich als Schriftsteller zu arbeiten, auch eine im Bewusstsein erwartbarer ökonomischer Einschränkungen ist und bleibt ja eine stolze, frei getroffene. Trotzdem schaut man doch immer wieder recht fassungslos darauf, wie viel Geld in diesem Betrieb dann doch umläuft und in welchen Kanälen es schließlich landet.

Her damit!

Womit wir in das Habitat des Lurchs zurückgekehrt wären, zu dessen weiteren Bestandteilen tiefgreifende Veränderungen im Buchhandel genauso zählen wie der Wegfall öffentlich finanzierter Lesereihen oder eben die große Selbstverständlichkeit, mit der unsere Arbeit kostenlos oder lowestbudget-orientiert genutzt wird. Die findet man ja nicht nur im Trend, dass auch gut verdienende Leser*innen aktuelle Bücher zur Ersparnis einer Handvoll Euros lieber über Resellerplattformen kaufen. Sondern zum Beispiel selbst bei den Bücherfreund*innen in den öffentlichen Bibliotheken, die unter dem Deckmantel der „Informationsfreiheit“ (real aber zur Entlastung ihrer kommunalen Haushalte) Druck ausüben, das Ausleihlimit von e-book-Lizenzen aufzuheben (zu den Auswirkungen der Onleihe übrigens hier eine aktuelle Studie).

Bedingungen für den gewerblichen Wiederverkauf einzuführen, wie es Ulf Erdle und andere mit der Einrichtung von „Schonfristen“ für Neuerscheinungen oder der Erhebung von Zweitverwertungsabgaben fordern, werden das Grundproblem mangelnder Honorierung der Autor*innen sicher nicht lösen. Und es wirkt vielleicht sogar nur wie ein Abwehrkampf in aussichtsloser Stellung. Aber dem Lurch das zu entreißen, was uns zusteht, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Selbstachtung. Also, schnappen wir ihn uns!

 

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Queere Literatur ist politische Literatur [Queering Literaturbetrieb]

Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

Eine Kolumne von Alexander Graeff

 

Eintritt in eine neue Welt

Als ich vor 15 Jahren meine erste Erzählung veröffentlichte, war das für mich der Eintritt in eine neue, zuvor verschlossene Welt. Ich war ein Glückspilz, denn ich hatte nur vier Jahre, nachdem ich nach Berlin geflohen war, einen Verlag gefunden, der mit meinen frühen literarischen Versuchen etwas anfangen konnte.

Mein Verleger schien außerdem Interesse an meiner Person zu haben. Er lud mich auch privat ein, wie ich es damals in meiner Unsicherheit bezeichnete. Es folgten eine Reihe sakraler Lesungsveranstaltungen in schicken Mitte-Clubs und – für meine Verhältnisse – großbürgerliche Abendessen mit anschließenden Diskussionen über Gott und die Welt im Raucherzimmer.

Da ich mir mit einem Philosophiestudium zwei Jahre zuvor einen Jugendwunsch erfüllt hatte, kannte ich akademisches Sprechen bereits aus dem Studium. Was die Gäste besagter Abendessen und die anderen Autor*innen in den schicken Mitte-Clubs aber mit Sprache anstellten, faszinierte mich ebenso wie es mir unüberwindliche Barriere war. Meine eher bildungsferne, kleinbürgerliche Herkunft und mein Aufwachsen in der Provinz versuchte ich möglichst zu verstecken. Ich bemühte mich, halbwegs Hochdeutsch zu sprechen und die durch meinen Dialekt verunstaltete Grammatik zu korrigieren, bevor mir das Gepolter aus dem Mund geflogen kam. Die Empfehlung meines Verlegers, eine Sprechausbildung zu beginnen, fühlte sich anfangs zwiespältig an.

Heteronormative Verfugung

Von sichtbarer Queerness, für die Berlin in der ganzen Republik ja bekannt war und ist, konnte in diesen Kreisen nicht die Rede sein. Die Gesellschaft, in die ich eintauchte, war durch und durch heteronormativ verfugt. Die wenigen offen schwulen oder noch weniger lesbischen Autor*innen in der Peripherie stellten keinen wirklichen Bruch mit dieser Struktur dar – ganz im Gegenteil. Durch diese Gegenbeispiele fühlte sich die Mehrheit in der Norm erst bestätigt.

Ich passte weder ins heterosexuelle Bild, was andere wahrscheinlich von mir hatten, noch taugte ich als schwules Gegenbeispiel. All das Wissen von heute über die Eigenständigkeit nicht-monosexueller Orientierungen, über Bisexual Erasure, Bi+- und Pansexualität oder Polyamorie besaß ich damals noch nicht. Einmal mehr fehlten mir die Worte, um das Bild, was sich andere von mir machten, korrigieren zu können. Das betraf meine sexuelle Orientierung ebenso wie die Klasse meiner Herkunft. Allein, dass ich als Mann Schmuck trug, löste schon eigenartig verklemmte Belustigung aus, meine Tätowierungen versuchte ich, wo es ging, zu verbergen. Die Dominanz traditioneller und distinguierter Haltungen in jener jungen Berliner Literaturszene, in der ich mich fortan bewegte, änderte sich auch nicht, als ich Jahre später den größeren Literaturbetrieb kennenlernte. Auch als – nach zwei Jahren Sprechausbildung – erste Lesereisen und Präsentationen auf der Leipziger Buchmesse folgten, blieb das Berliner Umfeld unverändert. Einzige Lichtblicke für mich waren ein paar queere und sehr kollegiale Autor*innen und Verleger*innen, die ich auf der Messe kennenlernte. Beziehungskonstellationen jenseits der Ehe oder nicht-heterosexuelle Orientierungen waren im Berliner Kreis aber weder Themen unserer Gespräche noch kamen sie in der Literatur vor.

In den Siebzigerjahren geboren, war ich im Schnitt fünf bis acht Jahre älter als die anderen Autor*innen und Verleger*innen, mit denen ich in Berlin zu tun bekam. Warum ich mit Mitte 30 noch nicht verheiratet sei, wollte man wiederholt von mir wissen. Jahre später gefolgt von der Frage, warum ich mit 40 immer noch kinderlos sei. In dieser neuen Welt, die ich betreten hatte, traf ich auf Achtzigerjahrgänge, die bürgerlicher waren als meine Eltern. Dass die jungen Menschen dieses Kreises bereits mit Anfang 20 souverän über Buchmessen stolzierten, Verlage gründeten und reflektierte Bücher veröffentlichten, war natürlich ohne ihre bildungsbürgerliche Herkunft undenkbar. Es ging gar nicht so sehr um ökonomisches Kapital, das die Eltern ungern in die verrückten Projekte ihrer Kinder stecken wollten, vor allem war es das kulturelle und symbolische Kapital, was ihnen den Mut und die Sicherheit bescherte, solche großen Schritte trotz der wenigen Lebensjahre zu wagen.

Surreale Literatur

Über die Jahre arbeitete ich an meiner literarischen Stimme und widmete mich natürlich auch den ‚klassischen‘, kulturellen Beständen, die mich reizten, die ich aber immer gebrochen sehen wollte. Gleichzeitig wollte ich die herkömmliche Wahrnehmung von Welt nicht radikal ablehnen, sie doch aber herausfordern und nicht einfach nur mit meiner Literatur aktualisieren. So entwarf ich zahlreiche Parallelwelten, bürgerliche ebenso wie phantastische und utopische. Ich wollte auch problematische Figuren schaffen: brutale Väter, faschistische Großväter, unterdrückte Mütter, mythisierte Töchter, triumphierende Göttinnen, suizidale Söhne. Das war meine Art, nicht nur affirmativ mit griechischen oder ägyptischen Mythen, Literatur- und Kunstgeschichte oder Religionen umzugehen.

Als in einer Rezension meines ersten Erzählbandes Gedanken aus Schwerkraftland (2007) von surrealer Literatur gesprochen wurde, fand ich diese Wendung so treffend, dass ich sie bis heute verwende. Das war es, was ich wollte: Schreiben gegen den naiven Realismus, Schreiben gegen die problematischen (Erzähl-)Strukturen im Mythos, Schreiben gegen die Normen. Und ich musste schreiben über meine eigene Sozialisation und Herkunft, was bedeutete, über Gewalt zu schreiben, vor allem über sprachliche Gewalt und Sprachlosigkeit.

Das Private ist politisch

Ich verstand meine Literatur damals zwar als kritisch und surreal, aber immer noch nicht als politisch. Die psychosozialen Zugriffe schienen mir plausibler. Wieder war es mein Verleger, der mich auf den Gedanken brachte, dass die literarische Verarbeitung der Biografie (heute würde man es autofiktionales Schreiben nennen) auch politisches und selbstermächtigendes Potenzial habe. Das Private ist politisch. Aus anderen Kontexten kannte ich das Motto bereits. Zögerlich freundete ich mich mit dem Gedanken an, dass mein Schreiben die herkömmliche literarische Reflexion meiner Ego-Perspektive übersteigen könnte und widmete mich diesem Zugriff in meinem zweiten Buch Minkowskis Zitronen (2011).

Es dauerte noch einmal drei Jahre, dann entschied ich mich, auch jenseits des eigenen Schreibens politischer zu werden. Das bedeutete, gerade in dieser bildungsbürgerlichen, heteronormativen Welt des Literaturbetriebs soziokulturell aktiv werden zu müssen. Das war der innere Beweggrund. Es gab auch einen äußeren. Die gesellschaftspolitischen und später parlamentarischen Veränderungen in Deutschland machten die Sache dringlich, denn so viel wusste ich aus der Geschichte dieses Landes: Das Bürgertum mit seiner Tendenz, abweichende Teile des sozialen Miteinanders unsichtbar zu machen, ermöglichte erst den Aufstieg rechtsnationalistischer und faschistischer Projekte und Parteien. Es war fast so, als ob der immer dringlicher werdende Kampf gegen die politischen Unsäglichkeiten wie AfD, Demo für alle, PEGIDA & Co. in meine Literatur drängte. Nicht ich wählte diesen Kampf als Thema, er wählte mich und meine Literatur.

Anti-queere Struktur trotz des angeblichen Trends

Seit ich mich für mehr Sichtbarkeit queerer Autor*innen und Stoffe im Literaturbetrieb einsetze, hat es Gegenwind gegeben. Zu glauben, dass sich nach zehn Jahren etwas Grundlegendes geändert haben könnte, war naiv. Ein bisschen Bewegung kam in den Betrieb, Konzepte wie „Literatur als soziale Praxis“ z. B. entstanden. In den letzten Jahren wurde sogar von einem Trend queerer Literatur gesprochen. Übersetzungen von Ocean Vuong oder Edouard Louis erschienen in großen Verlagen, wurden von der Kritik gefeiert und queere Klassiker wie Eileen Myles endlich ins Deutsche übersetzt. Und doch ist die Präsenz queerer Autor*innen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur immer noch bescheiden.

Die Reaktionen einiger meiner Leser (es waren tatsächlich nur cis-männliche), die wohl dachten, ich knüpfe mit meiner Literatur und der Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte, Mythologie und Religionen an die kulturellen Arrangements patriarchaler, familialistischer und ethnozentristischer Sinnbezüge an, waren geprägt von Verwirrung und Enttäuschung. Ich sprach und schrieb jetzt nämlich über meine eigene Literatur, wie ich sie deute. Das hatte ich mich vorher nicht getraut. Die Enttäuschungen waren groß. So groß, dass ich Schimpftiraden per Email oder anderes Getrolle auf den Social Media-Präsentationen meiner queeren Projekte, wie z. B. der Lesereihe „Schreiben gegen die Norm(en)?“, über mich ergehen lassen musste.

Die direkten Reaktionen hätte man erwarten können. Es gab aber auch subtile. Welche, die anti-queeres Potenzial unterschwellig deutlich werden lassen; welche, die strukturell begründet sind durch Institutionen, Medien, Sprache und Mentalität. Einstellungen, die so fest zementiert und naturalisiert sind, dass sie trotz oberflächlicher Offenheit gegenüber von der Norm abweichenden Positionen und Literaturen (siehe Tokenismus), scheinbar keine Reflexion, ja nicht mal Wahrnehmung möglich machen.

Kulturelle Selektionsprozesse in Deutschland

Das sind dann die Situationen, in denen ein linker Berliner Verleger, der sonst um differenzierte Sprache und sozialphilosophische Sensibilität bemüht ist, Menschen mit nicht-heteronormativer Orientierung als „Gender“ bezeichnet und auch nach mehrmaligen Nachfragen meinerseits keine Stellung dazu bezieht. Oder, wenn ein Buchhändler bei einem großen Publikumsverlag anfragt, was im Klappentext eines Spitzentitels das Wort „queer“ bedeute und warum der Verlag ein so unbekanntes Wort verwende. Dieses Verhalten ist fester Bestandteil kultureller Selektionsprozesse in Deutschland. Etwas, was feministischen, queeren, jüdischen und (post-)migrantischen Positionen kulturbedingt seit eh und je widerfährt: dass sie unsichtbar gemacht werden.

Die kulturimmanente deutsche Marginalisierung zeigt sich auch an einer Erfahrung, die eine befreundete Berliner Jurorin in der Sitzung eines renommierten Verlagspreises machte. Eine im Literaturbetrieb gut situierte Mitjurorin kommentierte das queere Buchprogramm des Berliner Querverlags mit „das will doch niemand lesen“. Meine Freundin, selbst Autorin, die queeres Engagement in der Literatur unterstützt, hatte den seit 1995 bestehenden Querverlag für den Preis vorgeschlagen. Selbst ausgeprägte und über Jahre hinweg bewährte, progressive Strukturen schützen also nicht vor der Unsichtbarmachung durch die hegemoniale Mehrheitsmeinung bestimmter literaturbetrieblicher Instanzen und mächtiger Entscheider*innen.

Was leider auch nicht schützt, ist die Zugehörigkeit zur queeren Community. Zugegeben, diese Community ist heterogen, man kann nicht unbedingt Solidarität erwarten, auch wenn sie für die politische Meinungsbildung so wichtig wäre. Wenn man aber von einem Herausgeber zu hören bekommt, dass er ungern zur „besseren Frauenbeauftragten mutieren“ wolle, nachdem man nach der Geschlechterverteilung der Autor*innen einer queeren Anthologie gefragt hat, ist einfach nur entmutigend. Was mich ebenso immer wieder verwundert, sind Strukturen, die seitens (pro-)queerer Verwerter*innen auf den einkalkulierten Ausschluss von Personen des sogenannten Milieus der unteren Mitte setzen. Wenn Buchpräsentationen – die meistens nichts weiter als Marketingveranstaltungen für das neu erschienene (queere) Buch sind – bewusst in distinguierten Locations des sogenannten sozial gehobenen Milieus veranstaltet werden, ausschließlich in englischer Sprache stattfinden und der Eintrittspreis 15 Euro beträgt.

Kultur ohne Vagheit und Variabilität ist nicht denkbar

Nach wie vor setzen sich also die Abgrenzungen vom jeweils signifikant Anderen durch. Identitäten haben zwar Konjunktur, viel zu selten werden sie aber als Ansammlung unterschiedlicher Verortungen unter anderen Verortungen betrachtet. Das gilt auch für den Literaturbetrieb. Wer einmal in einem Genre schreibt, schreibt in der Regel immer in diesem Genre. Wer verwertend tätig ist, hat es schwer, auch produzierend tätig werden zu können. Wer queer ist, kann nicht auch noch feministisch sein oder migrantisch oder aus Ostdeutschland oder jüdischen oder christlichen Glauben haben. Das sind doch viel zu viele Merkmale! Es überfordert.

So wie Verleger*innen, Lektor*innen, Buchhändler*innen und Leser*innen von allzu viel Diversität angeblich auch überfordert sein sollen: Von homosexuellen Figuren in Romanen, die eine Hauptrolle spielen oder kein Interesse an Sex haben. Oder von Erzählungen, deren narratologischer Aufbau nicht dem mythischen Prinzip der maskulinen Heldenreise entspricht, in der Bisexualität bloß ein Abenteuer ist, das durch die heldenhafte Entscheidung für Heterosexualität überwunden werden muss. Die Literatur ist auch in dieser Hinsicht kulturelles Symbol für einen alles durchdringenden Entscheidungszwang. Da wundert es nicht, dass auch jene Texte angeblich überfordern, in denen die Pronomen „sie“ und „er“ fehlen.

Das alles sind Mythen und Klischees. Kultur ohne Vagheit und Variabilität ist doch gar nicht denkbar. Menschen ohne Vagheit und Variabilität sind nicht denkbar. Dabei braucht man vor Identitäten ja keine Angst zu haben. Gefährlich werden sie nur, wenn sie sich nicht verändern, sondern starr bleiben, wenn sie nicht floaten oder strayen. Sozialwissenschaftlich gesehen sind Identitäten streunende Hunde, die ins Wasser gefallen sind und nun hierhin und dorthin treiben. Ab und zu rudern sie beherzt mit den Vorderbeinen, um starker Strömung zu begegnen oder Untiefen zu umschwimmen. Das ist die Bewegung menschlicher Identitäten im Verlauf der Biografie, der empirisch belegte Normalfall. Und doch wird in weiten Teilen immer noch am singularistischen Identitätsmythos und an anti-pluralistischen Erzählhaltungen festgehalten.

Queere Figuren und Stoffe besitzen genauso Identifikationspotenziale wie heterosexuelle Charaktere, Literatur über „weibliche Körper“ ist genauso relevant (vor allem dringlich) wie der einseitige Kanon der Literatur über „männliche Körper“. Literatur ist auch dann spannend und interessant und unterhaltsam, wenn sie sich kritisch mit sozialen Normen, gesellschaftlichen Machtgefügen, mit Klassismus, Rassismus oder Zweigeschlechtersystem auseinandersetzt, oder sich literarischen Kategorisierungen und Klassifizierungen entzieht.

Ich werde oft gefragt, was queere Literatur eigentlich genau sei. Was sie ist, interessiert mich nur zweitrangig. Was sie sein könnte, finde ich fruchtbarer für mein Denken. Queer ist für mich vor allem ein bestimmtes Denken. Und das bedeutet immer mehr als nur der Verweis auf von der Norm abweichende Geschlechter, Geschlechtsidentitäten oder sexuelle Orientierungen. Ich denke queere Literatur als zeitgemäße politische Literatur. Das könnte sie sein – ohne selbst Politik sein zu wollen oder politische Symbole statt künstlerischer Symbole zu verwenden. Queere Literatur stört den hegemonialen Symbolkanon durch die Geschichten der bisher Ungehörten, sie macht die Strukturen und sozialen Verfugungen sichtbar, sie ermöglicht kritische Unterhaltung.

 

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Podcast-Kolumne: “Outward”

von Svenja Reiner

 

In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine queeren Menschen. Das ist natürlich Unsinn. In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es mit großer Sicherheit queere Menschen, ich wusste es nur nicht.  Auch meine Schule erscheint mir rückblickend als ausschließlich heteronormativer Ort, an dem die meisten Schüler:innen sowieso nicht verpartnert waren und Sexualität, wenn sie denn Thema wurde, weiß, heterosexuell und monogam gedacht war. In der Stadtbibliothek lieh ich dicke Fantasybücher von Kai Meyer oder Philip Pullman aus, im Fernsehen verfolgte ich die Rollen von Wolke Hegenbart (Mein Leben und ich) und Pegah Ferydoni (Türkisch für Anfänger) und selbst wenn ich zu Serien wie The L World oder Buffy geschaltet hätte, bezweifle ich, dass mir Homosexualität, Queerness und Queer Culture nicht doch als etwas diffus Anderes erschienen wären.

Den Unterschied zwischen sex und gender, die Buchstaben des Akronyms LGBTQIA+ oder die Bedeutung der Regenbogenflagge lernte ich erst in meinem Studium kennen und mittlerweile gibt es queere Personen in meinem Freund:innenkreis. Trotzdem bewerte ich mein Wissen über Queere Künste, Geschichte und Literatur bis heute als sehr defizitär. Ein Podcast, der mich extrem weitergebildet hat, ist Outward, der (mittlerweile) von Christina Cauterucci, J. Bryan Lowder und Rumaan Alam moderiert wird. 

Ähnlich wie seine große Schwester The Waves: Gender, Relationships Feminism ist Outward kein lustiger Laberpodcast sondern eine präzise Produktion mit redaktionell recherchierter Agenda, Hintergrundinformationen und kritischen Nachfragen. Die große Stärke der drei Journalist:innen ist dabei, weder verkrampft noch trocken zu referieren. Outward der monatliche queere Salon von drei  LGBTQIA+-Intellektuellen,  von denen man unbedingt eingeladen werden möchte um dann beeindruckt lauschend in der Ecke zu sitzen. Neben einer guten Portion Queer History (Remember, Stonewall was a riot!), mochte ich vor allem die Folgen zu Queer Families, die Wohn- und Lebensgemeinschaften über die normative Kernfamilie hinausdenkt, oder die Diskussionen des Trios zu queerer Representation in Kinofilmen. 

Da gibt es beispielsweise die exclusively gay moments von Hollywoodfilmen wie Die Schöne und das Biest (2017) oder in Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers (2019), die Lowder wie folgt kritisiert: “It is absurd to think that any queer person anywhere is like: ‘Oh, god, I feel so seen by these two extras in this billion dollar Star Wars Movie kissing for one fifteenth of a second on screen!’”. Alam vermutet, dass gerade Initiativen wie GLAAD, die die lesbische, schwule und bisexuelle Figuren zählen, zu dieser Form der Darstellung beigetragen haben: Ob eine queere Person für 20 Sekunden oder 20 Minuten zu sehen ist, welcher Anteil ihr in der filmischen Narrative gegeben wird, ob sie stimmlos bleibt oder agency entwickelt – all das wird in dieser Form der Erhebung nicht berücksichtigt. Pro queerem Auftritt bekommt der Film, klassischerweise vor dem Erscheinungsdatum, einen zusätzlichen Credit und gilt folglich als besonders divers

Aktuell gibt es 30 Outward-Folgen in einstündiger Länge. Wer nicht so viel Zeit beim spülen oder spazieren gehen hat, dem empfehle ich die Episode zu Queerer Spiritualität in der Astrologie als besonderer Schnittpunkt zwischen verbindenden Narrativen, strukturierender Sinngebung und flexibler Bedeutungsmuster erklärt wird; die Folge zu Queerem Leben jenseits der großen Metropolen und die beiden Ausgaben über queere Sexualität während der Pandemie und bzw. Asexualität. Eine besondere Leistung dieses Podcasts ist, dass er sich für heterosexuelle Personen zugänglich ist, sich aber grundsätzlich an eine vielfältige, queere Community richtet. Oktober war Queer History Month und ich vermute, dass viele von uns in diesem Thema Nachhilfe brauchen. Also: Put this on your gay agenda.

Georg Trakl wiedergelesen – Ein melancholisches Entzücken

von Slata Roschal

 

Der Frühling brachte mir dieses Jahr, neben all seinen Einschränkungen, Ängsten und praktischen Ärgernissen, langsam, teils widerwillig die Fähigkeit zurück, Bücher zu lesen. Ich begann mit Camus´ Die Pest, neugierig und unsicher, verlangte vom Text keine Argumente für Dissertationsthesen oder Schlagwörter für Moderationsfragen. Der Druck nahm ab, im Literaturbetrieb immer irgendwie anwesend bleiben zu müssen, alle waren irritiert und verschüchtert und ich hörte beinahe auf, Bewerbungen für Stipendien zu verschicken und mich an Facebook-Diskussionen zu beteiligen. Bislang glaubte ich, mit Migrationshintergrund, als Frau, mit einem Kind, mit Faktoren also, die für einen beruflichen Aufstieg nicht unbedingt nützlich sind, immer in Anspannung, in ständiger Einsatzbereitschaft bleiben zu müssen, wenn ich mich denn mit gutem Gewissen irgendwann als Schriftstellerin bezeichnen wollte.

Manchmal fand ich in diesen Wochen keinen Anschluss an reale Dinge mehr, saß tagein, tagaus vor dem Computer, spürte eine große Müdigkeit von den endlosen Aushandlungen um Status und Selbstbestimmung, von unzähligen Wörtern, Texten, Gesten, die im dichtesten Geflecht an symbolischen Strukturen erst einen Zweck erfuhren. Die Vorstellung, durch Fleiß und Mehraufwand symbolische Hürden zu überwinden, die Spielregeln einer deutschen Schulklasse etwa oder eines Literaturbetriebes verstehen und imitieren zu lernen, erwies sich plötzlich als überholt und es trat ein Stillstand, eine Leere ein.

Warum ist alles, was ich mache, selbst im kleinsten Maßstab mit einer Art Selbstvermarktung verbunden, fragte ich mich, sind es die Folgen eines Autorschaftskonzepts, das mir missfällt, oder bin ich zu schwach, um die Folgen meiner Wünsche zu tragen. Aus einer massiven Unzufriedenheit mit mir und allem um mich heraus spürte ich einen Wunsch, nach irgendwas Realem zu greifen, nach etwas, das nicht zwangsläufig weiterverwertet werden muss, an und für sich einen Sinn hat und dessen Zweck in sich selbst begründet liegt. Während ich mir diese Fragen stellte, kam der Sommer, dann der Herbst. Es gibt Jahre, die als ein Ganzes vor sich hin ziehen und vergehen, dieses Jahr aber erlebe ich bewusst und unterscheide Jahreszeiten voneinander. Corona steht für Tod, dachte ich, verspricht eine Beruhigung und Wertschätzung des Gewohnten, der Tod, der Herbst, also suchte ich zuhause nach einer schmalen Reclamausgabe, nach Trakl als Drittem im Bunde.

Hier, dachte ich, das Heftchen in der Hand, ist das etwa kein Beweis, dass ohne Präsenzlesungen und Interviews und open mike und Bachmannpreis und all dem, was mich alles so nervös macht, dass es hier doch selbstgenügsame Texte gibt, wie ich sie haben will. Trakl erlebte einen Krieg, wie wir ihn nie verstehen werden, starb mit siebenundzwanzig, in einem Alter, in dem sich heute viele noch als jung bezeichnen würden. Zum ersten Mal habe ich Trakl in der Schule im Deutschunterricht gelesen, Trakl und Büchner, die Einzigen, die ich gemocht habe. Damals mit vierzehn gefiel mir der Gedanke, früh zu sterben und etwas Kostbares zu hinterlassen, mit fünfundzwanzig habe ich sein Museum in Salzburg besucht; ein stilles, verstecktes Haus, für das sich nicht mal Touristen interessierten, mit achtundzwanzig habe ich wieder nach ihm gesucht.

Nun zuhause, mit dem Reclambändchen, kommen mir die Texte zum Vorsprechen und Vorsingen vor:

O die roten Abendstunden!
Flimmernd schwankt am offenen Fenster
Weinlaub wirr ins Blau gewunden,
Drinnen nisten Angstgespenster.

oder

Rötlich steigt im grünen Weiher der Fisch.
Unter dem runden Himmel
Fährt der Fischer leise im blauen Kahn.

oder

Indes wie blasser Kinder Todesreigen<
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

Es sind schlichte Worte, klare Rhythmen, ein melancholisches Entzücken, ich lese den Verfall morgens beim Aufstehen und abends beim Einschlafen laut vor mich hin, frage mich, wie etwas so Einfaches so rührend sein kann. Auch die zärtlichste, lakonischste Liebesbekundung, die ich je gelesen habe:

Wo du gehst wird Herbst und Abend,
Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,
Einsamer Weiher am Abend.

Leise der Flug der Vögel tönt,
Die Schwermut über deinen Augenbogen.
Dein schmales Lächeln tönt.

Gott hat deine Lider verbogen.
Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,
Deinen Stirnenbogen.

Ein Trakl würde heute kaum mehr funktionieren, wollte man ihn parodieren, er wäre auch kaum mehr auszuhalten, würde in Kitsch übergehen, aber Trakl so, wie ich ihn lese, ist nicht kitschig, ganz und gar nicht. Vielleicht liegt es an einer Ästhetik, die nah genug an der Gegenwart ist, um ihr folgen zu können, und entfernt genug, um auf eine Wertung zu verzichten, sie als eine historische, abgeschlossene Tatsache zu begreifen. Trakl ist eine Tatsache, etwas Reales, wonach ich gesucht habe, das ich außerhalb von Konkurrenz und Selbstdarstellung genieße. Wie auf alten Gemälden reihen sich rote, braune, goldene Töne aneinander, romantisches Vokabular trägt einen bitteren Geschmack. Es fühlt sich gut an, dass die Gedichte da sind, ruhig, geduldig, wie Steine oder Bäume. So eine Besinnung auf den Tod hinaus, überlege ich, wäre Trakl nicht gut für uns, um eine selbstironische Freude zu bewahren, die moosigen Blicke des Wilds, die Schuld des Geborenen, Münder, die Wunden gleichen, die dunkle Angst / des Todes schließlich auszuhalten, den wieder einsamen Vorgang des Lesens ─

 

Photo by Kristian Seedorff

Homeoffice im Altkanzleramt – Eine Bildbetrachtung

von Benedikt Wintgens

 

Soyeon Schröder-Kim hat einen erfolgreichen Auftritt bei Instagram. Es ist dort zwar keiner der ganz großen Accounts, aber immerhin 16.000 Follower warten derzeit auf die neuesten Posts. Wie bei Instagram üblich wirft Schröder-Kim Schlaglichter vor allem auf die schönen, glänzenden Seiten des Lebens. Wer ihr folgt, sieht Äpfel, Tomaten und immer wieder Blumen. Gezeigt werden aber auch Fotos aus Konferenzräumen und Kongresshotels, wenn die in Seoul geborene Dolmetscherin und Übersetzerin Einblicke in ihr Berufsleben gibt. In der Corona-Pandemie gehören natürlich Screenshots aus dem Zoom-Universum dazu. An anderen Tagen steht Schröder-Kim zuhause am Induktionsherd und brät Gemüse. Mit ihren zweisprachigen Beiträgen schlägt sie auf Instagram nicht nur eine Brücke zwischen Südkorea und Deutschland, es zerfließen auch die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen dem Anschein von Authentizität und Selbstdarstellung.

Leitmotivisch steht Schröder-Kims Account unter #Hasosul, wofür sie als Übersetzung vorschlägt: „Eine kleine Freude an einem Tag“. Unter den makellosen Oberflächen sind ihre Beiträge allerdings keineswegs unpolitisch – dem pandemiebedingten Rückzug in die eigenen vier Wände und der Inszenierung dieser Häuslichkeit zum Trotz. Schon im Frühjahr gab es Schnittmuster für Mund-Nasen-Schutz und regelmäßige Plädoyers fürs Maskentragen, als diese Kulturpraxis in Deutschland noch ungeübt war. Darüber hinaus bezieht Schröder-Kim Stellung für eine Statue, die in Berlin-Moabit an die sexuelle Gewalt erinnert, die koreanische Frauen während der japanischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg erlitten haben.

Seinen besonderen Reiz gewinnt Schröder-Kims Account durch die regelmäßigen Auftritte des Ehemanns. Der ist deutlich älter als seine Frau und in Deutschland nicht unbekannt. Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 – getragen von einer rot-grünen Parlamentsmehrheit – der siebte Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, zunächst ein paar Monate noch in Bonn, dann für sechs politisch turbulente Jahre in Berlin. Heute ist der Altkanzler als Anwalt und Lobbyist tätig, insbesondere für russische Energiekonzerne, die zur Gazprom-Gesellschaft gehören; unter anderem ist er Aufsichtsratsvorsitzender von Rosneft. Wegen dieser Verbindungen steht Schröder öffentlich immer wieder stark in der Kritik. Zuletzt bezeichnete ihn etwa der russische Oppositionelle Alexej Nawalny als einen „Laufburschen“ von Präsident Putin. Für den langjährigen SPD-Außenpolitiker Gernot Erler verbindet Schröder mit Putin eine „Männerfreundschaft ohne Rücksicht auf Verluste“.

Zuhause aber, jedenfalls bei Instagram, erscheint Schröder als liebender Ehemann. Er bringt seiner Frau Blumen, um ihr eine Freude zu machen, und in Pantoffeln erntet er auf der Terrasse gezogene Tomaten. Alles in allem entsteht so der Eindruck, als wäre es nicht zuletzt sein Werk, dass es privat in Hannover richtig hyggelig zugeht, äußerst entspannt. Höchstpersönlich steht der Altkanzler am Herd und macht Bratkartoffeln, lässig-nachlässig trägt er dazu eine blaue Steppweste, darunter sichtbar die nackten Oberarme. Großes Kino ist das Instagram-Video, in dem Schröder an einem Spätsommerabend auf dem Balkon sitzt und – aus dem Gedächtnis sowie mit seiner sonoren Stimme – Rilkes berühmtes „Herbsttag“-Gedicht rezitiert, einen Teller Suppe, Rotwein und einen Sonnenblumenstrauß vor sich auf dem Tisch: „Herr: es ist Zeit.“

Es soll Charme und Selbstironie zum Ausdruck bringen, wenn der inzwischen Sechsundsiebzigjährige Hagebuttenzweige in einer Vase trägt und dabei ins Smartphone erzählt, wie er als kleiner Junge die Mädchen mit Juckpulver aus Hagebutten getriezt hat. Gleichzeitig regt sich beim Zuschauen oft eine Art Schamgefühl, stellt sich Frage, ob man das wirklich sehen möchte, ob man nicht unversehens voyeuristisch wird – und ob es möglicherweise ein Nebeneffekt dieses anscheinend privaten Accounts sein könnte, Schröders umstrittene Verbindungen vergessen zu machen. „Andere Aufsichtsratsvorsitzende russischer Energieriesen wohnen vermutlich anders“, bemerkte dazu süffisant der Publizist Arno Frank.

Eine Mischung aus Staunen und Faszination stellt sich auch beim Betrachten jenes Fotos ein, das die Eheleute Schröder im Arbeitszimmer zeigt (und das offensichtlich von einer dritten Person fotografiert wurde). Nebeneinandersitzend signieren die beiden Autogrammkarten – seine schwarz-weiß, ihre in Farbe, etwas kleiner im Format allerdings. Die Autogrammkarten sind eine Dankeschön-Aktion des Paars für die Unterstützung des Vereins HeRo, dessen Schirmherrin Soyeon Schröder-Kim ist und der sich um kultursensible Altenhilfe für Koreaner*innen kümmert, die in den 1960er Jahren nach Westdeutschland gekommen waren.

 

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Über die Köpfe der beiden wandert der Blick beim Betrachten des Bildes hinaus in den Raum, der mit Parkettboden, weißen Wänden sowie hochwertigen Büromöbeln eine aufgeräumt-elegante, aber nicht unpersönliche Arbeitsatmosphäre ausstrahlt. In halbhohen Regalen stehen Bücher (ohne dass der Eindruck einer überladenen Bibliothek entstehen würde); die Buchtitel sind nicht genau zu identifizieren, gut zur Hälfte handelt es sich um großformatige Kataloge, viel Kunst also, eine bekannte Leidenschaft Schröders. Dazwischen stehen allerlei kleinere Gegenstände, Souvenirs vielleicht, hinter denen sich wohl weitere Geschichten verbergen. Die rotweiße Blechtrommel etwa ganz wie auf dem Buchcover des gleichnamigen Romans: Hat Schröder sie von Günter Grass geschenkt bekommen, dem streitbaren Freund der „EsPeDe“, oder vom Regisseur Volker Schlöndorff, der für die Verfilmung der „Blechtrommel“ mit einem Oscar geehrt wurde? Als Schröder Bundeskanzler war, haben sich beide öffentlich für ihn stark gemacht.

Rätsel gibt auch ein großes Bismarck-Porträt auf – Bismarck, ernsthaft? Der „eiserne Kanzler“, dessen Sozialistengesetz Linke und Arbeiterbewegung als „Reichsfeinde“ polizeilich bekämpft hatte? Vielleicht steht sein Bild bei Schröder in Hannover für Durchsetzungskraft, historische Größe und politischen Erfolg. Bismarck regierte mit sprichwörtlich harter Hand, doch die Sozialdemokraten haben die Zeit der Unterdrückung überstanden – und 100 Jahre nach Bismarcks Tod wurde der aus kleinen Verhältnissen stammende Gerhard Schröder Kanzler. Besonders auffällig in seinem Zimmer sind da noch zwei Bronzeplastiken, die nur von der Seite zu sehen sind. Trägt die eine Büste wirklich Schröders Gesichtszüge? Hat er sich sein also eigenes Herrschaftszeichen ins Zimmer geholt? Und wen repräsentiert der Frauenkopf an seiner Seite, ist das Soyeon Kim?

Klarer liegen die Dinge bei der weiträumigen Bildergalerie der Bundeskanzler, die in der chronologischen Reihenfolge gehängt wurden, ohne Hinweis auf Parteizughörigkeit oder unterschiedlich lange Amtszeiten: zuerst der greise Patriarch Adenauer zivil-distanziert mit Hut, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, dann Willy Brandt und Helmut Schmidt, die beiden Sozialdemokraten (zu deren Zeit Schröders politische Karriere begann), Helmut Kohl – und endlich Schröder selbst. Die Porträts stammen alle von Konrad R. Müller, einem der großen Porträtfotofrafen der kleinen Bonner Republik.* Die Serie hängt auch in mehreren Museen. Es sind Fotografien in schwarz-weiß, als Porträts weder Herrschergemälde noch Karikatur, mit Passepartouts in schlichten, aber eleganten Holzrahmen, die perfekt zum sachlich-bescheidenen Stil der alten Bundesrepublik zu passen scheinen.

Bis auf Kohl, der sich verschmitzt ins Fäustchen lächelt, schauen alle Kanzler ernst und konzentriert drein, nachdenklich oder besorgt – fast so, als gelte es, die besondere Würde, Schwere, Gravitas ihres Amtes ins Bild zu setzen. Schröders Büro-Fotos stellen eine historische Kontinuität bundesrepublikanisch-deutscher Staatlichkeit her (damit korrespondiert sogar der verblassende Bismarck), und sie knüpfen an die Selbstdarstellung klassischer Herrschaftslegitimation an: Schröder reiht sich im Wortsinn ein in die Linie derer, die es nach ganz oben geschafft haben – und die ihrem Land dann (dem Eigenbild nach) gedient haben.

Die „Ahnengalerie“ des Altkanzlers ist auch eine Anspielung auf die „offizielle“ Porträtfolge, die heute im Bundeskanzleramt hängt. Diese Galerie befand sich zunächst im 70er-Jahre-Bau des Bundeskanzleramts in Bonn, genau jenem Gebäude also, an dessen Zaun der junge Abgeordnete Schröder in den 80er Jahren nach einem fröhlichen Abend in der „Provinz“-Kneipe gerüttelt haben soll: „Ich will hier rein.“ Die Galerie geht auf eine Idee von Helmut Schmidt zurück, dessen Vorliebe für die deutschen Expressionisten, namentlich den nationalsozialistisch belasteten Emil Nolde zuletzt historisch aufgearbeitet wurde. Schmidt wollte mit seinem Kunstprogramm die Bonner Regierungszentrale, deren Architektur ganz aufs Praktische und Funktionale ausgerichtet war und die Schmidt nicht leiden konnte, bildsprachlich konterkarieren. Neben einem nach Nolde benannten Arbeitszimmer und einem Worpswede-Salon entstand stückweise eine Ahnengalerie, für welche die noch lebenden Altkanzler ihren Maler selbst vorschlagen durften. Helmut Schmidt etwa entschied sich für den ostdeutschen Maler Bernhard Heisig; Kohls Wahl fiel später auf den Leipziger Albrecht Gehse. Da Adenauer nicht mehr lebte, behalf man sich mit einem Bild, das Hans Jürgen Kallmann 1963 gemalt hatte, während das künstlerisch weitaus interessantere Adenauer-Porträt von Oskar Kokoschka damals nicht verfügbar war und heute über Angela Merkels Schreibtisch hängt.

Der gemeinsame Nenner dieser sechs „amtlichen“ Kanzleramtsbilder von Adenauer bis Kohl ist, dass sie zwar dem Anschein nach an das Genre klassischer Herrscherporträts zitieren, aber allesamt Politiker zeigen, die nicht mehr aktiv sind und ihre Macht abgegeben haben. Wie die Kunsthistorikerin Merle Ziegler in ihrer Studie über das Bonner Amtsgebäude hervorhebt, erscheinen die Kanzler „im Gestus des bürgerlichen Privatmannes“ – ein bisschen so wie Schröder heute bei Instagram. Dessen Porträt in der Kanzlergalerie, gemalt von Jörg Immendorff, fällt demgegenüber aus dem Rahmen. Hier sitzt kein Ruheständler, sondern es ist eine goldene Büste mit entschlossenem Blick. Auf diesem Bild strahlt Schröder als Medienkanzler wie als Machtmensch, ironisch flankiert von mehreren Maleraffen. Seine Anmutung ist cäsarenhaft oder erinnert an einen Renaissancefürsten. Eine freilich fehlt in dieser Reihe: Angela Merkel, Bundeskanzlerin seit 2005. Sie hat auch in Schröders Arbeitszimmer in Hannover kein Bild – zumindest im Bundeskanzleramt wird sich das wohl eines Tages ändern. Schröder schreibt derweil Autogramme, und Soyeon Schröder-Kim wird weiter auf Instagram posten. Nicht alles geht glatt auf, nicht alles wirkt stimmig. So ist das Leben, lächelt heute das Ehepaar Schröder-Kim bei Instagram. Heiter und gelassen.

 

* Für den Hinweis danke ich Wolfgang Ullrich

 

Photo by Solen Feyissa on Unsplash

Cool for you? – Die “coole” Lesbe in der Literatur [Queering Literaturbetrieb]

Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

eine Kolumne von Eva Tepest

 

Ich fragte vor ein paar Wochen in eine queere Runde, ob Lesben jemals cool waren. Der Anlass für diese Frage war der Text Scaling Hotness to life von Maxi Wallenhorst, die mir gegenüber auf dem Balkon saß.  In dem Text hatte sie eloquent dargelegt, dass die aktuelle Hotness einer bestimmten Art von trans Literatur, komplexe trans Realitäten reduziert, auf eine Kurzformel für “countless other things that are vaguely boundary-crossing, vaguely intense”.

Vielleicht in den frühen 90ern, beantwortete ich meine eigene Frage, vielleicht waren die punkigen Motorrad-Lesben in Großbritannien, vielleicht die US-amerikanischen Butches und Dykes to watch out for kulturelle Ikonen ihrer Zeit. Doch trotz dieser Beispiele, blieb eine Frage: Warum gibt es im deutschsprachigen Literatur-Mainstream, im Kulturbetrieb, really, keine coolen Lesben?

Ich erinnere mich an die lesbische Literatur der 00er- und 10er-Jahre: Mirjam Müntefering, Flug ins Apricot; Mein lesbisches Auge 7: Das lesbische Jahrbuch der Erotik. Zusammen mit The L Word, einer Raubkopie des Pornos One Night Stand und Hella von Sinnen war das so ziemlich alles, dessen ich an lesbischer Popkultur habhaft werden konnte.

Dabei las ich schon seit meinen Tweens alles, was mir an queerer Literatur in die Hände fiel: Maurice von Edward M. Forster, Klaus Manns Mephisto, Anne Carson, Die Autobiographie von Rot. Ich las also von spätviktorianischen Middle-Class-Engländern, von homosexuellen Karrieristen im Dritten Reich, von in Herkules verliebten, geflügelten Jünglingen, aber nicht von coolen Lesben. Warum ist das so, warum schien es an dieser Stelle eine Lücke zu geben?

Ich möchte zu meiner Verteidigung meine Perspektive auf “Coolness” skizzieren. Dazu muss ich über Eileen Myles schreiben. Der/die Autor*in, Lyriker*in, Aktivist*in ist für mich die Quintessenz des coolen Kids: Auf dem Cover des Buchs Cool for you fläzt Myles breitbeinig auf einem Stuhl, Zigarette in der Hand, Blick frontal in die Kamera. “Wahrscheinlich basieren 75% meiner Performance von Männlichkeit auf dem Bild von Eileen Myles auf dem Cover dieses Buches”, schreibt ein User auf der Review-Plattform goodreads. In den letzten fünf Jahrzehnten hat Myles über zwanzig Bücher veröffentlicht, darunter ein Buch über ihren/seinen verstorbenen Hund und die besten Beschreibungen von lesbischem Sex, die ich kenne (z. B. in Chelsea Girls und Inferno).  Im Interview flirten alle Moderatorinnen mit Myles. Erklärtermaßen lesbisch und nicht-binär, ist Myles Sexiness unabhängig vom männlichen Blick. Cool ist, vor allem, hot.

Myles’ Blick legt die Logistik unserer Gegenwart offen. Ein Fünftel von Myles’ Instagramfeed ist food content: Meist Becher mit schwarzem Kaffee oder Eier (gekocht, sunny side up, mit und ohne Toast). Dazu Doughnuts und schwarzer Tee mit Milch, manchmal Äpfel. Myles legt die materiellen Voraussetzungen des Schreibens offen, den Lebensunterhalt, die Textur der Routinen. Es ist cool, eine überzeugende Vision des Alltags für diejenigen zu bieten, für die es angesichts von Rassimus und Sexismus, von Ausbeutung und Klimakatastrophe, keine Normalität gab, zu der man zurückkehren könnte.

Aufgewachsen in einem working-class Haushalt bei Harvard fehlten Myles nicht nur das Geld, sondern auch Wissen und Habitus, um zu checken, wie der Kulturbetrieb läuft. In der New Yorker Lyrikszene der 70er Jahre war jeder männlich und mindestens middle-, wenn nicht gar upper-class. Über fünf Jahrzehnte schickte Myles Gedichte an den New Yorker, ohne Erfolg. Im Wahlkampf um die amerikanische Präsidentschaft 1992 erklärte Myles gegen George Bush (Sen.) antreten zu wollen und begründete diesen Schritt damit, weit mehr Menschen zu repräsentieren als der amtierende US-Präsident. Im Rahmen der radikal linken und poetischen Präsidentschaftskampagne “Write in Myles for President” erklärte Myles noch nie mehr als 25.000 Dollar im Jahr verdient zu haben und noch nie krankenversichert gewesen zu sein. Im Anschreiben der dazugehörigen Briefwahlkampagne steht Myles’ Gedicht Wallpaper Bankrupty Sale, gefolgt von der Entschuldigung, dass das Ganze “zugegebenermaßen ziemlich melancholisch ist”. Coolness ist ernsthaft ironisch. Coolness ist, die eigenen politics bierernst zu meinen und sie spielerisch zu schultern. Diese ganze Kolumne könnte eine Ausrede sein, um von Eileen Myles zu schwärmen.

Ich muss gestehen: Ich selbst finde “Lesben” uncool. Das fängt schon bei dem Wort “lesbisch” an. In Gesprächen verwende ich häufiger “queer”, “Dyke” oder “gay”. Zum Teil liegt das daran, dass ein Teil der radikalen FrauenLesben-Bewegung hierzulande ebenso wie der radical feminists in den USA bis heute durch seine Trans- und Queerfeindlichkeit besticht.

Doch es gibt, zumindest in mir, auch lesbenfeindliche Vorurteile. Den Teil, der beim Wort “lesbisch” an Wanderschuhe (nicht diese schwarzen, unlängst coolen, sondern solche) und den Begriff lesbian bed death denkt, den Mythos, dass lesbische Paare weniger Sex als andere hätten; oder mein 17-jähriges Ich, die sich die Haare ganz kurz schnitt und sich auf Drängen ihres Umfeldes mit hohen Schuhen, großen Ohrringen und roten Lippenstiften eindeckte, um weiblich genug zu wirken. Die phobische Zangenbewegung sitzt tief: Denn Lesben sind gesellschaftlichen Vorurteilen zufolge zu männlich (und damit eine Gefahr für die Geschlechterbinarität) oder, da zwei (oder mehr) Frauen auf einmal, zu weiblich (und haben damit keinen Spaß, keinen Humor und ganz bestimmt keinen aufregenden Sex). Das alles behauptet auch: Lesben sind uncool. Ich werde im weiteren Verlauf dieser Kolumne üben, “lesbisch” zu schreiben.

Ich brauche selbstbewusste lesbische Vorbilder. Warum finde ich my lesbian cool in erster Linie in englischsprachigen Kontexten?

Ich behaupte, dass es schwer ist, coole lesbische Literatur zu schreiben. Ein queerer Verleger erzählte mir neulich, dass lesbische Autor*innen sich häufiger “doch nicht trauten”, ein bereits bestelltes Buch abzuliefern. Well.

Es ist mühsam, sich eine Leichtigkeit zu erschreiben, wenn du mehrfach diskriminiert bist, als queere Frau, als Lesbe of colour, als trans Dyke, als nicht-binäre lesbische Femme. Ein selbstbestimmter Umgang mit Sexualität ist heikel, wenn lesbische Sexualität häufig eine Vorlage für männliche Fantasien ist: Es gibt, mit Maggie Nelson gesprochen, keine Blaupause für emanzipierte Sexualität, und alle kleinen Mädchen bekommen vorgelebt, dass Sex unkonsensuelle Unterwerfung ist. Wie sollen wir diesem Kontext leichtfüßiges loving licking lying, eine lesbische Lebensrealität  schreibend abringen?

Ich klage dennoch an: Ich kann nicht akzeptieren, dass es so wenige lesbische Titel im deutschsprachigen Verlagsprogramm gibt – von Nischenverlagen einmal abgesehen.

Ein paar Belege: Unter den 200 Titeln auf den Longlists des Deutschen Buchpreises aus den vergangenen zehn Jahren finden sich lediglich vier Titel mit lesbischen Referenzen (wenn auch nicht gerade Hauptfiguren), Sasha Marianna Salzmanns Außer sich, Antje Ravic Strubels Sturz der Tage in die Nacht, Olga Grjasnovwa, Der Russe ist einer, der Birken liebt und in diesem Jahr Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst. In den aktuellen Herbstprogrammen der großen deutschen Verlage Suhrkamp, Ullstein, S. Fischer, Aufbau, Hanser, Matthes & Seitz und Rowohlt findet sich als einziges Prosawerk mit lesbischen Bezügen Ronya Othmanns Die Sommer. [1]

Und das gilt nicht nur für deutschsprachige Literatur, auch mit Übersetzungen sieht es hierzulande kaum besser aus. Und das gilt leider oft auch für die Qualität der Übertragung. Erst vor Kurzem wurde das erste Werk von Eileen Myles ins Deutsche übertragen. In der Übersetzung von Dieter Fuchs steht für “Dyke” der Begriff “Kampflesbe”. Und während Sally Rooneys Normcore-Romane Normale Menschen und Gespräche unter Freunden in Windeseile übersetzt wurden, steht eine deutsche Fassung von Bernardine Evaristos fantastischem Girl, Woman, Other noch aus, ebenso wie von Women (Chloe Caldwell) und vielen anderen.

Es gibt sie, die coolen, erfolgreichen lesbische Autor*innen, die auf deutsch schreiben, es gibt Ronya Othmann und Helene Hegemann, aber es müssten doch so viel mehr sein, die es in den literarischen Mainstream schaffen. Ich brauche mehr. “Als ich in den 70er Jahren nach New York kam, wusste ich nicht, dass ich lesbisch bin…. Ich war homophob oder ängstlich – ich wollte einfach keine Lesbe sein”, schreibt Eileen Myles im Essay The Lesbian Poet. “Es gab auch keine Frau in diesem Kreis von Dichtern, die mich empfangen und mir mitteilen konnte, dass ich gehört wurde. Ich fertigte das Modell von dem an, was ich dort sein musste. Ich habe lesbische Inhalte in die Lyrik der New York School aufgenommen, weil ich wollte, dass das Gedicht da ist, um mich zu empfangen.” Lasst uns unser eigenes Modell sein.

 

[1] Dazu erscheinen bei Hanser unter dem Titel Susan Sontag Wie wir jetzt leben auch Susan Sontags Kurzgeschichten, aber die sind frei von expliziten lesbischen Bezügen, was angesichts von Sontags Haltung, dass homosexuelle Beziehungen “nicht valide” sind, nicht verwundert.

 

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