Kategorie: Kolumne

Tröstende Fiktionen – ‘Der Boden ist Lava’ in Zeiten der Pandemie

Im Wohnzimmer auf der Couch stehen und ohne den Boden zu berühren zum Sofatisch hüpfen; von dort auf einen Stuhl und dann auf die umgekippte Spielzeugkiste; von dort zum Teppich vor der Tür und dann in Sicherheit. Eine Spielidee, die wohl die meisten in irgendeiner Form aus ihrer Kindheit kennen und die auf Englisch “The Floor is Lava” heißt. Eine Netflix-Show nimmt jetzt die Prämisse dieses Kinderspiels auf und lässt in einer speziell dekorierten Halle jeweils drei Teams mit je drei Personen gegeneinander antreten. In den Medien fallen in der Beschreibung von Der Boden ist Lava oft Begriffe wie “hirnlos” oder “Trash-TV”, bei den Zuschauenden ist die Show jedoch ein großer Erfolg, mit ausgesprochen umfangreicher Resonanz in den sozialen Medien. Warum ist dieses absurd anmutende Konzept gerade jetzt so erfolgreich und hat diese Show wirklich die Stimmung im Lockdown gerettet, wie ein Guardian-Autor behauptet (“Floor Is Lava is great. It has saved lockdown.”) und wenn ja, warum?

Im deutschsprachigen Raum hat nur GQ der Show eine ausführlichere Kritik gewidmet, die vor allem auf den hohen Produktionswert der Show eingeht. Denn für die knapp 30-Minuten langen Folgen wird der Spielraum jedes Mal neu und aufwändig gestaltet und die zu bekletternden Gegenstände zwischen dem orange-roten Schleim, der als Lava den Boden bedeckt, sind thematisch aufeinander abgestimmt. Die Spielfläche in Der Boden ist Lava ist jeweils an ein spezielles Zimmer in einem Haus angelehnt, vom Büro bis zum Schlafzimmer – sogar ein Planetarium gibt es. Passend zu dem grundsätzlich komplett überdrehten Design findet sich im Keller eine Alien-Mumie im Sarkophag mit aufgespießten Insektenrahmen an den Wänden und in der Küche spielt ein großer Pizzaofen eine entscheidende Rolle für die Teilnehmenden. Zudem gibt es in jeder Folge verborgene Anspielungen und lustige Details zu entdecken: von den Rothko-inspirierten Wandgemälden in Folge 2 zu einem Buch mit dem Titel Pompeji in Folge 5.

Das ganze Setdesign spielt mit visuellen Tropen und erinnert, genau wie von der Produktion angepeilt, mal an Indiana Jones oder an den Film Nachts im Museum. Diese kindlichen Vorstellungswelten, aufgepumpt mit genau der richtigen Menge an Größenwahn und Humor, funktionieren weitestgehend sehr gut, bloß in der Gestaltung des Arbeitszimmers, das teilweise unangenehm an den Raum eines reichen Großwildjägers erinnert, hätte man sich etwas mehr Feingefühl gewünscht. Teilweise sind die Klettergegenstände einen Tick zu groß (manchmal auch zu klein), was dem ganzen Set eine leicht surrealen Eindruck verleiht und auch das passt zu dem Grundkonzept eine Spielsituation aus der Kindheit als Gameshow neu zu beleben.

Durch einen Produktionstrick wird der sonst in der kindlichen Imagination stattfindende Nervenkitzel ines möglichen Todes in der Lava für die Zuschauenden potenziert: Wenn die Spielenden abrutschen, schneidet die Kamera direkt im Anschluss auf die Lavaoberfläche, für die Zuschauenden sind sie tatsächlich in der Lava verschwunden und ihr Fall wird von ihren Mitspielenden dramatisch kommentiert. Damit keine zuschauenden Kinderseelen durch diesen zugegebenerweise etwas drastischen Effekt geschädigt werden, tauchen aber alle Teammitglieder am Ende der Runde zu einem kurzen Interview nochmal auf. Dennoch ist der daraus resultierende Spannungsaufbau für kleinere Kinder vielleicht etwas zu anstrengend. Eher nervig sind auch die bemühten Moderationskommentare, die in der deutschen Übersetzung  unfreiwillig komisch sind und oft Klischees bedienen, denen sich die Serie sonst entzieht.

Die Frage nach dem großen Erfolg der Serie wird oft mit einem Verweis auf die Sehnsucht nach “Fun” oder richtig guter, simpler Unterhaltung beantwortet und was könnte unschuldiger (und auch unpolitischer) sein, als auf den Spaß aus Kindheitstagen Bezug zu nehmen und daraus eine absurd aufgekratzte Gameshow zu fabrizieren, auf die sich auch große Familien gut einigen können. Die gut gecasteten Teams fügen den Episoden einen eigenen Humor hinzu, der sich auch noch perfekt für Internet-Memes eignet, wie die Drillinge aus der ersten Folge, die versuchten den Parcours in Muskelshirts mit dem Muster der amerikanischen Flagge zu bewältigen. Das Serienformat spielt außerdem mit einer nostalgischen Sehnsucht nach Samstagabendgameshows, die von der ganzen Familie im Fernsehen geschaut werden konnten und die Kindheit der Eltern von heute prägten. Also beste Unterhaltung für die ganze Familie, die im Zweifel aufgrund der Pandemie sowieso mehr Stunden als gewöhnlich miteinander verbringen muss und mit dieser Show nicht nur einen weitestgehend konfliktfreien Unterhaltungsrahmen gefunden hat, sondern auch noch Anregungen für weitere Spielstunden mit den Kindern. Das Geheimrezept aus Spaß, Unterhaltung, Überdrehtheit und Nostalgie ist eine deutliches Argument für den Erfolg der Serie. Aber bei genauerem Hinsehen dürften noch einige andere Faktoren erklären, warum genau diese Showidee so erfolgreich für den Sommer 2020 ist.

Da wäre zuerst, dass die Ausgangssituation der Show mit dem Überschreiten von Regeln arbeitet. Spielende Kinder dürfen nämlich für gewöhnlich nicht den Kronleuchter in das Spiel einbeziehen oder auf den elterlichen Schreibtisch springen. Das immer am Spielanfang betonte “Everything is part of the game!” vermittelt so den Zuschauenden auch das Gefühl absoluter Freiheit. Das gemeinsame Spiel ist entscheidend. Dieser gemeinschaftliche Anspruch verstärkt sich nur dadurch, dass die Teams nacheinander antreten und sich deswegen nicht in direkter Konkurrenz befinden. Stattdessen sieht man Freunde, Familien oder Arbeitskollegen dabei zu, wie sie sich gegenseitig anfeuern, teilweise auf rührende Art und Weise unterstützen und gemeinsam versuchen einen sicheren Weg durch den Raum zu finden, ein erstaunlich von Gemeinschaftsgeist geprägter Ansatz für ein Spiel, in dem Menschen in Lava versinken.

Die Spielsituation selbst ist ein weiterer Verweis auf mögliche Gründe für den Erfolg der Show, denn die gesamte Ausgangssituation basiert darauf, dass die Spielenden einen fiktionalen Pakt miteinander und mit den Zuschauenden schließen, der durch das mehr oder weniger laut gebrüllte “Der Boden ist … Lava” betont wird. Das Spiel lebt davon, dass alle Teilnehmenden und auch die Zuschauenden sich darüber einig sind, dass der orangene Schleim als gefährliche Lava behandelt wird. Ein einfaches “Ich habe keine Angst vor dem Schleim, das ist ja gar keine Lava” würde diese geteilte Fiktion zerstören. Diese Form des Spielens ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Wir können uns miteinander auf einen Fiktionspakt einigen und darauf aufbauend ein Spiel spielen oder uns auf fiktive Welten einlassen. Menschen, die diesen Fiktionspakt in Frage stellen, verderben uns dann das Spiel.

Der Boden ist Lava lebt von der Prämisse gemeinsam an einem Spiel teilzunehmen, sich kollektiv auf eine Fiktion einzulassen, die den Teilnehmenden deutlich bewusst ist, wie die übertrieben expressiven Reaktionen auf das Versinken der Spielenden in der Lava zeigen. Hier wissen alle, dass gespielt wird, niemand hat Interesse die fiktive Welt des Spiels zu durchbrechen. Deswegen können wir für die Zeit des Spiels sonstige Differenzen, Sorgen und Probleme in den Hintergrund treten lassen. Aus genau diesem Grund hat das Spielen, neben vielen anderen Aspekten, immer auch eine Entlastungsfunktion für die Teilnehmenden. Während des gemeinsamen Spielens genau wie bei der Immersion in eine fiktive Welt kann der enge Rahmen der Realität überschritten oder vergessen werden. Eine Gruppe aus Erwachsenen kann gemeinsam beschließen, sich enthusiastisch auf die Fiktion einzulassen, dass der zähe Schleim in der Produktionshalle eines ehemaligen Ikea-Marktes gefährlich spritzende Lava sei. Und vielleicht liegt genau darin das Geheimnis von Der Boden ist Lava: In einer Zeit, in der wir uns nicht mehr auf gemeinsame Fakten verständigen können, einigen wir uns zumindest auf eine miteinander geteilte Fiktion, so absurd sie auch sein mag.

Photo by Ben Klea

Zwei D-Mark pro Zeile – Wie ich einmal ein professioneller Literaturkritiker wurde

von Jan Kutter

 

Professionelle Literaturkritik gebe es im Feuilleton, an den “elektronischen Stammtischen” des Internets hingegen ertöne nur Amateurgeschnatter, meinte kürzlich die Kritikerin Sigrid Löffler — und erntete damit postwendend einiges Geschnatter. Doch was ist eigentlich das Professionelle an Literaturkritik, und aus welchen Gründen sollte sie nur in gewerblichen Medien, aber im Netz nicht möglich sein? Bevor ich vor beinahe zwanzig Jahren ein Blog startete und vor zwölf Jahren mit der Twitterei begann, also ein elektronischer Stammtischbruder wurde, arbeitete ich gelegentlich als professioneller Literaturkritiker im soliden, unscheinbaren Mittelbau des deutschen Feuilletonats. Ich tat es für Geld.

Mitte der neunziger Jahre steckte ich mitten in einem Studium der Deutschen Literaturwissenschaft und belegte ein Seminar über Literaturkritik, angeboten von einem richtigen, leibhaftigen Feuilletonredakteur einer richtigen, angesehenen überregionalen Tageszeitung. Wir lernten Grundsätzliches über die Geschichte, Begriffe und Techniken des Rezensionsverrichtungswesens und beschäftigten uns  mit der Literaturbetriebsstättenverordnung und der Ökonomie der Zeitungsspaltenbefüllung. Zu guter Letzt bestand unsere Aufgabe darin, die großen Scheine der Theorie in das Kleingeld der Praxis umzutauschen und die aktuelle Neuerscheinung eines amerikanischen Autors zu rezensieren, den uns der dozierende Feuilletonist bereits als seinen Lieblingsschriftsteller aufgetischt hatte. Viele Verrisse würde dieses Seminar also nicht zutage fördern.

“Igittigitt!”

Meine Besprechung fiel flapsig aus, doch der Feuilletonist mochte sie. Neben einen Absatz hatte er anerkennend geschrieben: ”Igittigitt!”. Das war Ermutigung genug, um den Text an ein paar Zeitungen zu faxen. Damals gab es tatsächlich noch so etwas wie Regionalzeitungs-Feuilletons, vielleicht nicht ganz so weltläufig und intellektuell wie bei den großen überregionalen Blättern, aber doch oft ehrgeizig im Bestreben, das Bräsig-Provinzielle zu meiden (nicht so wie diese Mokel vom Lokalteil!).

Eine größere regionale Tageszeitung nahm meine Rezension tatsächlich ab. Dann, ein paar Wochen später, schickte mir der dort ansässige Literaturredakteur unerwartet ein neues Buch. Darin steckte eine Postkarte, auf der er um eine Besprechung bat. Dieses Rezensionsexemplar war nun von einem meiner Lieblingsschriftsteller. Ich erhielt es ein paar Monate vor der Veröffentlichung, und ich war entschlossen, eine Hymne zu verfassen, die weit über den Atlantik bis ins unverputzte Autorenloft in NYC schallen würde. Doch das Buch über einen fliegenden Jungen war eine Bruchlandung, eine deftige Enttäuschung. Und so schrieb ich schweren Herzens und doch mit großer Lust meinen ersten Verriss.

Ich lieferte, der Redakteur druckte, und plötzlich war ich der neue Mann für neue amerikanische Literatur. Augenscheinlich war auf dieser Spielposition gerade eine Vakanz entstanden, als meine erste Rezension unaufgefordert aus dem Faxgerät in die Kulturredaktion gekrochen kam. Von nun an landeten immer wieder neue Rezensionsexemplare in meiner Post, manchmal lehnte ich ab (James Michener? WTF!), aber die meisten Aufträge übernahm ich oder ich bot selbst etwas an. Nun war ich allerdings als zunächst angehender, dann examinierter Germanist nicht unbedingt ein Experte für amerikanische Literatur, hatte nur ein paar Lieblingsautoren (die üblichen Typen damals: DeLillo, Auster, Gaddis, Coupland und, natürlich, Saint Pynchon, und natürlich: keine Frauen), aber ich wollte mir keine Blöße geben, also arbeitete ich mich ein.

Strecke machen

Ich brauchte Geld und schrieb ausführlich. Gelegentlich erbetene Zeilenzahlen begann ich bald zu überschreiten. “Strecke machen” nannte ich das. Doch der Redakteur kürzte meine Sachen überraschend selten; wenn ein Text zu lang war, ließ er ihn liegen, bis er genug Platz hatte. Oder er hob ihn für die halbjährliche Literaturbeilage auf. Dann wurde ein dreispaltiges Foto dazu gesetzt oder, wie bei meinem ersten Verriss, gleich noch eine Illustration beauftragt. Strecke machen. Es lief gut.

Plötzlich war ich also professioneller Literaturkritiker. Zufall, glückliches Timing und das Missverständnis, man habe es bei mir offenbar mit einem Experten zu tun, hatten mich dazu gemacht. Immerhin verfügte ich über ausreichendes literaturwissenschaftliches Handwerkszeug und, wichtiger noch, Vokabular. Zwar habe ich das prestigeträchtige Amt des Kritikers nie hauptberuflich oder gar festangestellt ausgeübt und nie für ein Alpha-Feuilleton. Und mit einer herausragenden Kritikerin wie Sigrid Löffler, die damals eine Instanz für alle war, denen ihre gleichfalls bekannten Sendepartner Reich-Ranicki und Karasek entweder zu ramenternd oder zu buffonesk waren, würde ich mich nie vergleichen. Aber: Es floss Geld.

Ich bekam zwei D-Mark pro Zeile. Das war damals ein unglaublich luxuriöser Zeilenlohn, zumindest bei dieser Zeitung, aber das lernte ich erst später. Bezahlt wurden meist ein paar Zeilen zu viel, und gelegentlich tauchten auf meiner Honorarabrechnung Pauschalen für Texte auf, die es gar nicht gab. Nach zwei Anrufen bei der Lohnbuchhaltung des Verlags ging mir auf, dass mein Redakteur sich offenbar auch als finanzieller Förderer verstand. Es war noch die Goldene Zeit. Die Zeitung sah aus, als könnten es die gefräßigen Anzeigen gar nicht abwarten, den gesamten redaktionellen Teil endlich mit einem einzigen Haps herunterzuschlingen. Es lief gut.

Den Rest regelten die Banken

Ich habe meinen Redakteur in den fünf Jahren unserer Zusammenarbeit und auch danach nie getroffen und nur einmal, ganz am Anfang, kurz mit ihm telefoniert. Er kommunizierte mit mir über Postkarten, die er in Büchersendungen steckte, ich antwortete per Fax mit einer Rezension, den Rest regelten unsere Banken. Es war eine unkomplizierte, offene, transaktionale Beziehung. Ich mochte den Mann und wusste nicht einmal, wie er aussah. Ich stellte ihn mir als einen älteren, kultivierten Herren vor, wusste nur, dass er männlich und promoviert war. (Viel später lernte ich einen altgedienten Wirtschaftsredakteur jener Zeitung kennen, der ihn noch von früher kannte. ”Was für ein feiner Kerl!”, rief er. Dass ich zwei Mark pro Zeile bekommen hatte, fand er trotzdem nicht in Ordnung. Ihm hatten sie damals 70 Pfennig bezahlt. Tja, die Mokel von der Wirtschaft.)

So füllte ich Spalten um Spalten. Beinahe wäre es mir im Verlaufe meiner Kritikertätigkeit sogar gelungen, die vermutlich erste Nennung des Begriffs Shitstorm in der deutschen Presselandschaft zu platzieren, und zwar bereits im Frühjahr 1996, wenn der feinsinnige Herr Redakteur nicht noch in letzter Minute einen “Drecksturm” daraus gemacht hätte. Dabei hatte ich für anglizismenaverse Abokündigungsandroher*innen mit “Scheißesturm” nun wirklich eine kongeniale Übersetzung abgeliefert.

Und dann, ein paar Jahre später, ging mein Redakteur in den Ruhestand. Offenbar hatte man nur darauf gewartet, nun auch in diesem Ressort einen lange überfälligen Wandel einzuläuten. Eine bereits abgelieferte, ausführliche Rezension, die noch auf Halde lag, wurde von der Nachfolgelösung, die von außen kam, auf 60 Zeilen zusammengestrichen. Danach kamen, selten, neue Aufträge für Unterhaltungsschmonz. Vorgabe: 40, 50 Zeilen. Immer öfter erschienen in der Zeitung jetzt kurze Buchtipps nach dem “Wer XY mochte, wird auch dieses Buch lieben”-Muster. Es lief nicht mehr gut. Ich stieg aus.

Null Punkte

Für schnöde Schmöker-Empfehlungen war ich mir dann doch zu fein; beruflich hatte ich mich zwischenzeitlich ohnehin auf einen anderen Weg gemacht. Und finanziell lohnten sich 40-Zeilen-Aufträge erst recht nicht, nicht bei dem Aufwand, den ich bislang betrieben hatte. Ich hatte immer sehr penibel gearbeitet. Ich dachte, das gehöre sich so für zwei D-Mark, und damals konnte man sich noch nicht einfach alle nötigen Hintergründe schnell zusammenwikipedieren. (In Wahrheit hatte ich immer höllische Angst davor gehabt, irgendwann doch noch als Hochstapler aufzufliegen und verhöhnt und gedemütigt vom Hofe geraddatzt zu werden.)

Ungefähr fünfzehn Jahre nach meinem Ausstieg aus der Rezensentenszene saß ich unter zwielichtigen Umständen in einer Jury eines mäßig beleumundeten Branchenpreises. Eines der zu jurierenden Produkte war die dort eingereichte aktuelle Literaturbeilage “meiner” früheren Zeitung. Neugierig blätterte ich durch das biedere, flatterige Heftchen in der Optik einer TV-Programm-Gratisbeilage und fand kurze, oberflächliche Empfehlungshäppchen für die buntbecoverte Kalkulationsliteratur der Groß- und Größtverlage neben vorteilhaft retuschierten Promofotos der Autor*innen. Ich empfand keinerlei Befangenheit und vergab null Punkte.

Aber es war ja nicht nur “meine” Zeitung, die damals diesen Weg eingeschlagen hatte. Diese Art von wasserlöslicher Instant-Literaturkritik hatte sich längst in der gesamten deutschen Zeitungslandschaft ausgebreitet. Ausnahmen, oft und meist bei den überregionalen Blättern, bestätigten die Regel. Dass eine verdiente Kritikerin wie Sigrid Löffler mit dem Zustand der heutigen Literaturkritik hadert, ist daher nicht überraschend. Was dieser Zustand allerdings mit dem bösen Internet zu tun hat, mag sich mir nicht ganz erschließen. Ich verstehe ja manchen Widerwillen beim Lesen von Bücherblogs: Einiges in diesem bunten Kosmos ist eher subjektiver Leseerfahrungsbericht als methodische Auseinandersetzung mit Literatur, manches ist pastoraler Buchkulturergriffenheitskitsch, der sich in  Kalenderspruchform auch gut auf Buchhandelspapiertüten drucken ließe. Anderes auch wieder nicht. Nur, wo ist das Problem?

Inhaltsangaben mit Meinungsanteil

Wie man auf den Gedanken kommen kann, diese oft sehr persönliche Art der Auseinandersetzung mit der eigenen Lesereise sei nun wahlweise eine Konkurrenz oder gar die Nachfolgerin der professionellen Literaturkritik, ist schwer nachvollziehen — zumal auch in manchen kleinen und großen Online-Medien selbstverständlich längst eine ernsthafte und kompetente Literaturkritik stattfindet, und dies oftmals mit einem neugierigeren Blick und einer originelleren, diverseren Auswahl als in den vom Verlagsausstoß getriebenen etablierten Feuilletons. 

Lesende Menschen stoßen hier in eine Lücke, die etliche Zeitungen hinterlassen haben, als sie den geordneten Rückzug antraten. Natürlich gelingt dies manchen Bücherblogger*innen besser und anderen weniger. Aber wenn jemand die professionelle Literaturkritik mit ihrem methodischen Handwerkszeug tatsächlich kaputtgemacht haben sollte, dann waren es nicht die Blogs oder die Meute auf Twitter, sondern die vielen Zeitungen selbst, die ihre Kulturteile kosteneffizient ausbluten ließen, als kein Geld mehr aus dem Anzeigengeschäft nachfloss, und die ihrer schrumpfenden Leser*innenschaft seither oft bloße Inhaltsangaben mit Meinungsanteil als Besprechungen verkaufen. (Sofern die Zeitungen denn überhaupt überlebten.)

Wer sich heute über ungelenke Amazon-Kritiken von Amateur*innen beömmelt, verkennt jedenfalls, dass hier nicht selten einfach nur die fade, flaue Häppchenkritik imitiert wird, die man heute von den mannigfach kaputtgesparten Regionalzeitungen und Magazinen vorgesetzt bekommt. Und wer die komprimierte Kürze und Knappheit schlaglichtartiger Wortmeldungen auf Twitter beklagt wie einen intellektuellen Makel, übersieht leicht, dass diese Form der Reduktion und Schärfung eines Arguments auf seinen Kern (und seine anschließende Verteidigung) im besten Falle nicht weniger handwerkliches Geschick, sprachliche Präzision und Geistesgegenwart verlangt als seine ornamentale Ausformulierung über vier Spalten. Unter denen, die sich gern über die Beschränkungen des 280-Zeichen-Formats mokieren, finden sich jedenfalls nicht selten Leute, die es — Stichwort: Strecke machen — auch mit 2.800, 28.000 oder 280.000 Zeichen nicht schaffen, auf den Punkt zu kommen. (Wobei dieser Text an dieser Stelle allerdings auch schon über 11.000 Zeichen umfasst.)

Das zugespitzte Hit-and-run-Schreiben, das launige Drive-by-Diskutieren, das Blitzschachspiel mit Argumenten, Empörungen, Albernheiten und vielen kleinen Anspielungen und Codes, das heute auf den verschiedenen Plattformen des Internets möglich ist und dessen Tempo man dort, wo es praktiziert wird, auch erst einmal mitgehen können muss, will und wird keine professionelle Literaturkritik ersetzen. Allerdings wird auch kein noch so zitatensatter ganzseitiger Feuilletonaufmacher eines verdienten Großkritikers mehr eine tosende Debatte wieder einfangen oder gar autoritativ beenden können, wenn sie sich erst einmal wieselflink durch das Gewimmel der Netzwerke ausgebreitet hat. 

Lösen muss man sich von der Vorstellung, diese “Welten” wären so gegensätzlich und unvereinbar, wie Sigrid Löffler es erscheinen lässt. Auf vielen Ebenen überschneiden, durchdringen und befruchten sie sich seit langem gegenseitig: thematisch, personell, stilistisch. Mit ihrem Wort vom “elektronischen Stammtischgeschnatter” ist Löffler eine ironische Spitze gelungen, die einem Thread im spottlustigen Twitter ebenso entsprungen sein könnte wie einer sorgfältig gebauten Literaturkritik im Feuilleton. An den elektronischen Stammtischen wird man sie allerdings auch künftig wohl eher vergebens suchen. Den anderen hier derweil ein zünftiges Prosit!

 

Photo by Ashkan Forouzani on Unsplash

Erschöpfungsfeuilleton – Über journalistische Ohrwürmer

von Simon Sahner

 

Es gibt Songs, die will man immer wieder hören. Man kennt jeden Ton des Intros, jede Zeile der Strophen und den Refrain kann man in jedem Zustand noch mitsingen. Auch wenn es oft nicht die besten Songs sind, haben sie immer wieder den gleichen positiven Effekt – sie machen Spaß. Anders verhält es sich mit einer bestimmten Sorte Meinungsäußerungen im Feuilleton. Auch hier gibt es die Klassiker, die alle kennen, man hat sie in jedem Wortlaut schon einmal gehört. Ihre Ressentiments sind zu anstrengenden Ohrwürmern geworden, die man nicht mehr los wird, und doch wird auch hier der immer gleiche Refrain wiederholt. Während der Song, den alle auf einer Party mitsingen können, die eingeschlafene Fete noch einmal herumreißt, ist die ständig wiederholte Feuilletonmeinung ein Sedativum für die Debattenkultur.

Der Debatten-Ohrwurm ist ein beliebtes Instrument, um für Gesprächsstoff zu sorgen und um Zeitungsseiten, Homepages und Sendezeit mit etwas zu füllen, das nicht nur mit Sicherheit für Aufmerksamkeit sorgt, sondern das auch leicht und schnell herzustellen ist. Einer dieser Gassenhauer ist etwa die Herabwürdigung der Debatte im Internet – ein Diskurs, der nicht in etablierten Zeitungen wie FAZ, ZEIT oder Süddeutschen stattfindet, sondern auf Blogs und in Sozialen Netzwerken. Der Publikationsort diskreditiert scheinbar die Debatte unabhängig davon, wer sie führt. Auch die Frage, ob das deutsche N-Wort gesagt werden sollte oder ob eine bestimmte Bezeichnung für Schaumküsse rassistisch ist, sind häufige Themen. Ein besonders gutes Beispiel ist im weitesten Sinne der Diskurskomplex der sogenannten Identitätspolitik. Adrian Daub hat vor einiger Zeit in der FAZ dargelegt, wie vorhersehbar und repetitiv die zahlreichen journalistischen Kommentare zu Identitätspolitik tatsächlich sind. Einzelne Fälle werden “mosaikartig zu einem großen Panorama bedrohter Meinungsfreiheit und hypersensibler Jugend” zusammengesetzt. Man könne, so Daub, bei jedem dieser Texte Bingo spielen, welcher aus der überschaubaren Zahl der vermeintlichen Skandale als nächstes Beispiel herangezogen wird. Skandale, die sich teilweise beim näheren Hinsehen als gar nicht so skandalös entpuppen.

Besonders gut lässt sich das, was Daub beschreibt, in der NZZ beobachten. Nachdem Donald Trump im November 2016 zum Präsidenten der USA gewählt worden war, schrieb Mark Lilla in der NZZ von den Jugendlichen die im College ermutigt würden „ihre Selbstfixierung weiterhin zu pflegen – durch Studentengruppen ebenso wie durch Fakultätsmitglieder und Administratoren, deren einzige Aufgabe es ist, sich mit “Diversitätsfragen” zu befassen und diesen noch mehr Gewicht zu verleihen.“ Nicht einmal ein Jahr später fragte Lilla erneut in der NZZ rhetorisch ob es verwundere, dass „Studenten des Facebook-Zeitalters eine Vorliebe für Kurse haben, in denen es um ihre Identitäten und um Bewegungen geht, die zu diesen in Bezug stehen? Und ebenso wenig überrascht es, dass sich viele universitäre Gruppierungen anschliessen, die ebenfalls derartige Ziele verfolgen.“ Und nicht einmal ein weiteres halbes Jahr später erklärte Frank Furedi schon wieder in der NZZ die Identitätspolitik vor allem zur Spaltung der Linken. Dieser Reigen an Texten zu dem Thema zieht sich in kurzen Abständen bis in die Gegenwart. Die Wiederholung dieses repetitiven Grundtenors, der Antidiskriminierungsbewegungen unter dem Label der Identitätspolitik Spaltung vorwirft oder sie zu Feinden der Freiheit erklärt, ist besonders in der NZZ augenfällig.

Es gibt aber tatsächlich erschreckend viele dieser stetig wiederholten, vermeintlich streitbaren Meinungsäußerungen: Sei es die Frage, ob angesichts sogenannter Gendersternchen die Ästhetik der deutschen Sprache zugrunde gehe, sei es die Befürchtung, dass aufgrund eines sensibleren Umgangs mit der Darstellung sexualisierter Gewalt Romane wie Vladimir Nabokovs Lolita heute nicht erscheinen dürften (warum es sich bei dieser Sorge um einen Fehlschluss handelt, hat unter anderem Johannes Franzen in der FAZ erläutert). Oder die Behauptung, es gehe bei der Veröffentlichung von Literatur nur um Qualität und nicht auch immer wieder um patriarchale Machtstrukturen.

Das Muster ist und bleibt bei jedem Thema und seiner Wiederholung das gleiche: Aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und kulturellen Verschiebungen sehen sich Vertreter*innen einer etablierten Haltung bedroht und unternehmen den Versuch, die Veränderung zu diskreditieren. Dabei werden Strohmann-Thesen und Popanze entworfen, die oft entweder auf unbegründeten Vermutungen, Generalisierungen oder auf Vorurteilen beruhen und eine Drohkulisse entwerfen, die einer differenzierten Betrachtung selten standhält. Die Identitätspolitik sei die Spanische Inquisition im neuen Gewand, Diskriminierungs- und Traumasensibilität zerstörten die Kultur und das Internet banalisiere den Umgang mit Literatur. Gleichzeitig trägt aber die Strategie des steten Tropfens, der den Stein höhlt, dazu bei, dass die Debattenkultur ermüdet und die wirklich wichtigen Fragen, die all diese Themen berühren, in den Hintergrund gedrängt werden, weil gegen ressentimentgeladene Grundlagenpolemik vorgegangen werden muss.

Der Begriff Ressentiment als Lehnwort aus dem Französischen ist ein Anhaltspunkt, um einem weiteren Zweck dieser Meinungsäußerungen auf den Grund zu gehen. Das Ressentiment, das wörtlich übersetzte Gegengefühl, steht für eine ablehnende Haltung, die vorrangig auf einer emotionalen Ebene stattfindet und zunächst einmal keine belegbare Basis hat. Es ist das diffuse Gefühl, dass einem etwas nicht geheuer ist und man der Sache ablehnend gegenübersteht, ohne, dass man argumentativ sicher begründen könnte warum. Auf eben diese Emotion zielen die meisten dieser Beiträge. Manche von ihnen beruhen sogar selbst darauf. Sie sprechen ein Ressentiment in einem bestimmten Teil der Leser*innenschaft an und umranken es mit vermeintlichen Belegen und scheinbar gut begründeten Argumenten. Damit handelt es sich hierbei nicht nur um diskursermüdende Ohrwürmer, sondern auch um die schriftliche Rechtfertigung von Ressentiments, die als vermeintlicher Beleg für ihre Berechtigung in der Debatte herhalten.

Wenn diese als Debattenbeiträge getarnten Herabwürdigungen so offensichtlich unbegründet, leicht zu widerlegen und oft nur polemisch sind, wieso dann jedes Mal wieder verbal dagegenhalten und so selbst zur Wirksamkeit dieser aufmerksamkeitsökonomischen Strategie beitragen? Das schlichte Ignorieren kann jedoch auch keine grundsätzliche Lösung sein, denn gerade ihre ressentimentbestätigende Wirkung ist im Umgang mit ihnen relevant. Große Pressemedien mögen auf dem absteigenden Ast sein, eine nennenswerte Reichweite haben sie dennoch weiterhin und mit dieser Reichweite werden auch die oben genannten leeren Polemiken und Vorurteile verbreitet und im Diskurs festgesetzt. Ein Widerspruch und eine Klarstellung sind also trotz allem oft Vonnöten.

Und dennoch ist die Reaktion auf diese Ohrwürmer der Debatte ein Dilemma, ein performativer Widerspruch in sich, denn das Entlarven des Ressentiments als solches, verschafft diesem erneut Aufmerksamkeit. Dahinter verbirgt sich das bekannte Prinzip Don’t feed the troll, denn auch wenn die Beiträge in renommierten Medien erscheinen, sind sie doch meist kaum etwas anderes als elaborierte Äußerungen von Debattentrollen, die den Diskurs torpedieren und dabei kulturelles Kapital bei einer bestimmten Gruppe erwirtschaften wollen. Remo Grolimund hat aber schon vor einigen Jahren in einem längeren Beitrag für Geschichte der Gegenwart dargelegt, warum es mit einem simplen Gebot den Troll nicht zu füttern, nicht getan ist. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Debatten gelagert, an zu verschiedenen Punkten befinden sich Diskurse und nicht jeder Troll ist gleich. Es bedarf hingegen, so Grolimund, einer differenzierten Einschätzung der Situation und des jeweiligen Trolls, bevor man reagiert oder eben nicht.

Lohnt es sich jedem Beitrag aus dem Anti-Identitätspolitik-Sperrfeuer der NZZ zu widersprechen? Vermutlich nicht. Es sind inzwischen so viele, dass der einzelne dieser Beiträge kaum noch auffällt und hier ist tatsächlich zu erahnen, dass es um reine Aufmerksamkeit geht. Muss jedes Mal widersprochen werden, wenn kleine Sterne in Texten für den Untergang des kulturellen Abendlandes herhalten müssen? Es kommt darauf an, wer sie äußert und wie und in welchem Kontext. Und muss nun auch zum x-ten Mal erklärt werden, dass die differenzierungsfreie Frontstellung von Debatten im Internet und in etablierten Pressemedien nicht haltbar ist? Auch hier kommt es darauf an, wer sie äußert, aus welchen Gründen und in welchem Rahmen. Ein beachtlicher Teil dieser Debatten-Ohrwürmer ist die Wiederholung von Meinungen aufgrund mangelnden Wissens oder fehlender Erfahrung. Und dem zu widersprechen kann sich lohnen.

 

Photo by Bruno Bučar on Unsplash

Regeln für Blut – Körperlichkeiten in Film und Fernsehen

Trigger-Warnung: In diesem Text wird über die Darstellung von Vergewaltigungen in Film und Fernsehen gesprochen.

Blut ist thixotrop – wenn die Fließgeschwindigkeit abnimmt, verfestigt es sich. Wie Blut sind auch unsere kulturellen Erzählmuster thixotrop, je weniger sie durch Innovation in Bewegung sind, desto statischer und damit auch langweiliger werden sie. Die Darstellung von Menstruation in Filmen und Fernsehserien beispielsweise unterliegt einem so großen kulturellen Tabu, dass die erzählerischen Möglichkeiten sich mit Regelblut auseinanderzusetzen zu einem Klumpen aus Klischees geronnen sind. Zu diesen eingefahrenen Erzählmustern im Umgang mit Blut, das aus der Vagina kommt, gehören vor allem visuelle Tropen, beispielsweise der Blutfleck auf dem Laken nach einer Entjungferung oder dem Einsetzen der ersten Periode.

Literatur und Film verwenden verschiedene erzählerische Mittel, weil die ihnen zugrunde liegenden Zeichensysteme unterschiedlich sind. Besonders deutlich wird dieser Unterschied bei der Frage nach Körperflüssigkeiten. Die sprachliche Schilderung von beispielsweise Sperma oder Durchfall ist nicht dasselbe wie die bildhafte Umsetzung. Bild und Text funktionieren nicht gleich und haben deswegen auch unterschiedliche Auswirkungen auf die Rezeption – ein Thema mit dem sich die Kulturwissenschaft nicht erst seit der ikonischen Wende intensiv beschäftigt. Bilder und Bildsequenzen haben ein größeres Schockpotenzial, da die Reaktion auf Bilder unvermittelter stattfindet und keine Übersetzung ins Zeichensystem der Sprache vorliegt, die wir beim Lesen erst wieder ins imaginäre Visuelle rückübersetzen müssen. Vielleicht ist der Ekelreflex deswegen größer, wenn wir die Fotografie einer benutzten Binde sehen, als wenn uns Menstruation in Literatur sprachlich geschildert wird – nicht umsonst ist die Blutersatzflüssigkeit in der Werbung für Monatshygieneprodukte blau eingefärbt.

Die Darstellung  von aus der Gebärmutter kommendem Blut ist  mit einem großen visuellen Tabu belegt und erheblich stereotypisiert. Das erscheint kaum überraschend, denn die Zeichnung weiblicher Figuren in Filmen und Fernsehen ist ebenfalls oft stereotyp und holzschnittartig, viele der dargestellten Frauenfiguren unterliegen bekanntermaßen einem stark männlich geprägten Blickregime, für das von der Filmtheoretikerin Laura Mulvey bereits 1975 der Begriff des male gaze geprägt wurde. Bei diesem Konzept geht es um die Frage, wer Objekt und wer Subjekt sein darf, wer beobachtet und wer beobachtet wird. Das Konzept des male gaze verweist darauf, dass Frauenfiguren oft als sexuelle Objekte dargestellt werden. Objekte die dem Trieb der männlichen Figuren und implizit dem Blick des männlichen Zuschauers untergeordnet werden. Zu diesen visuellen Machtverhältnissen, die dann erzählerisch gespiegelt werden, gehört es auch, dass weibliche Figuren oft über eine Vergewaltigung charakterisiert werden, ihre Charakterentwicklung also aus einem Gewaltakt heraus motiviert wird.

Stellen wir uns vor: Auf der einen Seite ist ein ehrgeiziger junger Adliger, der trotz jungenhafter Schönheit als autoritärer Aufsteiger und menschlich korrupte Figur inszeniert werden soll, auf der anderen Seite ist die schöne Tochter der Königs. Aus strategischen Gründen soll sie mit eben diesem jungen Adligen verheiratet werden. Wie zeigt man nun den bedingungslosen Aufopferungswillen der Tochter für die Machtambitionen des Vaters? Die erste Antwort, die der Mehrheit der Drehbuch-Schreibenden und auch den Machern der Serie Last Kingdom, aus deren zweiter Staffel diese Szene stammt, auf eine solche Frage einzufallen scheint, ist die Vergewaltigung der weiblichen Figur durch die männliche Figur. Dieser Übergriff wird dann in der späteren filmischen Umsetzung gerne ausgesprochen graphisch umgesetzt. Die psychischen Wunden der Protagonistin bieten die Grundlage für die weitere Entwicklung der Figur – als könnten weibliche Figuren nicht auch anders motiviert werden, beispielsweise durch bedingungslosen Machtwillen, Neid, Rachelust, Arroganz oder eine große humanistische Vision, eben durch die ganze Bandbreite an menschlichen Handlungsantrieben. Stattdessen findet sich immer und immer wieder die zentral gesetzte Vergewaltigung als Fokuspunkt der Figurenzeichnung.

Mittlerweile empfinde ich vor allem Wut, wenn dieser langweilige erzählerische Trick eingesetzt wird, der in Filmen und Fernsehserien unter dem Deckmantel einer Sensibilisierung immer auch die voyeuristischen Impulse des Publikums befriedigen soll. Dabei geht es mir nicht darum, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen nicht abgebildet werden sollte; sie ist leider so allgegenwärtig für die Realität von Frauen, dass sie natürlich auch in Fiktionen auftauchen muss. Die Frage, die sich mir vielmehr stellt, ist, warum ihrer graphischen Darstellung besonders in Fernsehserien und Filmen so viel Raum geboten wird und warum sie oft zum wesentlichen Antrieb und Charakterisierungselement weiblicher Figuren gerät. Je gewaltvoller die Ausgangsrealität der Serie, desto mehr Fokus richtet sich auf Frauen als Opfer von Vergewaltigungen. Keine Wikingerserie ohne vergewaltigende Horden, die über Dörfer herfallen, kein historischer Machtkonflikt mit politisch motivierten Eheschließungen ohne anschließenden Missbrauch in den königlichen Gemächern. Die Antwort auf die Frage nach der erzählerischen Notwendigkeit ist dann oft ein Verweis auf die realistischen Ansprüche der Darstellung.

Sexualisierte Gewalt ist ein trauriger Erfahrungsbestandteil im Leben vieler Frauen. Es scheint jedoch eine auffällige Unwucht bei der realitätsnahen Darstellung des Lebens von Frauen zu geben. Interessant ist nämlich, dass diesem Aspekt weiblicher Realität so viel Aufmerksamkeit zukommt, während ein anderer völlig ignoriert, ja sogar tabuisiert wird: die Menstruation. Hier muss natürlich der Hinweis erfolgen, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer menstruieren können und außerdem bei weitem nicht alle Frauen menstruieren. Im Kontext filmischer Darstellung von sexualisierter Gewalt werden jedoch überwiegend  cis Frauen vor der Menopause abgebildet, also Frauen, von denen die meisten bei einer realistischen Figurenzeichnung einen monatlichen Blutungszyklus haben müssten. Auf Twitter merkt Heike Lindhold im Kontext einer Diskussion zu diesem Thema ironisch an: “Realismus muss auch Grenzen haben und die heißen nunmal: Regelblutung und Achselhaare.” Präziser und pointierter kann man diesen blinden Fleck kaum ausdrücken.

Nun kommen die Regelblutung und die daraus erwachsenden Probleme für menstruierende Figuren durchaus in historischen Romanen und anderen Literaturgattungen vor, aber in filmischen Umsetzungen ähnlicher Stoffe oder in Adaptionen werden diese Aspekte geflissentlich ignoriert. Aus der Vagina kommendes Blut am Körper von Frauen resultiert, wenn es denn überhaupt gezeigt wird, aus Vergewaltigungen oder einer Entjungferung. Regelblut wird maximal als beim Aufwachen gefundener Blutfleck auf dem (idealerweise weißen) Laken gezeigt.Die eigentlich zwangsläufig dazugehörige durchgeblutete Nachtbekleidung wird vermieden, das Blut erscheint quasi per Zauberhand auf dem Bett. Diese erstaunliche Abwesenheit visueller Darstellung aber auch erzählerische Thematisierung der Menstruation ist so drastisch, dass in dem Wiki TV Tropes unter der Überschrift “No Periods, Period” gesammelt wird, in welchen Serien diese eigentlich sehr dringende Fragestellung völlig ausgelassen wird. Hat beispielsweise der Doctor in Doctor Who für seine Begleiterinnen Tampons in der Tardis?

Vielleicht lohnt sich der Blick auf die kommerziell ausgesprochen erfolgreiche Serie Game of Thrones, um dieses Problem deutlicher zu illustrieren. Als wesentliches Plotelement kommt lediglich die Periode von Sansa Stark vor. Sie fürchtet das Einsetzen der Regelblutung, weil diese den Beginn ihrer körperlichen Reife impliziert und damit die Möglichkeit Kinder des brutalen Joffrey auszutragen. Die Periode wird also exakt dann relevant, wenn es um eine mögliche körperliche Verfügbarkeit der Figur geht. Vergewaltigung und versuchte Vergewaltigung werden im Gegensatz dazu in den Episoden von Game of Thrones insgesamt siebzehn Mal gezeigt – die dargestellten Opfer sind ausnahmslos weiblich.

Immer wieder wird bei Problematisierungen und Kritik an dieser Häufung von Vergewaltigungsdarstellungen geantwortet, dass dies eben realistisch für die extreme Lebensrealität der dargestellten weiblichen Figuren sei.  Ich schlage deswegen vor, Filme und Serien in Zukunft an einem Quotienten von dargestellter Menstruation zu dargestellter Vergewaltigung zu messen. Wenn die volle Bandbreite körperlicher Realität realistisch abgebildet werden soll, warum ist dann Regelblut so merkwürdig abwesend von den Bildschirmen, besonders in Serien und Filmen, die sich ansonsten bei der Darstellung von Blut und Splatter beileibe nicht zurückhalten? Ein solcher Quotient würde dann vielleicht darauf hinweisen, wobei es in der gehäuften Darstellung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen wahrscheinlich mehr geht, als um den Realismus der dargestellten Fiktion: um die Präsentation von Frauen als konsumierbare Objekten für männliche Figuren. Ein sich wiederholender männlicher Blick, der sich an die implizit männlichen Zuschauer wendet.

Photo by Cassi Josh

Alle machen das – Über eine Plagiatsdebatte

Der gesamte menschliche Körper wurde inzwischen von sympathischen Mediziner*innen populärwissenschaftlich beschrieben. Vom Hirn über die Haut zur Blase ins Knie und zurück ins Herz wurde der Mensch kartografiert; immer auf der Suche nach dem neuen Darm mit Charme, dem über 2 Millionen mal verkauften Megaseller von Giulia Enders.

Was in den letzten sechs Jahren das sogenannte Meditainment war, das waren in den Neunzigern Bücher über die Wunderkraft von Urin oder Rip-Offs des Pferdeflüsterers, in den Nuller-Jahren hingegen versuchten alle, auf den Dan Brown-Mystery-Wissenschafts-Krimi-Zug aufzuspringen und in den Achtzigern stritten Johannes Mario Simmel und Michael Burk. Ganz zu schweigen von eher unter dem Aufmerksamkeitsradar fliegender Trivialliteratur, die seit Jahrzehnten mit nahezu identischen Plots die immer selben Themen durchkaut. Was früher im Bastei Heftchen am Bahnhof feilgeboten wurde, gibt es heute bei Amazon im eBook und auch die meisten Regionalkrimis werden nur nach Schema F zusammengebaut, also Handwerk statt Kreativität.

Die dahinterstehenden, eigentlich offensichtlichen, Mechanismen blenden die Akteur*innen des Betriebs oftmals aus. Denn bei aller Kollegialität zwischen Autor*innen und Verlagen, Dienstleister*innen und Buchhändler*innen wird gerne vergessen, dass es primär darum geht, Geld zu verdienen und zwar für alle. Da verbittet man sich dann zwar, ein Buch „Produkt“ zu nennen oder einen Verlag „Verwerter“ – die (wirtschaftliche) Realität ist aber eine andere. Das sollte  niemanden innerhalb oder außerhalb des Betriebes überraschen – ich arbeite auch am liebsten mit Mandant*innen zusammen, die ich mag, trotzdem müssen sie Geld für meine Arbeit bezahlen. Als Grund reicht da allein schon, dass ich lieber in der Sonne, als hinter dem Schreibtisch sitze und man mir eben diese Schreibtischzeit „abkaufen“ muss.

„Es ist leichter, mit Christus über die Wogen zu wandeln, als mit einem Verleger durchs Leben.“ Friedrich Hebbel

 

100 karten die deine sicht auf die welt verändernLetzte Woche machte der Chefredakteur des KATAPULT Magazins, Benjamin Fredrich, in einem launigen Editorial seinem Ärger Luft. Bei Hoffmann & Campe war Anfang 2019 das Buch 100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern von KATAPULT erschienen. Bereits auf der Messe im Herbst hörte man dann, dass das nächste Buch auf Grundlage des erfolgreichen Magazins bei Suhrkamp erscheinen werde. Für Verlagswechsel gibt es meist zwei Gründe: entweder man hat sich überworfen oder es geht um Geld – ein dritter ist denkbar: beides.

Fredrich berichtete letzte Woche also unter anderem von den unregelmäßigen Zahlungen Hoffmann & Campes, dem Streit über die Höhe einer angemessenen Beteiligung für das zweite Buch und einem unangenehmen Business Lunch.

Fredrich schildert öffentlich – in einer (nach außen) verschwiegenen, gleichwohl verklatschten Branche selten – sehr detailliert wie es (a.) zum Verlagswechsel kam und (b.) wie man sich während der Verhandlungen und im Nachgang überwarf.

102 grüne Karten zur Rettung der Welt katapult suhrkampDie Philippika Fredrichs liest sich, dem Genre geschuldet, etwas einseitig, macht aber auf das klassische Gefälle zwischen Urhebern und Verwertern aufmerksam. Auf der einen Seite sind die Produzenten von Inhalten und auf der anderen diejenigen, die diese Inhalte verkaufen. Das Gefälle entsteht dadurch, dass die einen in der Regel sehr viel mehr Geld und damit Verhandlungsmasse haben, als die anderen. Urheber sind dazu in der Regel sehr vorsichtig, man will ungern einen Verwerter verärgern, selbst dann nicht, wenn er einen schlecht behandelt. Nicht auszudenken, was einem entginge, wenn dieser Verwerter doch nochmal Lust hätte, einen gut zu behandeln. Also lieber Füße stillhalten. Zumal man auch Angst haben muss, dass andere Verwerter einen nicht mit offenen Armen aufnehmen werden, wenn man sich einmal einen Ruf als schwierig erarbeitet hat.

Fredrichs Schilderung des Verhaltens von Thomas Ganske ist dabei Sinnbild dafür, wie das Gefälle normalerweise aussieht. Der Chef der Unternehmensgruppe, zu der auch Hoffmann & Campe gehört, interessiere sich nicht für Bücher und Inhalte, er interessiere sich für Zahlen, will heißen Gewinn. Die laut Fredrich angebotene „undurchsichtige Geschäfts-Verschleimung zwischen KATAPULT und einem seiner tausend Verlage“ überrascht ebenso wenig und ist in solchen Konzernen Gang und Gäbe.

Dabei darf man  nicht vergessen, dass Fredrich nur deshalb die Möglichkeit hat, diese Missstände öffentlich zu machen, weil er es sich leisten kann. (Und es ist wichtig und richtig, dass er es tut!) KATAPULT läuft offenbar sehr gut und hat eine breite Basis an regelmäßigen Leser*innen und Fans. Man konnte HoCa guten Gewissens absagen, da nach einem Bestseller mit dem ersten Buch viele andere Verlage nach dem zweiten lechzen. Das wiederum sollte dann auch einen gestandenen Verleger wie Ganske nicht überraschen. 

„Die Verleger trinken Sekt aus den Hirnschalen ihrer Autoren.“ Arno Schmidt

gute karten deutschland wie sie es noch nie gesehen haben katapult

Der eigentlich Aufreger ist sowohl in Fredrichs Text als auch jetzt in der öffentlichen Diskussion aber, dass Hoffmann & Campe in Konkurrenz zum Suhrkamp-KATAPULT-Buch 102 grüne Karten zur Rettung der Welt (das grüne) einen Klon des ersten Hoca-KATAPULT-Buchs unter dem Titel Gute Karten – Deutschland, wie Sie es nie gesehen haben (das gelbe) von Tin Fischer und Mario Mensch veröffentlicht. Weil „der Markt das hergibt“ – Ganske laut Fredrich – ist dieses neue Kartenbuch auch 3 Euro teurer als das vorherige. Das ist an sich wenig verwunderlich, so hat sich das erste Buch (das blaue) wohl rund 70.000 mal verkauft und damit der Verwertungskette 1,5 Millionen Euro Umsatz beschert.

 

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Zeit-Autoren kopieren gesamtes KATAPULT-Buch. Unser Chef rastet diesmal wirklich aus! . zum TEXT ► Link in der Bio . Wegen dieser Geschichte haben wir uns entschieden, ein eigener Buchverlag zu werden. Die ersten Bücher kommen bereits im Herbst! Bis dahin unterstützt uns mit einem Abo! Wir starten heute die größte Geschenk-Aktion, die wir je hatten. . +++ Größte Geschenk-Aktion +++ Heute Abo abschließen und das kostenlos dazu bekommen . 1. Physikerquartett 2. Poster (Lustige Ortsnamen) 3. KATAPULT 17 4. KNICKER 1 5. KNICKER 5 6. KNICKER 6 7. KNICKER 7 8. Postkarten (Gesamtwert 55,10 Euro) . Wer ein anderes Quartett will, einfach ins Feld “Bemerkung” schreiben . oder wählt Paket 2 (einfach ins Bemerkungsfeld “Paket 2” schreiben) . 1. Notizbuch 2. Poster (Lustige Ortsnamen) 4. KNICKER 1 5. KNICKER 5 6. KNICKER 6 7. KNICKER 7 8. Postkarten (Gesamtwert 49,30 Euro) . ❤️ KATAPULT-Abo für 20 Euro/Jahr + die Geschenke ► Link in der Bio . Du bist bereits Abonnent*in? ❤️ In einer Woche starten wir die große Aktion für bestehende Abonnent*innen!

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Ebenso wenig verwunderlich ist aber auch Fredrichs Wut über die Art und Weise wie HoCa das neue Buch aufgemacht hat und bewirbt. Was aber nicht stimmt, ist die (überspitzte) Aussage Fredrichs Tin Fischer und Mario Mensch hätten das „gesamte KATAPULT-Buch“ kopiert.

Richtig ist wie Fredrich später aufführt:

– Das Cover hat das gleiche Format wie das erste Buch.

– Das Cover ist wie das erste Buch aufgebaut.

– Der Titel sollte ursprünglich eine KATAPULT-Kopie werden: 100 Karten, die ….

– Die Bücher haben das gleiche Text-Bild-Verhältnis.

– Der Grafikstil ähnelt stark dem von KATAPULT.

Justiziabel dürfte das – von außen betrachtet – nicht ohne Weiteres sein, jedenfalls nicht so eindeutig wie die Verletzung von Urheberrechten und Titelschutzrechten, die Fredrich ebenfalls in seinem Beitrag erwähnt und gegen die KATAPULT laut Editorial bereits vorgegangen ist. KATAPULT jedenfalls gründet jetzt einen eigenen Verlag und Fredrich gibt selbst noch zu, dass auch sie „früher mal Ideen und sogar Karten geklaut [haben], damit [sie] bei Facebook abfetzen.“

Wenn ich oben schreibe, dass es nicht verwunderlich ist, dass Fredrich erzürnt ist, stimmt das nur zum Teil, denn wirklich neu ist diese Art der Content-/Ideenbeschaffung weder von Verlagen noch von Kreativen ja nicht. Schon Goethe beklagte sich, dass auf dem Buchmarkt die Gesetze des Urwalds gelten; sobald der Autor sein Werk aus der Hand gäbe, sei es finanziell für ihn verloren. Das geschieht mal mehr oder weniger plump und offensichtlich, genauso mehr oder weniger erfolgreich, gleichwohl gilt leider weiterhin: alle machen das.

 

Beitragsbild von Adam Nieścioruk

Kein Aushängeschild von Leitkultur – Was Lyrik nicht kann und nicht soll

von Irina Bondas

 

Liebe Leserinnen und Leser: die Lyrik wird uns nicht retten.

Und ich meine das jetzt nicht persönlich. „Wann wenn nicht jetzt müssen wir unsere demokratischen Werte und die Kunstfreiheit verteidigen“, höre ich die letzten zehn Jahre und gefühlt schon immer auf Festivaleröffnungen und Diskussionsveranstaltungen, als bräuchte der Kulturbetrieb eine Daseinsberechtigung. Natürlich glaube ich auch, dass wir für  Demokratie und Freiheit unbedingt kämpfen müssen, aber bestimmt nicht, weil ich Lyrik lese, sondern weil ich es als zivilgesellschaftliche Verantwortung sehe und der Meinung bin, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, wie furchtbar das auch ist.

Die Kultur ist kein Pfandbrief der Zivilisation. Studien weisen keine Korrelation zwischen Analphabetismus und Wahlverhalten auf. Die Fähigkeit, Literatur zu lesen, reduziert nicht nachweislich das Risiko, rechts zu werden. Woher die Grundannahme, dass wir mit einem Bildungskanon auch Werte teilen? Dass Kunstfreiheit und Menschenwürde Hand in Hand gehen? Der Bildungsauftrag ist kein Glaubenssatz und Lyrik kein Aushängeschild von Leitkultur. Eine Person mit rechter Gesinnung kann vegan leben oder gerne Klassik hören, höflich und liebevoll sein, tierlieb, schwul und/oder gläubig, warum also keine ausgewiesene Lyrikkenner*in? Es gibt vielleicht “gute” Lyrik, aber keine “richtige”. Denn gerade die Erwartung, dass Menschen mit bestimmten Vorstellungen über die Gesellschaftsorganisation auch im individuellen ästhetischen Ausdruck bestimmte und bestimmbare Merkmale zu eigen sind, ist totalitaristisch.

Lyrik kann zum Leitmotiv gesellschaftlicher Prozesse werden, aber sie ist kein Instrument politischer Teilhabe. Der Vers hat uns noch nie befreit, die Rote Armee schon. Das macht Trotzki nicht zu einem besseren Literaten, einen, der tötet, nicht weniger zum Mörder, den Kommunismus nicht gerecht. Ganz zu schweigen davon, wie viele Diktatoren Künstler waren. Und wenn schon gescheiterte. Wer weiß, wie viele Künstler gescheiterte Diktatoren sind.

Deutschlands erfolgreichste HipHop-Künstler, wie Kollegah und dutzende andere, glauben an Kreationismus und verbreiten Verschwörungstheorien, was sich auch in der Corona-Pandemie wieder einmal gezeigt, wenn nicht gar verstärkt hat. Dabei können sie nicht unbedingt gut rappen. Aber das liegt nicht an ihren Überzeugungen. Und ihre Überzeugungen nicht an ihrem Bildungsgrad. Natürlich dient Provokation auch der Selbstinszenierung für bessere Vermarktung, aber das Publikum will es für bare Münze nehmen. Den Hunderttausenden, die sie feiern, fehlt es nicht an Zugang zu Alternativen. Und es fehlt ihnen auch nicht an Mündigkeit. Das ist eine bewusste Entscheidung. Wie jede bewusste Entscheidung für eine Form des Ausdrucks, der Kunst, der Aussage. Und wer sagt, dass es bei Lyrik ganz anders sei, muss mir erst einmal erklären, warum. Zumindest kommen wir bei Hip-Hop auf soziologisch repräsentative Zahlen.

Für die Verfasstheit der Gesellschaft gibt es das Grundgesetz, und nicht George oder Grass. „Das menschliche Gefühl ist kein Geburtsort der Gerechtigkeit”, schreibt Juli Zeh. Die Literatur ist es auch nicht. Lyrik muss nicht sagen, was gesagt werden muss. Und wenn sie es tut, muss keiner zuhören. Vielleicht brauchen Nationen eigene Dichter, aber Dichter brauchen keine Nationen. Nationaldichter sind keine Leistungsindikatoren, sie führen keine Stellvertreterkriege. Selbst wenn es ein Joseph Brodsky ist, der in seinem Gedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine Alexander Puschkin gegen Taras Schewtschenko ausspielt, ist es weder politisch noch poetologisch ernst zu nehmen. Es braucht auch keine posthume Konfrontation zwischen Walter Benjamin und Ezra Pound, wie sie der Architekt Hans Kollhoff auf dem Walter-Benjamin-Platz mit einem Zitat aus Cantos über das „zinstreibende Wuchertum” beabsichtigte. Und Ezra Pound wird auch nicht weniger zum Antisemit, wenn er kurz vor seinem Tod in einem Gespräch den Judenhass als „schwersten Fehler” seines Lebens bezeichnete. Vielleicht ist der Anteil an Künstlern mit NS-Affiliation relativ gering, zumindest soweit wir es bis heute wissen. Aber Überzeugungen lassen sich nicht anhand von NSDAP-Parteikarten bestimmen. Es muss nicht als Missverständnis gerechtfertigt werden, wenn Dichter Krieg, Gewalt oder totalitäre Systeme befürworten. Gottfried Benn wird an seine Kulturpolitik im „neuen Staat“ genauso geglaubt haben wie an den Hippokratischen Eid. Und der Antifaschist Bertolt Brecht wird von den stalinistischen Säuberungen genauso gewusst haben wie von den KZs.

Die Wechselwirkung von Hochzivilisation und Unmenschlichkeit war ein zentraler Topos in George Steiners Werk, unter anderem auch der Gedanke, ob der Konsum von Kultur die Manifestation von Grausamkeit nicht auch begünstigen könne, anstatt ihr vorzubeugen. In der Nazizeit finden sich zahlreiche Beispiele für die Vereinbarkeit, die Frage nach dem Verhältnis bleibt bis heute offen. In seinem Essay Der Dichter und das Schweigen steckt Steiner das Schweigen, das Ungeschriebene ab und weist auf das gefährliche, hybride Potential des dichterischen Sprechens hin, zu dem unter barbarischen Bedingungen nur das Verstummen eine Alternative ist. Wer schweigt, wird schuldig. Wer spricht, auch.

Die Absichten zum Preis anderer Gedanken und Leben lassen sich nie ganz eindeutig bestimmen und bewerten. Bei Fragen nach Bewusstheit, Motiven und Reue steht immer der Beschuldigte im Zentrum, aber sie ändern nichts an dem verursachten Schaden, am Verbrechen selbst. Bis heute lässt sich aus der Geschichte keine Hierarchie der Handlungslegitimierung ableiten. Selbst, wenn es eine Banalität des Bösen gibt, ist das Böse nicht banal, sondern genauso vielfältig wie jede Gesellschaft, und vielleicht hatte Hannah Arendt persönliche Gründe, sich dahingehend irren zu wollen. Die Suche nach Gründen geschieht unweigerlich immer auch aus der Täterperspektive. Doch das alles hat nichts mit Lyrik zu tun. Lyrik kann eine Perspektive einnehmen, aber eine Perspektive nicht die Lyrik. Keine Bedeutung spricht für eine andere, Lyrik ist nicht statisch, Worte löschen sich nicht gegenseitig aus, ein Gedicht kann die Kraft eines anderen nicht aufheben.

Repressive Regime deformieren das Individuum, sie unterdrücken und vernichten Autoren und Publikum, deswegen der kulturelle Niedergang. Nicht, weil regimetreue Künstler minderwertig sind. Im Umkehrschluss machen Verfolgte nicht unbedingt gute Kunst und sind auch nicht zwangsläufig Menschenrechts-Apologeten oder Widerstandskämpfer. Urheber bedeutender Lyrik sind vielleicht Orakel, aber keine philanthropischen Visionäre, sie werden den Vakuumzerfall nicht vorhersehen geschweige denn aufhalten können – und ihre Leser*innen auch nicht. Von Lyrik sind keine konkreten Handlungsvorschläge zur Radikalisierungsprävention zu erwarten, genauso wenig wie von meinem Wasserkocher Währungsprognosen, obwohl er Ziffern anzeigt. Es gibt Zufälle, aber keine Zusammenhänge.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden diskursiven Radikalisierung stellt sich die Frage nach grundsätzlichen Positionierungen zu Texten mit Positionen. Dass das Feld offen rechtsgesinnter Lyriker*innen heute relativ überschaubar ist, kann als glücklicher Umstand gesehen werden, aber bei weitem nicht als Selbstverständlichkeit. Müssen wir dann rechte Lyrik lesen? Nein, müssen wir nicht. Erst recht, wenn sie zentrale Fragen, die unsere unmittelbare Existenz betreffen, ein-deutig vorschreibt. Wenn sie in Sein und Nichtsein unterteilt. Wenn der Text keinen Widerstand aufweist, keine Reibungsfläche bietet zwischen Subjekt und Außenwelt, ist es Propaganda. Das lässt sich über jede Form radikalisierter ästhetischer Sprache sagen. Oder mit Monika Rincks MERKSATZ: „Wenn es runtergeht wie Butter, ist es vermutlich Propaganda.”

In seiner Erforschung totalitärer Sprache grenzt Michał Głowiński zwar das ästhetische Schreiben vom agitatorischen ab, doch zeigen sich auch immer wieder Überschneidungen, wie in den unheilvollen Protokollen der Weisen von Zion, einer Fälschung, die literarischen Vorbildern nachgeschrieben wurde und bis heute im kollektiven Bewusstsein Wirkung zeigt. Bemerkenswert sind bei seiner Analyse unter anderem die Merkmale der Spektrum übergreifenden Generalisierung und des Universalitätsanspruchs, der dichotomischen Spaltung und konspirativen Wahrnehmung der Welt. Aber das dichterische Wort wird nicht bedeutsamer dadurch, dass es auf der richtigen Seite steht, höchstens lauter.

Lyrik kann ein Grundbedürfnis sein, aber sie macht uns nicht zu besseren Menschen. Das müssen wir schon irgendwie anders hinkriegen. Menschlichkeit bedeutet auch Ambivalenz und Komplexität aushalten. Lyrik macht es nicht einfacher, aber erträglich. Sie bietet Raum für Fehler und Funktionsstörungen. Lyrik ist nicht binär. Gedichte sind keine Globuli. Wer heilt, hat noch lange nicht Recht.

Ich spreche von den zwischenformen der mitteilung
den zwischenstadien des gedankens
spreche von den zwischenkulturen des gefühls
Warum sollte das nicht die einzige Welt sein

heißt es in Inger Christensens in det/das in Übersetzung von Hanns Grössel. Selbst wenn es weh tut: Wenn wir von Vorannahmen ausgehen, anstatt Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, nach Ver-Antwortung zu suchen, ist der Kampf schon verloren. Wir müssen in unserer Sprache Platz machen für das persönliche Irren. Wann, wenn nicht jetzt.

 

Eine frühere Fassung des Textes war ursprünglich Bestandteil eines Pecha Kuchas im Rahmen der Lyrikkritikakademie von lyrikkritik.de und dem Haus für Poesie. Das Pecha Kucha findet man auf der Seite lyrikkritik.de.

Für die schriftliche Publikation auf 54books wurde der Text erweitert und redaktionell bearbeitet.

 

Photo by Evelyn Clement on Unsplash

Mehr Trend als Thema – Buchmarkt und “trans”

Von Linus Giese

 

Sind Geschichten über das Thema trans ein zunehmender Trend in der Buchwelt? Oder täuscht dieser Eindruck? Ich habe mir in den letzten Tagen die Herbst-Vorschauen angeschaut.

Seit Jahren werden wir überhäuft mit Büchern zur Bedeutung des Waldes für Kultur und Umwelt. Das geht vom Heilsamen Waldbaden (dazu könnte ich gleich 5 Titel verlinken) über die Gebrauchsanweisung für den Wald bis zu der Frage, wie der Wald uns heilen kann – wenn ein erfolgreich laufendes Thema entdeckt wird, wird es immer wieder bespielt. Das sehen wir auch bei diesem Twitter-Thread von Marion Rave (@schiefgelesen), in dem sie eine Collage aus unzähligen Covern, zusammengestellt hat, die alle dem gleichen Schema folgen. Bei einer solchen Menge sind wir im Bereich trans natürlich noch längst nicht. Doch ich habe den Eindruck, dass deutschsprachige Verlage das Thema zunehmend für sich entdecken.

Auf einige Titel freue ich mich schon sehr: zum Beispiel auf die beiden Graphic Novels Küsse für Jet und Hattest du schon die Operation?, die in dem Berliner jaja-Verlag erschienen sind. Ich freue mich auch auf die Autobiographie von Thomas Page McBee – das Buch Amateur erscheint im Blumenbar Verlag und erzählt die Geschichte seiner Transition und davon, wie er zu einem Amateurboxer wurde.

Wenn neue Themen in Angriff genommen werden, geht aber naturgemäß aber auch einiges schief: Das Buch How to be gay von Juno Dawson, die 2015 ihr Coming-Out als trans Frau hatte, erscheint im August in einer aktualisierten Auflage im S. Fischer Verlag. In der Vorschau – die in den meisten Fällen zum Glück nur Buchhändler*innen, Journalist*innen und Blogger*innen durchblättern – wird Juno Dawson über dem Foto als Autor statt Autorin bezeichnet und die Kurzbiographie daneben ist so alt, dass sie darin noch als Lehrer nicht als Lehrerin bezeichnet wird. Der Verlag erklärte diesen Fall von Misgendern damit, dass fälschlicherweise eine alte Kurzbiographie in die Vorschau hineinkopiert wurde. Klar, kann passieren – aber warum fällt das niemandem auf? Es ist auch kein Einzelfall: Akwaeke Emezi hat sich mittlerweile als nicht-binäre trans Person geoutet, doch der deutscher Verlag nutzt weiterhin die alten Pronomen.

Ich habe mir die fehlerhafte Ankündigung der neuen Ausgabe von Juno Dawsons Buch zum Anlass genommen, einen Blick in die alte Ausgabe zu werfen: dort wird zwar richtig gegendert, aber es wird ihr alter Name erwähnt. Viele trans Menschen gehen ganz unterschiedlich mit ihrem sogenannten Deadname um, aber die Frage danach, wie lange es nach einem Coming-Out immer noch den Zusatz „Juno Dawson, geboren als …“ oder „Juno Dawson, ehemals …“ braucht, sollte erlaubt sein.

Auch die Kurzbeschreibung von How to be gay ist mehr als unglücklich

“Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt zu sein, wenn man selbst ein Mädchen ist? Und was passiert dann? Wie findet man andere schwule Jungs? Und warum fühlen sich manche Menschen im falschen Körper gefangen? Mit über hundert Originalbeiträgen von lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Jugendlichen, die ein unendliches Spektrum sexueller Identitäten repräsentieren. Das ultimative Aufklärungsbuch zu Sex und sexueller Identität.” (Hervorhebungen von mir)

Die Probleme mit dieser Beschreibung sind vielfältig:

1.) Nicht alle trans Menschen fühlen sich im falschen Körper gefangen, diese Formulierung ist oftmals ein Stereotyp, über das ich in Büchern und Medienberichten stolpere.

2.) Transsexuell ist eine veraltete Bezeichnung, die heutzutage noch als Selbstbezeichnung verwendet wird, aber nicht als Fremdbezeichnung verwenden werden sollte.

3.) Das Wort transsexuell legt nahe, dass es sich um eine sexuelle Identität handelt – tut es aber nicht, wenn wir über das Thema trans sprechen, sprechen wir vor allem über die Geschlechtsidentität.

Wenn wir über missglückte Klappentexte sprechen, müssen wir leider auch über Rätsel: Bericht einer Wandlung von Jan Morris sprechen, das in diesem Herbst im Dörlemann Verlag erscheinen wird.

“Als James Morris geboren, zeichnete er sich im britischen Militär aus, wurde ein erfolgreicher und mutiger Reporter, erklomm Berge und durchquerte Wüsten. Er war glücklich verheiratet, hatte vier Kinder und war allem Anschein nach das, was man als einen männlichen Mann bezeichnet. Bis er sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschloss. In »Rätsel« erzählt Jan Morris offen darüber. Es ist einer der frühesten und schonungslosesten Berichte.”

Hier geht leider fast alles schief: der Deadname wird genauso verwendet wie das falsche Pronomen – es gelingt sogar das Kunststück nicht ein einziges Mal die richtigen Pronomen für Jan Morris zu verwenden. Und auch der Begriff Geschlechtsumwandlung ist schon längst nicht mehr zeitgemäß.

Vielleicht fragen sich manche jetzt, wie solche Fehler in Zukunft verhindert werden könnten – die Antwort ist erschreckend kurz und erschreckend einfach: durch Recherche. Wer damit beginnt zu recherchieren, findet im Internet relativ schnell den einen oder anderen Sprachleitfaden – es gibt zum Beispiel einen Leitfaden, der Trans* in den Medien (PDF) heißt, herausgegeben von TransInterQueer. Direkt auf Seite 6 steht dort Folgendes:

“Gleich vorneweg: Wählen Sie „Geschlechtsangleichung“ statt          „Geschlechtsumwandlung“, falls Sie über medizinische Transition berichten. Am Besten, Sie streichen „Geschlechtsumwandlung“ einfach aus Ihrem Wortschatz.”

Ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig eine solche Recherche ist, ist auch das Jugendbuch Mein Bruder heißt Jessica von John Boyne. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Sam erzählt – Sam ist der Bruder von Jessica, die sich als trans Mädchen outet. Das Buch wurde bereits kurz nachdem es auf Englisch erschienen ist, von vielen trans Menschen kritisiert. Interessanterweise geht es bei der Kritik gar nicht so sehr darum, dass es John Boyne als cis Mann nicht zustehen würde eine Geschichte über ein trans Mädchen zu schreiben – ich halte auch nichts von der Idee, dass Menschen nur über ihre eigenen Erfahrungen schreiben dürfen. Doch wenn sie sich entscheiden, über die Erfahrungen marginalisierter Menschen zu schreiben, dann müssen sie vernünftig recherchieren. Und eben diese fehlende Recherche und die Tatsache, dass durch seine Geschichte transfeindliche Klischee verbreitet werden, werden John Boyne vorgeworfen. Das fängt schon beim Titel an – wäre es nicht auch ein starkes Signal gewesen, das Buch Meine Schwester Jessica zu nennen? Stattdessen ist es immer wieder eine Geschichte der Umwandlung und Verwandlung, die erzählt wird. Es spiegelt sich aber auch im Inhalt wieder: Die Geschichte des Buches wird am Ende von Jessica gerettet, die sich ihre langen Haare wieder kurz schneidet, ihre Bartstoppeln stehen lässt, ein Fußballtrikot anzieht und die Bühne, auf der ihre Mutter als Premierministerin ausgezeichnet wird, „als Junge“ betritt. Das klingt dann doch ein bisschen gefährlich klischeehaft, oder? Statt sich der Kritik zu stellen, löschte John Boyne seinen Twitteraccount – mittlerweile ist er wieder zurück und konnte dabei beobachtet werden, wie er sich ganz unbefangen mit Fred Sargeant austauschte, der in den letzten Wochen mit zahlreichen transfeindlichen Tweets auffiel. Wenn man all dies weiß, erscheint es mir fast zynisch dieses Buch mit den Worten „Ein Thema, das polarisiert“ zu bewerben. Wer glaubt, dass die Existenz von trans Menschen polarisiert, der möchte tatsächlich nur ein Thema verkaufen, aber selbst keine inhaltliche Auseinandersetzung leisten.

Ich weiß – würde ich mich hinstellen und sagen, dass das Buch von John Boyne transfeindlich ist, würden mir viele antworten: „Das war bestimmt keine Absicht, nur weil ein Buch schlecht ist, muss es nicht gleich transfeindlich sein.“ Das ist ein großes Missverständnis, das im Umgang mit dem Begriff transfeindlich weitverbreitet ist: Ein Buch ist nicht nur dann transfeindlich, wenn Autor*innen absichtlich trans Menschen schaden möchten oder sie diskriminieren wollen. Transfeindlichkeit interessiert sich nicht dafür, ob dahinter Absicht oder ein Versehen steckt – in Mein Bruder heißt Jessica stecken auf jeden Fall transfeindliche Klischees und Stereotype.

Doch wie kann so etwas passieren? Wie kann ein solches Buch durch alle Kontrollinstanzen laufen, ohne dass so etwas auffällt? Ich glaube, der Grund dafür ist relativ einfach: an keiner Stelle dieser sogenannten Kontrollinstanzen sitzen trans Menschen. Das wurde auch kürzlich deutlich, als Judith Vogt auf Twitter darauf aufmerksam machte, dass eine nicht-binäre Figur von Chuck Wendig in der deutschen Übersetzung plötzlich nicht mehr nicht-binär war. Erschienen war das Buch Nachspiel im deutschsprachigen Blanvalet Verlag. Der Autor veröffentlichte kurze Zeit später eine Mail seines Lektors, der ihm versuchte zu erklären, warum für seine nicht-binäre Figur sie/ihr Pronomen verwendet wurden. Die Begründung: im Deutschen gäbe es noch keine Entsprechung für das Pronomen they – der Übersetzer entschied sich deshalb (unter anderem aufgrund der angeblich besseren Lesbarkeit) die Pronomen zu ändern, auch weil der Name der Figur so „weiblich klingen“ würde. Auf diesem Weg verschwindet einfach eine nicht-binäre Figur und wird durch eine mangelnde und wenig inklusive Übersetzung ausgelöscht und unsichtbar gemacht.

Mein Bruder Jessica und How to be gay erscheinen beide im S. Fischer Verlag und werden beide mit folgenden Floskeln beworben: „Aktuelles Thema, das polarisiert“„Plädoyer für Verständnis und Toleranz“ – „Gleichberechtigung! Diversity! Powerthemen für Generationen Z!“

Ich habe schon jetzt ein bisschen Angst davor, dass mir Menschen das Buch von John Boyne mit den Worten in die Hand drücken werden: „Lies das mal, das ist so berührend!“ Ich gebe zu, ich bin ein bisschen frustriert. Ich bin auch frustriert über die Rolle, die ich einnehmen muss: mir bleibt oft nur die Rolle desjenigen, der Kritik übt, wenn bereits alles zu spät ist. Nur in einem einzigen Fall wurde ich in das Korrektorat der Biographie eines trans Mannes involviert. Doch die Vorschautexte aller anderen Bücher sind gedruckt, genauso wie die Buchumschläge. Warum fragen Verlage vorher nicht nach Hilfe? Warum holen sie sich keine Experten*innen ins Haus? Warum nehmen sie kein Sensitivity Reading in Anspruch? Warum haben fast alle Verlage eine Stelle für die Blogger*innenbetreuung geschaffen, aber kein Verlag eine Stelle für Diversität?

Mich beschleicht nach der Durchsicht der Vorschauen das Gefühl, dass trans bei Verlagen ein Trend ist – interessanterweise ist es aber mehr Trend als Thema, denn es bleibt bei oberflächlichen Schlagworten (Powerthema!). Ich glaube, dass das nicht reicht. Ich habe ein bisschen Angst davor zu schreiben, was ich mir wünsche, weil es so naiv und utopisch klingt, aber ich bin von einer Tatsache überzeugt: wenn Bücher (und Themen) diverser werden sollen, dann müssen auch Verlage diverser werden: Dann müssen die Stellen von Übersetzer*innen diverser werden, von Korrektor*innen, Lektor*innen und Social-Media-Mitarbeiter*innen.

Ich weiß, dass es noch ein weiter Weg dahin sein wird, aber anders wird es nicht funktionieren. Ansonsten werden Verlage weiterhin ihr Geld mit den Geschichten marginalisierter Menschen verdienen, ohne, dass sich etwas an den Strukturen ändert. Ich habe auch meine eigene Geschichte für einen Verlag aufgeschrieben, aber das reicht mir nicht – ich möchte nicht meine eigenen Erfahrungen hergeben müssen, um einen Platz in diesem Literaturbetrieb zu bekommen. Ich möchte für uns alle mehr, ich möchte, dass wir an Prozessen und Entscheidungen beteiligt werden.

 

Beitragsbild von Kyle

Die zwei Seiten von Law & Order – Über die kulturelle Diskrepanz von Bildern

von Sandra Beck

 

Es klafft ein Abgrund zwischen zwei Arten von Bildern – zwischen den mit Handykameras aufgezeichneten und live gesendeten Aufnahmen brutaler Übergriffe US-amerikanischer Polizist*innen und den in Serie geschalteten Fiktionen der police procedurals, den zahllosen Kriminalserien und -filmen, mit ihren empathischen, allzu menschlichen Ermittler*innen. Kathryn VanArendonk referiert dieses Nebeneinander von faktualen und fiktionalen Bildern in ihrem Artikel „Cops Are Always the Main Characters“:

At 8 p.m. on Saturday, at the same time CNN, MSNBC, and FOX News were airing live coverage of the nationwide protests against police violence, cable audiences also had other options for what to watch. On PopTV, there was a marathon of NCIS: New Orleans. On WE, Criminal Minds. On WGN, Blue Bloods. On Ion, Law & Order: SVU. And on USA, a marathon of Chicago PD that began 11 hours earlier and continued until Sunday morning, followed by an episode of CSI.

Die Wahlmöglichkeit zwischen faktualer Dokumentation und fiktionaler Repräsentation ist in dieser Zuspitzung auch eine Wahl zwischen politischer Information und Teilhabe am Zeitgeschehen einerseits, und einem eskapistischen binge watching andererseits. Die Zuschauer*innen der procedurals werden buchstäblich auf das heimische Sofa gebannt – in einer Haltung konsumierend-identifikatorischer Stillstellung, die jedwede gesellschaftspolitische Aktivität unterbindet. Es ist der Gegensatz zwischen der Konfrontation mit einer gesellschaftlichen Realität am „Siedepunkt der Enttäuschung“ und dem Versprechen immer neuer (Er-)Lösung in knapp 45 Minuten. Ein Wechsel des TV-Programms von der Fiktion zur Realität setzt das Publikum einer kategorial anderen als-ob-Erfahrung aus: imaginär nicht mehr Teil des Polizeikorps, seiner Geschichten und seines Wertekosmos zu sein, sondern plötzlich als ‚die Anderen‘ den geschlossenen Reihen der „dedicated detectives“[1] gegenüberzustehen. Adrian Daub hat diese Zusammenhänge im Blick, wenn er die eskalierenden Proteste mit der zur Kenntlichkeit entstellten Glorifizierungsfloskel der Serie Law & Order: Special Victims Unit kommentiert:

Der Abgrund zwischen den Bildern ist auch deswegen schier unüberbrückbar, weil kriminalliterarisches Erzählen in den ungemein beliebten police procedurals kaum von Korruption, systemischem Rassismus und Polizeigewalt erzählt. Obwohl diese Leerstellen von TV-Produktionen wie When They See Us (2019, Netflix) oder dezidiert multiperspektivischen Erzählformaten wie American Crime (2015–2017, ABC) nach und nach gefüllt werden, folgt die Masse der in Serie gegangenen Kriminalerzählungen einer anderen Logik. Ihre Erzählstruktur ist darauf zugeschnitten Zuschauer*innen zu überzeugen, sie würden als Teil der Polizei ähnlich denken, fühlen und handeln. Damit steht die Frage nach den gesellschaftspolitischen Auswirkungen der police procedurals als einer Schule der Empathie im Raum. Zentrales Ziel dieses Curriculums scheint es zu sein, kritische Systemfragen umso nachhaltiger auszublenden, je ausführlicher über die emotionalen Belastungen der Ermittler*innen gesprochen wird.

Vor diesem Hintergrund aktualisiert sich mit neuer Schärfe eine bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführte Debatte über den ästhetischen und ethischen (Un-)Wert eines Genres, das traditionell den Anspruch erhebt, nicht nur realistisch zu erzählen, sondern auch realistisch zu sein. Die Vorstellung, es handele sich um ein besonders wirkungsvolles Erzählformat mit direkten, handlungsanleitenden Effekten auf die außerliterarische Wirklichkeit, lässt den Genrekonsum immer wieder verdächtig werden. So stellte etwa Béla Balázs 1922 in der Roten Fahne den Detektivroman aus marxistischer Warte als „Schlacke kapitalistisch-kleinbürgerlichen Denkens und Empfindens“ vor. Die Detektivfigur erscheint folgerichtig als „heilige[r] Georg der besitzenden Klasse“.[2] G.K. Chesterton dagegen pries das Genre in seiner Defence des detektivisches Erzählen von 1901 als „agent of the public weal“. Denn es konzentriere unsere Aufmerksamkeit auf jene „unsleeping sentinels, who guard the outposts of society“, die Chesterton gar als „knight-errantry“ verstanden wissen will.

Man muss diese romantisierende Überhöhung der Ermittlerfigur in der modernen Großstadt als Rezeptionsvorgabe ernst nehmen. Nur so lässt sich die Signatur kriminalliterarischen Erzählens in der Gegenwart verstehen – eine monoperspektivische Verengung auf die Wahrheit der Ermittlungsbehörden und die sie narrativ absichernde Affektpolitik. Vom einstigen Streben der (spät-)aufklärerischen Kriminalerzählung, die ‚innere Geschichte‘ der Verbrecher*innen im empathisch gespannten Blick auf die Umstände der Tat zu entschlüsseln, ist wenig geblieben.[3] Statt die Wahrheit der Täter*innen in prototypischen Beicht- und Geständnisszenarien aufzuzeichnen und die Umstände der Tat zu bedenken, wendet sich das Genre einseitig der Aufklärungsgeschichte und den Techniken der Wahrheitsfindung zu. Die Schuldigen sind allenfalls noch anwesend in den von ihnen verursachten materiellen Einprägungen in die Objektwelt, die es als Spuren der Tat zu deuten gilt. Nur die Ermittler*innen dürfen in diesen Erzählungen ‚echte‘ Menschen sein, die Gejagten und zu überführenden Schuldigen sind reine narrative Mittel.

Zu beobachten ist ein programmatischer Blickwechsel von der anthropologisch grundierten Analyse des verbrecherischen Herzens zu den Tiefen der Ermittlerseele. Während die Sherlock Holmes-Erzählungen Arthur Conan Doyles in ihrer anti-psychologischen Zuspitzung ein Gleichgewicht gefunden hatten zwischen der Detektivfigur als „Personifikation der ratio“ und den allenfalls mit „Seelenfetzen“[4] ausgestatteten Täter*innen, zieht im weiteren Verlauf der Genreentwicklung die ehemals als „Sachwalter des fragenden Lesers“[5] funktionalisierte Figur immer mehr narrative Energien auf sich. An die Stelle der thinking machine, die schon Friedrich Glauser als „Schlaumeier mit der Blümchenlösung im Knopfloch“[6] verspottete, treten Ermittler*innen mit einem Privatleben und einer Geschichte.

Wir wissen mehr über die kompliziert Beziehung Kurt Wallanders zu seiner Tochter als uns lieb sein kann (Henning Mankell), wir sitzen mit der Familie Brunetti regelmäßig am Abendbrottisch (Donna Leon), wir wissen um die traumatischen Versehrungen alkoholsüchtiger Ermittlerinnen (Oliver Bottini) – anders formuliert: Die Detektivfiguren treten uns mittlerweile nicht mehr als flache Typen, als strikte narrative Verkörperung von Rationalität entgegen, sondern präsentieren sich als ausgearbeitete, vielschichtige Charaktere, die von privaten Sorgen und beruflichen Belastungen emotional und psychisch betroffen sind. Es ist nicht mehr allein die Rätselspannung des whodunit und whydunit, die Lektüregenuss verspricht. Vielmehr laden ebenso die in ihrer individuellen Betroffenheit und Verletzlichkeit gezeigten Detektivfiguren zu identifikatorischen Lektüren ein.

Diese Konzentration auf die Ermittlerseelen hat ihren Preis, wie VanArendonk betont: „As TV viewers we are locked inside a police perspective, harnessed to their needs, desires, and daily rhythms.“ Während uns die Untersuchungsrichter-Erzählungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Ermittlungsfiguren zeigten, die in einem beständigen Widerstreit zwischen subjektiver Anteilnahme und als Amtspflicht verordneter Objektivität mit einem von Tränen getrübten Blick ein Verbrechen zu lösen versuchten, kennen die police procedurals der Gegenwart diese Ambivalenz vornehmlich als folgenreiche Emotionalisierungsstrategie.  

Sie spielen in einer fiktiven Welt, in der Polizeibeamt*innen durch juristische Regelungen oder die Intervention von Journalist*innen und Vertreter*innen von Interessengruppen oder inkompetente Vorgesetzte in einem schwerfälligen bürokratischen Apparat an der effizienten Ausübung ihres Jobs gehindert werden. In diesem Erzählkosmos ist eine peinliche Einhaltung der Dienstvorschriften der Wahrheitsfindung ebenso abträglich wie öffentlicher Druck. Moralisch aufgefangen wird diese Repräsentation, indem die mit einem biographischen Hintergrund ausgestatteten Ermittler*innen auf einen individuellen Wertekosmos verpflichtet werden. Allein ihrem Privatethos ist es zu verdanken, wenn auch diejenigen Fälle verfolgt werden, die andernfalls vom System mit einem gleichgültigen Achselzucken fallen gelassen würden.

In Folge dieser Modellierung der Polizeibeamt*innen als selbstlose, um gerechte Bestrafung ringende Retter, die in ihrer Arbeit bis an die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit gehen, während sie mit ihren individuellen Dämonen ringen, erscheinen Transgressionen und Rechtsbrüche als bedauernswert, aber eben auch notwendig. 

Die serielle Taktung von Formaten wie Law & Order: Special Victims Unit– seit 1999 mit aktuell 472 Folgen in 21 Staffeln, 2020 um drei weitere Staffeln verlängert – bedingt zusätzlich, dass die Täter*innen kaum psychologisches Profil gewinnen, während wir die Vertreter*innen der Polizei und der Staatsanwaltschaft nach und nach als alleinerziehende Adoptivmütter, in Scheidung lebende Ex-Marines, trockene Alkoholiker oder an Spielsucht leidende Menschen kennen lernen. Kurz: Police procedurals sind der in Serie gegangene Beleg, dass man jene von Vince Gilligan für Breaking Bad formulierte Frage: „We want to make people question who they’re pulling for, and why“ unausgesprochen stellen und gleichzeitig unterdrücken kann.

Denn police procedurals haben uns kontinuierlich gezeigt, dass ein erfolgreicher Abschluss von Ermittlungen und ein juristischer Schuldspruch durch den Bruch verfassungsmäßig garantierter Rechte erreicht werden kann. Sie haben uns wieder und wieder vor Augen geführt, dass allein die biographisch bedingte Anteilnahme der einzelnen Ermittler*innen und ihr zufälliges Engagement entscheidet, ob eine Anzeige weiter verfolgt wird. Sie erinnern uns in Serie, dass nur das individuelle Ethos der Serienermittler*innen die selbstgerechte Anmaßung ausbalanciert, für den Dienst an der Wahrheit sich von den eigenen Vorurteilen leiten wie auch den eigenen Emotionen von Frustration, Verzweiflung und Wut ihren Lauf zu lassen.

Sie haben ein Erzählmodell popularisiert, in dem nur die Distanzierung von den eigenen Anwält*innen und vollumfängliche Kooperation mit den Behörden ein angemessenes Urteil ermöglicht. Angesichts der emotional aufgeschlossenen, affektiv ansprechbaren und empathischen Ermittler*innen der SVU in ihrer Doppelrolle als Mitmenschen und Amtsinhaber*innen und eingefangen von diesen erzählstrukturellen Emotionalisierungsstrategien ließ sich die Frage verdrängen, was passiert, wenn sie Menschen nicht mögen, wenn sie sich nicht mit ihnen identifizieren, wenn sie an ihnen schuldig geworden sind.

Versteht man die entworfenen Bilder der cop shows als gesellschaftspolitische Wunschbilder, so bleibt ein widersprüchlicher Befund. Die Tatsache, dass die wiederkehrenden Fälle von rassistischer Polizeigewalt mit privaten Handykameras aufgezeichnet und so für die Öffentlichkeit sichtbar werden, in den am Standard-Format des Law & Order-Franchise orientierten police procedurals aber kaum eine Rolle spielen, lässt nicht nur die Schlussfolgerung zu, dass die Schule der Empathie für Systemfragen keinen Erzählraum schaffen will und soll. Denn folgt man der internen Logik dieser Erzählformate, so legen die aus politischen Gründen gezielt ausgeblendeten Themen in der erzählten Welt eine beunruhigende Wahrheit offen. Wenn die Aufklärung von Verbrechen derart umfassend individuellem Engagement anheimgestellt wird, wenn die Aufnahme von Ermittlungen so sehr auf der kontingenten Bereitschaft fußt, zwischen sich und den Opfern ein Gemeinsames zu entdecken, dann lässt sich die mangelnde Auseinandersetzung mit Korruption, Korpsgeist und Rassismus auch verstehen als ehrliches Eingeständnis einer erschreckenden Wahrheit: They just don’t care.

 

 

 

[1] „In the criminal justice system, sexually based offenses are considered especially heinous. In New York City, the dedicated detectives who investigate these vicious felonies are members of an elite squad known as the Special Victims Unit. These are their stories.“

[2] Béla Balázs: Der Detektiv-Roman [1922]. In: Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton (1918–1933). Hrsg. von Manfred Brauneck. München 1973, S. 146–149, hier S. 148 und S. 147.

[3] Wie immer gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Romane Tana Frenchs etwa zeichnen sich gerade durch ihren psychologisch genauen Blick für die Vorgeschichte der Tat aus.

[4] Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Eine Deutung [1922]. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Frankfurt/Main 2006, S. 107–212, hier S. 141 und S. 127.

[5] Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans [1968/1971]. In: Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München 1998, S. 52–72, hier S. 60.

[6] Friedrich Glauser: Offener Brief über die „Zehn Gebote für den Kriminalroman“ [1937; unpubliziert]. In: Ders.: Gesprungenes Glas. Das erzählerische Werk. Bd. IV: 1937–1938. Hrsg. von Bernhard Echte. Zürich 1993, S. 213–221, hier S. 218.

 

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Zwischen allen Welten – Literarische Fantastik in Deutschland

von Katharina Hartwell

Vor einigen Jahren unterhielt ich mich mit einer Vertreterin des Verlagswesens. Sie erklärte mir, die interessanteste, die schönste, die spannendste Literatur sei ihrer Meinung nach die, die sich nicht ordentlich in Kästchen, in Schubladen sperren ließe. Spannend, sagte sie, sei gerade das, was sich zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur abspiele, zwischen Genre und „wahrer“ Literatur. Genau, sagte ich, raus aus den Kästchen! Ich arbeitete damals bereits an einem neuen Projekt, dem ersten Teil einer Fantasy-Trilogie. Von mir gedacht war diese weder so recht für Jugendliche noch für Erwachsene, weder für Männer noch für Frauen, nicht zielgerichtet auf Nerds, Rollenspieler, Feuilleton-Kritiker oder Literaten, sondern für alle, die sich von mir eine Geschichte erzählen lassen wollten.

Ein paar Jahre verstrichen und jene belesene Frau und ich, gerade noch vereint durch unsere Abscheu gegenüber Schubladen, kamen wieder zusammen. In ihrem Haus, erklärte sie mir, sei für das Buch leider kein Platz, es passe nicht ins literarische Programm, aber auch nicht in die Fantasy-Abteilung, nicht in die gediegenere Sektion und nicht in die wildere Reihe. Es sei nicht einmal so recht klar, ob es sich an Jugendliche oder Erwachsene richte. Man müsse auch an den Buchhandel denken, die wüssten schließlich gar nicht, wo sie das Buch hinstellen sollten. Es fiele leider, sagte sie, zwischen alle Stühle.

Ein Refrain, den ich in den nächsten Wochen noch öfter zu hören bekommen würde. Den literarischen Verlagen war mein Buch zu fantastisch, den fantastischen aber zu literarisch. Immerhin beglückwünschte mich ein Lektor dazu, dass ich mich als Frau in die Fantasy hineingewagt hatte. Begrüßenswert sei das! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, dass ich scheinbar per Definition fachfremd war. An Atwood hatte ich gedacht, an Octavia Butler, Mary Shelley, Ursula K. LeGuin. Jetzt stellte sich heraus, Frauen schreiben überhaupt keine Fantasy, also zumindest nicht im Jugendbuch (an Madeleine L’Engle hatte ich gedacht, Tonke Dragt, Cornelia Funke, Suzanne Collins). Obwohl der Lektor sich freute, dass ich als Frau es geschafft hatte, ein Fantasy-Buch zu schreiben, publizieren wollte er es nicht. Der Grund: Die Erwartungen des klassischen Fantasy Lesers würden nicht erfüllt.

Was, fragte ich mich bang, waren die Erwartungen des klassischen Fantasy Lesers? Wer war der klassische Fantasy-Leser? Wahrscheinlich jemand, der sich Kampf- und Verfolgungsszenen verspricht, Äxte und Drachen, eine Eroberungsgeschichte, einen Helden, der blutvergießend und triumphierend durch die Lande zieht und dabei noch das ein oder andere Maidenherz erobert. Der klassische Fantasy-Leser, so schien es, war männlich, und seine Erwartungen erfüllen konnte ich tatsächlich nicht. Denn diese Geschichten wusste ich weder zu erzählen noch wollte ich sie selbst gerne lesen, sie waren und sind nicht meine.

Ich hatte Glück und fand einen Verlag, der an das Buch glaubte und an meine Geschichte, ganz unabhängig, ob sie nun von einem Mann oder einer Frau, für jüngere oder ältere LeserInnen geschrieben worden war. Doch auch nach dem Erscheinen finde ich mich noch immer zwischen allen Welten. Wenn ich über meine Arbeit spreche, muss ich zwischen zwei Labeln auswählen: Schreibe ich nun Fantasy oder literarische Fantastik? Will man in der literarischen Landschaft nicht in die dunkelste Ecke des Genre-Verließes abgeführt werden, lernt man schnell, zweiteren Begriff dem ersteren vorzuziehen.

Doch schafft man es, sich durch Meta-Ebenen, intertextuelle Referenzen oder die Behauptung des magischen Realismus zurück in die hohe Literatur zu schleichen, wird man dort auch nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen. In Deutschland scheint die literarische Welt oftmals unschlüssig, was sie mit Autorinnen anfangen soll, die sich mit Fantastik oder Genre beschäftigten. Während männliche Autoren, die mit großem Einfallsreichtum, fantastischen Elementen und Genre-Affinität schreiben, schnell zu Querdenkern erklärt werden und der Genie-Verdacht (ganz oft berechtigt) nahe liegt, werden Autorinnen, die den gleichen Spagat zu vollziehen suchen, zu naiven Märchentanten erklärt (hierzu möge man sich etwa mit der jüngsten Diskussion um Karen Köhlers Miroloi beschäftigen, wenn man denn die Nerven dazu hat). Sie haben zu kämpfen mit der Vermutung, gar keine Literatur, sondern „bloß ein Jugendbuch“ geschrieben zu haben. Und das abwertende Othering der Jugendliteratur als einer dem Buch für Erwachsene qualitativ klar unterlegene Literatur dient hier dazu, einen ohnehin fragwürdigen Status Quo aufrecht zu erhalten. 

Im fantastischen Jugendbuch gibt es für Autorinnen zumindest ein ganz eigenes Segment: die Romantasy. Im Fokus steht hier, man ahnt es, die Romanze. Das ist ein vollkommen legitimes Genre und für viele lesenswert, doch scheint es mir aus feministischer Sicht zumindest bedenkenswert, dass in der regulären, der „männlichen“ Fantasy die Helden Abenteuer erleben dürfen und sich vielleicht noch am Rande verlieben, während die Heldinnen in der Romantasy sich verlieben und wenn sie Glück haben, auch noch ein bisschen Abenteuer erleben.

Als Fantasy-Jugendbuch-Autorin kämpft man, wie das Kompositum nahelegt, gleich an drei Fronten. Hat man etabliert, dass auch Jugendliche literarische Qualität schätzen können und man als Frau durchaus in der Lage ist, Fantasy zu verfassen, bleiben immer noch all die gängigen Vorurteile gegen die fantastische Literatur (ich benutze sie hier als Sammelbegriff auch für SciFi, Horror und Weird Fiction). Spätestens, als vor einigen Jahren meine Kosmetikerin, während sie mich kritisch durch das Vergrößerungsglas beäugte, erklärte, Game of Thrones sei „überhaupt keine Serie über Drachen, sondern über Politik!“, wagte ich zu hoffen, bestimmte Diskussionen würden sich von hieran erübrigen. Weit gefehlt. Nicht nur gilt die Fantasy nach wie vor als unliterarisch, sprachlich kunstlos, es hält sich vor allem der Vorwurf, sie sei unpolitisch und gesellschaftsirrelevant. 

Dabei ist Fantasy selbstverständlich mehr als reiner Eskapismus. Dass es möglich ist, über Außen- und Flüchtlingspolitik sowie den Klimawandel in einem fantastischen Kontext zu sprechen, zeigt etwa der Autor John Lanchester. In seinem Roman Die Mauer sind die (vermutlich) Britischen Inseln von einer gewaltigen Mauer umgeben, die das Königreich vor Eindringlingen schützen soll. Dass man fantastisch über die ungerechte Verteilung des Kapitals sprechen kann, zeigt China Miéville in seinen Romanen und Essays oder im Deutschen Dietmar Dath. Margaret Atwood veröffentlichte mit Der Report der Magd vor mittlerweile über dreißig Jahren eine Studie des strukturellen Sexismus, die ihrer Wirkungsmacht erst in der letzten Dekade voll entfaltet hat.

Fantasy zu lesen setzt eine Lesekonvention voraus, die sich schwer auf das Verständnis von Metaphern, Analogien und Allegorien stützt. Alles ist ein wenig verschoben, ein wenig verrückt in diesen neuen fremden Welten. Aber zu behaupten, es sei nicht da, ist arrogant oder ignorant. Niemals würde ich bestreiten wollen, dass es sich anbietet, über unsere Welt, über die Missstände, die in ihr bestehen, realistische Romane, Kurzgeschichten oder Essays zu schreiben. Der Realismus aber sollte nicht der einzige Weg, die einzige Option sein. Damit verschenken wir Möglichkeiten.

Trauen wir der Fantasy etwas zu, sie hat schließlich vieles zu bieten, was der Realismus nicht aufweisen kann: Drachen, alternative Gesellschaften und Zukunftsentwürfe, neue Namen und Bezeichnungen. Ist es nicht gerade interessant, über bestimmte Phänomene, Entwicklungen, psychologische oder historische Strukturen nachzudenken, in dem man sie aus dem bekannten Kontext löst und neu einkleidet? Selbstverständlich kann ich auch über strukturellen Sexismus und Rassismus, über Kolonialpolitik und ihr Erbe, über den Klimawandel, über Geschlechter und Heteronormativität sprechen, auch und gerade wenn ich diese Themen von ebenjenen Labeln und Namen entkoppelt habe, die uns allen bereits so wohlvertraut sind. Die meisten von uns werden ein fest etabliertes Set an Gefühlen und Meinungen zu jedem dieser Begriffe haben. Ich weiß zumindest, dass es mir so geht. Über diese Positionen kann man diskutieren, streiten, sich aufregen. Und ja, man kann den Weg der Fantastik wählen, um sich neu mit ihnen auseinanderzusetzen.

Dass das bisweilen nach hinten losgeht, zeigte die finale Staffel von Game of Thrones. Bisher ein Publikumsliebling, musste sie sich nun vernichtenden Kritiken stellen. Beinahe zwei Millionen Zuschauer verlangten per Petition, die Staffel müsse nachgedreht, ein neues Ende gefunden werden. Die Serienmacher hatten sich entschieden, eine vor allem politische Aussage zu machen, in dem sie sich dem bekannten Diktum von John Dalberg-Acton widmeten: „Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely.“  Während die einen also die vermeintliche politische Unbedarftheit der Fantasy bemängeln, wird es den anderen schnell zu politisch und nicht erhaben genug.

In fantastischen Welt, seien sie auch noch so fern, kämpft man eben mit denselben Erwartungen, Enttäuschungen, Vorlieben und den Grenzen bestimmter Konventionen wie im Realismus. Besonders bitter wird es dann, wenn diese Konventionen einhergehen, mit stereotypischen Entwürfen eines „klassischen“ (unmarkiert männlichen) Fantasy-Lesers, der sich angeblich mehr Kampf, Blut und Heldentum wünscht, und einer Leserin, von der angenommen wird, ihre Imaginationskraft erschöpfe sich in romantischen Techtelmechteln. Das Fantastische, so schien es mir immer, müsse ein Ort der Grenzenlosigkeit sein, der neuen Pfade und unerforschten Gebiete, vor allen Dingen aber ein Ort der Möglichkeiten, ein Ort also, wie Marge Piercy ihn sich in Er, Sie und Es vorstellt oder Ursula K. LeGuin in Die linke Hand der Dunkelheit. Die interessanteste, die schönste, die spannendste Literatur, so versicherte mir einst eine Vertreterin des Literaturbetriebs, sei ja gerade die, die sich nicht so schnell in Schubladen sperren ließe. 

 

Beitragsbild von Dzmitry Tselabionak

Quo Vadis deutscher historischer Roman – ein Appell für mehr Mut

eine Kolumne von Nadine Paque-Wolkow
Leseflaute. So kann man das Gefühl nennen, wenn man vor den prall gefüllten Regalen im Buchladen steht und trotzdem keine Lust hat zu lesen. Ich kenne dieses nagende Gefühl gut, denn es begleitet mich seit Jahren, wenn ich mir die Verlagsvorschauen für deutsche historische Romane anschaue. Und das ist schade, denn eigentlich liebe ich dieses Genre, seit meine Mutter mir mit zwölf – vielleicht etwas verfrüht – Ken Follets Die Säulen der Erde in die Hand gedrückt hat. Seitdem bin ich immer auf der Suche nach neuen, spannenden Geschichten aus der Vergangenheit, aber der deutsche Buchmarkt macht es mir wirklich nicht leicht.

„Eine starke Frau, die ihren Weg geht“, so ist das gängige Verkaufsargument für einen nennenswerten Teil der veröffentlichten Bücher in diesem Segment und ich habe von all den „starken Frauen“ im Laufe der Jahre gelesen: Von den Wanderhuren und Hebammen, den Bierbrauerinnen und Silberschmiedinnen. Aber mit der Zeit wurde mir klar, dass mir diese Art von Büchern einfach nichts gibt und ich habe lange versucht herauszufinden, was es ist, was mich an diesen Geschichten von vermeintlich „starken Frauen, die ihren Weg gehen“ so stört und warum ein großer Teil des deutschen Buchmarktes einfach nicht mehr für mich schreibt.

Es war damals halt so
Die inhaltliche Grundlage dieser Bücher ist fast immer dieselbe. Die Heldin ist eine schöne, weiße, unschuldige, aber gewitzte junge Frau. Sie hat große Pläne und Hoffnungen. Meist träumt sie davon einen bestimmten, meist schon im Titel des Romans angekündigten, Beruf zu ergreifen. Das ist aber Frauen untersagt. Oder sie will das Geschäft des Vaters übernehmen, aber auch das bleibt ihr zu Anfang verwehrt, weil die Protagonistin eben eine Frau ist. Dann kommt es aus heiterem Himmel zu einem Unglück, weswegen die Protagonistin alles verliert und sich von ganz unten wieder hocharbeiten muss.
An sich ist gegen diese Plotstruktur nichts einzuwenden. Wir alle wollen Erfolgsgeschichten lesen, in denen der/die Held*in Hindernisse überwindet und am Ende triumphiert. Das Problem mit diesen Geschichten ist, dass die Triebfeder des Ganzen meist Gewalt an Frauen ist. Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt an Frauen sind so ein großer Teil von historischen Stoffen und so eine treibende Kraft für die einzelnen Geschichten, dass Verlage sie sogar schon auf den Rückencovern erwähnen, um so für das Buch zu werben.
Immer muss die Heldin Schreckliches erdulden, wird in Erzählungen, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit spielen, gern und oft als Hexe denunziert, dann über mehrere Kapitel gefoltert und/oder sehr plastisch „geschändet“, um schließlich von der Gesellschaft verstoßen zu werden. Das diese Szenen in den seltensten Fällen im gebotenen Maße aufgearbeitet werden, versteht sich von selbst. Warum sollte man sich diese Mühe auch machen – denn meist findet die Protagonistin am Ende den Mann fürs Leben, der alle ihre schlimmen Wunden mit Liebe heilt.
Jede Kritik am Aufbau dieser Geschichten wird mit dem Argument „es war damals eben so“ erstickt. So als wäre sexualisiere Gewalt gegen Frauen ein Problem von damals. Schlimmer noch, es normalisiert Vergewaltigung, weil es andeutet, dass die Leute damals es eben nicht besser gewusst haben. Natürlich wussten auch die Menschen im Mittelalter, dass Vergewaltigung Unrecht ist, aber sie ist für viele Autor*innen immer noch ein Stilmittel, um das Zeitalter als „finster“ und „rückständig“ darzustellen. So verlegt man beispielsweise auch die Hexenverfolgung vom 16./17. Jahrhundert ins Mittelalter oder reproduziert immer wieder die Legende des „ius primae noctis“ – dem „Recht der ersten Nacht“ eine Praktik, die historisch nicht eindeutig belegt ist, einfach nur, um noch mehr Gründe zu haben die Protagonistin zu quälen.
Denn die Heldin muss da durch. Sei es (sexualisierte) Gewalt, Zwangsheirat oder Folter – die Welt dieser Romane ist ein Scherenschnitt aus Schwarz und Weiß. Alle Männer sind grundsätzlich darauf aus der weiblichen Hauptfigur Gewalt anzutun. Es sind wahlweise widerliche Typen, die sich nie waschen, Läuse und keine Zähne mehr haben, oder sie haben eine Machtposition inne, die sie schamlos ausnutzen, um sich der Protagonistin aufzudrängen. Insgesamt kennzeichnet das Buch sie deutlich als „die Bösen“. Ihnen gegenüber steht der einzige Kerl, in den die Protagonistin sich verliebt. Er ist relativ schnell ausgemacht, denn er ist der einzige Mann, der sich wäscht und genauso moderne Ansichten vertritt, wie die Protagonistin.
Denn das eigentliche Ziel unserer Heldin ist nicht die Silberschmiede oder das Kaufhaus des Vaters zu übernehmen, sondern zu heiraten und Kinder zu bekommen, damit man so die jeweilige „Saga“ noch über ein paar Generationen weiterführen kann. Der Mann ist also die Belohnung für alles, was der Protagonistin davor passiert ist.

Ein Buchmarkt, der nicht für mich schreibt
Wenn man mich fragen würde, was ich mir vom deutschen Buchmarkt im Allgemeinen und für historische Romane im Speziellen wünschen würde, ist es: Mehr Mut. Mehr Mut Geschichten zu erzählen, die sich nicht in die bequeme, biedere Hängematte der Familiensaga legen. Geschichten, die einem roten Faden folgen, Geschichten die wirklich etwas zu erzählen haben und nicht ihre Grundidee in aufgebauschtem Drama und Essensszenen zu ersticken.
Ich will nicht immer nur Heldinnen sehen, die normschön in den Augen der Leser*innen von heute sind. Gertenschlank, mit wallendem lockigen Haar bis zum Hintern und üppigen Busen und natürlich sind alle weiß, cis und heterosexuell. Denn wenn Autor*innen dann mal den Schritt gehen und nicht heterosexuelle Figuren in ihre Geschichten einbauen, wird es meist sehr schnell ganz finster.
Denn auch hier werden meist schädliche Tropes reproduziert. Vor allem queere Männer sind meist Antagonisten und ihr Schwulsein muss als Grund für ihre Verbrechen herhalten. Oder sie sind die als unmännlich markierten Figuren, die man bitte nicht ernst nehmen soll. Diese Figuren haben meist keinen eigenen Plot und sind in den allermeisten Fällen nur dazu da, um zu leiden. Ein Happy-End ist für nicht heterosexuelle Figuren nicht vorgesehen. Man könnte ausführlich darüber schreiben, dass lesbische Figuren grundsätzlich ganz ausgeklammert werden oder dass bi/pansexuelle nur vorkommen, um zu zeigen, wie unersättlich sie sind und dass man mit ihnen nie eine Beziehung eingehen kann, aber das würde den Rahmen sprengen. Das was mit nicht heterosexuellen Figuren in historischen Stoffen passiert ist keine Repräsentation, es ist schädlich. Liebe Autor*innen, Verlage und Leser*innen: Habt mehr Mut. Die Welt ist groß, die Geschichte der Menschheit ist bunt und vielfältig und sie ist überall. Ich würde euch mit all meinem Geld bewerfen, wenn ihr mir diese Geschichten geben würdet. Ich höre oft das Argument, dass es unrealistisch wäre, und dass es im europäischen Mittelalter eben keine BIPoC gegeben habe, oder dass man damals eben nicht „schwul sein durfte“. Dabei gab es immer nicht weiße Menschen in Europa und immer Menschen die nicht cis/hetero waren. Und dann diskutiert man mit Leuten, die es realistisch finden, dass eine Frau magische Hände hat, aber ein schwuler Protagonist ist historisch nicht korrekt.
Ich diskutiere auch auf Twitter lang und breit mit Autor*innen und Leser*innen warum das Genre sich nicht bewegt und jeder schiebt dem anderen die Schuld zu. Die Leser*innen wollen das doch, sagen die Autor*innen und die Verlage: es wird doch gekauft. Gleichzeitig wundert man sich, warum man nur so schwer neue Leser*innen generiert und das Genre stagniert.
Ich für meinen Teil werde nie müde mehr von meinem Lieblingsgenre zu fordern. Geschichten, die nicht auf dem Leid von Frauen aufbauen. Geschichten von und über marginalisierte Gruppen, am besten von Own Voice Autor*innen, man wird ja wohl noch träumen dürfen.