Kategorie: Rezensionen

Lebensstufen – Julian Barnes

722Michael Maar hat eine hohe Meinung von Julian Barnes und ich eine hohe Meinung von Michael Maar, daher habe ich nach Als sie mich noch nicht kannte (okes Buch) nun auch das neuste Werk Lebensstufen gelesen. Die hymnischen (F.v. Lovenberg in der FAZ) oder völlig aussagefreien Besprechung kann ich nicht nachvollziehen. Die vorgeschaltete Geschichte der Ballonfahrt und der Liebe zwischen Fred Burnaby und Sarah Bernhardt taugt nicht mal als schön erzählte Parabel (für was? die Liebe?) und das anschließende Klagelied Barnes’ auf seine verstorbene Frau verkommt zu einer wehleidigen Selbstbetrachtung. Mir soll keiner vorwerfen ich sei ein gefühlloser Trampel, aber die Litanei auf die Verstorbene erscheint mir zum Teil derart intim, dass ich sie nicht lesen möchte und dann wieder derart alltäglich, dass sie für mich keinen Mehrwert hat. Ich will den Schmerz des Einzelnen nicht klein reden, und speziell nicht den von Julian Barnes, aber die Trauer hätte er mit sich und den ihm Nahestehenden ausmachen sollen, Geld sollte man nicht dafür bezahlen.

The Graphic Canon – Weltliteratur als Graphic Novel

Der Freund des Kompendiums klassischer Literatur in immer neuen Zusammenstellungen kommt in dieser Saison nicht an der deutschen Ausgabe von The Graphic Canon – Weltliteratur als Graphic Novel von Russ Kick vorbei. Das auf drei Bände angelegte Werk* versammelt im zweiten Band Literatur von Tristram Shandy über Jane Austen bis Dorian Gray**.

Der Galiani Verlag hat einige Beiträge der englischen Ausgabe durch speziell angefertigte getauscht. Das Übergehen Goethes Faust käme der Gotteslästerung gleich, ein Fehler wäre es in diesem Zusammenhang erst recht gewesen die berühmte Bearbeitung von Flix nicht aufzunehmen. (Die mag ich zwar nicht besonders, trotzdem hat sie Maßstäbe im Umgang mit klassischen Texten gesetzt.) Aufzunehmen war ebenso nach Ansicht Wolfgang Hörners, der die Edition betreut hat, ebenso E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Dass Schiller und wer nicht alles fehlt? – ein solches Werk kommt nicht ohne Auslassungen und Unfairness aus. Abweichend von der englischen Ausgabe startet die vorliegende auch mit Tristram Shandy, nicht mit dem in Deutschland relativ unbekannten Kubla Khan. Warum nicht mit Don Quijote, von dem es bereits eine Graphic Novel Adaption gibt und der ebenso wie Tristram*** den Beginn des modernen Romans darstellt? – Dann müsst ihr eure eigene Anthologie veröffentlichen!

Der Band versammelt Adaptionen von Poes Raben, Dickens’ Oliver Twist, Frankenstein von Mary Shelly, Anna Karenina, Verbrechen und Strafe, Also sprach Zarathustra, Dr. Jekyll und Mr. Hide, Moby-Dick und vielen anderen mehr. Die Umsetzungen sind so vielgestaltig wie die Vorlagen selbst. Verspielt (Oliver Twist) und minimalistisch (Walden), üppig und verstörend (Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion), mit einem einzigen Holzschnitt auskommend (Hänsel und Gretel), modern-gargoylesk (Frankenstein) und in jeder nur denkbaren Spielart. Selbstverständlich kann daher nicht jede Version den persönlichen Geschack treffen und dies kann  gar nicht Ziel eines solchen Projekts sein. Vielmehr wird ein Querschnitt der Rezeption von Weltliteratur durch sequenzielle Kunst gezeigt.

Die Unwucht des Werks in Bezug auf Literatur des englischen Sprachraums, ist für den deutschen Leser zumutbar. Durch die Einleitungstexte wird man so auf bisher Unbekanntes stoßen, die Zumutung wird so zur Bereicherung.

Notabene: Das Buch enthält natürlich nicht den kompletten Faust von Flix und den gesamten Whitman Lyrikbestand. Es handelt sich eher um repräsentative Ausschnitte oder wahnwitzige, einseitige Zusammenfassungen (z.B. von Rattelschneck, der den Hessischen Landboten auf eine Seite eindampft, um auf einer zweiten noch einen Seitenhieb auf den veröffentlichenden Verlag unterzubringen). Es wird aber ebneso vorgeführt, dass man einen Briefwechsel in eine Graphic Novel konvertieren kann (Briefe an George Sand von Gustave Flaubert).

Am besten, obwohl die Wahl wirklich schwer fällt, hat mir die Moby-Dick Version von Matt Kish, der auch Herz der Finsternis bearbeitet hat, gefallen. Und weil ich ein fürchterlich netter Kerl bin, der artig und höflich bei Galiani angefragt hat, gibt es hiervon noch einen Haufen Bilder für geneigte Leser und Betrachter (kleiner Haufen, auf der Seite von Matt gibt es alle Bilder).


*In Amerika sind bereits alle drei Bände erschienen.

**Den Untertitel monierte meine Madame Jane Austen nicht in die Mitte der Reihe literarischer Figuren passt. Ich bin da nicht so streng.

***Tristram Shandy zählt übrigens zum Anfangsbestand der 54 und ist inzwischen in einer erschwinglichen Ausgabe (günstiger geht bei diesem Werk wirklich nicht, man vergleiche den Markt!) in neuer Übersetzung ebenfalls bei Galiani erschienen. [Nachtrag: tatsächlich ist eine Don Quijote Adaption im ersten Band enthalten, worauf mich der Verlag freundlicherweise hingewiesen hat]

Stefan Zweigs brennendes Geheimnis

Wann darf man eine neue Biographie über jemanden schreiben? Wenn tatsächlich neue Erkenntnisse erlangt wurden, unbekannte Briefe oder Tagebücher aufgetaucht sind, man anderer Meinung ist als vorherige Biographen – man einfach Lust hat?

Die Mutmaßung Stefan Zweig könnte homosexuell gewesen sein ist nicht neu, die Tagebücher wurden, wie fast sämtliche Briefe bereits akribisch ausgewertet und die Biographie von Oliver Matuschek ist noch keine zehn Jahre alt. Ulrich Weinzierl schreibt trotzdem und dies tut in erster Linie dem be- und verhandelten Autor gut, denn auch ein gemeinfreier Klassiker, soll immer wieder in Erinnerung gerufen werden und dies geht am besten mit einem kleinen Skandal. In diesem Fall einem berühmten Penis, besser dem Penis eines Berühmten.

Ich aß Müsli und trank Tee als ich das Buch las.  Instagram
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Stefan Zweigs brennendes Geheimnis möchte dabei auch gar keine Biographie sein. Es ist vielmehr eine psychologische Studie, die Weinzierl, ebenso wie Matuschek, in “Drei Leben” unterteilt. Diese sind in diesem Fall die Ehe mit Friderike Zweig, geschiedene von Winternitz, die Untersuchung einer möglichen Homosexualität und der Schluss Zweig sei Exhibitionist gewesen. Tatsächlich neu ist hieran, wie gesagt, nicht viel. Dass die Ehe von Stefan und Friderike in vielerlei Hinsicht unglücklich war, wussten wir ebenso wie von dem sehr berechneten Werben der Dame um den späteren Gatten, dass Zweig seine Frau in den letzten Jahren zu einem Faktotum der Latifundien am Salzburger Kapuzinerberg degradierte ist nicht zuletzt aus dem Briefwechsel bekannt.

Doch eine derart genaue Beschreibung der Ehe wie bei Weinzierl aber habe ich noch nicht gelesen und hatte bisher eher Mitleid mit Friderike Zweig, hervorgerufen insbesondere durch teils harsche und sehr abweisende Briefe des Gatten. Weinzierl zeichnet dagegen ein höchst unvorteilhaftes, möglicherweise aber zutreffendes Bild. Friderike hat sehr berechnend um den berühmten Schriftsteller geworben, ihn sanft belagert und mit vorgegebener Großzügigkeit, speziell seinen Affären gegenüber, an sich gebunden. Manchmal erinnert ihr Verhalten an leichte Formen des Stalkings. Die Vereinnahmung des inzwischen Ex-Gatten ging nach dessem Tod mit der Verklärung, nicht nur des Verblichen, sondern auch der eigenen Rolle weiter; ein zum Teil wirklich garstiges Weib. Völlig unklar bleibt mir bis heute die Begeisterung Stefans für die Romane Friderikes, die diese vornehmlich schrieb, um ihn zu becircen, voller schrecklich schwülstiger, übertrieben triefiger Bilder, ja sogar widerlicher pädophiler Motive.* Weinzierl spricht zu recht von nicht bloß miserabler Literatur, hart an der Grenze zu pseudopoetischer Kindesmissbrauchspornographie.  Eine überaus kuriose Beziehung band diese beiden Menschen aneinander, ein Band, das auch nach der Scheidung nicht abriss. Weinzierl dröselt dieses anschaulich und gewissenhaft auf.

Die vermutete Homosexualität kann Weinzierl dagegen nicht belegen, zeichnet aber ein gelungenes Bild der Zeit, in der die Knabenliebe innerhalb der Intellektuellenszene nicht zwingend akzeptiert, aber geduldet und sehr häufig war. Von klassischer Homosexualität kann insoweit trotzdem nicht die Rede sein, da stets nur die griechische Jünglingsliebe zelebriert wurde, vor bärtigen alten Männern, dürfte es Stefan Zweig geschüttelt haben. Nicht ohne Grund verliebte sich Thomas Mann selbst als Großvater nur in junge Kerls. Die Wenigsten der Zitierten waren wirklich schwul, sondern in einer irgendwie merkwürdig-changierend Form des Begehrens zwischen Homosexualität und leichter Form der Pädophilie gefangen.

“Dann spazieren, Liechtenstein, schaup.”

Gerda Wegener: Les Delassements d’Eros (1925)
Gerda Wegener: Les Delassements d’Eros (1925)

Weinzierl gibt selbst zu, dass wir uns weniger im Reich der Spionage bewegen als in demjenigen der Vermutung und Andeutung, auf unsicherem Terrain. Dies betrifft nicht nur die ersten beiden Abschnitte, als vor allem den wirklich das brennende Geheimnis des Exhibitionismus behandelnden Teil. Diese Vermutung wurde bereits u.a. von Oliver Matuschek touchiert, im Ergebnis aber verworfen, und beruhte damals vor allem auf den Aussagen Benno Geigers, eines ehemaligen Freundes Zweigs, der aber nicht für die Zuverlässigkeit seiner Erinnerungen bekannt ist. Weinzierl will nun in den Tagebüchern eindeutigere Hinweise von Zweig selbst entdeckt haben. Seine Theorie fußt grundlegend auf dem Wort schaup, das er als schauprangern, im Sinne von sich selbst zur Schau stellen, als die Vornahme von exibitionistischen Handlungen übersetzt und tatsächlich ergibt die zitierte Stelle im Tagebuch so Sinn und ja, viele weitere Stellen werden schlüssig.

Doch nehmen wir an, dass Weinzierl recht hat, was heißt das für Autor und Werk? Exhibitionismus ist als Persönlichkeits- und Verhaltensstörung in Form einer Störung der Sexualpräferenz nach ICD-10 anerkannt. Doch ist diese Krankheit damals wie heute mit einer Stigmatisierung verbunden, die früher beispielsweise bei Knabenliebe so nicht verhanden war. § 183 StGB** stellt exhibitionistische Handlungen von Männern unter Strafe, für Knabenliebe gelten glücklicherweise ähnliche, ungleich schärfere Verbote. Diese Krankheit, diese Verhaltensauffälligkeit hat Zweigs Leben und Werk unzweifelhaft geprägt, ob jemand durch sein Handeln Harm angetan wurde, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden.

Viele der kompromittierenden Stellen hat Zweig sicher vernichtet, doch die zitierte Stelle (wohl von ihm übersehen, mutmaßt Weinzierl) blieb ebenso wie andere (diese anscheinend wissentlich) in den Tagebüchern, die, davon musste Zweig ausgehen, veröffentlicht werden würden, wenn sie nicht gar dafür geschrieben wurden. Ob dies eine letzte Form des Exhibitionismus des schauprangernden Zweig war? Hier fällt besonders die Diskrepanz zwischen der diskreten, fast völlig vom Ich gelösten, Autobiographie, in der nicht mal die Ehefrauen auftauchen und der intimen Selbstentblätterung auf.

Die neuen Aspekte der Persönlichkeit Zweigs werden bei der Lektüre dessen Werk sicher einfließen, nicht aber mein Lesen bestimmen. Mein Bild seiner Bücher ändert dies nicht. Denn losgelöst von etwaigen Einflüssen auf diese, tritt der Autor für mich beim Lesen erstmal als Person mit allen etwaigen Stärken und Schwächen in den Hintergrund. Die Erkenntnis um Stefans Zweig verdirbt mir nichts, sondern fügt eine neue Facette zu meiner Sicht auf einen bedeutenden Autor mit Schwächen hinzu.

Zuletzt: Vorkenntnisse sind für die Lektüre empfehlenswert, setze ich bei dem Einstieg in Spezialthemen wie dieses bei euch klugen Menschen aber voraus. Weinzierl schreibt sehr unterhaltsam, ohne den nötigen Ernst zu vernachlässigen, das Buch kann man easy wegsnacken, wie warmes Brot mit Butter, falls sich das lesen lässt. Besonderes Schmankerl, der immer wieder versteckte beißende Spott.***

Darf man auch mal sagen: das Format dieses Buchs ist perfekt, nicht zu hoch, schmal aber nicht fitzelich, großzügiger Satz. Alles richtig gemacht Zsolnay!


*Nach eigenen Angaben hat Ulrich Weinzierl sämtliche Romane von Frau Z. gelesen, fast unvorstellbar bei Ausschnitten wie:

Langsam ließ er sie zurückgleiten ins Moos. Hände kosten sie und grüßten die Kleinode ihres Leibes. Ihre Haare waren wie besonnte Seide, darunter die Pulse in den Schläfen pochten, wie kleine gläserne Hämmerchen. Auf die Wangen senkten sich die Lider herab wie bebende Schmetterlingsflügel. Ihre Lippen öffneten sich und er erschauerte, bald würde er ihre Süße kosten. Nun fühlte er die gläsernen Hämmerchen durch die feine Haut des Halses an seinem Mund und vor der Zartheit ihrer Schultern erbebte er, denn sie waren die eines Kindes. Ihre Brüstlein waren jungen Tauben gleich, die rosige Schnäbelchen aus dem Gefieder spreizten, wenn der Flügelschlag der Liebe ihrem Durste naht. Er meinte zu vergehen […] Da, als er wie ein von göttlichem Zorn Besessener über ihr raste, fühlte sie plötzlich namenlose Erlösung und während ihr ganzes Sein ausströmte in demütiger Verzückung zu randloser Ewigkeit, sah sie im ersten fahlen Licht des Morgens ihn zur Seite stürzen, als hätte Gott ihn an Felsen zerschellt.

Friderike Zweig – Vögelchen

**Hierzu die Strafrechtswissenschaft:

Die Vorschrift schützt die Selbstbestimmung über die Abgrenzung des höchstpersönlichen sexuellen Bereichs, die durch die aufgedrängte, häufig schockiernde Konfrontation mit fremder, beziehungsloser, aber gleichwohl auf das Opfer gerichteter und daher vielfach als Bedrohung empfundener Sexualbetätigung verletzt wird.

Fischer, StGB, § 183 Rn. 2

***Nicht so wie ich spotten würde, aber Spott, der in so einem ernsten Buch, eines so vordergründig ernsten Menschen, auffällt. Bspw.:

Eigentlich hatte Zweig mit dem lyrischen Dichten bereits aufgehört (was in Kenntnis seines Jugendwerks keiner riesiger Verlust war) […]

 

Sylvia Plath – Die Tagebücher

Wird auch oft gesucht: Emily Dickinson – Virgina Woolf

Grave of Sylvia Plath
Das Grab Sylvia Plaths in
Heptonstall, West Yorkshire
© Mark Anderson
CC BY-SA 2.0

Legendäre Lyrikerin und ebenso legendäre Selbstmörderin, der Name Sylvia Plath ist untrennbar mit beiden Attributen verbunden. Es kann daher keinen Text über sie geben, der beides nicht zumindest streift. Aus diesem Grund beginnt Elisabeth Bronfen ihre Studie über Plath mit der Kontroverse, ein eigentlich zu harmloses Wort für etwas, das der deutsche Jurist Störung der Totenruhe nennt (§ 168 Abs. 2 StGB), um das Grab der Dichterin*. Immer wieder wurde der Grabstein beschädigt. Die Nachkommen ließen diesen daher entfernen, doch ein anonymes Grab, das steht außer Frage, genügt nicht einer Frau, die ein solches Werk geschaffen hat, die solchen Einfluss auf die Literatur nach ihr nahm.

Der Streit, um den auf dem Grabstein stehenden Ehenamen Plaths (Hughes), lag auch daran wie Ted Hughes mit dem Erbe seiner Frau umging und wie der Feminismus Sylvia sehen will. Hughes, selbst Schriftsteller, doch bald vom posthumen Ruhm der verblichenen Frau überflügelt, war kein fürsorglicher Nachlassverwalter, sondern, so warfen ihm nicht nur die Jünger auch neutralere Außenstehende vor, vorrangig auf Schonung der eigenen Familie und Vermehrung des pekunären Erbes, als auf Förderung des Nachruhms und Heil für die Literatur(geschichte) aus. Ersteres möchte man ihm (fast) nachsehen, waren die Kinder beim Selbstmord der Mutter nebenan, nur durch nasse Handtücher, mit denen sie die Fugen der Küchentür vor Aufdrehen des Gashans abgedichtet hatte, vom eigenen Erstickungstod getrennt. Nicholas, damals erst ein Jahr alt, nahm sich fast fünfundvierzig Jahre später ebenfalls das Leben. Spätwirkungen durch den Tod der Mutter kann man zwar nicht sicher annehmen, der auf der Familie liegende Schatten dagegen ist offensichtlich. Hughes Vorsicht daher verständlich.

sylvia plath tagebücher diary diariesLetzteres ist dagegen unverzeihlich. Ted Hughes hat große Teile des Tagebuchs verbrannt, statt sie nur unter Verschluss zu halten, eine Band angeblich verloren, in vorherigen Ausgaben rigide zensiert. Die 1997 bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienene Fassung  ist aller Voraussicht nach die umfassendste Version, die noch zu erwarten ist. Denn auch nach Hughes Tod 1998 sind keine weiteren Streichungen, Auslassungen oder gar Teile wieder aufgetaucht, die angeblich verbrannten Hefte, anscheinend wirklich in Flammen aufgegangen, die verlorenen, verloren**.

Doch auch die vielen Auslassungen im vorliegenden Band können die Lektüre des fast funfhundert Seiten starken Diariums nicht weniger interessant machen. Auslassungen, die in Sorge für die vorgenommen wurden, die ihr Leben als Person in diesem Drama noch zu Ende leben müssen, so die Herausgeberin Frances McCullough. Auch wurden einige bösartige Spitzen – Plath hatte eine sehr scharfe Zunge und zwar so gut wie allen gegenüber – und Kürzungen ihrer ziemlich ausgeprägten Erotik wegen vorgenommen.

Die Aufzeichnungen setzen 1950, Plath ist 18, ein und enden 1962. Sie sind reich, üppig, voller Verlangen nach Lebendigkeit, voller hoher Erwartungen, schreibt die Übersetzerin Alissa Walser ganz richtig. Doch sie sind der Steinbruch, aus dem Plath für ihr gesamtes Werk schöpfte. Das Panoptikum eines Lebens, in dem alles dieses Ausmachende zu sehen ist: Der Schmerz und das Genie, Hoffnung und Depression, der Kampf um Anerkennung als Frau, wie als Schriftstellerin; der Lebenskonflikt einer jungen, intellektuell ambitionierten Frau in den Zwängen der 50er Jahre, in den Zwängen einer Ehe mit einem teils übermächtigen, beherrschenden Mann, in den Zwängen des Hausfrauen- und Mutterdaseins. Und bei der Lektüre wird immer wieder deutlich, warum Plath später zu einer Ikone des Feminismus wurde, nicht nur weil sie um Respekt für ihr Schaffen und ihre Rolle als Frau kämpfte, sondern eben auch weil sie daran zerbrach. Die Tragik ihres Schicksals und das Wissen um das Ende ihres Lebens machen die Lektüre besonders eindrücklich. Es ist die starke Stimme, einer immer wieder schwachen, aber nicht aufgebenden Frau, die schlussendlich zerrieben wird zwischen den eigenen Ambitionen, ihrem Genie und den Beschränkungen als Frau ihrer Zeit.

elisabeth bronfen sylvia plath coverSekundärlektüre ist nicht zwingend notwendig, um die Tagebücher zu verstehen, insbesondere da diese mit einführenden und erläuternden Worten der Herausgeberin versehen sind, doch will man die Welt Plaths erschließen, möchte man tiefer gehen, und das sollte man, nimmt man sich fünfhundert Seiten Innenleben vor, ist der Band von Elisabeth Bronfen, ebenfalls bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, unerlässlich. Nicht immer publikumsnah geschrieben, aber tiefschürfend und nach kurzer Eingewöhnungszeit unterhaltsam, da sehr klug udn genau, setzt Bronfen sich mit dem Plath-Mythos, Sylvias autobiographischen Schriften, der Dichtung und ihrer Prosa auseinander.

Ted Hughes verabschiedete sich kurz vor seinem Tod übrigens mit dem Gedichtband Birthday Letters von seiner Frau, damals eine literarische Sensation. Zur Versöhnung mit allen Jüngern Plaths konnte dies nicht mehr führen, aber in Zusammenhang mit der Gesamtausgabe der Tagebücher, das musste man dem Mann zugestehen, die Gemeinde hatte ihn zu Unrecht verdammt. Sein Leben an der Seite Sylvias war alles andere als leicht, so Michael Maar.

Zur Lyrik wird an dieser Stelle ein zweiter Teil in Bälde folgen.

* Der Grabstein steht wieder, wie man sieht. Jäten müsste man aber mal. Stänkern und Namen ausmeißeln können immer alle, aber ein bisschen Unkraut zupfen ist dann zuviel.
** 2000 erschien eine weitere Ausgabe der Tagebücher, herausgegeben von Karen Kukil, The Unabridged Journals of Sylvia Plath, die allerdings nicht ins Deutsche übertragen wurden, in dieser sind lediglich einige Namen abgekürzt und insgesamt nur zwölf Sätze gestrichen.

S – Das Schiff des Theseus

Nora Bossong – 36.9 Grad

Von Nora Bossong stammen die beiden besten Gedichte meines Jahres. Das liegt zum einen daran, dass sie auf unserem Literaturspielplatz 54stories erschienen sind und ich allgemein wenig Lyrik lese, wenn es sich denn vermeiden lässt. Zum anderen liegt es aber daran, dass Nora Bossong hervorragende Gedichte schreibt. Und Essays. Und Romane. Und überhaupt.

nora bossong 36,9° grad hanserNun also 36,9 Grad und gleich auf den ersten Seiten bestätigt sich der Verdacht, dass die Autorin irgendwo rare Verben und Adjektive züchtet, die sie nach Bedarf ernten und servieren kann. Selten wurden in einem Buch so viele Wörter textmarkergelb unterstrichen, weil die Frauenkörper so schön schwappen und die Worte bröseln und im Erzählton eine Süffisanz schwingt, bei der man – völlig gegen die Teilnahmslosigkeitsetikette – sogar morgens in der Bahn schon grinsen kann. Stilistisch gibt es also nichts zu meckern und viel zu loben. Und auch der Inhalt ist ein klug komponierter Spiegelplot. Auf der einen Seite der italienische Kommunist Antonio Gramsci (1891-1937), ein verwachsener Revolutionär, der zwischen Verstand und Verliebtheit taumelt und schließlich in Mussolinis Kerkern dahinsiecht. In den Episoden steckt viel Recherche und ein bisschen Fiktion und Gramscis verknotete Beziehung zu den Schwestern Julia, Eugenia und Tatiana Schucht zeichnet den scharfen Denker zwischendrin als hilflosen Herzschmerzensmann.

Im zweiten Handlungsstrang tritt fast ein Jahrhundert später der leidlich renommierte Wissenschaftler Tonio Stöver auf, den schon sein Vorname zur Gramsci-Forschung verdammt und der vor seiner zerbröckelnden Ehe nach Rom zur Feldstudie flieht. Angetrieben von seinem Vorgesetzten soll Stöver ein verschollen geglaubtes Notizheft Gramscis aufstöbern, wobei der schon fast pathologische Fremdgeher jedoch die Jagd nach einem mysteriösen Lockenphantom vorzieht, das an die Schucht-Schwestern erinnert.

Im Kern von Nora Bossongs Roman finden sich zwei Männer, die an ihren Partnerinnen vorbei lieben. Gramscis Begehren, das seinen Intellekt gefährdet, wie die Frauen schon so oft den Männern den Geist vernebelt haben, existiert vor allem in Briefumschlägen und in der Ferne. Tonio Stöver dagegen ist so verliebt in das Spiel der Verführung und die Idee der Unerreichbarkeit, dass er die gegebene Präsenz seiner Frau Hedda nicht ertragen kann. Das ist ein Gedanke, der Spannung enthält, der jedoch im Roman so akribisch auserzählt wird, dass ihm spätestens in der Mitte die Luft ausgeht. Die Streitdialoge zwischen Tonio und Hedda sind choreographierte Worttänzchen, die selten über routinierte Beleidigungen hinausgehen und insgesamt ändert keine der Figuren ernsthaft etwas an ihren Haltungen. Doch während Gramsci seine Faszination durch die Gedanken zur Natur des Widerstands zumindest weitgehend behält, verblasst Tonio Stöver schließlich zu einem berechenbar eitlen Waschlappen.

Insgesamt hat der Roman etwas von einer römischen Statue: perfekt geschnitzt und doch ein wenig – man verzeihe – unter Körpertemperatur.

[Saskia Trebing]

Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945

Es kommt sogar vor, dass besonders naseweise Kunden bei Felix Jud in Hamburg Herrn Weber gegenüber äußern, ihre Werke dürften nicht nebeneinander stehen.* Die Abneigung der beiden deutschen Großkritiker Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki ist legendär, aber mit zunehmenden Jahren, so liest man in den Tagebüchern des Ersten, durch Altersmilde abgeschwächt worden. Die große Zeit als Widersacher, sei es als Kritiker in der Gruppe 47 oder als Feuilletonisten bei FAZ und ZEIT, war da schon länger vorbei.

Eva Demski – “Ich bin der Postillion d’amour” – überbrachte mir “allerherzlichste” Grüße von Reich-Ranicki, der mir ausrichten ließ, er liebe und verehre mich und verfolge alles, was ich tue.

Tagebücher Fritz J. Raddatz – Band II – 21. März 2005

Nun soll dieser Beitrag nicht aber zur ewigen Debatte Beatles oder Stones (Beatles!), FJR oder MRR (FJR!) werden, sondern vielmehr den neuen Sammelband von Rezensionen und Essays Reich-Ranickis verhandeln: Meine deutsche Literatur seit 1945. Und doch noch ein letztes Mal das Thema: “Die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur kannst nur Du schreiben”, soll ein Freund (war es Hochhuth?) Raddatz, die Jahre gingen bereits zur Neige, gesagt haben. Geschrieben hat sie am Ende aber weder Raddatz noch Ranicki.

meine deutsche literatur marcel reich-ranickiFritz veröffentlichte vor knapp 35 Jahren einen Band Die Nachgeborenen – Leseerfahrungen mit zeitgenössischer Literatur, der bereits viel dessen enthielt was nun auch bei Marcel wiederzufinden ist und dies ist allein schon aufgrund des Umstandes, dass hier zwei aus der Top 5 deutscher Literaturkritiker die Top-Autoren ihrer Zeit besprachen. Die Stars Johnson, Böll, Walser, Grass, Koeppen, die jungen Wilden Fichte und Brasch und Reich-Ranicki aufgrund der späteren Veröffentlichung die Namen der 90er und 00er: Maron, Biller, Hermann, Regener.

Nun, ich muss offen sagen: Das Buch ist vorgeschlagen worden für das Quartett vom Kollegen Karasek, und ich habe zwar – ohne es gelesen zu haben -, habe gesagt: Gut, wenn der Karasek es unbedingt will – einverstanden! […] Um Gottes Willen, warum bin ich verurteilt, diese Art Literatur zu lesen? Ich will das nicht lesen, das ist lächerliches Niveau, das ist ein Geschwätz ohnesgleichen.

Über Sven Regeners “Herr Lehmann” – Aus dem Literarischen Quartett vom 17. August 2011

Marcel Reich-Ranicki hat auch keine zusammenhängende Literaturgeschichte geschrieben. Thomas Anz nun aber eine klug ausgesuchte Sammlung herausgegeben, die sich durchaus als solche bezeichnen darf. Nun all diese Vorrede wäre nicht notwendig gewesen um zu sagen, dass auch dieser zweite Band der posthum erschienen Artikel grandios ist. Bereits die Beiträge zur Entwicklung von der Gruppe 47 bis zur Politisierung durch die 68er liefern einen Einblick in eine Zeit, die so nur durch Zeugen dieser erfahren werden kann. Wie funktionierte die Kritik bei der Gruppe 47, wie lief das Abschiedstreffen in Saulgau, bei dem die Arbeit der Gruppe endete, ab?** Aber auch die Kritiken zu den wichtigen Werken dieser Zeit Johnsons Mutmaßungen über Jakob oder Bölls Und sagte kein einziges Wort stoßen direkt hinein in den epochemachenden Beginn der Nachkriegsliteratur. Auch enthalten, in einer anderen Fassung als im ersten Band und auch ansonsten die einzige Wiederholung, das berühmte Fehlurteil Ranickis über die Blechtrommel mit dem Verriss Auf gut Glück getrommel. Nach dem einleitenden Teil ist bereits das Überfliegen des Registers eine wahre Freude – dieses Buch ist ein perfektes Nachschlagewerk und dazu, ganz anders als Raddatz Nachgeborene, der Wissenschaft und keine Unterhaltung betrieben hat, sehr kurzweilig und unterhaltsam.

Der erste Band Geschichte der deutschen Literatur enthält selbstverständlich bereits Artikel zur Literatur nach 1945. Der Herausgeber Thomas Anz möchte vielmehr, dass sich die beiden Bände ergänzen, daher gibt es auch nur die eine Wiederholung. Anders ist im zweiten Band auch die Anordnung, nämlich nach Erscheinungsdatum des Beitrags, die es ermöglicht nicht entlang eines Schriftstellerlebens, sondern die Essays und Kritiken vielmehr im Kontext der Literaturentwicklung im Nachkriegsdeutschland zu lesen. Falls nicht doch noch eine zusammenhängende Studie Raddatz’ zu dieser Zeit auftaucht, bleibt diese Sammlung Empfehlung Nummer 1.

*Der Hinweis auf die zwangsläufige Nähe durch Alphabet und Genre wurde durch den Kunden ignoriert.
**Zur Gruppe um Hans Werner Richter kann ich auch die Aufzeichnung dieser Sendung empfehlen (solch einen Anorak hätte Raddatz natürlich nie getragen!):

Deutschland – Erinnerungen einer Nation – Neil MacGregor

Brite des Jahres und Träger der Goethe Medaille, Direktor eines der bedeutensten Museen der Welt und Gründungsintendant des Humboldtforums, dieser Mann führt Deutschland und das Königreich zusammen. Mit seiner Geschichte der Welt in 100 Objekten hat Neil MacGregor bereits vor einiger Zeit einen Sachbuchbestseller geschrieben und dem Listen-Genre damit auf hohem Niveau wieder Leben eingehaucht. Nun, nach dem sehr englischen Shakespeares ruhelose Welt, setzt er sich in Deutschland – Erinnerungen einer Nation sehr eindrucksvoll mit der Geschichte des Landes seiner neuen Wirkungsstätte auseinander.

macgregor deutschlan erinnerung einer nationErneut sind es Objekte, anhand derer er seine Untersuchung betreibt: ein Themenwagen des Mainzer Rosenmontagszuges, ein Kanaldeckel, die Ein-Pfenning-Münze, ein Ablassbrief und Trinkkrüge, Schnitzereien, Kirchen und selbstverständlich viel zeitgenössische Malerei – allerdings leider nicht in Listenform. (Die Liste, das gebe ich gerne zu, machte es leichter, Stellen, die nicht dem persönlichen Gusto entsprechen, zu überspringen.)

Spötter würden sagen, dass ein weiteres deutsches Geschichtsbuch nun wirklich nicht nötig sei. Allein in MacGregors Verlag C.H.Beck kann man sich tausendfach mit diesen in unterschiedlicher Schinkendicke eindecken und trotzdem ist dieses etwas besonderes. MacGregor erzählt unterhaltsam ohne zu verflachen, fakten- und kenntnisreich, aber nie langweilig und beweist immer wieder mit der geschickten Auswahl der Anschauungsobjekt seine sichere Hand als Kurator. Besonders empfehlenswert ist dabei die Möglichkeit sich den Text im Hörbuch von Burkhard Klaußner vorlesen zu lassen und nebenher durch die wunderbaren Bilder des großformatigen Bandes zu blättern. Dieses Buch ist ein toller Anreiz, auch für eigentlich weniger Interessierte, sich immer wieder der Geschichte unseres Landes zu nähern.

Übersetzt wurde Deutschland – Erinnerung einer Nation übrigens von Klaus Binder der zuletzt für seine Lukrez Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war.

Über den Gräben von Romain Rolland

daz4edRomain Rolland erhielt 1915 den Literaturnobelpreis, war einer der engagierten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und ebenso der Verfechter des europäischen Gedankens und des Pazifismus. Doch sind seine bedeutensten Romane der zehnbändige (!) Jean-Christophe und Meister Breugnon, die zuletzt vor über fünfzig Jahren übersetzt wurden, nur noch antiquarisch zu kaufen. Immerhin Pierre und Luce wurde 2010 vom Aufbau Verlag neu aufgelegt ist, soweit ersichtlich, aber ebenfalls nicht mehr lieferbar. Rolland ist, zumindest in Deutschland, fast gänzlich vom Radar verschwunden.

Der Name Rolland ist mir nur geläufig, da sich bereits vor der Zeit des ersten Weltkriegs Stefan Zweig mit dem Franzosen befreundete. Ein stetiger Briefwechsel, entsprechende Tagebucheinträge der beiden und Fußspuren in den Biographien, aber auch ein Buch Zweigs über den Mann und dessen Werk sind Zeugen dieser engen Verbindung.

Wider das Vergessen ist kürzlich bei C.H.Beck in der textura Reihe eine Zusammenstellung aus den Tagebüchern Rollands zwischen 1914-1919 erschienen. Die Zeit des ersten Weltkrieges stellt dabei natürlich, zumal in den privaten Aufzeichnungen eines Mannes mit dem Ziel des Friedens in der Welt, eine besondere Probe für diesen dar. Daher wird sich auch der bereits zu Beginn angeschlagene Ton nicht ändern.

3.-4. August 1914
Deutschland fällt in Luxemburg ein, richtet ein Ultimatium an Belgien.
Ich bin am Boden. Ich möchte tot sein. Es ist furchtbar, inmitten dieser wahnsinnigen Menschen zu leben und ohnmächtig dem Bankrott der Zivilisation beizuwohnen. Dieser europäische Krieg ist die größte Katastrope der Geschichte seit Jahrhunderten, der Zusammenbruch unserer heiligsten Hoffnungen auf die Brüderlichkeit der Menschen.

Rolland berichtet in der Folge über seine berührende Freiwilligenarbeit in der “Kriegsgefangenenauskunftsstelle” in der Schweiz, bei der er sich darum bemüht den Kontakt zwischen Gefangenen und ihren Familien in der Heimat herzustellen. In der Folge übernimmt er einige rührende (nicht rührselige) Exzerpte aus Briefen von Soldaten nach Hause oder sogar eines französischen Soldaten, der einer deutschen Mutter vom Tod ihres Sohnes berichtet. Zugleich gerät Rolland aber auch selbst zwischen die Fronten. Als in der Schweiz lebender Franzose, der zwischen Ideologien und Staaten zu vermitteln versucht, sieht er sich zahllosen Angriffen ausgesetzt, die durch die Vergabe des Nobelpreises an ihn, im Jahr ’16 rückwirkend für das vergangene, nur verstärkt werden. Der Ton seiner Notate ist, ob der Welt- und der eigenen Situation fast durchgängig verzweifelt-resigniert, nie aber weinerlich.

Eine Französin, die in Russland ist, wirft mir vor, ich sei ein schlechter Franzose. Ein Deutscher in Sankt Moritz wirft mir vor, ich sei ein von Nationalgefühl verblendeter Franzose. Beide Briefe erreichen mich mit der gleichen Post.

Die Hellsicht Rollands in der hundertjährigen Rückschau schmerzt besonders, als er die herannahenden Probleme des Friedensschlusses von Versailles skizziert und diesen in weiser Voraussicht mit dem Schlusswort der Sammlung einen lächerlichen Zwischenakt zwischen zwei Völkermassakern nennt.

Lesen Sie!

Der Leser entscheidet mit dem Kauf von Büchern über Wohl und Wehe des Erinnertwerdens eines Autors mit. Kein Nobelpreis und keine noch so hehren Absichten bewahren einen Menschen davor nur knapp siebzige Jahre nach dem Tod der Vergessenheit anheim zu fallen. Bereits diese kleine Auswahl aus den Tagebüchern Rollands von C.H.Beck zeigt wie viel Bewahrenswertes sich in dessen Werk findet und das nicht nur, weil die gegenwärtige Dramtik des Weltgeschehens dessen Aktualität wiederherstellt.

[Lohnend sicher auch der Briefwechsel Von Welt zu Welt zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig.]

Louis Begley – Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe

Wenn es einen deutschsprachigen Schriftsteller gibt, für den es ausreichend Sekundärliteratur gibt, dann ist es Kafkas Franz. Zur Quasi-Primärquelle der Biographie von Max Brod gesellen sich die von Klaus Wagenbach, die gerade abschlossene dreibändige von Reiner Stach, an der sich inzwischen sicher alles messen lassen muss und viele weitere. Es gibt Kafka Handbücher (z.B. das zweibändige von Binder) und Interpretationshilfen für Schüler. Dazu kommen nicht zuletzt Essays von Adorno, Walter Benjamin, Camus und Canetti, Kundera, to name a few. In dieser illustren Reihe hob Louis Begley den Finger, denn auch er will was zu Franz schreiben.

cover.doDie Voraussetzung für die Notwendigkeit einer weiteren Studie sind hoch, denn wirklich neues wird, insbesondere solange der vollständige Nachlass Max Brods nicht gesichtet werden darf, für lange Zeit nicht zu erwarten sein. Begleys Text hat dazu noch das Pech im Jahr 2008 erschienen zu sein, also im selben, in dem auch der zweite Band der Stach-Biographie Die Jahre der Erkenntnis auf den Markt kam. In Ermangelung neuer Erkenntnisse hat sich Begley also dazu entschieden ein Buch zu schreiben, das bereits auf den ersten Seiten deutlich macht welche Intention der Autor verfolgt: dem riesigen Markt einen weiteren Titel des Mittelmaßes hinzuzufügen. Dazu ist das Ergebnis eines, das de facto keine Leserschaft finden dürfte. Für gänzliche Kafka-Novizen, die es aufgrund der Einheitsschulbildung im deutschsprachigen Raum kaum geben dürfte, vielleicht eine Spur zu viel, für Leser mit Vorbildung zwei Level zu niedrig. Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob das Buch gezielt für den amerikanischen Markt geschrieben wurde, das wiederum machte das Bedürfnis nach einer Übersetzung obsolet.

Aber selbst wenn Du, lieber Leser, ein solcher Fan bist, der einfach alles von oder über seinen Helden Kafka (Begley?) lesen möchte, muss ich Dir von Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe abraten, denn selbiges liest sich wie eine Quellensammlung, in der Begley nur die Überleitung zwischen den seitenlangen Zitaten geschrieben hat. Lesefluss ist so völlig ausgeschlossen und stattdessen regt sich leiser Groll auf den “Biographen”, ob seiner copy-paste-Methode und vor lauter eingerückten Stellen.

Willst Du einen Überblick über Kafka, lies doch einfach den ausführlichen Wikipedia-Artikel, möchtest Du tief einsteigen, wage Dich an Stach (der mir stellenweise zu schwülstig ist, aber vor dessen Mammutwerk man den Kopf neigen muss) oder wie wäre es damit: lies doch mal wieder Kafka!