Kategorie: Rezensionen

Januar 2015

Der Horizont – Patrick Modiano (abgebrochen)
Ein schlechter Start in das neue Jahr. Die Geschichte um eine verlorene und wiedergefundene Jugendliebe rauscht nur so an mir vorbei und bevor ich begreife worum es eigentlich geht, habe ich schon wieder den Faden verloren. Modiano lese ich mal, aber nicht jetzt.

Gehen – Tomas Espedal (abgebrochen)
Fehltritt no. 2: auf dem Weg eines der vielgerühmten Bücher des Herrn Knausgard zu erwerben, empfahl mir der Buchhändler meines Vertrauens auch dieses Werk. Der beste Freund Knausgards ist also Tomas Espedal und schreibt über einen Kerl, der Heim, Herd, Frau und Kind verlässt. Er zieht zu Fuß durch Europa, um zu sich zu finden, sowie Land und Leute kennenzulernen. Auch nach 100 Seiten finde ich absolut kein Zugang zu Gehen. Übrigens ist Knausgard noch nicht offiziell abgebrochen, hat es aber ebenfalls schwer.

Kastelau – Charles Lewinsky
Erstes Lesehighlight des Jahres! Eine geschickt gestrickte Story um einen aberwitzigen Filmdreh in den Alpen am Ende des zweiten Weltkriegs.

Kein CoverCharles Lewinsky: Kastelau397 Seiten, Nagel & Kimche München 2014Buch bestellen

Herz der Finsternis – Jospeh Conrad
Unglaublich dichter Klassiker! Kann man immer wieder mit wohliger Beklemmung lesen.

Schloss Gripsholm – Kurt Tucholsky
Aus Anlass Tuchos Geburtstag als Hörbuch genossen.

Cornflakes mit Johnny Depp – B.J. Novak
Großartige, kurzweilige Shortstories und trotzdem mit Tiefgang. Das Wunderkind Novak (The Office) ist witzig und klug, seine Kurzgeschichten ein weiteres Lesehighlight des Januars! Dringliche Empfehlung!

Kein CoverB.J. Novak: Cornflakes mit Johnny Depp
gebunden, 333 Seiten
Blumenbar by Aufbau, Berlin 2014 Buch bestellen

Theoda – S. Corinna Bille
Die in Deutschland kaum (oder sehe ich das falsch?) bekannte Corinna Bille erzählt eine Ehebruchgeschichte in einem winzigen Örtchen im Wallis. Bedrückende Enge im schweizer Dorfmuff.

Pedalpilot Doppelzwo – Wolf Schmid
Wunderbares Debüt – ausführliche Rezension folgt!

In Love – Alfred Hayes
Eine junge Frau wird auf einer Party von einem deutlich älteren Mann angesprochen und erhält ein unmoralisches Angebot. Für 1000 Dollar solle sie mit ihm gehen. Doch sie ziert sich und bekommt die Offerte doch nicht aus dem Kopf. Die Verlockung des Geldes und ihr Wankelmut zerstören peu a peu die Beziehung zu ihrem Freund und viel zu spät realisieren alle Beteiligten, dass man Liebe nicht kaufen kann.

Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts – Herbert Rosendorfer (abgebrochen)
Der inzwischen verstorbene Herbert Rosendorfer gehörte zur Zunft der schreibenden Juristen und konnte es in Teilen durchaus mit dem viel bekannteren Bernhard Schlink aufnehmen (Ich geh zu Fuß nach Bozen). Aber der Versuch juristische Anekdoten und Schnurren des Alltags in Gericht und Staatsanwaltschaft zu einem unterhaltsamen Roman zu formen, ist gescheitert. Die Rahmenhandlung, der jeden Donnerstag vor dem gemeinsamen Musizieren, erzählende Ex-Staatsanwalt, ist bemüht bildungsbürgerlich und zäh, nein langweilig. Dies gilt auch für die  zum Besten gegebenen Geschichten, die zum Teil grobe juristische Fehler enthalten, die jeden Studenten in Strafrecht – Allgemeiner Teil sang- und klanglos untergehen lassen würden. Finger weg und lieber zu oben Erwähntem greifen.

Unterwerfung – Michel Houellebecq
Das erste Skandalbuch 2015 mit gar nicht soviel Zündstoff wie behauptet wird.

Das Fest der Bedeutungslosigkeit – Milan Kundera
Der 85-jährige, von mir schon tot geglaubte, Kundera wirft nochmal eine als Roman titulierte Miniatur auf den Markt, die für mich absolut keinen Mehrwert hatte. Lieber Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nochmal lesen!

Eine schöne junge Frau – Tommy Wieringa
Viel, viel schöner dagegen diese als Roman titulierte Miniatur über die Liebe eines renommierten Wissenschaftlers zu (s)einer schönen jungen Frau. Zwei Personen erfahren die Schwierigkeiten, die eine Liebe und ein gemeinsames Leben mit sich bringen können, gerade als es dann auch noch um den gemeinsamen Kinderwunsch gibt. Und bei diesem Buch darf man sogar dem Klappentext glauben, wenn er sagt: “Schonungslos, sensibel und genau erzählt Tommy Wieringa von der großen Liebe, die einem Mann in der Mitte des Lebens widerfährt und seine ganze Person in Frage stellt.” Ich kannte Tommy Wieringa vorher nicht, aber den muss man sich merken!

Kein CoverTommy Wieringa: Eine schöne junge Frau
123 Seiten, Hanser Verlag, München 2015Buch bestellen

Der Tag, als meine Frau einen Mann fand – Sibylle Berg
Fast auf Eine schöne junge Frau aufbauende Lektüre nämlich in den mittleren Jahren der Ehe von Rasmus und Chloe, die zwar die besten Kameraden sind, denen aber Lust und Liebe in zwanzig Ehejahren weitestgehend verloren gingen. In Innenansichten der beiden werden die Konflikte der saturierten Mittelschicht und ihrer Wohlstandsprobleme geschildert, auf der Suche nach dem perfekten Partner. Unterhaltsam und nachdenklich.

Eierlecken zum Walgesang

Wenn ich mich morgen auf den Marktplatz stelle und Gott ist tot brülle, werden die Passanten aufschauen, aber kopfschüttelnd weiter spazieren. Innerhalb einer Kirche dürften solche Rufe schon etwas schlechter ankommen, ebenso wie unverhüllte Brüste mit der Bestätigung, dass Sie direkt unter uns weilt und Femenaktivistin ist. Sonst kann man in Deutschland Skandale mit Religionskritik eigentlich nicht mehr machen, dafür ist die (christliche) Kirche von innen heraus schon zu skandalgeschüttelt. Wenn nun aber dieser ungepflegte, nuschelnde Mann mit dem wilden Haar und der schlechten Haltung einen neuen Roman herausbringt, ist das Geschrei vom Skandal wieder groß, was weniger an der Religion, sondern mehr am Ruf des schreibenden clochards liegen mag.

Einige Zeilen zur Frage, ob Michel Houellebecq und Unterwerfung eine Gefahr für Morgen- und Abendland darstellen, ob sie die Grundfesten unserer Demokratie, unseres Lebens erschüttern.

Gegen den Strich

Houellebecqs Held François ist im Frankreich des Jahres 2022 Literaturprofessor an der Sorbonne, Spezialist für Joris-Karl Huysmans den Autoren der Dekadenz. Er beschaut seinen Nabel und wälzt private Sorgen um das Älterwerden, das Allein- und Verlassensein. Freunde hat er keine und seine Frauenbekanntschaften sind mit jedem Studienjahr wechselnde Damen seiner Fakultät. Während François also vornehmlich mit seiner Person beschäftigt ist, schwelt es in Frankreich kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Die Rechten um Marine Le Pen haben gute Karten an die Macht zu gelangen, die bürgerlichen Parteien scheinen politisch nicht mehr auf die Beine zu kommen und als neue Macht positioniert sich bereits Mohammed Ben Abbes, der Kandidat der Muslimbrüder. Um eine Machtergreifung des Front National zu verhindern, gehen die gemäßigt Linken eine Koalition mit Ben Abbes ein und dieser wird mit ihrer Hilfe zum Präsidenten gewählt. Statt des erwarteten Rechtsrucks, gibt es nun einen muslimischen. Der berühmte französische Laizismus wird aufgehoben und Professor François verliert aufgrund seines falschen (keinen) Glaubens sein Amt.

Die Gesellschaft verfällt zurück ins Patriarchat: Frauen erhalten nur eine rudimentäre Schulbildung, sind vor allem die Hüterinnen der Familie, nur wenige dürfen studieren und wenn nur die schönen Künste, was schlagartig viele neue Jobs für Männer schafft und so die Arbeitslosigkeit drastisch reduziert. Der Tagesablauf wird an die Gebetszeiten angepasst, die Essgewohnheiten den muslimischen Speisevorschriften, die saudischen Petrodollars finanzieren die staatlich-muslimischen Universitäten, deren Lehre entsprechend angepasst wird und François flieht vor dem Wandel, sich und der Zukunft quer durchs Land.

Berufsmäßiger Skandalautor

Die Skandälchen, die Houellebecq früher durch seine Sexszenen, seine Person und sein Frauen- und Weltbild hervorrief, sind nichts gegen die Sturm, der über ihn aufgrund von Unterwerfung niederging. Die geringen Quoten der Buchmacher auf einen Skandal gingen nach den Attentaten von Paris wohl auf 0. Der Chef-Anecker Frankreichs eckte mit langem Anlauf an. Wobei die Pünktlichkeit doch erstaunt, denn er hat ja keinen Artikel zwei Tage nach den Anschlägen lanciert, sondern bereits letztes Jahr ein Buch geschrieben, das heute den Zeitgeist so vortrefflich spiegelt.

Betrachtet man nun aber dieses Buch, das Gero von Randow bedrohlich Nichts für intellektuelle Feiglinge nennt, genauer, möchte man die Presse doch bitten das Ganze nicht allzu hoch zu hängen. Klar wird zu Musik vom Typ Walgesang frei von Lust abwechselnd in Muschi und Arsch gefickt, es werden Eier geleckt und mit großer Sorgfalt Sperma von Lippen geleckt. Aber das schockiert inzwischen auch niemanden mehr. Seine Ausführungen zur Politik im allgemeinen, Demokratie und der Trennung von Staat und Kirche im Besonderen, dürften einen aufgeklärten, sich seines Verstandes bedienenden Westeuropäers kaum erschüttern.

Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.

Losgelöst von der ewigen Debatte, um “Das-wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen”-Kritik, solcher an Religionen oder deren Auslebung durch den Einzelnen, geht Houellebecq vielmehr drängende Fragen der westeuropäischen Demokratien an. Warum haben so viele Angst, dass ihre Interessen nicht beachtet werden? Warum sind viele so lethargisch und dann wieder so aufgebracht? Wie kann man die schlechteste aller Staatsformen verbessern?

Man wählte einen Mitte-links-Kandidaten, abhängig von seinem Charisma für die Dauer von einem oder zwei Mandaten, ein drittes wurde ihm aus undurchsichtigen Gründen verwehrt. Dann wurde das Volk dieses Kandidaten beziehungsweise der Mitte-links-Regierung überdrüssig – hier ließ sich gut das Phänomen des demokratischen Wechselspiels beobachten -, woraufhin die Wähler einen Mitte-rechts-Kandidaten an die Macht brachten, ebenfalls für die Dauer von ein oder zwei Mandaten, je nach Typ. Seltsamerweise war der Westen überaus stolz auf dieses Wahlsystem, das doch nicht mehr war als die Aufteilung der Macht zwischen zwei rivalisierenden Gangs, nicht selten kam es sogar zu einem Krieg, um dieses System anderen Ländern aufzuzwingen, die diesbezüglich weniger enthusiastisch waren.

So fragt sich der Leser: erkenne ich den Wandel in der Gesellschaft und reagiere ich angemessen darauf? Um mich herum sind die meisten desinteressiert, hoffen es werde alles bleiben wie es war und gestehen sich ihre Furcht vor der Veränderung nicht ein, aber wie agiere ich? Was muss erst geschehen, dass ich aus mir heraus etwas ändern möchte oder mich mit einem vorhandenen Zustand nicht mehr zufrieden gebe. Diese Fragen wird Michel Houellebecq einem nicht individuell beantworten können, aber die Enttäuschung wenn François wieder in seine Lethargie zurückfällt, den Weg des geringsten Widerstands geht, könnte ein Fingerzeig für den Leser sein, etwas mehr Demokratie zu wagen.

Houellebecq warnt den Leser vorm Abstumpfen, dem Totschweigen von Problemen, führt das ständige Distanzieren und Widerrufen von Parteien vor, die dann doch aus politischen Unruhen ihren Nutzen ziehen. Diese Botschaft trägt er, zu seinem Unglück, nicht auf einem Schild vor sich her, sondern hat sie mit der Geschichte verwoben. Daher wird er so häufig Opfer der kritischen Schnellschüsse von Journalisten, die ihm Islam- und Fremdenfeindlichkeit vorwerfen. Unterwerfung ist nicht so plakativ wie The Circle; Houellebecq nicht Eggers. Michel ist witzig, ist gebildet, bösartig und klug, ein genauer Beobachter; er schreibt Literatur, die unterhalten kann, nicht muss. Aber ähnlich wie bei Eggers ist Unterwerfung nicht bis ins Letzte raffiniert konstruiert, in seinem Gang vorhersehbar und trotzdem ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Nur manchmal wird eben nicht richtig klar was hier gespielt wird: Dystopie, Liebesgeschichte oder die vom traurigen alternden Mann, Politthriller? So wird der Roman zwar automatisch zum Politikum, nicht aber zwangsläufig zu großer Literatur.

Darf der das?

Ohne Frage dürfte Unterwerfung dazu geeignet sein, Menschen zu verletzen, aber so sehr wie den Westeuropäer niedergeschriebenes Eierlecken nicht mehr schockiert, sind wir auch auf dem Gebiet der Toleranz religiöser Kritik weit fortgeschritten. Warum sollte Houellebecq also nicht eine religiöse Dystopie schreiben dürfen? (Wobei es sich meiner Meinung nach nicht einmal um eine solche handelt.) François steht am Ende, soviel darf verraten sein, nicht in einer brennenden Welt, der Eiffelturm und das Parlament bleiben.

Während die reichen Araberinnern tagsüber die undurchsichtige schwarze Burka trugen, verwandelten sie sich abends in schillernde Paradiesvögel: Mieder, transparente BHs, Strings mit bunter Spitze und Schmucksteinen, also genau das Gegenteil der westlichen Frauen, die sich tagsüber sexy und elegant kleideten, weil ihr sozialer Status auf dem Spiel stand, abends aber zusammensanken, in unförmige Freizeitklamotten stiegen und beim Gedanken an Verführungsspielchen nur müde abwinken.

Houellebecq beobachtet und beschreibt erst mal nur wie die unterschiedlichen und verschiedenen Kulturen zusammenprallen. Dem Leser bleibt die Interpretation überlassen, ob er Frauen gerne tagsüber oder abends oder gar nicht sexy haben mag. Klar darf der das (beide: Autor und Leser)! Als meine kleine Schwester nach ihrem Auslandssemester aus Südkorea wiederkam und von den neusten Trends berichtete – Transplantation von Schamhaaren gegenüber Rasur zur Kindfrau oder Flucht vor jedem Sonnenstrahlen gegenüber dem Bräunungswahn der Europäer – berichtete sie ebenso wertfrei wie Michel, einen Skandal haben beide nicht verdient. Wahlweise die deutsche oder französische Fahne öffentlich zu entzünden, steht von meiner Warte jedem frei, nur haben die Brandstifter das Buch wohl meist nicht gelesen oder die Erzählung meiner Schwester nicht aus erster Hand – Zorn, Hass und Wut sind unangebracht, weil unberechtigt.

Vor allem schürt Unterwerfung keinen Hass (recte: sollte keinen Hass erzeugen), es stachelt nicht auf, es entwirft eine andere Welt, die nicht einmal als besonders schlecht, nur als anders, dargestellt wird. Houellebecq sagt nie, dass er den Islam ablehnt, kritisiert diesen sehr moderat, ebenso aber auch jede andere Religion. Dieser Roman wird weder das Abend- noch das Morgenland zum Einsturz bringen, er möge doch aber bitte zum Einsturz von Denkverboten führen.

Sapere aude, Feigling!

“Sagen wir es so: Man wird nicht reaktionär, wenn man das Buch anfasst – aber es ist auch nichts für intellektuelle Feiglinge”, schließt Gero von Randow und liegt damit ziemlich falsch, gerade der intellektuelle Feigling sollte zugreifen, er kann nur lernen. “Es hat noch nie jemand seine politische Meinung geändert, weil er ein Buch gelesen hat”, sagte Houellebecq bei der Präsentation des Buchs in Köln. Von der Möglichkeit einer Meinungsänderung abgesehen, die ich durchaus für möglich halte, fängt aber vielleicht der Leser an zu hinterfragen. Das Interesse kann doch häufig am besten durch Kontroversen und Anecken erweckt werden; in dieser Hinsicht machen Houellebecq wenige etwas vor.

Donnerlittchen!

SONY DSCPoetry Slams sind etwas für Nerds, Lyrik was für Lehrer, Redensarten für Oma. Daher zog der Slammer Lars Ruppel aus mit „Holger, die Waldfee“ zehn Redensarten in moderne Lyrik zu verwandeln: Der mit einem Feenfluch belegte alte Schwede, der durch Zufall heiliggesprochene Strohsack oder der entlassene Herr Specht, alle Gedichte Ruppels so ironisch sie erst gezeichnet zu seien scheinen, enthalten nicht nur Humor, sondern immer auch eine Moral. Doch kein Zeigefinger vermittelt diese, sondern ein Augenzwinkern und so wird auch das letzte Bisschen Bänkelsängertum, das Format und Vorhaben anhaften könnten, von Ruppel egalisiert. Schöner kann man nicht belehrt, besser nicht unterhalten werden. Dieser Dichter reimt nicht für die Bütte, ist vielmehr lustig ohne sich anzubiedern und klug ohne Schlaumeierei.

Sie mögen keine Nerds, Lehrer oder Redensarten? Lesen Sie Ruppel! Sie mögen keine Lyrik? Der Deutsche Meister im Poetry Slam wird Sie zu ihrem und seinem Jünger machen!

[Diese Rezension erschien im BÜCHERmagazin 2.2015]

Erinnern ist scheiße

Dies ist eine absolut wahre Geschichte!

Ein nicht mehr ganz junger Mann macht sich mit einer Spitzhacke bewaffnet in L.A. auf einen Stern des Walk of Fame zu zerstören. Denn für Samuel A. Saunders ist das Kino, das wirkliche Kino, nicht mehr existent.

Die Studios verdienen ihr Geld nur noch mit Popcorn-Filmen für Teenager. Explodierende Autos und Witze über Verdauungsfunktionen. Farbige Brillen soll man sich aufsetzen für ihre lächerlichen 3D-Effekte. Kinderkram. Sie schreien immer lauter, um sich gegenseitig zu übertönen. Weil sie das kunstvolle Lügen verlernt haben.

Dieser Saunders hat seine Promotion über Walter Arnold geschrieben, einen deutschen Schauspieler, der nach dem Zusammenbruch des dritten Reichs in die USA auswanderte und dort unter dem Namen Arnie Walton zu einem gefeierten, gar oscarprämierten Mimen wurde. Der Student recherierte so gut, dass seine Dissertation über die Vergangenheit Arnolds derartig viel Sprengstoff enthielt, dass sein Doktorvater die Annahme aus Sorge um einen Skandal verweigerte. Der Versuch seine Arbeit in ein Enthüllungsbuch umzuschreiben und als populärwissenschaftliches Werk herauszubringen, scheiterte an der Zurückhaltung der Verlage, dort scheute man sich ebenso ein Denkmal des amerikanischen Films vom Sockel zu stoßen. Saunders zog sich zurück und bestritt seinen Lebensunterhalt mit einer Videothek, spezialisiert auf Klassiker der Filmgeschichte, aber Digitalisierung und Internet gruben Wasser und Gewinne ab. Nach dem Tod Arnolds/Waltons witterte Saunders die letzte Chance sein Buch zur Veröffentlichung zu bringen, doch der Stern des Schauspielers ist so schnell verglüht, dass sich schon kurz nach dessen Tod keiner mehr für ihn interessiert, die Enthüllungen würden ungelesen verpuffen.

Also zieht Saunders los das in sterngegossene Andenken zu zerstören, mit roher Gewalt zu vollenden, was ihm mit Argumenten nicht vergönnt war. Er wird, wie in den USA üblich, von einem Polizisten angeschossen und stirbt an den Folgen. Nun hat Charles Lewinsky Saunders Nachlass gesichtet und aus dessen gesammelten Aufzeichnungen, Interviews, Tagebuchaufzeichnungen und Kurzgeschichten ein grandioses Buch komponiert.

Authentisches Bild einer unglaublichen Geschichte

"Der Watzmann" von Caspar David Friedrich (1824/25)
“Der Watzmann” von
Caspar David Friedrich (1824/25)

Lewinsky greift in die Texte Saunders kaum ein, arbeitet nur dem Auslassen von Redundantem oder stellt handschriftliche Einfügungen kursiv und so entsteht ein authentisches Bild einer unglaublichen Geschichte: Im Winter 1944 gaukelt eine Gruppe von Produzenten und Schauspielern der UFA dem Reichspropagandaministierium vor ihr Film Lied der Freiheit sei derart bedeutend für die Moral des bereits schwer kriegsmüde gewordenen deutschen Volks, dass dieser als kriegswichtig und die Beteiligten als unabkömmlich eingestuft werden. Um aber aus dem von Bombenangriffen schon stark zerstörten Berlin zu entkommen, geben sie auch vor, der Film, der eigentlich zur Zeit der napolionischen Kriege spielt, müsse in den Alpen gedreht werden. Also reist die Filmcrew in das Dorf Kastelau, nahe Berchtesgarden.

Dieses Dorf ist in seinem Glauben an das neue Deutschland noch nicht erschüttert, Auswirkungen vom heimkehrenden Krieg spürt man nicht und der rigorose Ortsvorsteher sorgt dafür, dass keiner der Bewohner aus der ideologischen Reihe tanzt.

Die Filmstars sind in der Provinz die erste Attraktion seit Ausbruch des Krieges und werden entsprechend neugierig, aber auch kritisch beäugt. Daher wird es umso schwieriger den Schein einer wirklichen Filmproduktion aufrecht zu erhalten, neben dem Problem einen Kriegsfilm mit einer Handvoll Schauspieler zu drehen, einem völlig falschen Drehort und dem zu Neige gehenden Filmmaterial, gibt es auch noch Spannungen in der Crew und die Amerikaner stehen bald nahe Berchtesgarden – was sollen die nur über einen Nazipropagandafilm denken?

Eine absolut unwahre-wahre Geschichte!

Was Charles Lewinsky in Kastelau konsturiert, ist derart überzeugend, dass es durchaus eine wahre Geschichte seien könnte und gerade der bereits auf Seite 11 in einer Fußnote gebrachte Link zum Nachlass von Saunders und die Beteuerung des Autors es handele sich um eine wahre Geschichte, lässt den Leser lange in dieser Illusion, durch eingebaute Wikipedia-Einträge z.B. zu Kastelau kommt man vorerst gar nicht auf die Idee die Spurensuche selbst im Internet weiterzuverfolgen. Jede Figur und jedes Dokument hat eine eigene Stimme, insbesondere die Kurzgeschichten von Werner Wagenknecht, dem mit Schreibverbot belegetem vom Produzenten aber protegierten Autor, sind derartig andersartig großartig, dass man an eine wahre Geschichte glauben will, allein um dessen Romane direkt nach Kastelau lesen zu können. Aber auch durch das Verraten dieses Tricks Lewinskys, den fast jede Rezension direkt zu Anfang preisgibt, dürfte dieses Buch nicht an Reiz verlieren. Denn diese unwahre könnte leicht eine wahre Geschichte sein. Das Verstecken von Deserteuren im Keller, das Belügen von sich und anderen, die Wendehalsmentalität von Mitläufern alles ist so in dieser wundersam-grausamen Zeit vorgekommen, insbesondere der Impuls der Filmcrew ihren Einfluss zu nutzen um der Gefahr für das eigene Leben zu entkommen, ist so verständlich, dass man die Realität dieses Buches selten hinterfragt.

Und selbst als ich (endlich) verstanden hatte, dass es sich um ein Konstrukt handelte, wollte ich an dessen Wirklichkeit glauben, ich wollte die wahren Darsteller kennenlernen und ihre Geschichten lesen, ich wollte die Autobiographie von Walter Arnold lesen, mit meinem Wissen über ihn und seine Verstellung, wollte die beschriebenen Filme sehen und vor allem mehr von Werner Wagenknecht lesen – ich wollte weiter an die Realität dieser Geschichte glauben – mehr kann man von Fiktion nicht verlangen!

Hilary gegen Haruki und Mantel gegen Murakami

Manchmal packt es einen oder nicht.

Hilary Mantel gewann sowohl mit Wölfe als auch mit Falken, ihren historischen Romane über England unter Heinrich VIII. und Thomas Cromwell, den Booker Prize. Eine hohe Auszeichnung in einem Genre, das sonst eher auf Wühltischen stattfindet. Um diese derart dekorierte Autorin kennenzulernen, ohne gleich 1300 Seiten Historienschmöker lesen zu müssen, versuche ich ihren Kurzgeschichten Band Die Ermordnung Margaret Thatchers.

Ich beginne also mit Der Besucher und weiß nach den 24 Seiten der Geschichte irgendwie nicht so recht, was ich da gerade gelesen habe. Eine Frau ist mit ihrem Mann aus (seinen) beruflichen Gründen nach Dschidda in Saudi-Arabien gezogen und freundet sich mehr oder weniger mit einem Mann an, der bei ihr klingelt umzu telefonieren. Eigentlich mit einer Konzentration ausgestattet, die es mir erlaubt auch mehr als zwanzig Seiten am Stück zu lesen, merke ich doch am Ende, dass ich von der Geschichte nichts so richtig mitbekommen habe, zwischendrin bin ich wohl zu oft abgeschweift. Nichts an der Geschichte hat meine Aufmerksamkeit so richtig aufrechterhalten können. Kann natürlich passieren, mag man das Sujet der Geschichte nicht, ich bin kein Wüstenmensch (genauso wenig ein Schnee-Typ). Aber auch die nächste Geschichte plätschert an mir  vorbei, ich kann von keiner der Geschichten über den Inhalt referieren, habe aber doch jede zumindest angelesen. Sowas ist mir lange nicht passiert. Ich könnte nicht mal von dem Buch abraten, weil es einfach an mir vorbeiging (was natürlich schwerlich als Empfehlung gelten kann). Also erstmal keine Hilary Mantel mehr für mich, trotz Booker Prize.


Besser soll es danach Haruki Murakami, der ewig verhinderte Nobelpreisträger, mit Von Männern, die keine Frauen haben machen. Bereits dem Umschlag gebührt hier schon mehr Aufmerksamkeit als der bloßen Tasche der eisernen Lady. Auf das weiße Cover selbst ist nur die schwarz-weiße Silhouette eines Mannes gedruckt, Farbe und Frauengestalt sowie den Text, bringt erst ein aus dicker Folie bestehender zweiter Einband.

Marakami schafft es im Gegensatz zu Mantel bereits in der ersten Beatles-Zitat Geschichte Drive my Car mich zu interessieren. Ein verwitweter Schauspieler erzählt seiner Fahrerin wie er erfuhr, dass seine Frau ihn betrog und wie er gelernt hat damit umzugehen und nach ihrem Tod immer noch damit umzugehen versucht. Und auch im anschließenden Beatles-Zitat Yesterday versucht ein (hier) junger Mann die Beziehung zu seiner Jugendliebe zu ergründen, die Verwicklungen zu verstehen und die Eifersucht auf andere Männer, die ihr nahe kommen oder kommen könnten zu bewältigen. Sowieso dreht sich eigentlich jede Geschichte Murakamis um das (sexuelle) Gefüge zwischen Mann und Frau und Herr M. schafft Stories, die mich unterhalten und ich mit Freude weiterlese, über das abrupte Ende rätsel oder schöne Passagen mehrmals wiederhole. Kinos Bar handelt von verletzten Frauen, rätselhaften Gästen, Betrug, Flucht und Mafia. Auch Scheherazade scheint sich um ähnliche Themen zu drehen, als wäre sie das Negativ der nachfolgenden Geschichte und auch wenn man Murakami das Kreisen um das immergleiche Thema vorwerfen könnte, schafft er es aus diesem immer neue Aspekte zu kitzeln, Alltägliches und Abseitiges.

Alle tot!

Mich umweht ein Hauch des Morbiden. In Paris spaziere ich lieber über Friedhöfe, statt das Nachtleben der Stadt zu erkunden, Wien die Hauptstadt der Todessehnsucht ist natürlich meine Lieblingsstadt. Nicht, dass mich eben solche Sehnsucht plagen würde, ich habe es mir hier sehr gut eingerichtet und plane noch einige Jahrzehnte meinem noch jungen Leben folgen zu lassen, bin aber irgendwie in diese Geschichte reingeschlittert, sind doch die meisten meiner Autoren tot. Bei Heine und Böll, Kästner und Zweig kann man schlecht auf eine Lesung gehen, will mal jemandem also eine Ehre erweisen, so gibt es nichts näheres als einen Besuch am Grab.

Sterben die Großen, ruft man ihnen nach. Der Nekrolog ist eine eigene Gattung des Journalismus. Die Frage, ob die großen Zeitschriften den passenden Nachruf für möglicherweise bald Versterbende, bereits in der Schublade haben, füllte sogar schon Romane (z.B. Picknick auf dem Eis von Andrej Kurkow). Nun haben Georg Thiel und Florian Baranyi für jedes Jahr des 20. Jahrhunderts einer verstorbenen Persönlichkeit einen Nachruf geschrieben und ein Geschichts- und Erinnerungsbuch daraus gemacht: Alle tot – Das 20. Jahrhundert in 101 Nachrufen.

Beginnend mit Oscar Wilde 1900 bis Lolo Ferrari 2000 führen die beiden Autoren unterhaltsam und lehrreich durch das Säkulum. Man trifft alte Bekannte und lernt neue Autoren, Künstler und Politiker kennen. Besonders erfreulich hierbei, dass zum Teil die nicht naheliegenden Todeskandidaten des Jahres vorgestellt werden.

In seiner Agonie verlangte er Papier und Stift und bat um 100 Mikrogramm LSD, intramuskulär verabreicht. Laura kommt dem nach. Als sie ins Nebenzimmer geht, um die Ampulle zu holen, erfährt sie, dass John F. Kennedy gerade erschossen wurde. Einige Stunden später schläft Huxley friedlich ein.

IMAG3806Nicht eben den offensichtlichen Kennedy, sondern Aldous Huxley zu nehmen, beschehrt dem Leser dazu auch noch die Bekanntschaft mit Moritz Schlick (1936) oder Antonio Gramsci (1937). Klar ’45 ist Hitler gestorben, aber eben auch Anton von Webern, Hitler kennen alle, von Webern doch sicher wenigere. Trotzdem muss man nicht auf die Stars des Todeskults verzichten: Jim Morrison (1971), Elvis (1977), Eva Perón (1952) oder Falco (1998).

Thiel und Baranyi erzählen so auf eine völlig andere Art die Geschichte der europäischen Kultur in hundert wundersamen Jahren durch hundert und ein wundersames Leben. Ein grandioses Lesevergnügen, das nur durch das eklig glatte Papier geschmälert wird. Gänzlich fehl am Platz dagegen die Illustrationen von Stefan Kahlhammer, die vielmehr das Niveau eines einfachsten Kinderlexikons haben und für das Buch keinen Mehrwert darstellen. Wenn man sich den Lesegenuss hierdurch nicht verderben lässt, wird man mit Alle tot bestens unterhalten!

Miss Blackpool

Er kann es noch

Als Mensch meiner Generation konnte man sich kaum dagegen wehren mit Nick Hornby aufzuwachsen. High Fidelity war Pflicht für herzkranke, musikverliebte Pubertierende, About a boy in den Klassen unter mir sogar Schullektüre in Englisch und How to be good stand lange auf der Liste meiner Lieblingsbücher. Bäume ausgerissen hat Nick Hornby nach diesen drei Großen nicht mehr: Slam und Juliet, naked waren solide, A long way down etwas darüber. Statt Romane hat der glatzerte Nick in letzter Zeit mehr Drehbücher, Songs und Kolumnen geschrieben, fünf Jahre nach seinem letzten Roman erschien nun aber, pünktlich zum Weihnachtsverkauf, Funny Girl zu deutsch Miss Blackpool.

9783462046908Eben diesen Titel hat die junge Barbara in ihrer Heimatstadt gerade erlangt, doch schlägt sie ihn, kurz bevor sie das Treppchen besteigt und vom Bürgermeister gekröhnt wird, schon wieder aus. Sie will nach London und Komikerin werden, sie will ins Fernsehn, sie will nicht als Hausfrau und Mutter, der Kinder irgendeines Möbelhändlers in der Provinz, enden. Im London der frühen Sixties arbeitet Barbara aber zunächst in einem Supermarkt und versucht unbeholfen Männer kennenzulernen und hofft auf die Entdeckung durch einen Agenten, der ihr zu einer TV-Rolle und großem Ruhm verhilft. Doch bald muss sie einsehen, dass man nichts geschenkt bekommt, gerade nicht als Frau, und sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Statt sich in die Schmuddelecke abschieben zu lassen, denn Sophie, wie sie sich inzwischen nennt, ist von durch aussehnlicher Gestalt, bemüht sie sich um Rollen als Schauspielerin und wird tatsächlich für die zu startende Comedyserie Barbara (and Jim) entdeckt, deren großer Star sie wird.

Das anfangs unbeholfene Mädchen lebt sich in London ein und gewöhnt sich an den Ruhm, der mit ihrer neuen Rolle einher geht, bleibt sich aber treu. Um sie herum sorgen der Produzent und die Autoren der Sendung für sie und führen sie in das Leben in der Großstadt ein, ähnlich wie auch der Hauptdarsteller der Sendung und eine Zeitungsreporterin. Doch, dass Erfolg, Ruhm und Ehre einer einzelnen Sendung ewig halten, ist selten und es gibt Veränderungen im Fernsehverhalten des Publikums, an die sich Barbara (and Jim) anpassen müssen. Vor allem bleiben Barbara und Jim keine fiktiven Figuren mehr, als sich Sophie (vormals und jetzt Barbara) mit Clive (Jim) verlobt.

Eine Hochzeit würde Zeitungen und Zeitschriften glücklich machen, das wusste sie, aber der überwältigende Druck, den Leuten zu geben, was sie haben wollten, kam von innen. Mit einem ganz kleinen Zugeständnis konnte sie alles zusammenbringen, Barbara und Jim, Sophie und Clive, und womöglich würde es sogar ein Baby geben, das zu dem Baby passte, das sie im Fernsehen bekommen sollte.

Ein durchkomponierter Roman.

Nick Hornby kann es noch. Er zeichnet sympathische Figuren mit Abgründen, schreibt Romane zum Wegsnacken mit Tiefgang. In eine unterhaltsam zu lesende Geschichte flicht er geschickt Politik, Zeit- und Fernsehgeschichte ein. Die Nebenplots, um das Verhältnis der beiden Drehbuchautoren und ihr Umgang mit ihrer, einerseits durch eine Ehe kaschierte und andererseits später offen ausgelebten, Homosexualität in einer Zeit, in der diese noch mit Gefängnis bestraft wurde oder die heimliche Liebe des Produzenten zu Sophie und die Familiengeschichte Sophies greifen alle ineinander ohne konsturiert zu wirken.

Hornby schildert das Aufeinanderprallen von Provinz und Großstadtleben oder das was die kleine Miss Blackpool dafür hält. Und wenn Sophie die Bedenken ihres Vaters über die englische Politik äußert und sich als Kind des konservativen Hinterlandes outet, zeigt Hornby in unterhaltsamen Dialogen, dass er seinen Humor nicht verloren hat.

“Dürfen wir fragen, was dein Vater dagegen hat?”, fragte Dennis.
“Er findet, das Land geht vor die Hunde”, sagte Sophie.
[…] “Ihm missfällt die Zahlungsbilanz”, sagte Sophie.
“Die missfällt uns allen”, sagte Clive. “Aber für Tee und Kekse reicht es ja noch.”
“Und er macht sich Sorgen wegen der Farbigen.”
“Machen die in Blackpool so viel Ärger?”, fragte Bill.
“Neulich hat mir ein Farbiger hinterhergepfiffen”, sagte Sandra. “Ein Fensterputzer.”
“Ist ja ekelhaft”, sagte Bill. “Gleich zurückschicken. In der gesamten Geschichte des Fensterputzens hat kein weißer Mann jemals einer Frau hinterhergepfiffen.”

Miss Blackpool ist wunderbare Unterhaltung und neben der sympathischen Protagonistin, bereiteten mir am meisten die beiden Drehbuchautoren Bill und Tony Freude. Nicht nur der erwähnte Umgang mit der eigenen Homosexualität, sondern auch ihre Reflexionen über Sinn und Unsinn, Ziel und Möglichkeiten von Unterhaltungsfernsehen gekoppelt an die verschiedenen Lebensziele der beiden sind einfühlsam und unkonsturiert real, Hornby lässt nicht einfach Yes and No, Black or White, Straight and Gay aufeinanderprallen, sondern flicht die Geschichten in seine Geschichte ein. Ein durchkomponierter Roman.

Bill waren die Zuschauerzahlen früher sehr wichtig gewesen. Aber nach “Das neue Badezimmer” gierte er nach der Anerkennung der Leute, die im Leben nicht dabei erwischt werden wollten, eine beliebte BBC-Comedy zu gucken. Er wollte von den Leuten respektiert werden, die er in den unabhängigen Theatern sah, und von den Regisseuren der Kabaretts, die seine Sketche ablehnten. Er wollte die klugen, jungen Homosexuellen beeindrucken, die er in den Kunstclubs aufgabelte, und sogar die Fernsehkritiker, die die Sendung mal gemocht hatten, aber seit der ersten Staffel nicht mehr darüber schrieben. […] Bill empfand […] einen leichten Selbstekel.

100 Seiten zu lang

Bei allem Positiven kann man Hornby nur einen Fehler vorwerfen. Als Sophie auf der Höhe ihres Ruhms ist, beginnt sie zu zweifeln, ob dieser anhalten würde und was aus ihr ohne die Sendung würde. “Da hätte sie gern die Stopptaste gedrückt. Sie fürchtete sich bereits, nie glücklicher sein zu können als jetzt – letzten Montag – und dass es bereits vorbei war.”

Miss Blackpool ist leider circa 100 Seiten zu lang. Hornby hat den Druck auf die Stopptaste verpasst und reitet seinen Plot am Ende tot, steigt von ihm auch nicht ab, als dieser sich nicht mehr regt. Die Wiedervereinigungsszene am Ende, die man ohne zu spoilern verraten darf, erscheint in etwa so schief und falsch wie die Bahnhofsszene im letzten Harry Potter, wenn alle Kinder die Namen der vorher Verstorbenen tragen. Diesen Holzhammer hätte Miss Blackpool, ein durch und durch angenehmer Unterhaltungsroman auf gehobenem Niveau, nicht nötig gehabt.

Wie schrecklich war doch Bildung, wenn sie einen Geist hervorbrachte, der Unterhaltung verachtete, und damit auch alle Menschen, denen sie etwas wert war.

can’t and won’t

Ich habe einfach kein Interesse daran, dieses Buch zu lesen. Ich hatte auch kein Interesse daran, das letzte, das ich zu lesen versuchte, zu lesen. Ich habe immer weniger Interesse daran, eines der Bücher zu lesen, die mir gehören, obwohl sie vermutlich einigermaßen gut sind.

Was ist das für ein Buch, das bisher so gänzlich übersehen und -hört wurde, geht es nur mir so? Oder kennen Sie Lydia Davis: Man Booker International Prize 2013, eine der originellsten Köpfe der amerikanischen Literatur (The New Yorker), Übersetzerin von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Flauberts Madame Bovary ins Englische, never heard of. Für solche Entdeckungen gibt es zum Glück die Hotlist (gesonderter Artikel folgt), auf der in diesem Jahr Kanns nicht und wills nicht von eben dieser Dame stand. Ich habe immer Interesse daran Bücher zu lesen, die vermutlich einigermaßen gut sind. Lydia Davis aber ist etwas ganz besonderes.

In Ich fühle mich ziemlich wohl, könnte mich aber ein wenig wohler fühlen führt Davis dem erst etwas verwirrten Leser und Erste-Welt-Menschen vor Augen, auf welch hohem Niveau er jammert. Der einfache Trick der Autorin mit großen Absätzen zwischen Wehklagen wie “Ich bin müde.” oder “Dieses Pesto lässt sich nicht gut vermengen.” lässt diese sacken, macht die Nichtigkeiten unserer Malaisen fast körperlich spürbar, wenn man sich nach fünf Seiten Kinderkram bewusst wird, wie gut es einem geht. Genervt blickt man von der Lektüre auf und schämt sich dann ein bisschen in sich hinein.

Lydia Davis spielt mit Alltagsbeobachtungen und -gefühlen. Schätzt das Alter der Leute, die im Zug an ihr vorbeigehen und wundert sich, sie transkribiert ihre Träume, schreibt Briefe Flauberts um und schmilzt manchmal eine Szene, eine kleine Geschichte in einen Satz ein. Dann schreibt sie humorvolle Briefe an einen Tiefkühlerbsenproduzenten oder erkundigt sich nach Preisen für Pfefferminzbonbons. Selbstverständlich finden sich in einer Sammlung von knapp 100 Geschichen auf 300 Seiten auch solche, die nicht zünden wollen. Die Methode Davis’ ihre Erzählungen zum Teil auf die kleinste noch mitteilbare Form zu verkürzen, birgt vielmehr die Gefahr den Leser nicht zu erreichen, als eine detaillierte, doch die meisten Kurz- und Kürzestgeschichten funktionieren so gut, sind so harmonisch konstruiert, dass man begeistert immer mehr dieser Fetzen haben möchte.

Eine in Gedichtform gesetzte Spammail – oder soll es gar ein Liebesgedicht sein? – die Verzweiflung auf der Suche nach einem Buch, das die Lektüre wert ist (siehe oben und unten) oder die Reflexion über den Sinn des Schreibens. Nach mancher halben Seite fragte ich mich, wozu ich noch Romane lese, wenn diese Frau es schafft mit fünf Sätzen Welten zu entwerfen, Situationen zu schaffen und mich gleichzeitig zum Nachdenken bringen zu können. Aber man soll nicht so oft Genie sagen!

Die Bücher, von denen ich rede, sind angeblich einigermaßen gut, aber sie interessieren mich einfach nicht. In Wahrheit mögen sie um einiges besser sein als bestimmte andere Bücher, die mir gehören, aber manchmal interessieren mich die Bücher, die nicht so gut sind, mehr.

Dieses Buch ist großartig, bitte interessieren Sie sich dafür! Auch wenn sich der (zugegeben schwer zu übersetzende Originaltitel) nicht 1:1 ins Deutsche übertragen lässt und etwas an Zauber einbüßt: interessieren Sie sich nicht nur, lesen Sie Cant’t and won’t/Kanns nicht und wills nicht von Lyria Davis!

Verstand und Kürzungen

Zweimal habe ich meinen Einsatz für die sonntägliche Lyrik erst verpasst, 64 Einträge hat diese Kategorie gesammelt und (zumindest mich) einmal wöchentlich in Berührung mit schönen, großen und erschütternden Gedichten gebracht. Trotzdem fällt es mir manchmal nicht leicht Neues für jeden Sonntag zu finden, Copyright-Probleme mit lebenden oder erst kürzlich (vor weniger als 70 Jahren) verstorbenen Autoren grenzen die Auswahl zudem etwas ein. Daher wird es die Lyrik Abteilung ab sofort nur noch in veränderter Form geben: Nicht der Ablauf einer Zeitspanne, sondern meine persönliche Begeisterung für ein Gedicht soll der Grund für dessen Veröffentlichung hier sein.

Besonderes Schmankerl anlässlich dieser Änderung und auch (mit) Anstoß hierfür ist meine kürzliche Lektüre der Gedichte Helmut Kraussers Verstand & Kürzungen, aus denen ich mit freundlicher Genehmigung des DuMont Verlages einzelne Gedichte an dieser Stelle veröffentlichen darf.

Verstand & Kürzungen ist als Lyrik Band derart ausgewogen und gelungen, dass ich ihn schon mehrmals von vorne nach hinten durchgearbeitet oder spontan aufgeschlagen habe. Das Buch versammelt zwei grandiose Tiergedichte in einer U-12-Abteilung, neue und “Bonus”-Gedichte Kraussers, hat eine eigene Ü-18-Abteilung mit Schmuddel, Coverversionen bekannter Gedichte und Neuübersetzungen Kraussers von den seiner Meinung nach 33 besten Shakespeare Sonetten.

Der Ü-18-Abteilung ist eine Warnung vorangestellt – Die folgenden Gedichte können Gefühle nicht nur verletzen, sondern auch verursachen. – und dies sagt fast alles was man über Kraussers Lyrik wissen muss. Sie kratzt und beißt, ist unbequem und schamerfüllend, abstoßend und anziehend zugleich, keines dieser Gedichte, und das gilt für den gesamten Band, wird man gleichgültig konsumieren. Wer hier nicht voll Verzücken oder Abscheu zu schreien beginnt, hat keine Gefühle, die man verletzen könnte, welche hervorzurufen scheint ebenso unmöglich.

Grandios ist schon der Krausser, welcher durch seine Lyrik spricht, in den Erläuterungen seiner Cover-Versionen oder in der Vorbemerkung der Sonette richtet er sich direkt an den Leser und entstaubt erfrischend Klassiker, entfernt was nicht wert ist bewahrt zu werden und stellt heraus was grandios dem Dichtergenie gelang. Mit Respekt, aber nicht ohne fundierte (beißende) Kritik, wird ein jeder behandelt, auch Shakespeare oder was der Leser heute aus ihm macht.

Diese Sonette erschienen zuvor im Berliner
Hochroth-Verlag in drei schmalen Bändchen,
die weiterhin dort bestellt werden können –
es ist eine der schönsten Editionsformen,
die ich kenne. Warum ich nur 33 der 154
Sonette übersetzt habe? Ich habe alle übersetzt,
die ich gut fand. Mehr fand ich eben nicht.
Proportional ähnlich geht es mir mit seinen
Stücken, und die christushafte, völlig unkritische
Verehrung, die ihm in letzter Zeit wieder
zuteil wird, geht mir ziemlich auf den Zeiger.
Mehr noch nerven aber die vielen Plapperer,
die von nichts ‘ne Ahnung haben, kaum Englisch
können, schon gar kein elisabethanisches
Englisch, aber als allererstes (und immer so
gönnerhaft und kennerisch) fallenlassen,
daß an die Originale halt doch nichts rankäme.

Allein die Idee die Vorbemerkungen wie die folgenden Sonette zu setzen ist zwar nur eine kleine Idee, aber bereits ein deutliches Zeichen für die Lust, mit der Krausser an und mit Texten spielt. Welche noch deutlicher wird, wenn er sich den Cover-Versionen widmet, in diesen geht es nicht, wenigstens in den meisten Fällen, um Verbesserungen. Krausser interessiert sich “schlicht”, was er aus diesem oder jenem Einfall gemacht hätte – hätte er ihn gehabt. Seine Auswahl reicht von Ovid, Rilke, Brecht und Hölderlin, über William Blake, Goethe und Benn, zu Heine und Nietzsche. Vor allem aus diesen Cover-Versionen werden in nächster Zeit einige, mit der Gegenüberstellung des Originals, hier erscheinen. Ich freue mich sehr dies mit euch teilen zu können und kann jeden, aber auch jeden Lyrikmuffel, nur ermuntern dieses Buch zu kaufen, noch nie wurde man so einzigartig zur Liebe zu einer Gattung bekehrt.

Titel sind eine Verlockung

Warum kaufst Du ein Buch? – Cover, Klappentext, Name des Autors oder wegen Titel und Gestaltung? Klar, mal bekommt man einen Tipp und sucht daher gezielt, der Lieblingsautor hat etwas neues veröffentlicht oder man sucht Band 637 der Reihe vom traurigen Marienkäfer, der aus Liebe zum Mond fliegen will. Manchmal stöbert man aber nur und lässt Titel und Cover auf sich einrieseln. Der Titel verrät einem manchmal in einem Satzfetzen, ob der Autor kreativ ist oder nur ein Wortspieler, plump oder ein Künstler, direkt oder verwinkelt. Schon “über den Titel wird das Buch vermarktet, gegoogelt, bestellt, gelistet, rezensiert und diskutiert”, schreiben die Herausgeber des im Piper Verlag erschienen Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher. Die Zusammenstellung von Annette Pehnt, Friedemann Holder und Michael Staiger, lässt in die Werkstatt von Autoren wie Marcel Beyer, Friedrich Christian Delius, Ulrike Draesner, Lutz Seiler, Terézia Mora oder Tilman Rammstedt blicken. Mit kurzen Texten stellen sie ihre Bücher vor, zu denen sie zwar den Titel nicht aber die Geschichte fanden, der Titel später geändert wurde oder das Buch noch ungeschrieben in ihnen schlummert.

Nun blättert man also durch diese Sammlung und bedauert all die fehlenden Büchern zu den teils grandiosen Titeln (natürlich sind manche auch so schwach, dass man nicht bedauern muss). Etwas fies, denn man wird immer nur angefixt – ähnlich Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Viel größer dann aber die Freude über die Idee die Umsetzung der Titel durch Grafiker und Designer der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und des Fachbereichs für Gestaltung der FH Bielefeld gestalten zu lassen (hierzu gilt natürlich ähnliches wie für die Titel). Und so streift man durch diese Bibliothek und grübelt, ob das spontane Entdecken von Cover und Titel einen Kaufanreiz gesetzt hätte. Ganz klares Ja z.B. bei: Ich habe keine Leidenschaften von Georg Klein oder Hinweise für den, der nicht weiß, wer er ist von Markus Orths oder Wie ich die Eltern verschlang von Nora Gomringer. Beim Blättern fällt mir auf, dass ein guter Titel mich zwar neugierig machen kann, ein schlechtes Cover aber genauso schnell abschrecken, die drei genannten stechen für mich in der Kombination besonders hervor, aber es gibt noch so viele andere. Bitte kommen Sie also in die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher und schauen Sie, nur leider kann man am Ende des Rundgangs nichts kaufen, diese Präsenzbibliothek erlaubt nicht mal die Bücher zu öffnen.

Durchaus auch erwähnenswert: Rote Fadenheftung und Lesebändchen, sind keine Selbstverständlichkeit, das Papier in der Haptik nicht das Schönste, wohl aber dem Farbdruck geschuldet – Farbdruck!

Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher: Für alle, die gerne Bücher auf den ersten Blick kaufen, sich von Titeln catchen lassen oder in Cover verlieben, kauft dieses Buch, ihr werdet sicher enttäuscht werden – denn nach nur einer Seite ist Schluss – und trotzdem zufrieden lächeln.