Kategorie: Rezensionen

Liebe, Verrat und toxische Männlichkeit – „Bleib bei mir“ von Ayòbámi Adébáyò

Was passiert mit dir, wenn du deine ganze Liebe und Hoffnung auf nur eine Person setzt und von dieser verraten wirst? Wenn du dich in einer Ehe wiederfindest, wie du sie nie führen wolltest und tatenlos dabei zusehen musst, wie nicht nur diese Ehe und dein Heim, sondern auch deine Gesundheit zerstört werden?

Heute sage ich mir, der Grund dafür war, dass ich mich verbogen und jeden entwürdigenden Schritt über mich habe ergehen lassen: damit es jemanden gab, der mich suchen würde, wenn ich plötzlich als vermisst gelten sollte.“

Adébáyò erzählt vor dem Hintergrund Nigerias in den 80er Jahren von Yejide und Akin, die sich in der Universität ineinander verlieben und die unabhängig und, nach westlichen Standards, modern und gebildet sind. Nicht so ihr Umfeld. Weil die Ehe einige Jahre ungewollt kinderlos bleibt, sieht Akins Mutter den Fehler bei Yejide und überredet ihren Sohn zur Polygamie. Das ist nicht ungewöhnlich, vielmehr gängige Praxis und doch eine, in der Yejide sich nie wiederfinden wollte – ist sie doch gezeichnet vom frühen Tod ihrer Mutter und den anderen Frauen ihres Vaters, die ihre lieblose Kindheit und Jugend erschwert hatten. Aber Yejide fragt niemand. Ihr wird es nicht einmal gesagt, erst Wochen später, nachdem die zweite Ehe schon eingegangen wurde. Das Gefühl, als Frau nicht vollwertig zu sein und zu genügen, gepaart mit dem Verrat durch die Person, die ihr Liebe und Treue versprochen hat, stürzen Yejide in eine Scheinschwangerschaft, in der sie nicht nur glaubt, schwanger zu sein, sondern auch alle körperlichen Symptome aufweist.

Und überhaupt, was war schon ein Mann im Gegensatz zu einem Kind, das ganz allein mir gehören würde? Ein Mann kann viele Frauen oder Konkubinen haben; ein Kind kann nur eine Mutter haben.“

Ein Kind zu bekommen wird zum großen Ideal der Geschichte – ein Kind würde Rettung bedeuten. Es würde Yejide retten, ihre Ehe, ihre Reputation und es wäre ihres, unangefochten. Glaubt sie. Was folgt, sind noch mehr unausgesprochene Worte, Abmachungen, verzweifelte spirituelle Maßnahmen und Verrat – vieles davon hinter Yejides Rücken, sodass auch der*die Leser*in erst spät versteht, was vor sich geht. Nicht einmal das, was Yejide im Laufe der Geschichte wirklich für sich macht, “gehört” am Ende ihr.

Beleuchtet der Roman auch eine bestimmte Tradition in einem bestimmten Land, so dient er trotzdem als ein Exempel für frauenfeindliche Narrative weltweit. Der Protagonistin werden nicht nur körperliche, sondern auch psychische Krankheiten und Unzulänglichkeiten unterstellt, sie wird behandelt wie jemand, der hysterisch oder ein kleines Kind ist, während ihr jegliche Mündigkeit abgesprochen wird. Und das, obwohl sie “modern” ist, obwohl sie gebildet ist. Sie ist schließlich trotzdem eine Frau. Und so kommt ihr im Verlauf doch abhanden, was ihr die ganze Zeit unterstellt wird – ihre Gesundheit.

Auch erzählerisch steht der Roman dem Inhalt in nichts nach. Auf zwei Zeitebenen wird die Geschichte meist aus Yejides und manchmal aus Akins Sicht erzählt. Die Autorin hält nicht nicht mit detaillierten Beschreibungen oder Ausschweifungen auf und fokussiert sich auf die Dialoge. Die Emotionen werden bei Adébáyò nicht durch Beschreibungen transportiert, sondern sehr subtil – und sind dadurch noch wirkungsvoller und intensiver.

Ein Debütroman, den man nicht genießt und der einen trotzdem nicht loslässt.

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Beißen – Stechen – Schlagen: Ally Kleins Roman “Carter” tut weh und das ist gut

Manchmal sagen oder schreiben Schriftsteller*innen ganz unbedacht Sätze, die vielleicht nicht zur Veröffentlichung gedacht waren und ahnen dabei nicht, was Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später mit diesen Aussagen geschieht. Hätte Franz Kafka als er 21jährig und vermutlich noch voller jugendlichem Leichtsinn im Januar 1904 an seinen Mitschüler, den späteren Kunsthistoriker Oskar Pollak schrieb, gewusst, was aus dem Satz „[…] ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ werden würde, er hätte ihn vermutlich sofort ausradiert. Postkarten zierend, in Poesiealben geschrieben und gar falsch zitiert auf T-Shirts auf gedruckt, hat dieser Satz fast jede Kraft, die der junge Kafka damals vielleicht in ihm sah, verloren – er ist zur salbungsvollen Phrase  geronnen, die sich literaturinteressierte Gymnasiast*innen auf ihre Ordner schreiben, und zum Slogan, mit dem Verlage den hoffnungsvollen Neuling des Frühjahrs bedenken (ja, C. H. Beck, ihr seid gemeint!).

Ein anderer Satz aus demselben Brief ist zu lang und sperrig, um ihn marketingadäquat auf Krimskrams zu drucken, aber dafür ist er dementsprechend unverbrauchter: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?” Ob man nur noch solche Bücher lesen sollte, sei dahingestellt, aber ein solches hier beschriebenes Buch erweckt natürlich längst nicht so hochtrabend den Gedanken an die Literatur, die das zu Eis erstarrte Meer der Seele mit der Axt des Wortes wieder befreit. Nein, ein Buch, das beißt und sticht und einem einen Faustschlag auf dehttps://i1.wp.com/www.droschl.com/wp-content/uploads/2018/04/9783990590171.jpg?resize=261%2C421&ssl=1n Schädel verpasst, wirft die Gewalt, die Physis, die es enthält schmerzhaft körperlich auf die Leserin zurück. Ein solches Buch scheint sein lesendes Gegenüber zum Kampf zu fordern und meint damit nicht ein ehrenvolles und regelngeleitetes Duell, sondern ein Kampf mit Beißen, Hauen und Stechen. So wie Ally Kleins Debütroman Carter (Droschl 2018). Wer gesehen hat, wie sich die Autorin während ihrer Lesung beim diesjährigen Bachmannpreis mit kunstvoll zerzausten Haaren von Minute zu Minute mehr in ihren Auszug aus Carter hineinsteigerte, bekam eine Ahnung davon, wie schmerzhaft körperlich dieser Roman sein würde.

Auf knapp zweihundert Seiten berichtet eine namenlose Person unbekannten Geschlechts (wobei ich sie von Anfang an weiblich gelesen habe, weswegen ich im Folgenden von der Erzählerin sprechen werde) aus der Ich-Perspektive von einer rasenden amour fou mit der mysteriösen Carter. Zu Beginn kommt die Erzählerin wie in Das Schloss der kafkasche Landvermesser im Winter in eine namenlose und abweisende Stadt

Ich kam in diese Stadt im Winter. Nichts war geblieben, die Kälte hatte längst alles Lebendige, das nicht für ihre Strenge geschaffen war, ausgesiebt, […]. Jeden Morgen hatte mich diese Leere aufgeweckt, diese Einöde, die in diese Stadt mit dem Winter einbrach. (S. 18)

So öd und leer bleibt die Umwelt des Romans auch weiterhin. Die Kälte und die Dunkelheit in der Wohnung, die nur mit Holz beheizt wird, und der Stadt sind allgegenwärtig. Die Stadt, ihre Straßen und die darum liegenden Wälder und Felder wirken manchmal wie ein postapokalyptisches Brachland, in dem sich nur wenige menschliche Wesen tummeln. Wie eine leuchtende Erscheinung mutet da der Moment an, als die Erzählerin an einem Abend vor der Kneipe Marina, unter Eingeweihten das sogenannte Bodo, im Licht einer Straßenlaterne Carter erblickt:

Gelbes Licht schien auf sie, fiel auf sie herab, während die Lampe nur noch aus letzter Kraft aus drei, aus vier Meter Höhe dieses Licht herabrieseln ließ, ein gelbes, fast bräunliches Licht, das viel zu schwach war, um ganz bis zum Boden zu reichen. (S. 28)

Was auf diese erste Begegnung folgt ist ein in atemloser Prosa gehaltener Ritt durch mehrere Monate, in denen die Erzählerin Carter verfällt, ihr eigenes Leben aus allen Bahnen fahren lässt und sich mit allem, was ihr Körper hergibt, in dieses ekstatische Verhältnis hineinwirft. Die Prosa, in der Klein all das schildert, ist geprägt durch eine Sprache, die mit sich ringt und darum kämpft, die ganze Physis dieser Geschichte in Worte zu fassen.

In den Kuppen, in den Zehen, im Magen pulsierte es, in den Augen, ich hätte sie mir rausreißen wollen, die Augen, die Äpfel, hätte mir alles Hämmernde aus dem Gesicht reißen wollen, aus dem Körper, aus der Haut, aus dem Weichen, dem Fleischigen, dem Gallertartigen, aus allem, was sich öffnet und schließt. (S. 52)

Die Wiederholungen, die Aufzählungen, das Suchen nach dem passenden Verb und die Angst, etwas nicht genau zu beschreiben, die man beim Lesen zu spüren meint, geben dem Text eine Rastlosigkeit, die ebenso aufwühlend, wie ermüdend sein kann. Immer wieder entgleiten einem beim Lesen die Sätze, sie sind genauso haltlos und verwirrend, wie es das Innenleben der Erzählerin zu sein scheint. Dieser expressionistische Stil zeigt vielleicht einmal wieder, warum die vorherrschende Gattung des expressionistischen Jahrzehnts die Lyrik war. Die kleine Form eignet sich nicht zuletzt wegen ihrer Kürze besser, um eine solche dichte, adjektivreiche Sprache, die ganz auf Ausdruck des reinen Erlebens ausgelegt ist, zu beherrschen. In längeren Prosatexten läuft dieser Effekt beizeiten aus dem Ruder. Auch wenn hier Form, Inhalt und Aussage perfekt aufeinander abgestimmt sind, kann genau dieser Umstand das Lesen selbst zuweilen zu einem Ringen machen, das nicht immer ein Genuss ist. Ein zweifelhafter, weil teilweise schmerzhafter Genuss ist aber die reine Körperlichkeit dessen, was Klein hier beschreibt. Die wenigen Figuren des Textes – außer der Erzählerin und Carter tauchen quasi nur noch drei weitere auf – schinden ihre Körper bis auf die nicht nur sprichwörtlichen Knochen.

[…] springe auf, verheddere mich in der Mullbinde […] und falle, falle zu Boden, falle aufs Kinn, höre, wie die Haut aufplatzt, wie die Zähne zusammenprallen und einen grellen, ohrenbetäubenden Knirschton rauspressen. (S. 185)

Knochen stoßen auf Stein und Holz, Finger graben sich in Asphalt, Haut wird aufgeschürft, Köpfe werden gegen Wände gedrückt – in einem Sog aus Gewalt und Lust treibt die Handlung dahin. Das Buch beißt, sticht und schlägt beim Lesen mit der Faust auf den Schädel. Die Schilderung dieser schmerzhaften Vorgänge, in immer genaueren Details, die auch die kleinste Verletzung nicht auslassen, ist – und das zeigt die Kraft, die hier entfaltet wird – manchmal schwer zu ertragen. Dieses Buch ist kein vermeintlich klassischer Lesegenuss, um sich wohlig in andere Welten und fremde Leben zu denken, es wirft den Leser in das Leben einer Person und lässt ihn dabei allein. Das ist faszinierend und teilweise fesselnd, aber das Lesen ist, wie die Körper der Protagonist*innen, irgendwann erschlafft. Man schaut vom Buch auf und muss sich von dieser ganzen Physis lösen. Denn nicht nur Schmerz erfahren diese Körper, sondern alles: Wasser rinnt über Haut, Hände graben sich in Schlamm, Regenmassen fallen auf Haare, die in dicken Strähnen ins Gesicht hängen, Bier trieft aus Bärten, Rauch zieht in Lungen und stößt daraus hervor.
In einer der schönsten Stellen (S. 30f.) beschreibt die Erzählerin Carter beim Rauchen und stellt fest, dass die Euphorie, die der beobachtete Vorgang bei ihr auslöste, nicht mit dem eigenen Erleben beim Rauchen übereinstimmt. Carter ist übermenschlich, das unzerstörbare Ideal der Leidenschaft und der Rücksichtslosigkeit, sich selbst und anderen gegenüber. Sie verkörpert das, was die Erzählerin bei sich selbst sucht. Unklar bleibt dabei, wer Carter ist, woher sie kommt und was sie will – sie ist einfach da oder vielleicht auch nur eine Imagination der Erzählerin. An einer kurzen Stelle bricht die Perspektive auf und man weiß für einen Moment nicht mehr, ob man der Erzählerin trauen soll. Überhaupt verschieben sich immer wieder Traum und Realität, gehen ineinander über und lassen ratlos zurück, unsicher, ob das Beschriebene gerade passiert oder ob es sich die Erzählerin einbildet.

Dazu trägt auch bei, dass der ganze Roman in einer Umwelt spielt, die sich jeder Zuschreibung entzieht. Die Stadt bleibt namenlos, ein Fluss durchzieht sie, ein Münster thront, wie das kafkasche Schloss in ihr, es ist immer Nacht und Nebel oder dunstige Hitze, die Straßen und Häuser erscheinen wie die Kulisse eines Schattentheaters oder wie die schiefen Fassaden eines expressionistischen Stummfilms. Der einzige Ort, an dem Leben zu herrschen scheint, ist die Kneipe am alten Hafen, die auch nicht von ungefähr an das Gasthaus erinnert, in das der Landvermesser in Kafkas Romanfragment stolpert. Zusammen wirkt das alles aus der Zeit gefallen, oft erinnert nur das elektrische Licht daran, dass wir uns wohl in der Gegenwart befinden. Jegliche anderen technischen Errungenschaften scheinen verschwunden in dieser Geschichte zwischen Traum und Realität – die Körper sind auf sich selbst zurückgeworfen, alles Digitale ist verschwunden. Die Deutlichkeit mit der hier die zweidimensionale Welt auf Bildschirmen unausgesprochen verneint wird, fällt auf, wenn man sich der Abwesenheit aller modernen Kommunikations- und Bild- und Tonübertragungsmedien bewusst wird. Das Haptische, das Erfühlen und sinnliche Erfahren einer brüchigen, rauen und schmerzhaften Umwelt – im genuss- wie auch schmerzvollen Sinne – steht im Vordergrund, sodass das Gefühl einer glatten Oberfläche eines Touchscreens implizit abgewertet wird. Dadurch erscheint der Handlungsraum wie von unserer Realität abgekoppelt. Umso mehr irritieren, ja fast stören Einbrüche unserer alltäglichen Kultur: wenn ein Song erwähnt wird, ein Romanzitat auftaucht, etwas Greifbares, das eine klare Referenz in unserer Welt hat, erscheint und kurz den Schleier zerreißt, der über all dem sonst hängt. Diese Fetzen der Realität wirken in der sonstigen Zeit- und Ortlosigkeit fast fehl am Platze, sie geben der Geschichte für kurze Momente eine Fassbarkeit, die sie eigentlich nicht bräuchte. An diesen Stellen zeigt sich auch eine leichte Schwäche des Textes, die aber in der Art, in der dieser Roman geschrieben ist, begründet liegt: Die Momente, die fassbar wirken, wenn gar ein alltäglicher und realistischer Dialog zwischen zwei Figuren erscheint (S. 100), wirken wie Fremdkörper in der sonst so ekstatischen Erlebnisprosa. Hier wäre ein organischeres Zusammenfügen nötig gewesen. An solchen und anderen Stellen hätte man dem Roman ein besseres Lektorat gewünscht, um die sprachliche Ekstase im letzten Schritt doch noch etwas zu strukturieren und da doch allzu oft Sätze im Text auftauchen, deren Bedeutung oder Sinn an dieser Stelle rätselhaft bleibt.

Carter ist in seiner Körperlichkeit, in seiner Universalität und seiner Radikalität ein Text, der für die Performance wie geschaffen ist, er entfaltet seine ganze Kraft, wenn er vorgelesen wird, was Ally Klein auch beeindruckend tut. Beim lauten Lesen gewinnen auch die Stellen, die beim stillen Lesen manchmal vor lauter Dichte zu zerlaufen drohen, wieder ihre Stabilität, werden zum Ausdruck des Ringens nach Worten. Trotz ein paar kleiner Schwächen, die bei einem solchem Ansatz schnell passieren, durch ein gutes Lektorat aber hätten vermieden werden können, bleibt aber letztlich ein Debüt, das aus den sonstigen Erstveröffentlichungen dieses Jahres äußerst positiv heraussticht. Ally Kleins Carter ist ein Roman, der in seiner Spannung aus reiner Physis und seiner gleichzeitigen Ungreifbarkeit für zweihundert Seiten ein Stück Weltflucht sein kann, die atemlos zurücklässt, nachdem das Beißen, das Stechen und Schlagen überstanden hat.

Nazi-Kitsch, Internetkritik und sexuelle Gewalt oder warum dieser Roman einen Skandal auslösen müsste

[CN: In dieser Rezension wird die Darstellung einer Vergewaltigung aus dem Roman zitiert]

Fangen wir mit einem Staatsoberhaupt an, das einem im Zusammenhang mit diesem Roman vielleicht eher nicht in den Sinn kommt. Fangen wir mit Barack Obama an. Im Mai 2018 wurde bekannt, dass Barack und Michelle Obama einen umfassenden Vertrag mit Netflix abgeschlossen haben, in dem es um die Produktion verschiedener Serienformate in den kommenden Jahren geht. In diesem Zusammenhang stolperte man auf Twitter über einen Witz:

Warum beginnt diese Rezension damit? Weil dieser Witz das Verhältnis, das ein nicht unbeträchtlicher Teil der deutschen Bevölkerung zu Adolf Hitler und der Nazi-Diktatur hat, sehr gut beschreibt: das Thema birgt eine seltsame Faszination. Auch für die Unterhaltungsbranche gilt: Nazis gehen immer und wenn es dann noch um die Wunderwaffen, die Flugscheiben, die Nurflügler, die angeblich gebaut werden sollten geht, kurz um die mysteriösen Bereiche, dann sind die Einschaltquoten und die Aufmerksamkeit der Leser*innen gesichert.

Und was geht auch immer? Kritik am Internet!

NSA - Nationales Sicherheits-Amt - Andreas Eschbach - Hardcover

Das dachte sich wohl auch Andreas Eschbach als er auf die Idee kam, aus seinem neuen Roman NSA – Nationales Sicherheits-Amt (Bastei Lübbe 2018) ein Internetbashing-Nazikitsch-Mashup zu machen. Die Prämisse wird nun grob umrissen, damit ich mich im Weiteren damit nicht mehr aufhalten muss.

Die Grundannahme, dieses Romans ist, dass sich im 19. Jahrhundert in Großbritannien eine mechanische Computertechnik entwickelt hat, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts elektrisch wurde. (Das beruht auf der Annahme, dass Charles Babbage seine analytische Maschine tatsächlich gebaut hätte.) So entstand in den darauffolgenden Jahren ein dem Internet vergleichbares Netzwerk, das in groben Zügen nach dem gleichen Prinzip funktioniert wie das uns bekannte Internet und das die gleichen Konsequenzen nach sich zog, unter anderem totale Überwachung. Die Entwicklung von Smartphones, social media, bargeldlosem Zahlen per Handy, Handyortung etc. ist ebenso vorhanden wie die meisten anderen uns bekannten Online-Phänomene: Shitstorms, Chats, und vieles mehr (seltsamerweise aber kein Onlinedating), wodurch eine beinahe lückenlose Überwachung durchgeführt werden kann. Diese Aufgabe übernimmt das NSA, das Nationale Sicherheits-Amt in Weimar. Und hier fangen die Probleme dieses Romans auch direkt an. Das Internet ist das Weltnetz, Computer heißen Komputer, social media sind Gemeinschaftsmedien, E-Mails sind Elektrobriefe, ein Passwort ist eine Parole. Jedes uns bekannte Wort im Zusammenhang mit digitaler Technik hat eine deutsche Entsprechung, das mag Sinn ergeben, ist aber nach kürzester Zeit sehr anstrengend, weil es letztlich nur ein Ratespiel ist, was gemeint ist. Dass die Behörde, die all die Daten sammelt und überwacht, auch noch die Abkürzung hat, die inzwischen zum drohenden Menetekel aller Kritik an Datensammlung geworden ist, ist ein Flachwitz, der aber immer noch über dem Niveau des Gesamtromans daherkommt. Denn die Tatsache, dass die Übertragung des digitalen Zeitalters in die Zeit des Zweiten Weltkrieges im Kontext dieses Romans nur dürftig funktioniert, ist vielleicht das geringste Problem:

Eine Rezension in Fünf Akten

1. Die Computertechnik

Die Computer in NSA sind im Grunde, folgt man der Beschreibung, bessere Dampfmaschinen, die aber in der Lage sind weltumspannende Netzwerke aufzubauen. Damit begeht Andreas Eschbach den Fehler in umgekehrter Reihenfolge, den viele Zukunftspropheten im 19./20. Jahrhundert gemacht haben: er denkt vom Technikstand der Zeit in die Zukunft. In einer Dokumentation aus den siebziger Jahren über die Welt der Zukunft, werden Zeitungen direkt in der Wohnung gedruckt – die Idee, dass man sie als PDF Dateien auf dem Tablet lesen kann, war noch nicht denkbar. Die Raumschiffe, die Jules Verne entworfen hat, konnten natürlich nicht funktionieren, weil sie vom Stand seiner Zeit ausgingen. Die technische Entwicklung, die durchlaufen werden musste, um zu dem nötigen Stand der Technik zu kommen, führte dazu, dass die Raumfahrzeuge, die dann wirklich in die Luft gingen, ganz anders aussahen und funktionierten. Eschbach denkt jetzt die Computertechnik der heutigen Zeit, deren Komplexität gerade wenn die gesamte Welt des Internets dazukommt, extrem hoch ist, mit dem Technikverständnis der 1920er-1940er Jahre – kurz es ergibt keinen Sinn, dass die Server (hier Datensilos) des besten Überwachungsapparates des mächtigsten Staates der Zeit in einem feuchten, schummrigen Keller stehen, nur weil Keller in Nazi-Filmen nun einmal meistens feucht und schummrig sind!

Per se ist gegen die Grundidee dieses Romans kaum etwas einzuwenden. Er ist kontrafaktische Literatur, also Literatur deren Prinzip es ist, einen Punkt der Geschichte zu nehmen und ein oder mehrere Ereignisse entgegen der historischen Realität zu verändern und so die Möglichkeit zu haben, anhand dieser Koordinaten zu spekulieren, was sich im Verlauf verändert hätte. Eines der beliebtesten Szenarien ist – oh Wunder – die Frage, was passiert wäre, wenn Nazi-Deutschland den Krieg gewonnen hätte, damit setzen sich zum Beispiel Robert Harris in Fatherland und Philip K. Dick in The Man in the High Castle auseinander. Die Frage also, wie hätte das alles ausgesehen, was wäre passiert, wenn die Welt ebenso vernetzt gewesen wäre, wie sie es heute ist, mit all den Konsequenzen für Kommunikation, Überwachung, Konsum, Politik und Diskurs ist durchaus spannend. Sie ist aber auch unheimlich komplex und Andreas Eschbachs Versuch zeigt, dass das simple Zusammenschieben von heute und damals nicht funktioniert.

Anzumerken ist, dass Softwareentwicklung im Roman, wie es bis in die 1960er auch der Fall war, Frauensache ist, weswegen man auch vom Programmstricken spricht – soweit, so platt. Das führt zu einer klaren Aufteilung des Umgangs mit Computertechnik. Die Frauen können lediglich Software programmieren, also Programme stricken, während die Männer lediglich damit umgehen können, aber nicht verstehen, wie ein Programm funktioniert. Das Grundlehrbuch zum Stricken von Programmen ist ein blumenverziertes Buch, in dem das Programmstricken mit Küchenarbeit verglichen wird: das Stricken folgt einem Rezept, man braucht Zutaten und alles ist so gemacht, dass frau es auch versteht.

2. Handlung und Erzählweise

Die ersten über 200 Seiten wird die historische Entwicklung bis etwa 1938 dargestellt. Das könnte in Kombination mit der Prämisse interessant sein, letztlich verändert sich aber erschreckend wenig und wir lesen einen weitgehend historisch korrekten Bericht aus der Sicht zweier unterschiedlicher Figuren. Die Handlung folgt den beiden Hauptfiguren Helene Bodenkamp und Eugen Lettke, wobei Helene die positive Figur und Eugen die negative ist. Schwarz-weiß ist in diesem Fall gar kein Ausdruck. Helene ist so naiv, lieb und herzensgut, dass es einem die Schuhe auszieht und Eugen ist so durchtrieben, menschenverachtend und brutal, dass es einem ebenfalls die Schuhe ausziehen würde, hätte man noch welche an. Helene, die Tochter eines Arztes, ist ausgebildete Programmstrickerin, weil sie alles andere nicht konnte, das Stricken von Programmen aber wie keine zweite. Außerdem lässt der Erzähler immer wieder durchblicken, dass sie sich selbst als nicht so schön wie andere Frauen wahrnimmt, sie ist gezeichnet als das klassische Klischee der grauen Maus.
Sie bekommt eine Stelle beim NSA und entwirft Programme, die Daten aufeinander beziehen, sodass die Überwachung perfektioniert werden kann. Sie ist so talentiert, dass sie die Beste ihres Fachs ist und so bescheiden, dass sie das nie zugeben würde, aber in Wahrheit ist sie natürlich ein Genie. Ein Genie aber auch, das kreuznaiv ist. Eines Tages steht ein junger Mann, ein Soldat, vor der Tür ihrer Eltern, die gerade weg sind. Es stellt sich heraus, dass es sich um Arthur handelt, den einzigen jungen Mann, an dem Helene je Interesse hatte und der dann in den Krieg musste, jetzt desertiert ist und sie aufsucht. Dass ein desertierter Soldat Anfang der 1940er das Risiko eingeht durch Weimar zu laufen und an der Tür eines Hauses zu stehen, dessen Bewohner*innen er quasi nicht kennt, scheint keine zwei Sätze mehr wert zu sein. Jedenfalls hat er Glück und Helene ist alleine, sie bringt ihn bei ihrer besten Freundin und deren Mann unter, die rein zufällig ein perfekt ausgebautes und ausgestattetes Versteck haben, weil sie eigentlich einen Juden verstecken wollten, der aber dann noch fliehen konnte – was für ein glücklicher Umstand. Helene ist dann in den folgenden Jahren vorrangig damit beschäftigt, Arthur zu besuchen, Sex zu haben (dazu später mehr) und ihren Job beim NSA so zu erledigen, dass Arthur trotz Totalüberwachung nicht gefunden wird.

Eugen Lettke wiederum ist ein brutaler Sadist, aber kein ideologisch überzeugter Nazi, das wird erschreckend oft betont. Er wurde in seiner Jugend von einer Gruppe Frauen gedemütigt und ist seitdem auf Rache aus. Sein Job beim NSA ermöglicht es ihm, die Frauen aufzuspüren, ihre Geheimnisse zu finden, sie damit zu erpressen und sie zum Sex zu zwingen – das heißt, er vergewaltigt sie auf die demütigendste Art und Weise. Dabei wird immer wiederholt, dass ihm die ganze nationalsozialistische Ideologie egal ist, sein Antrieb ist seine zutiefst misogyne Rache an den Frauen. Bald ist die Verbindung von Gewalt, Sex und Unterwerfung für ihn so selbstverständlich, dass er anders keine Erregung mehr empfindet. Durch Zufall müssen Eugen und Helen zusammenarbeiten, sodass sich ihre Wege kreuzen.
Wie das alles im Einzelnen von statten geht, ist mehr oder weniger irrelevant. Der Plot ist ein typischer Pageturner-Plot mit Cliffhangern am Ende von Kapiteln und düsteren Vorausdeutungen. Wie simpel das gestrickt ist, fällt nicht zuletzt daran auf, wie oft Sätze fallen wie „Sie musste ihn retten und wusste auch schon wie sie es anstellen würde“, woraufhin wieder in die Perspektive der anderen Fokusfigur gewechselt wird. Ebenso auffällig ist die Erzählweise in Bezug auf die Konstruktion der Handlung, alles fügt sich wie durch ein Wunder ineinander: Arthur findet Helenes Elternhaus, diese sind gerade nicht da, Helenes Freundin Marie hat mit ihrem Mann ein perfektes Versteck, Helene arbeitet beim NSA und kann auf die Überwachung Einfluss nehmen und so weiter. Die Handlung wird abwechselnd als personales Erzählen aus der dritten Person von Helene Bodenkamp und Eugen Lettke berichtet, wobei das Vokabular und die Perspektiven an die der Figuren angepasst sind.

3. Figurendarstellung / Sexualität / Männlichkeit & Weiblichkeit

Was uns zum nächsten Punkt bringt und hier wird so langsam deutlich, warum Eschbachs Roman nicht nur simpel gebaut und schlecht erzählt ist, sondern warum er ein echtes Problem darstellt.

Für einen Roman mit der oben beschriebenen Prämisse enthält NSA auffällig viel Sex und sexuelle Gewalt. Da ist einerseits die Rache in Form von sexueller Nötigung und Vergewaltigung, auf die Eugen Lettke wie besessen aus ist. Hier wäre eine fundierte und detaillierte Zeichnung seiner Psyche notwendig gewesen, aber leider dient seine psychische Verrohung lediglich zum Schockeffekt. Selbstverständlich soll anhand seines Vorgehens dargestellt werden, wie gefährlich die Totalüberwachung sein kann, weil Lettke die Frauen durch das Aufdecken von Vergehen erpressen kann, was in einem Staat, in dem das kleinste Vergehen zum Tode führen kann, eine machtvolle Waffe ist. Das Schlimme daran ist, dass aus dieser Konstellation ein sich immer wiederholender Schockeffekt gezogen wird. Die Häufigkeit mit der in diesem Roman sexuelle Gewalt bis hin zur Vergewaltigung dargestellt wird und die Art und Weise der Darstellung sind erschreckend. Die literarische Beschreibung einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung aus der Perspektive des Täters ist ein literarischer Drahtseilakt, bei dem es nicht nur Fingerspitzengefühls bedarf, sondern auch eines profunden Hintergrundwissens, was die Auswirkungen einer solchen Schilderung angeht, und vor allem der Fähigkeit das alles entsprechend darzustellen und selbst dann ist diese Form der Rollenprosa noch diskutabel – im vorliegenden Fall ist nichts dergleichen vorhanden:

„Justus schrie auf wie ein angestochener Stier, brüllte, wand sich, dass die vier Kameraden sich anstrengen mussten, ihn zu halten. Sie stopften ihm ein Geschirrtuch in den Mund, so fest, dass ihm die Augen aus dem Kopf quollen, während Lettke es seiner Freundin besorgte. Er nahm sie hart, brachte sie zum Schreien, und es war ihm egal, ob sie vor Schmerz schrie oder vor Lust. Das hörte sich ohnehin beides gleich an.“ (111)

Die Drastik dieser Darstellung ist darauf ausgelegt, Eugen Lettke als eine zutiefst menschenverachtende und brutale Person darzustellen. Offenbar meint Eschbach, dass es dazu dieser Beschreibung einer Vergewaltigung – und nichts anderes ist hier beschrieben – in dieser Form bedarf. Das Problem ist u.a. die Perspektive. Formulierungen wie es jemandem besorgen oder jemanden hart nehmen sind der Sprachgebrauch des Täters, der die Vergewaltigung als Lustgewinn empfindet. Eschbach wählt in diesen Fällen grundsätzlich die Täterperspektive, schreibt aber in der dritten Person, was wir lesen sind demnach die Worte des Erzählers gefiltert durch die Wahrnehmung von Eugen Lettke. Es handelt sich also nicht um Rollenprosa in der Ich-Perspektive, was psychologisch glaubhaft sehr komplex zu erzählen wäre, aber immerhin eine bessere Ausrede für die Beschreibung wäre. Die Perspektive des Opfers kommt in diesem Zusammenhang nicht vor. Dadurch bekommen diese Darstellungen eine höchst problematische Note, weil eine Gegenposition fehlt und beispielsweise das, was beschrieben wird, nie als das benannt wird, was es ist: sexuelle Nötigung, Vergewaltigung. Lettke ist zwar eindeutig der negative Gegenpart zu Helene, aber es gibt kein Korrektiv in Form einer übergeordneten Erzählinstanz.

Neben Vergewaltigung wird auch häufig Sex dargestellt. Helene, die mit Arthur, während er im Versteck sitzt, eine Beziehung beginnt und nach dem quälend langen Umschiffen der unterschiedlichsten Probleme, dann schließlich Sex hat, wird als das Stereotyp der Grauen Maus gezeichnet: sie ist naiv, sie ist ein bisschen schwer von Begriff, sie ist schüchtern und natürlich im Sinne des gesellschaftlichen Ideals keine Schönheit. Aus diesem Grund wollen ihre Eltern sie verkuppeln, aber natürlich sind unter den stattlichen jungen Männern nur eklige SS-Offiziere und stramme Nazis, die Helene alle abstoßend findet. Dabei kommen dann solche Szenen zustande:

„“Marie – es ist Krieg!“, schluchzte Helene. „Die Männer sterben weg. Bald wird es nicht mehr für jede Frau einen geben!“ Darauf wusste Marie nichts mehr zu sagen. Sie hielt sie nur fest, und so blieben sie sitzen, bis der Schmerz abgeklungen war.“ (224)

Die Naivität, mit der sich Helene in das vorgeschriebene Rollenmuster einfügt, ist bestechend. Man kann einwerfen, dass sie ja die treibende Kraft dieses Romans ist, dass sie mutig ist, dass sie intelligent ist, dass sie – und das ist vielleicht das Problem – eine starke Frau ist, aber umso seltsamer ist dementsprechend ihr Verhalten.

Man fragt sich ab einem gewissen Punkt der achthundert Seiten auch, warum hier die Geschichte des sexuellen Erwachens einer jungen Frau in der Zeit der Nazi-Diktatur mit einem kontrafaktischen Roman zusammengebracht wird, aber letztlich wird es derselbe Grund sein, der auch für die Vergewaltigungsszenen gilt: Während die Vergewaltigungen als Schockelemente verwendet werden, die Abscheu aber auch Schauer erzeugen sollen, ist die Darstellung von Sex die Garnitur auf dem klassischen Thriller-Plot durch einige pseudo-erotische Stellen: Sex sells. Um zu illustrieren, wie in diesem Roman über Sex geschrieben wird, hier ein Beispiel. Der Kontext dieser Szene ist, dass Arthur und Helene die Kondome (hier: Frommser) ausgegangen sind:

„“Das ist nicht so schlimm“, meinte Arthur. „Hauptsache du bist bei mir.“ Aber Helene schüttelte den Kopf. „Aber du willst es tun. Und ich will es auch tun. Ich weiß nicht, ob wir der Versuchung wirklich standhalten werden.“
„Es gibt andere Dinge, die man machen kann.“
„Was für Dinge?“, fragte Helene verwundert. Er zeigte sie ihr. Er macht irgendetwas absolut Großartiges mit dem Mund zwischen ihren Schenkeln, und er brachte ihr bei, das Vergnügen sinngemäß bei ihm zu erwidern. „Wo hast du das gelernt?“, wollte Helene hinterher wissen, noch schwer atmend und außerdem schwer eifersüchtig.“

Die Dialoge, die teilweise klingen wie aus Pornofilmen entnommen, gepaart mit der Darstellung von Sex, die jede Erotik vermeidet, und vollendet mit der sehr klaren Konstellation der sexuell-naiven und verwirrten jungen Frau und dem erfahrenen jungen Mann, bringen Sexszenen hervor, die nicht nur jeder Erotik entbehren, sondern an Fremdscham und klischiertem Geschlechterbild kaum zu überbieten sind.

4. Umgang mit dem Nationalsozialismus

Es ist eine breit diskutierte Frage, wie man in Literatur, in Filmen und anderen Medien mit der Darstellung des Nationalsozialismus umgehen sollte. Wie man es im Zweifel nicht tun sollte, zeigt der vorliegende Roman gleich zu Beginn.

Der Roman setzt chronologisch nicht am Anfang ein, sondern beginnt mit einem Besuch von Heinrich Himmler im NSA, um dort festzustellen, ob das Amt noch gebraucht wird. Durch das geschickte Aufeinanderbeziehen verschiedener Daten, zeigen ihm die Mitarbeiter*innen des NSA, wie sie herausfinden können, in welchen Häusern Leute versteckt werden. Als Stadt, um das zu demonstrieren, wählen sie Amsterdam und entdecken schließlich in der Prinsengracht 236 einen ungewöhnlich hohen Kalorienverbrauch. Manche werden an dieser Stelle schon erkennen, was hier geschieht, denn es ist die Adresse des Verstecks von Anne Frank. Ein kurzer Befehl mit dem Smartphone von Himmler und Anne Frank und ihre Familie werden deportiert.

Letztlich ist die Sache einfach. Die Geschichte von Anne Frank, die wir durch ihr Tagebuch kennen (oder zu kennen meinen), ist vielleicht die Geschichte aus der entsprechenden Zeit, die am meisten Scham, Rührung und Abscheu in der deutschen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ausgelöst hat. Sie konfrontiert uns in der perfekten Mischung aus Naivität, Kindheit, Grausamkeit und Hilflosigkeit mit den Taten unserer Großeltern und Urgroßeltern. Diese Geschichte als schockierendes Opening in den Kontext des Romans zu bauen ist ein weiteres perfides Ausschlachten eines grausamen Verbrechens. Leider ist das nur der Anfang.

Was des Weiteren auffällt ist, dass die einzigen überzeugten Nationalsozialisten in diesem Roman eklige SS-Schergen sind, die Helene heiraten soll. Der schlimmste von ihnen ist Ludolf von Argensleben, er ist überzeugter Nationalsozialist und Antisemit, zudem ist er ölig, ekelerregend, körperlich hässlich und deformiert (an jeder Stelle seines Körpers, wie wir erfahren müssen). Die normalen Deutschen sind entweder naiv, das heißt sie verstehen eigentlich nicht, was um sie herum passiert, widerständig, das heißt sie verstecken Juden, Widerstandskämpfer*innen oder Deserteure, oder sie sind Mitläufer*innen. Alle überzeugten Nazis sind als ausgesprochen widerwärtig beschrieben. Kurz gesagt, es wird vermittelt, die meisten seien eigentlich keine Nazis gewesen.

Das größte Problem ist aber, – wie bereits an dem Umgang mit der Geschichte von Anne Frank gezeigt – dass die Grausamkeiten des Nationalsozialismus nur eine schockierende Folie darstellen, die der Spannungserzeugung nutzt. Die Krönung dieses Umgangs ist erreicht, als Helene, die den ekligen Ludolf von Argensleben schließlich heiraten muss, so verzweifelt von ihrem Leben ist, dass sie ein Verbrechen begeht und es so arrangiert, dass sie verhaftet und ins KZ gebracht wird, weil alles besser ist als das Leben mit Ludolf, natürlich handelt es sich um Auschwitz – genau das hat Helene geplant. Sie geht lieber ins KZ Auschwitz als mit Ludolf zu leben – mehr muss man zum Umgang mit diesem Thema in diesem Roman nicht sagen.

5. Ein Fazit

Es wurde nun deutlich, warum dieser Roman nicht nur schlecht, sondern auch in seiner Darstellung von sexueller Gewalt, Männlichkeit und Weiblichkeit und nicht zuletzt der Zeit des Nationalsozialismus höchst problematisch ist. Er zeigt zudem, dass der Themenkomplex Zweiter Weltkrieg, Shoa, Nationalsozialismus, Adolf Hitler immer noch als Schockeffekt in Unterhaltungsmedien zieht. Letztlich ist Andreas Eschbachs NSA ein Roman, der all das miteinander vermischt, was die deutsche Seele offenbar zur Unterhaltung braucht ( 81% der Bewertungen auf Amazon mit 4 oder 5 Sternen): Nationalsozialismus, Sex, ein bisschen Grusel und das große Grauen des Internets. Das Schlimme daran ist, dass die Frage, wie diktatorische Regime die Totalüberwachung für sich nutzen können, wirklich relevant ist und in einem guten Roman ausgearbeitet hätte werden können. Hier dient sie leider nur dem Thrill.

Man kann nun die Frage stellen, warum man einem solchen Buch eine so ausführliche Rezension widmen soll, sollte man es nicht einfach ignorieren und ihm auf diese Weise so wenig Aufmerksamkeit wie möglich verschaffen? Ich denke, nein, denn der Roman zeigt, dass in der Unterhaltungsbranche der Holocaust immer noch als plumper Gruseleffekt genutzt wird und funktioniert, ebenso dass literarischer Sexismus einfach so hingenommen wird und dass sexuelle Gewalt als schockierendes Element unhinterfragt dargestellt wird. Die Frage muss gestellt werden, warum ein solcher Roman in einem Land, das sich die Aufarbeitung seiner jüngeren Vergangenheit mit Recht derart auf die Fahnen geschrieben hat, keinen Aufschrei auslöst und nicht einmal einen nennenswerten Widerhall in den Medien findet. Darin zeigt sich der zweigleisige Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus – einerseits sind die Aufarbeitung und die Auseinandersetzung damit vordergründig nicht nur Staats- sondern auch Gesellschaftsräson, andererseits ist die geschichtsblinde und teilweise -revisionistische Verarbeitung des Themas in Unterhaltungsmedien anscheinend akzeptierter Konsens. Eine Grundaussage dieses Romans ist, dass die meisten Deutschen naive und eigentlich liebenswerte Mitläufer*innen waren oder gar im Widerstand. Das sagt auch Eschbach selbst in einem Interview mit dem DLF Kultur:

Meyer: Ihre Hauptfigur, die ganz maßgeblich auch an solchen Programmen mitwirkt, das ist eine begeisterte Programmiererin, Helene Bodenkamp heißt sie. Eine „Programmstrickerin“ in der Sprache Ihres Buches. Das ist aber keine hundertprozentige Anhängerin der Nazis, oder?

Eschbach: Nein, die ist ganz normale Bürgerin, die halt einen Job macht und in diesem Amt angefangen hat und sich da nicht weiter drüber Gedanken macht. Ein Mensch wie du und ich praktisch.

Diese Darstellung der meisten Deutschen als ganz normale Bürger*innen, die ihren Job machen, relativiert die Tatsache, dass genau auf diese Weise das System und letztlich das organisierte Töten funktioniert hat. Helene ist ein wichtiges Rädchen in der großen Maschinerie des Völkermords und der Unterdrückung. In Eschbachs Roman erscheint sie als eine Frau, die ab und zu mal Zweifel hat, aber letztlich einfach nur ihren Job macht und wenn man Eschbach glaubt, dann soll das auch genauso sein. Die echten Nazis sind allesamt abstoßende Schergen der SS und des Regimes. Dass eine solche Darstellung in einem großen Feuilleton wie dem DLF Kultur nicht nur unwidersprochen bleibt, sondern im Gegenteil auch noch affirmiert wird, ist nicht zu rechtfertigen.
Das betrifft nicht einmal nur den Umgang mit der deutschen Vergangenheit, sondern auch den Umgang mit Sexismus und sexueller Gewalt. Dass sich die Kulturressorts deutscher Großmedien nicht darum scheren, dass in einem Roman, der von einem großen Verlag publiziert wird, Themen wie Sexualität und Geschlechterverhältnisse auf dem Niveau von Mario Barth Witzen verhandelt werden und sexuelle Gewalt in der hier beschriebenen Form dargestellt wird, zeigt, dass #metoo und vergleichbare Debatten noch nicht bis in alle Bereiche der Unterhaltungsbranche vorgedrungen sind und dass das still akzeptiert wird. Die großen Print-Feuilletons haben diesen Roman weitgehend ignoriert und wenn er doch besprochen wurde, wie in dem Interview des DLF Kultur mit Andreas Eschbach, dann ohne jede Kritik oder lobend wie in der ARD-Sendung druckfrisch. Denis Scheck, der in seinem Leben so viel gelesen haben dürfte, dass er weiß, was er tut, nennt ihn einen „fulminant spannenden Roman mit intellektuellem Mehrwert“. Diesem Urteil würde man gerne vertrauen und man hätte diesen Roman, von dem Scheck da spricht, gerne gelesen, allein, es ist nicht NSA – Nationales Sicherheits-Amt von Andreas Eschbach.

Von Bullshitjobs und vergessenen Gesten

pschera blom graeber bullshit jobs

In einer Whatsapp-Gruppe, deren Mitglied ich bin, befinden sich fünf Juristen. Diese Gruppe wird hauptsächlich dazu genutzt, digitalen Internetmüll zu perpetuieren und – natürlich – um über das jeweilige Beschäftigungsverhältnis Leid zu klagen. Einer dieser fünf – nach eigener Aussage, sehr glücklich mit seiner Tätigkeit in der Rechtsabteilung einer großen Bank, die noch dazu (angeblich) geistig äußerst fordernd sei und sich ebenfalls nach eigener Aussage im Anspruch auf einem Level mit Raketenwissenschaften befindet – postete vor Wochen einen Artikel aus der FAS. Dieser war eine einseitige Zusammenfassung des Buchs Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit von David Graeber erschienen bei Klett-Cotta. Wie bei Unternehmensjuristen üblich, hatte er offenbar den Artikel selbst nicht gelesen, sondern wahrscheinlich eine externe Kanzlei damit beauftragt, dies zu tun und dann das Gutachten dazu nicht gelesen, denn in diesem Artikel stand unter anderem, ein klassischer Bullshitjob sei der des Unternehmensjuristen.

 

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Was ist ein Bullshitjob?

David Graeber definiert einen Bullshitjob wie folgt

Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet fühlt, so zu tun, als sei dies nicht der Fall.
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

David Graeber BullshitjobsDie fünf Grundtypen von Bullshitjobs erkennt Graeber dabei in den Lakaien, den Schlägern, den Flickschustern, den Kästchenankreuzern und den Aufgabenverteilern. Der Lakai ist nur dafür da die Arbeit derer zu erledigen, die sich den Lakai halten, weil sie es eben können. Streng gesehen ist also nicht der Job des Lakaien Bullshit, sondern der des Chefs. Schläger sind Menschen, deren Tätigkeit ein aggressives Element beinhaltet, die aber – und das ist entscheidend – nur deshalb existieren, weil andere Menschen sie anstellen. Paradebeispiel wären Streitkräfte, die nur deshalb notwendig sind, weil andere Länder ebenfalls Streitkräfte haben. In diese Kategorien fallen für Graeber die meisten Lobbyisten, PR-Spezialisten, Telefonwerber und Unternehmensanwälte. Der Flickschuster wiederum ist nur dafür da Probleme zu lösen, die es eigentlich nicht geben sollte, insbesondere die Fehler auszubessern, die Vorgesetzte verursacht haben. Kästchenankreuzer sind Angestellte, die einem Unternehmen dabei helfen so zu tun als würden sie Dinge tun. Klassisches Beispiel ist die Erledigung von Bürokratie um ihrer selbst willen. Zuletzt der Aufgabenverteiler, der lediglich Arbeit an andere verteilt, er ist das Gegenteil von einem Lakaien, er ist kein unnötiger Untergebener, sondern ein unnötiger Vorgesetzter.

Schon an dieser Einteilung wird ein eklatantes Problem deutlich. Graeber – immerhin Lehrender an der London School of Economics – definiert nicht sauber, sondern plaudert Fallbeispiele daher. Ich vermute, dass dies im Wesentlichen auch mit der Entwicklung des Themas zusammenhängt. Denn Graeber schrieb im August 2013 einen Artikel für das Strike! Magazin, auf den sich eine Vielzahl von Menschen bei ihm meldete und ihre persönliche Bullshit-Job Geschichte erzählten. Ein Großteil des Buchs besteht daher in der Wiederholung von Fallgeschichten, die so nicht unbedingt verallgemeinert werden können.

So kennen viele wahrscheinlich die Geschichte des Mitarbeiter eines spanischen Wasserwerks, der sechs Jahre nicht zur Arbeit kam und das erst auffiel, als er eine Auszeichnung für zwanzig Dienstjahre erhalten sollte oder der andere Vogel, der einfach 24 Jahre der Maloche fernblieb. Das ist auf den ersten Seiten unterhaltsam und hilft dabei ein „Gefühl für das Problem“ zu bekommen, eine wissenschaftliche Problemanalyse sieht aber anders aus.

Hier ist das Problem!

Immer wieder plauderige Beispiele aus der ganzen Welt, geben dem Buch Seiten, dem Leser aber keine neue Erkenntnis. Was Graeber – auf mindestens 150 Seiten zu viel – aber sehr erfolgreich tut, ist, den Leser zu reizen. Er ist pauschal, er ist ungenau und häufig viel zu undifferenziert (was ist z.B. mit all den Jobs, die einfach nur ein bisschen oder zu einem Teil Bullshit sind?) und trotzdem zeigt er Missstände auf, die zweifelsohne existieren. Seit der Lektüre sehe ich die moderne Arbeitswelt anders.

Aus der Peripherie der persönlichen Arbeitswelt des Rezensenten sind beispielsweise solche Aussagen zu hören. „Ja, Kanzlei ist hart, schrubbe 60-80 Stunden, kriege aber auch 110k. Denke ich mache das noch zwei, drei Jahre und dann will ich in eine Rechtsabteilung, auch gut bezahlt, aber ruhige Kugel schieben in einer 40-Stunden-Woche.“ Offensichtlich besteht also der Drang danach weniger zu arbeiten, trotzdem aber „gutes Geld“ zu verdienen. Die ruhige Kugel suggeriert dabei aber stets, dass man den Job eigentlich in kürzerer Zeit ausführen könnte, es aber notwendig ist, 40 Stunden vor Ort zu sein, damit das Gehalt für genau diese Summe verkaufter Zeit gezahlt wird. Es wird also die Zeit gezahlt, nicht die geleistete Arbeit. (Bei Kanzleijuristen ist es in der Regel andersherum: kommt man nicht auf eine gewisse Anzahl abrechenbarer Stunden, vulgo billables, wackelt der Stuhl. Selbstverständlich ist dabei wiederum zu bedenken, dass sich geleistete Arbeit und abrechenbare Arbeit nicht zwangsläufig decken müssen, weder in die eine noch in die andere Richtung.) Vor der Lektüre von Bullshitjobs hätte ich unreflektiert genickt. Denn es ist doch so, dass man 40 Stunden arbeiten muss. Oder nicht?

Wir könnten ohne Weiteres zu einer Freizeitgesellschaft werden und eine 24-Stunden-Arbeitswoche einführen. Vielleicht sogar eine 15-Stunden-Woche. Stattdessen sind wir als Gesellschaft dazu verdammt, den größten Teil unserer Zeit bei der Arbeit zu bringen und Tätigkeiten zu verrichten, von denen wir den Eindruck haben, dass sie für die Welt keinerlei Nutzen bringen.
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

Eine Lösung wäre fein!

Unbefriedigend bleibt dann aber, dass der Leser nach dem Aufzeigen des Problems alleine gelassen wird.

Wenn es wirklich stimmt, dass bis zur Hälfte der Arbeit, die wir leisten, ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Gesamtproduktivität abgeschafft werden könnte, warum verteilt man dann nicht einfach die verbleibende Arbeit so, dass jeder nur einen Vierstundentag hat? […] Aber aus irgendeinem Grund haben wir als Gesellschaftskollektiv entschieden, dass es besser ist, wenn Millionen Menschen viele Jahre ihres Lebens so tun, als würden sie etwas in Tabellenkalkulationen eintragen oder geistige Landkarten für PR-Meetings vorbereiten, statt ihnen die Freiheit zu verschaffen, Pullover zu stricken, mit ihren Hunden zu spielen, eine Garagenband zu gründen, mit neuen Kochrezepten zu experimentiere, in Cafés zu sitzen und über Politik […]
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

Wie also die Umverteilung dieser Arbeit konkret aussehen könnte, wird nicht gesagt, nicht mal angedacht. Das ist für ein weltveränderndes Sachbuch dann doch arg dünn. Ebenso die Lösungsleere nach der Zusammenfassung Graebers „von Studien zur Arbeit“ in

  1. Das Gefühl für die eigene Würde und den Selbstwert verkörpert sich für die meisten Menschen darin, dass sie mit Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen.
  2. Die meisten Menschen hassen ihren Job.

Welche Studien er da ausgewertet hat oder was diese aussagen, behält der Autor geflissentlich für sich. Was die Leute dann in ihrer ganzen freien Zeit dann treiben sollen, weiß ich daher auch nicht (– aber es ist natürlich immer noch besser nach eigenem Gusto rumzulungern als nur Bullshit zu machen.)

Das Arbeiten „nach der Uhr“ führt zu der Absurdität, dass Leute Zeit einfach nur absitzen oder so tun als würden sie etwas produktives machen, nur damit sich der Chef nicht eine total sinnlose Beschäftigung ausdenkt – die dann wiederum Bullshit par excellence ist.

Bedingungsloses Grundeinkommen?

Philpp Blom Was auf dem Spiel stehtBullshitjobs‘ bester Freund ist die Digitalisierung. Das führt zu weiteren Problemen, denn bisher ist unsere Gesellschaft so zugeschnitten, dass nur Geld bekommt, wer dafür arbeitet. Für viele Tätigkeiten ist heute aber kein trotteliger Mensch von Nöten, sondern das kann wunderbar ein Maschinchen erledigen. Ohne das Geld aus seinem (Bullshit-)Job kann aber das Konsument nicht konsumieren und dem Unternehmer mit seinen Maschinen dessen Produkte abkaufen.

Der Job selbst mag unnötig sein, aber man kann darin kaum etwas Schlechtes sehen, solange er die Möglichkeit schafft, damit die eigenen Kinder zu ernähren. Man kann fragen, was das für ein Wirtschaftssystem ist, das eine Welt schafft, in der man die eigenen Kinder nur dann ernähren kann, wenn man sich während eines großen Teils seiner wachen Stunden mit nutzlosen Übungen im Kästchenankreuzen beschäftigt oder Probleme löst, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Man kann die Frage aber ebenso gut auch auf den Kopf stellen und fragen, ob das alles wirklich so nutzlos ist, wie es scheint, wenn das Wirtschatsystem, das solche Jobs geschaffen hat, die Menschen in die Lage versetzt, ihre Kinder zu ernähren.
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

Auf den letzten Seiten bietet daher Graeber immerhin für die Frage nach dem „Wer soll das (Produkte) alles bezahlen?“ das bedingungslose Grundeinkommen an. Gleiches tut auch Philipp Blom in seinem bei Hanser erschienen Buch Was auf dem Spiel steht. Bloms Buch liest sich wie eine abgespeckte, unaufgeregtere Version von Graeber. Selbst wenn dieses ebenso aus einer Vielzahl von Fragen und Fragezeichen besteht, ist dies die eindeutigere Lektüreempfehlung.

Ein oft vorgebrachtes Argument gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen ist moralisch oder, um genau zu sein, protestantisch gefärbt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, besagt es, in einer anständigen Gesellschaft gibt es nichts umsonst, auch wenn sich der Staat aus Barmherzigkeit bereitfindet, den Bedürftigsten Unterstützung zukommen zu lassen, die oft mit demütigenden Ritualen und Befragungen auf den entsprechenden Ämtern verknüpft ist. Was aber wird aus diesem Argument, wenn ein Großteil der Bürger eines Landes für die Produktivität der Wirtschaft einfach nicht mehr gebraucht wird? Was wird dann aus dem Menschenrecht auf Würde, geschweige denn dem pursuit of happiness? […]

Diese Änderung, das bedingungslose Grundeinkommen, kommt nicht, weil sie nett oder edel ist, sondern weil sie notwendig ist. Es ist eine der ganze wenigen Neuerungen, die sowohl vom rechten als auch vom linken Spektrum befürwortet wird. Den Linken geht es dabei vornehmlich um soziale Gerechtigkeit und Umverteilung. Rechte Ökonomen und Politiker sehen im Grundeinkommen die einzige Möglichkeit, im Zeitalter von Maschinen noch Konsum und dadurch Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Inzwischen allerdings sind so viele Menschen ohne Erwerbarbeit, in einigen entwickelten Ländern geht die Zahl an die 40 Prozent, und sie wäre noch höher, würde nicht jede Regierung ihre Statistiken schönen. Die Kosten für den Staat sind astronomisch, und doch ist ein wesentlicher Teil der Bevölkerung arm, deprimiert, nutzlos und gedemütigt.
Aus: Philipp Blom – Was auf dem Spiel steht

Vergessene Gesten

Vergessene Gesten Alexander Pschera das vergessene buchWundgeschlagen also von der Erkenntnis des bevorstehenden Untergangs unserer Gesellschaft, las ich noch Alexander Pscheras Vergessene Gesten, das im kleinen Wiener Verlag Das vergessene Buch erschien. Vor dem Hintergrund der Sorge um die Zukunft meiner Kinder und Kindeskinder empfahl mir Pschera mal wieder Urlaubsfotos in ein Album zu kleben, statt nur durchs Handy zu wischen oder mir einen Toast Hawaii zu kredenzen (eine „Geste“, die nun wirklich mal langsam aussterben sollte) oder derlei Unfug mehr. Pscheras Buch kann sich getrost mit dem des rückwärtsgewandten Grafen, der es pflichtschuldig in der BILD am Sonntag erwähnte (die leider ebenfalls nicht vergessene Geste/Tugend des Klüngels), in eine Reihe stellen.

Diese nebenbei verteilte Ohrfeige für ein Buch, das auf den ersten Blick gar nicht in diese Reihe passt, erscheint etwas wahllos und passt doch so hervorragend. Denn wenn man sich vor Augen hält, mit welchen Problem der moderne Mensch in Zukunft (und der gegenwärte Mensch in der Jetztzeit) konfrontiert sein mag (hervorragend zum Laune verderben in dieser Hinsicht auch Yuval Noah Hararis 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert) und dies der Gefahr des Aussterbens des Toast Hawaii gegenüberstellt, kann einem doch etwas blümerant werden. Aber so ist es ja immer, die großen Fragen muss jeder für sich selbst beantworten, denn weder Graeber oder Blom noch Schönburg oder Pschera können oder wollen uns dabei helfen. Einer wandelnden Gesellschaft kann man wie der Graf Schönburg begegnen und es sich im Zustand der Verarmung im Porsche Targa gemütlich machen oder wie Pschera, der das Heil der Welt durch das Grüßen des Busfahrers wiederherstellen will, oder man beginnt, statt im Manufactum Katalog zu blättern, damit etwas zu ändern.

Andreas Thalmayr/Hans Magnus Enzensberger: Schreiben für ewige Anfänger

Andreas Thalmayr/Hans Magnus Enzensberger: Schreiben für ewige Anfänger

Die Verlagsbranche geht seit Jahren vor die Hunde, sagen die Verlagsbranchenmenschen und meinen damit, dass es weniger Leser gibt, die Bücher kaufen. Also „machen“ die Verlagsbranchenmenschen einfach mehr Bücher und fluten damit den Markt. Es bleibt deswegen keine Zeit mehr Titel aufzubauen, weil auch der alte Frühjahrs-/Herbst-Turnus aufgeweicht wurde und sich innerhalb von Monaten, wenn nicht gar Wochen, entscheidet, ob eines der laufend neuerscheinenden Bücher läuft oder nicht. Es gibt viel zu viele Bücher, sagen dann die Verlagsbranchenmenschen.

Umso schöner daher die Worte, die Jo Lendle auf der Buchmessen-Stehgreifparty – eine Stehgreifparty wurde nötig, da eine Reihe kostspieliger Verlagspartys abgesagt wurde – fand

Das Türhütermonopol kommt nicht wieder. Das ist auch so in Ordnung. Etwas anderes aber bleibt: Wir können entscheiden, wofür wir stehen, welche Bücher wir verlegen. Und die Antwort muss sein: Nicht irgendwelche.

Jo Lendle hat natürlich gut reden, denn sein Haus ist – so wie einige viele – genau dafür bekannt, dass man eben nicht auf den Markt schleudert, was verkäuflich erscheint, sondern dem eigenen Anspruch und Selbstverständnis entspricht.

Andreas Thalmayr/Hans Magnus Enzensberger: Schreiben für ewige AnfängerUmso erstaunlicher ist daher die Veröffentlichung eines Buches namens Schreiben für ewige Anfänger: ein kurzer Lehrgang in eben diesem Hanser Verlag. Dieser schmale Band für 16 Euro enthält über zwanzig Briefe eines alten Schriftstellers an einen (fiktiven?) jungen Kollegen. Wer nun aber Schreibtipps erwartete, wird schnell enttäuscht. Hier wird plauderig-onkelhaft erzählt, wie ein Buch „im Betrieb“ entsteht. Das ist auf so unbeholfene Art und Weise langweilig und bemüht, dass man zwangsläufig die Frage auftaucht, warum genau man ein solches Buch veröffentlichen sollte. Beim besten Willen fällt mir kein einziger Mensch ein, dem dieses Buch von Nutzen sein könnte.

Der einzige Grund für einen Verlag ein solches Buch zu veröffentlichen, kann aus meiner Sicht nur sein, dass man dem Autor einen Gefallen schuldete. Andreas Thalmayr ist ein Pseudonym von Hans Magnus Enzensberger, der sonst bei Suhrkamp verlegt wird. Dieses Buch ist leider ansonsten ein einziges Ärgernis.

Institutsprosa, Urwaldgäste und Wüsteneinerlei. Viel über Eckhart Nickels Roman „Hysteria“ und ein wenig über zwei andere, auch tolle Bücher

Mit Heyms Träumen stimmt etwas nicht. Mal kommen ihm in der Nacht Bilder davon, wie er sich schreiend mit einem marokkanischen Fensterputzer auf einem Fensterputzlift unterhält, mal träumt er „von einem Wald, in dem Tiere ohne Haut umhergehen und sich wundern“. Heym arbeitet als Designer, als „Fleurateur“, wie die Kollegen sich gegenseitig nennen, in einer Firma, die möglichst realitätsgetreue Imitate von Pflanzen herstellt. Dabei interessiert ihn besonders die Verweigerungshaltung seiner echten Gegenstände, die „Intelligenz der Pflanzen“, wie er es nennt, die sich „dem Prozess der Fälschung“ widersetzen: „Es war das beste Beispiel für das Wunder, das Heym faszinierte, für die Sache an sich, die er nie ganz begreifen konnte, egal wie lange er darüber nachdachte, und die ihm gleichzeitig das letzte, unüberwindbare Hindernis seiner Arbeit aufzeigte. Die Himbeere, deren Samen erst keimfähig werden, nachdem sie gepflückt, gegessen und verdaut wurden.“

In Roman Ehrlichs Erzählung aus seinem Band „Urwaldgäste“ von 2014 wird Heym, grundsätzlich verunsichert von sich und Welt, in den Fängen einer obskuren Erlebnisfirma namens „Agentur Lateralis“ landen, die mit dem Spruch „Lassen Sie sich täuschen“ alternativ gescriptete Realitäten anbietet, ganz ähnlich, wie es im (ziemlich großartigen) Spielfilm „The Game“ die „Consumer Recreation Services“ einem Investment-Banker (Michael Douglas) verspricht. Aber Ehrlichs Figur ist – anders als die Hollywood-Variante – kein Patrick-Bateman-Verschnitt, der sich einem dekadenten Ennui hingibt, sondern ein mattes und medial verstörtes Männlein, das eine Art von Simulationsfieber erfasst hat. Er produziert Plastikpflanzen als „immerschöne Ergänzung des Natürlichen“ und sehnt sich doch nach dem „Echten im Hoheitsgebiet der Nachbildungen“.

Bevor Heym sein erstes Treffen mit der Agentur wahrnimmt, streift er durch die Stadt und „schaut sich in einer Buchhandlung lange Zeit Bildbände über unberührte Urwaldgebiete in Kanada, Alaska und Sibirien an, über Blauwale und ein Kunstbuch über europäische Marinemalerei“. Nachdem ich „Hysteria“ von Nickel gelesen und mir daraufhin Ehrlichs Erzählung nochmal angeschaut habe, hätte ich mich nicht gewundert, wenn Heym an dieser Stelle in der Erzählung als nächstes Nickels Roman in die Hand genommen hätte, so gruselig nah sind sich beide Texte.

Es wirkt tatsächlich, als seien Ehrlichs Himbeeren weitergereicht worden, bis sie endlich, vier Jahre später, bei Nickel angelangt seien, der sie sich nochmal ganz genau angeschaut hat. Sein erster Roman, erschienen bei Piper, beginnt so: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht. Die kleinen geflochtenen Holzschalen, die Bergheim [ja, der heißt wirklich so, wie der große Bruder von Heym] auf dem Markt immer hochhob, um zu sehen, ob sich das weiße Vlies am Boden schon von zerfallenden Früchten rötlich verfärbte, waren übervoll mit zu dunklen Beeren.“ Verstört blickt sich Nickels Protagonist nun auf dem Markt um; ihm ist, als sei etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten. Er schaut sich das provisorische Gehege einer Weidefarm für Wagyu-Rinder an, und ihm, dem hypersensiblen Neurotiker, fällt ein Rind auf, das sich eigenartig bewegte:

„Während die anderen bereitwillig zu den Kindern der Einkäufer am vorderen Rand der Koppel kamen, um sich streicheln zu lassen, blieb das Tier verstört an der Tränke stehen. Es kratzte mit den Hufen monoton das Stroh zur Seite und rieb sein Fell an den mit krumm geschlagenen Nägeln übersäten Brettern des Zauns. Dabei blieben Hautteile am Holz hängen, sodass allmählich das Fleisch durchzuschimmern begann. Als er genauer hinsah, entdeckte Bergheim, dass trotz der Verletzungen, die sich das Tier beibrachte, kein Blut zum Vorschein kam, sondern immer größere Flächen einer gräulich glänzenden Fleischmasse, die verdorbener Hähnchenbrust in Zellophan ähnelte.“

Der Traum von hautlosen Tieren, den Ehrlich seine Figur träumen lässt, hat, so scheint es, ein Eigenleben entwickelt. Die waidwunden Gestalten sind schlafwandlerisch aus dem einen Buch hinein ins andere getorkelt, um dort Nickels Figur zu traktieren. Denn die Erfahrung auf dem Markt setzt den Startpunkt für Bergheims investigativen Irrweg, der auf den folgenden gut 230 Seiten skizziert wird. In einer Kooperative namens „Sommerfrische“ lernt er eine Mitarbeiterin namens Asche und einen Wissenschaftler namens Dr. Haupt kennen, die ihm stolz eine belebte Natur-Szenerie in Miniatur-Maßstab zeigen: „Erst jetzt bemerkte Bergheim, dass das, was er sah, nicht nur eine perfekte Nachbildung der Natur in Form einer Spielzeugwelt war, sondern dass sich alles noch dazu bewegte.“ Die „Dermo-Plastiker“ haben ganze Arbeit geleistet. Sie sind in der Fälschungsindustrie die nächste Entwicklungsstufe nach den „Fleurateuren“ und arbeiten daran, „ein Abbild dessen, was so sein sollte, wie es einmal war“, zu erschaffen.

Noch am selben Tag nimmt Bergheim einen Termin im sogenannten „Kulinarischen Institut“ wahr, wo er auf zwei frühere Freunde trifft, zuerst auf Charlotte, später auf Ansgar. Das Trio hatte gemeinsam studiert und sich u. a. Vorlesungen über das Leuchten von Meeresquallen angehört. Wir erfahren insbesondere von einem Abend in der sogenannten Aromabar, in der – nachdem Kaffee und Alkohol verboten wurden – die Studis Trips auf Basis von biologischen Rauschstoffen haben. Aber diese unbekümmerten Zeiten sind längst passé, die Ideologeme des sogenannten „Spurenlosen Lebens“, die dem Trio erstmals im Studium begegnet waren, sind zur Staatsdoktrin geworden. Die „Naturpartei“ ist an der Macht und verkündet salbungsvoll ihre Gebote: Die Existenz der Menschheit sei „ein biologischer Zufall“, eigentlich sei sie „nutzlos“ und „sämtliche Eingriffe in das natürliche Leben“ durch den Menschen seien zurückzunehmen. Dementsprechend seien „Einfluss und Auswirkungen, die seine Existenz an sich auf [die Natur] hat, nach bestem Wissen und Gewissen [zu] reduzieren, und, in letzter Konsequenz, auf[zu]heben“.

Im „Kulinarischen Institut“ laufen alle Stränge zusammen: Charlotte ist die Leiterin des Hauses und eine Adeptin des „Spurenlosen Lebens“ geworden, Ansgar hat als „Frucht-Detektiv“ Karriere gemacht, der besonders raren, noch nicht ausgestorbenen Pflanzen nachspürt. Es entspinnt sich eine merkwürdig motivationslose, zugleich soghaft irritierende Handlung, in deren Verlauf Bergheim für mehrere Stunden abtaucht, um mit einer Gedächtnis-Apparatur frühere Studienerfahrungen nachzuerleben. Später werden die Figuren ein absurd aufwändiges mehrgängiges Menü zu sich nehmen, das Nickel in penetranter Eleganz beschreibt. (Ja, wer mag, kann hier eine aristokratische, parfümierte Wertschätzung des Erlesenen erkennen, eine Absage an die Masse. Aber nicht jeder Typ in der Fußgängerzone, der mit einem beigen Trenchcoat und langstieligen Regenschirm herumläuft, ist ein Dandy, und nicht jeder Text, der sich dem Fetisch der Oberfläche und dem Sezieren von Genuss-Mechanismen widmet, ist ein apolitisches, popiges und dekadent-reaktionäres Stück Literatur.) Im Laufe des Abendmahls werden persönliche und institutionelle Geheimnisse zu Tage gefördert, letztlich aber kreist alles um die Frage, die Charlotte einst als Studentin gestellt hatte: „Was ist mit dem Menschen und seinen Spuren? Da wird es doch erst richtig interessant. Wie schaffen wir es, nicht nur unseren, wie haben sie früher noch gesagt, Kohlenstoffdioxid-Fußabdruck, verschwinden zu lassen, sondern den biografischen, mit dem wir uns so viel nachhaltiger in den Leben der anderen verewigt haben, die wir im Laufe unserer Existenz gemeinhin mit den Füßen getreten haben oder noch treten werden?“

Wie eine erste Erprobung dieser Selbsttilgungsphantasie kommt – lange vor „Hysteria“ – Christoph Ransmayrs bizarres Prosagedicht „Strahlender Untergang“ daher. Es ist im Tonfall einer pathetischen TED-Konferenz geschrieben und verkündet in bemerkenswerter Nähe zu Nickel die Lehre von einer „Neuen Wissenschaft“, welche „Beihilfe zur Zukunft“ sei.  Denn sie „erzeugt […] nichts anderes mehr / als die Bedingungen des Wesentlichen: / die Organisation des Verschwindens“. Der Mensch solle sich abschaffen, aber dieser „planmäßige Untergang ist längst / nicht das Ärgste – im Gegenteil: / Seine umsichtige Organisation / und rasche Verwirklichung / bringt alles zurück, was im / Verlauf der beschämenden Entwicklung / eines von der Herrschaft / über die natürliche Welt / blind faszinierten Denkens / schon verloren schien.“

Ransmayrs Debüt, das bei der Veröffentlichung 1982 größtenteils unbeachtet blieb, ist stark durch das postmoderne Phantasma vom Ende des Subjekts geprägt, von Foucaults Bild eines Menschen, der „verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ „Les mots et les choses“, aus dem das Zitat stammt, war 1966 im Original erschienen, fünfzehn Jahre vor Ransmayrs post-humanistischer Verstirade. Letzterer malt sich die „die Organisation des Verschwindens“ derart aus, dass in Wüsten Terrarien angelegt werden, „[m]eterhoch die Umzäunung, / sorgfältig geglättet / die Ebene aus Steinen und Sand / und frei von Wasser und Bewuchs“, in die dann ein Mensch eingesperrt wird, bis er dehydriert und sich bis zur Substanzlosigkeit auflöst: „Ich bin der Zusammenbruch der Thermoregulation, / ich bin / der allesumfassende Verlust. / Ich konzentriere mich in allem / und werde weniger.“

„Strahlender Untergang“ mag es sich ein wenig zu schnell zu bequem gemacht haben in seiner Untergangslust. Und doch zeigt das Langgedicht die Nervosität der menschlichen Spezies auf, die zwischen verfluchter Präsenz und ersehnter Abwesenheit, zwischen der schuldbehafteten Unlust am Hier und der schamvollen Lust am Dort pendelt. Bei Nickel ist das „spurenlose Leben“ zur „Neuen Wissenschaft“ geworden. Die Doktrin wird als kritische Fortsetzung eines ambigen Verhältnisses zur Natur entworfen, freilich als zeitgeistige Aktualisierung: Das Programm besteht wesentlich im Versprechen von bzw. in der Nötigung zu einer ethischen Gesundung durch ein dauer-achtsames Leben. Als finale Pointe lockt die Wiederherstellung eines wildwüchsiges Paradieses ohne menschliche Makel. In der Kooperative ebenso wie im Institut wird indes klar, wie schizophren diese Unternehmung ist: Der Wissensstand und die Apparaturen, die nur eine hochentwickelte Kultur hervorbringen können, werden eingesetzt, um eben diese dem Abgrund entgegenzuführen. Nickels schelmisches Buch führt uns eine alte zivilisationskritische Dauerschleife vor: Je mühsamer sich der Mensch im Anthropozän danach sehnt, vom Erdball zu verschwinden, umso stärker schreibt er sich ihm ein.

Aber was gehört überhaupt getilgt? Wer definiert, was am Leben lebenswert, was verabscheuenswürdig ist? Hier treffen sich Nickels Öko-Dystopie „Hysteria“ und Juli Zehs Medizin-Dystopie „Corpus Delicti“: Beide kritisieren eine Form der hygienischen Moralisierung, die keinen Erreger und keinen Abfall, keine Spuren und keine Rückstände zulässt. Während Zehs Roman aber ziemlich konform vor sich hin erzählt und ständig auf seine alarmistische Botschaft schielt, ist Nickels Roman ästhetisch weit anspruchsvoller und verspielter. Der Text inszeniert auch auf einem formalen Level das Thema der Künstlichkeit, etwa durch das unorganische Gebaren der Figuren. Ihnen wohnt kein Leben inne, ihr Habitus ist widernatürlich, sie sprechen an den unpassenden und schweigen an den falschen Stellen. Insgesamt wirken Bergheim, Charlotte & Co wie Apparate, die ruckeln, wie Maschinen, die stottern, während sie so tun, als seien sie Menschen. Ständig hat man das Gefühl, Widergängern aus anderen Büchern zu begegnen, literaturhistorischen Kopien, die in „Hysteria“ als schlechter Import umherstolpern.

Auch glänzt und brilliert und blendet die höchst stilisierte Text-Oberfläche mit Adjektiven, Archaismen und Anspielungen. Das Buch ist ein Pastiche, und die Feuilletons sind ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Erbuddelung intertextueller Referenzen, längst nachgekommen. Zeit, SZ und FAZ warten u. a. auf mit: Sigmund Freud (das Unheimliche als Grundgefühl), Edgar Ellen Poe (grusel, grusel), E. T. A. Hoffmann (die Ununterscheidbarkeit menschlicher und nicht-menschlicher Sphären, die Krise des Subjekts), Joris-Karl Huysman (die unbedingte Verschönerung der Natur) und Franz Kafka (Irrwege in einem institutionellen Apparat). Neben der gesättigten Lektüre-Erfahrung bietet einem dieses erratische und kokette und zehnfach geschichtete Werk zwei Boni an: dass erstens jede Seite einen immer neu dazu einlädt, die in launigen Kolumnen gelesenen Bio- und Anti-Bio-Kommentare weiterzudenken und auf ihre Widersprüche und Möglichkeiten, auf ihre Verschwiegenheiten und Selbstlügen hin zu überprüfen, und dass, zweitens, dieser bemerkenswerte opake Text einem – endlich mal – ein genuin ästhetisches Reflexionsangebot unterbreitet, um dem irrsinnigen Zeitgeist beizukommen.

Tschick im Coby County, Faserland – Thomas Klupps “Wie ich fälschte, log und Gutes tat”

Wenn ein Autor neun Jahre nach seinem literarischen Debüt erst seinen zweiten Roman veröffentlicht, liegen zwei Reaktionen nahe. Man fragt sich vielleicht erstens, warum es so lange gedauert hat und man ruft sich zweitens noch einmal ins Gedächtnis, was es mit dem damaligen (ersten) Roman auf sich hatte. Die erste Frage lässt sich vermutlich leicht beantworten. Das Hildesheimer-Urgestein Thomas Klupp unterrichtet seit 2007 an dem Institut, an dem er selbst den Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studierte, und es ist somit naheliegend, dass er mehr damit beschäftigt ist, anderen das Schreiben beizubringen als selbst zu schreiben, warum auch nicht? Die zweite Frage, worum es denn im 2009 erschienen Paradiso noch einmal ging, ruft zunächst Erinnerungen an eine Roadnovel hervor: Alex Böhm will per Mitfahrgelegenheit zum Münchner Flughafen und landet schließlich nach vielen Irrwegen in seinem oberpfälzischen Heimatort Weiden und verschwindet beinahe holden-caulfield-mäßig im Roggenfeld. Soweit so gut. Wie wurde dieser Roman damals aufgenommen, fragt man sich als nächstes. Also noch einmal eine Rezension zu Thomas Klupps Erstling aus den Tiefen des Internets hervorgeholt. Dort heißt es:

„Klupp versteht sein Handwerk. “Paradiso” enthält alles, was ein gebrochener Ich-Erzähler auf der Suche nach sich selbst braucht: Provinz, Pubertät, Pickel. Es geht um Frauen und Drogen, um Weltekel und um literarische Erfahrungen.“

Hier könnte man zum ersten Mal stutzen, denn auch in Klupps neuem Roman Wie ich fälschte, log und Gutes tat (Berlin Verlag, 2018) erzählt ein junger Ich-Erzähler, 16 Jahre alt, von seinen pubertären Wie ich fälschte, log und Gutes tatProblemen in der Provinz. Pubertäre, männliche Ich-Erzähler haben immer Probleme mit Frauen und Drogen in der Provinz. So eben auch Klupps neuer Protagonist Benedikt Jäger. Er ist wie gesagt 16 Jahre alt, spielt sehr gut Tennis, nimmt Drogen und hat seit Neuestem eine Freundin. Zumindest sind die beiden zusammen, was in diesem Fall heißt, sie will, dass alle denken, sie habe einen Freund, weswegen sie und Benedikt ständig sichtbar knutschen.

Fälschen und Vorspielen – Alles ist fake

Und damit sind wir auch schon bei dem Hauptthema des neuen Romans: das Fälschen und Vorspielen. Benedikt Jäger, den seine Freunde häufig Dschägga nennen, ist ein Meister des Lügens und Fälschens. Er fälscht nicht einfach nur Unterschriften seiner Eltern auf Klassenarbeiten, er fälscht sogar die Klassenarbeiten, nachdem er sie zurückbekommen hat, um seinen Eltern gute Noten präsentieren zu können und entwickelt sich dabei zum regelrechten Profi im Fälschen. Aber immer der Reihe nach. Benedikt Jäger lebt in – na, wo? – richtig, in Weiden in der Oberpfalz, er geht auf das Kepler-Gymnasium und spielt sehr erfolgreich Tennis. So erfolgreich, dass er und seine Mannschaftskameraden lokale Berühmtheiten werden und für eine Antidrogenkampagne auf Plakatwänden herhalten müssen. Das ist natürlich auch nur Fassade, da die Jungs selbstverständlich in der Provinz-Disse Butterhof saufen wie die Löcher, kiffen und gelegentlich auch ein bisschen Crystal Meth rauchen – bayrisch-tschechisches Grenzland eben. Peu à peu schält sich aus dem narrativen jugendlichen Gelaber von Benedikt heraus, worum es in dem Roman geht: Alle in Weiden, vom Protagonisten selbst, über den Besitzer der Dorfdisko, Crystalmäx (!), über die Mutter des Protagonisten, bis hin zum Kepler-Gymnasium, haben eine perfekt glänzende Fassade, hinter der es ganz anders aussieht: alles ist fake. Crystalmäx gibt sich als Wohltäter und kassiert Spenden für Wohnungen für Geflüchtete, während er Drogen schmuggelt und andere krumme Geschäfte tätigt. Benedikts Mutter bezahlt ihren Sohn dafür, dass er sie anruft, wenn Freundinnen da sind, damit sie dann weltgewandt so tun kann, als würden Bekannte aus Frankreich oder Italien anrufen und am Kepler-Gymnasium sollen die Schüler in den sogenannten MINT-Fächern nach oben korrigiert werden, damit die Schule in die Exzellenzinitiative hineinkommt – alles fake oder wie der Erzähler es selbst sagt, als er seine Stadt aus der Vogelperspektive sieht:

 „Und die Ansicht darauf sah beschissen aus. Also nicht die Ansicht selbst. Die war okay. Sondern das, was darunter lag. Oder dahinter. Oder wo auch immer. Diese aus der Tiefe emporwuchernde Fälschung, dieses Trugbild, das mein Leben war.“ (17)

Benedikt Jäger ist ein Anti-Felix Krull. Zwar auch ein Blender, aber während Thomas Manns bekennender Hochstapler seine Mitmenschen durch eloquentes Reden, das die Leere hinter seinen Aussagen in blumigen und sprachgewandten Sätzen versteckt, hinters Licht führt, ist Klupps Protagonist eher ein Meister der Dokumentfälschung. Zwar auch unheimlich gut im Reden, aber längst nicht so stilsicher wie Krull, schnoddert Benedikt einfach drauflos. Die literarische Referenz für Klupps Blender ist auch der schillernde und schrille Jay Gatsby – vermutlich die Baz Luhrmann Version – , über den Benedikt einen Aufsatz in Englisch schreibt.

Überdeutliche Parallelen

Nachdem man dieses Thema als den Kern des neuen Romans von Thomas Klupp ausgemacht hat, kann man noch einmal zurückkehren zu Paradiso. Genauer gesagt, man kann sich überlegen, was neben Roadtrip das Thema dieses Romans war. In einer Rezension der Süddeutschen Zeitung hieß es damals:

„Alex Böhms Leben ist eine Kette von bewussten Täuschungen. Ob er seine Freundin per SMS in die Irre führt, seinen besten Kumpel hintergeht oder eine Frau in der Kneipe sitzen lässt, während er sich aus dem Klofenster davonstiehlt – Alex Böhm lügt und betrügt nicht nur, wie es ihm gefällt, sondern auch, weil es ihm gefällt.“

Der Protagonist von Klupps Debüt im Jahr 2009 log und betrog also gerne, sein Leben war „eine Kette von bewussten Täuschungen“ und ein bisschen Literaturreferenz ist auch mit drin. Es wird deutlich, worauf ich hinaus will? Die Parallelen zwischen den beiden Romanen treten sehr deutlich zutage. Man mag einwenden, dass Benedikt Jäger mehrmals betont wie ungern er fälscht und betrügt, aber er tut es immer wieder und sein wiederholtes Beteuern, er würde damit aufhören, glaubt man ihm wirklich nicht.

Viele Gemeinsamkeiten finden sich also zwischen Klupps beiden Romanen – ein paar zu viele kann man sagen. Aber lässt sich das gut lesen? Jein! Es liest sich so schnell wie das sprichwörtliche Messer durch warme Butter geht, durchaus unterhaltsam und am Ende kommt sogar ein bisschen Spannung auf, bei der man merkt, dass Klupp wirklich schreiben kann. Was aufstößt ist der gewollt jugendliche Ton des Erzählers. Da wird die Bag gezippt, da wird abgehasst, da gibt es den Ultraflash nach Crystal-Konsum, den man aber am Morgen mit Kieferfasching bezahlen muss – manchmal klingt der Erzähler als wäre er dem Alptraum der Jugendwort-des-Jahres-Liste entsprungen. Gleichzeitig taucht irgendwann das Wort fickrig auf, das mir sonst vorrangig in der Alternativliteratur der 70er Jahre unter die Augen gekommen ist. Was dann wiederum durchaus realistisch wirkt sind pseudpoetische Passagen wie diese:

„Silbriges Mondlicht fiel von jenseits des geborstenen Türrahmens in den Raum, den wir vorsichtigen Schrittes durchquerten, um in einen von Fenstern gesäumten Gang einzubiegen.“ (100)

So klingen – das weiß ich aus eigener schamvoller Erfahrung – 16jährige wirklich, wenn sie versuchen poetisch zu werden. Dass Klupp in Wahrheit aber keine Ahnung vom Leben der 16jährigen im Jahr 2018 hat, zeigt sich dann leider wiederum daran, dass Benedikt Jäger intensiv Facebook nutzt. War Facebook vielleicht vor 5-10 Jahren, als Klupps Protagonist gerade in der Grundschule war, noch ein wichtiger sozialer Faktor, so ist das soziale Netzwerk heute nicht nur eines von vielen, es ist auch bei den heute 16jährigen kaum noch in. Erst recht nicht, wie Klupp es beschreibt, als Gradmesser des eigenen Status in der peer-group – Benedikt freut sich über 56 neue Freundschaftsanfragen, nachdem er durch die Antidrogenkampagne berühmt wurde, während seine Kumpels deutlich weniger haben. Die Nutzung von Facebook wäre jetzt nicht das Problem, aber da Instagram, Snapchat und andere soziale Netzwerke gar nicht erwähnt werden, entsteht der Eindruck, dass Klupp einfach nicht weiß, was bei den Kids heut so abgeht. Ähnlich sieht es beispielsweise auch bei den Serien aus, Benedikt schaut Game of Thrones, Breaking Bad und Homeland – niemand schaut mehr Homeland!
Alles zusammengenommen: Das Thema und der Ort der Handlung, die nahezu identisch sind mit Paradiso, die gestelzt und falsch wirkende Jugendsprache, die offenbare Unkenntnis eines Anfang 40jährigen das Leben der heute 16jährigen betreffend, all das lässt Wie ich fälschte, log und Gutes tat unfertig erscheinen, nicht richtig durchgegart.

Gutes Thema, aber…

Dabei ist das Thema per se kein schlechtes und die perfekte Oberfläche einer angekratzten Welt ist auch schon wesentlich schlechter dargestellt worden als von Klupp, der es schafft das Thema Scheinwelt ohne aufdringliche Klischees darzustellen und dabei ein paar Seitenhiebe auf Pseudowohltätigkeit einbaut, die durchaus ihr Ziel treffen. Dass er sich dabei erstaunlich wenig an die Fake-Welt der sozialen Medien herangetraut hat, spricht vielleicht dafür, dass er weiß, wie schnell man dabei in die Klischeekritikfalle tappt, das führt aber leider dazu, dass man dem Roman die Umwelt seines Protagonisten nicht so wirklich abnimmt.

Was ist dieser Roman also geworden? Die Jugendsprache hat man schon besser bei Wolfgang Herrndorfs Tschick umgesetzt gesehen, die dürfte zwar inzwischen auch wieder überholt sein, aber damals war sie nah dran. Die Kritik an einer schönen Fassade, hinter der der Dreck lauert, zeigt sich auch bei Leif Randts Romanen und das unzuverlässige Erzählen eines lügenden Protagonisten findet sich auch ein bisschen bei Faserland. Thomas Klupp hat also einen modernen Schelmenroman über einen eigentlich gutherzigen, jungmännlichen Lügner geschrieben – wie auch schon 2009.

Wie ich fälschte, log und Gutes tat ist somit ein unspektakulärer, aber witziger, manchmal kluger Roman geworden, der sehr gegenwärtig sein will, daran aber leider scheitert und insgesamt wirkt als hätte der Autor besser noch etwas mehr Recherche und Feinarbeit investiert, aber dafür war dann vielleicht doch schon zu viel Zeit seit dem letzten Roman vergangen.

Precht, Picard und der Premiumtarif – »Jäger, Hirten, Kritiker«

»[E]in steriles Raumschiff ohne jedes Grün, fantasieverlassen wie ein Atombunker« – so beschreibt Richard David Precht auf Seite 9 von Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft (Goldmann, 5. Aufl. 2018) das Schiff von Jean-Luc Picard, den er eingangs zitiert hat. Eigentlich möchte man an dieser Stelle schon wieder aufhören zu lesen, denn die Enterprise D verfügt nicht nur über ein Arboretum, sondern ist auch so vollgestopft mit Zierpflanzen, dass sich Fans darüber bis heute beömmeln. »[F]antasieverlassen« ist ein Schiff, das beliebige virtuelle Realitäten generieren kann, dessen belesene Besatzung regelmäßig Theateraufführungen (von Klassikern und eigenen Stücken), Kammer- und Jazzkonzerte veranstaltet und auf dem Kinder hingebungsvoll kunstpädagogisch betreut werden, sicherlich auch nicht.

Precht schreibt nun nicht über Star Trek. Aber wie so oft frage ich mich, warum es sein muss, dass in deutschen Sachbüchern so viel unnötiger Unsinn steht. (Und warum so viele davon anderweitig veröffentlichte Texte einschließen – hier mindestens eine von Prechts Handelsblatt-Kolumnen –, dies aber nirgendwo ausweisen, sondern sich als originäre Monographien ausgeben.)

Das Thema des ausrufezeichensatten Traktats ist eine der drei großen Säue, die in der deutschen Medienlandschaft derzeit durchs Dorf getrieben werden (nicht gerechnet das »Flüchtlings«-Thema, das keine Sau ist, sondern ein rosa gestrichener Schützenpanzer): »Digitalisierung«. Für Precht herrscht, ungeachtet der Tatsache, dass die Anzahl der in Industriegesellschaften Erwerbstätigen auf der Welt gewaltig steigt (in Deutschland übrigens seit 2006 ohne nennenswerte Unterbrechung), Sicherheit, dass bereits in wenigen Jahren die Prognosen der Consulting-Kassandren voll greifen und Millionen Überflüssiggemachte unter keinen Umständen mehr in den regulären Arbeitsmarkt zurückkönnen. Bei der Vorstellung dieses Szenarios schimmert eine gewisse Misanthropie durch, etwa, wenn Precht unterstellt, »völlig unterentwickelte Länder wie der Kongo, die Zentralafrikanische Republik, der Südsudan, Somalia oder Afghanistan« würden sich nie zu Konsumenten von Hochtechnologie entwickeln können, und aus dieser fragwürdigen Prämisse noch fragwürdiger schließt, der Weltmarkt sei insgesamt gesättigt und daher »der Kuchen heute verteilt« (30). Aber irgendwie muss ja erklärt werden, dass die neue industrielle Revolution, anders als alle vorhergehenden, permanente und nicht bloß vorübergehende Massenarbeitslosigkeit auslösen soll.

Es drohen jedoch nicht nur Heere von Langzeitarbeitslosen. So werden etwa altfränkische Handelsbräuche entwertet: Neukunden bei Versicherungen, Telekommunikationsfirmen usw. bekommen günstigere Tarife als Altkunden (»Aus Treue zum Kunden ist Verrat geworden«, 74). Angesichts der mehrfachen Erwähnung des Phänomens (53, 74, 210 u.a.) scheint Precht an der gegenwärtigen Gesellschaft und erst recht der Digital-Dystopie, vor der er warnt, kaum etwas mehr zu stören. Einkaufszentren und Ketten lassen zudem kleinere Städte veröden (175f.; hier fällt auf, dass Precht der kopfkratzwürdigen Meinung zu sein scheint, die BWLer-Hochburg Mannheim sei keine prosperierende Stadt). Schlussendlich ist, wiegen und tanzen und singen die Konzerne den Nachwuchs erst ein, die Lahmlegung von allem zu erwarten, was an Jugend gut und richtig ist: Die Herabsetzung ganzer Generationen als »egoistisch, ungeduldig und faul« (76) ist für einen deutschen Sachbuchbestseller unverzichtbar und darf auch hier daher nicht fehlen. Wo ein Manfred Spitzer oder Michael Winterhoff noch auf aktuelle Kinder und Eltern schimpfen muss, ist Precht allerdings einen Schritt weiter: Er schilt noch ungeborene Twentysomethings schon heute für ihre weltlose, unmündige und motorisch inkompetente Existenz im Jahre 2040. Durchgängig stellt Precht dabei klar, dass die USA, genauer: das Silicon Valley, der Ursprung allen Übels sind und ggf. auch die schlimmsten Auswirkungen zu befürchten haben – »Milizenbildung mit Pogromen« prophezeit er im vierten Jahr von Pegida »in den USA, aber vielleicht nicht nur dort« (249).

Nun möchte das Buch qua Untertitel »eine Utopie für die digitale Gesellschaft« sein, mithin anraten, was wir tun können, damit es nicht so kommt. Dazu macht es folgende Vorschläge: 1. Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Höhe von ca. 1500 Euro monatlich, finanziert aus Finanztransaktionssteuern; 2. Reform des gesamten Bildungssystems, mit dem Ziel, intrinsisch motivierte Menschen hervorzubringen, denen tätige Autonomie wichtiger ist als Effizienz und Problemlösungsdenken; 3. staatliche Durchsetzung der informationellen Selbstbestimmung: harter Datenschutz, Automatisierung und Überwachung der Lebenswelt nur mit Zustimmung der Bürger, starke Staatsbeteiligung beim Betrieb der IT-Infrastruktur. (Ein Kurzabriss des Programms, minus die Bildungsreformen, steht dankenswerterweise auf S. 259f.). Ganz möchte Precht der technischen Modernisierung ihren Nutzen dabei nicht absprechen: Auf dem Feld der Mobilität (188–193) und der Medizin (193–199) begrüßt er die bevorstehenden Umbrüche und zeichnet ein freundliches Bild der durch sie eröffneten Möglichkeiten.

Entgegen dem marxschen Titel des Werks werden kaum je Besitzverhältnisse thematisiert. Die Klage, dass internationale IT-Konzerne ihre Gewinne aus Europa abziehen, ist schon das Höchste der Gefühle. Die Zukunft soll ganz explizit staatskapitalistisch und sozialdemokratisch sein: »Wir werden wieder mehr Sozialismus in den Kapitalismus implementieren müssen, um die aufsteigende Linie von Bismarck über die Freiburger Schule fortzusetzen« (253). Der bildungsreformerische Teil des Programms ist für Precht anscheinend deswegen nötig, weil dem grundeinkommenfinanzierten Teil der Gesellschaft nicht ohne Weiteres zuzutrauen sein wird, dass er seinen Tag mit Sinnvollem verbringt und nicht bloß ins Handy stiert (das entsprechende Kapital heißt auch ganz instagrammerisch: »Gute Ideen für den Tag. Neugier, Motivation, Sinn und Glück«, 150). Letztlich ist die prechtsche Utopie nach wie vor eine Gesellschaft, in der ganz wie in unserer die abhängigen Einzelnen dazu angehalten sind, diszipliniert, bildungsbeflissen, »kreativ« und »individuell« zu sein; ihnen droht andernfalls allerdings nicht mehr die materielle Armut, sondern nur das Versacken in einem von Prechts Milieu als minderwertig abgestempelten Lebensstil, also das, was bereits heute Menschen, die von Staatsleistungen leben, flächendeckend vorgeworfen wird. Dazu passt Prechts nicht im Buch zu findende, aber anderweitig hinreichend bekundete Intention, Grundeinkommensbeziehende von der Fortpflanzung abzuhalten, die geradewegs aus der mainstreamigen Transferempfänger-Verachtung der Nullerjahre entsprungen scheint.

*

Prechts Traktat ist weitgehend ein Zusammenschrieb von seit mindestens 40 Jahren zustimmungsfähigen Allerweltsthesen (dass z.B. nicht der zufriedene, sondern der »immer wieder neu unzufriedene« Konsument das Ziel der Ökonomie sei, 211, ist spätestens seit Vance Packard 1957 popkultureller Gemeinplatz). Zwischendurch sollen hübsche Kalendersprüche die Wirkung verstärken, wenn eines der vielen Ausrufezeichen nicht mehr ausreicht, gerne kursiviert: »Wer das Glück messen will, hat es nicht verstanden!« (152); »Alle reden von Lösungen – Philosophen nicht!« (181; beide Hervorh. im Orig.). (Übrigens reden Philosophen dauernd von Lösungen. Auch Precht tut das.) Precht bedient es sich zwar eines großen Inventars an philosophischen Floskeln und Namen, entwickelt aber nirgendwo so etwas wie begriffliche Strenge, argumentative Stringenz oder auch nur einfachste kritische Tugenden wie das Hinterfragen populärer Überzeugungen. Wenn er etwa schreibt, dass die »Weltbevölkerung immer rasanter zun[ehme]« (80), ist dies schlicht völliger und unentschuldbarer Unsinn – seit 1963 hat sich das Weltbevölkerungswachstum ungefähr halbiert und ist auf einem weiterhin nachhaltig fallenden Trend.

Eine wirkliche »Utopie« im Sinne eines ausformulierten Szenarios, in dem klar wird, wie die Elemente eines hypothetischen Gemeinwesens ineinandergreifen, ist sein Buch entgegen dem Untertitel auch nicht. Prechts Ziel ist, soweit man es erkennen kann, ein ruhigeres, grüneres, autoärmeres Europa, bevölkert von gesunden, achtsamen, feinsinnigen Menschen, die glücklich von Staatsknete leben, weil sie in der Schule gelernt haben, dass gemeinsam kochen viel schöner ist, als zu viel Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen oder sich von technischen Dispositiven zur Selbstoptimierung peitschen zu lassen. Aber wie verbinden sich die beschriebenen Elemente dazu? Was außer frischem Gemüse und einem guten Gewissen springt für Normalbürger dabei heraus? Was ist das positive Versprechen? Welche Lebensinhalte möchte Precht in den Räumen sehen, die durch Reformpädagogik und bedingungsloses Grundeinkommen offen gehalten werden sollen?

Letztlich scheint er etwas Gefühliges, was mit irgendwie echtem Leben, Handwerk, Kultur, Treue zum Kunden und möglichst wenig Geldverdienen (»Abschied vom Monetozän«, 241) zu tun haben soll, retten zu wollen. Und zwar nicht nur vor der Digitalisierung und dem Kapitalismus in sich, sondern auch deren Auswirkungen, wie z.B. der angeblichen weltweiten Nivellierung der Männermode herunter zur »Einheitszivilisation in Hoodys und Sneakers« (87 u. passim) und überhaupt der Verwandlung von Männern in »beinglatte Wollmützenjungs« (85). Precht beklagt einen geschehenen und noch kommenden Verlust von »Heimat«, »Authentizität«, »Geborgenheit« und »Instinkt für die Realität« (78f.), ohne irgendwie auf den Punkt zu bringen, was damit gemeint sein soll – was gerade mit Rückgriff auf Philosophen wie Martin Heidegger, Hubert Dreyfus und Sean Kelly machbar, dann aber auch angreifbar wäre. (Einiges spricht aber dafür, dass Precht Letztere rezipiert hat, wenn er sie auch nicht nennt: »Wer seinem Navigationssystem auf dem Smartphone folgt, muss nicht mehr nach dem Weg fragen«, 208, ist ein Leitbeispiel in Dreyfus/Kellys All Things Shining.)

Precht weiß auch nicht konkret zu sagen, was das Gegenbild, die zu rettende »Kultur« eigentlich sein soll, bzw.: Er hält sich mit Festlegungen dazu zurück, weil er womöglich weiß, dass es keine seriösen empirischen Belege dafür gibt, dass in den westlichen Industriegesellschaften tatsächlich irgendein relevantes »Verschwinden von Kultur« stattfände, eher im Gegenteil. Unfreiwillig komisch wird es, wenn er eigene Lebensstilpräferenzen schildert (Sammeln antiquarischer Bücher, Schuhe kaufen in Rom, Wochenmärkte in der Provence, 174–176), die nicht nur klischiert sind, sondern auch noch völlig gestanzt beschrieben werden (»ich liebe […] den Geruch, das Aussehen und die Haptik alter Bücher«, 173). Wenn man all das liest, kann man Angst bekommen, dass die von Precht befürwortete basisdemokratische Hoheit der Wohnbevölkerung darüber, welche IT-Infrastruktur es in welchen Stadtteilen gibt, nur dazu führen würde, dass die ungleichheitsfördernde Bullerbüisierung der Lieblingsorte geschmackssicherer und kinderreicher Akademiker noch schneller voranschreitet.

Die vorgetragene Kulturkritik sinkt stellenweise auf das Niveau konservativer Lokalzeitungskolumnen ab; ich musste zuerst an den Meinungskasten in der Sonntag Aktuell vor vielen Jahren denken, aber ich befürchte, mit einem Vergleich täte man Ernst Elitz Unrecht. Man beachte im folgenden Precht-Zitat abermals den klüglich ergatterten Premiumtarif als Paradigma des Verfalls:

[D]ie Konditionierung, vor allem an sich selbst zu denken und andere dabei auszumüllern, ist längst im Gange und älter als die Digitalisierung. Wer tagtäglich indoktriniert wird, sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, genießt eine staatsbürgerliche Erziehung von zweifelhaftem Zuschnitt. Ein Milliardenaufwand an Werbegeldern bombardiert die wackeligen Behausungen unserer Werte: die Moral der Kindheit, ein kleiner, meist winziger Rest Religion und ein bisschen Demokratieverständnis aus der Schulzeit. Ein ungleicher Kampf. Niemand fragt heute mehr, ob sein Premiumtarif gegenüber anderen fair ist. (210)

Strategisch befleißigt Precht sich einer Rhetorik, die man eher aus dem rechten Spektrum kennt: Indem er behauptet, sich gegen einen Mainstream zu stellen (der die »Digitalisierung« bagatellisiere und in Untätigkeit verharre), verkauft er seinen Lesern Gemeinplätze, auf die sich das FAZ-affine Abnickermilieu, das in Deutschland jeden Kulturpessimismus begierig schluckt, ohnehin seit Jahrzehnten geeinigt hat. Leider zeigt Precht zumindest punktuell auch inhaltliche Nähe. Wessen Ideen er etwa mit seiner pauschalen Abwertung bestimmter Länder als unentwickelbare Höllenlöcher oder seiner Klage darüber, wie kulturlose »Einheitszivilisation« und Entmännlichung von Amerika aus um den Globus gebreitet würden, reproduziert, weiß er vermutlich selber nicht.

Ich hoffe es zumindest. Denn wenn eine derartig präsente und hofierte Intellektuellenfigur wie Precht, die über eine kaum schätzbare mediale Feuerkraft gebietet, knallrechte Topoi nicht bloß versehentlich, sondern sehenden Auges duplizierte – dann könnte man wirklich ganz Deutschland sagen wie Patrick Bahners der SPD: »Macht den Laden dicht, ihr Deppen.«

Anhang: Das Beste aus 270 Seiten Precht

  • »Ströme von Geflüchteten fließen wie ein Delta ins Mittelmeer« (9)
  • »Die Biodiversität menschlicher Kultur wird immer kleiner.« (35)
  • »Content. (Menschen ohne echte Bildung und Herzensbildung erkennt man an der Verwendung dieses Wortes.)« (158)
  • »Geld halbiert sich, wenn man es teilt – Zeit nicht!« (165, Hervorh. im Orig.)
  • »Wie schön, wenn das Deutschland der Zukunft einmal tatsächlich das Land der Dichter und Denker sein würde und nicht das der Gammler und Gamer!« (180)
  • »das Qualitätssiegel deutscher Produkte ist höher als das der US-amerikanischen« (187f.)
  • »Wer in Beirut über eine rote Ampel geht, wird von der Polizei dafür nicht belangt. In Bayreuth dagegen ist das Risiko höher.« (205)
  • »Für dieses Buch war es mir wichtig, den Weg der Utopie mit einem Traktor zu befahren – und nicht mit einem Luftschiff.« (266)
  • »Pessimismus ist keine Lösung!« (269, Hervorh. im Orig.)

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In „Orten, die mit „ow“ oder „itz“ enden“- Eine Einordnung von “Mit der Faust in die Welt schlagen” von Lukas Rietzschel

In seinem Essay Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel schrieb Maxim Biller 1991 von dem “stoffspendenden Glück”, das er gehabt habe, und meinte damit den Umstand, dass seine jüdische Familie mit ihm als Kind aus der damaligen Tschechoslowakei nach Westdeutschland geflohen war. Er deutet diese – durchaus schwierige – Situation positiv um, da er dadurch Stoff zum Erzählen habe. Folgt man diesem Gedanken, dann hatte auch Lukas Rietzschel dieses “stoffspendende Glück”. Rietzschel, dessen Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen gerade bei Ullstein erschienen ist, wuchs im äußersten Osten Sachsens nahe der polnischen Grenze auf – ein Landstrich, der nicht erst seit den rechtsradikalen Ausschreitungen im August und September in Chemnitz immer wieder unter dem Begriff Dunkeldeutschland firmiert. Es ist – glaubt man zahlreichen Reportagen – die Gegend, in der die Menschen frustriert sind. Frustriert von den “blühenden Landschaften”, die eher kahle Felder waren, frustriert von den Versprechungen der Einheit, die nur auf dem Papier kam, frustriert von all dem, was 1990 versprochen, aber nie eingelöst wurde und vielleicht auch frustriert davon, dass die alte Heimat nicht mehr da ist.

Lukas Rietzschel erzählt uns die Geschichte der Brüder Philipp und Tobi, die als Söhne eines Elektrikers und einer Krankenschwester, in Neschwitz auch im äußersten Osten Sachsens nahe der polnischen Grenze aufwachsen. Der Roman berichtet in drei Teilen von den Jahren 2000 bis 2015, er erzählt vom Hausbau der Familie, von der Hoffnung auf ein glückliches Familienleben, von der Jugend in der Kleinstadt, von Frustration, von Angst, von Männlichkeit und zieht dabei immer wieder lange Linien in die Gegenwart. Dabei erschafft Rietzschel einen Raum der Desillusion um die Kleinstadt Neschwitz – die weiten Felder, das Schamottewerk, die Seen in alten Steinbrüchen, die Grundschule, auf die Tobi und Philipp gehen und viele weitere Orte lassen eine Kindheit und Jugend in der Provinz vor dem inneren Auge der Leser*innen entstehen.

Bis zu einem gewissen Punkt ist man irritiert, ob der Gewöhnlichkeit dieser Jahre. Nüchtern betrachtet durchleben die beiden den typischen Kleinstadthorror zwischen Dorffesten, den Feldern im Sommer – in der deutschen Literatur spielen in der Jugendzeit Felder in der Sommerhitze immer eine große Rolle – und dem Frust der Teenagerjahre. Das alles, auch das Mobbing in der Schule, die Tristesse der Kleinstadt, all das erscheint nicht typisch für ein Aufwachsen in den sogenannten neuen Bundesländern. Das findet man alles auch in den Kleinstädten und Dörfern woanders über die Bundesrepublik verteilt – Hauptsache eben Provinzkaff. Auch in der Eifel brennen nachts die betrunkenen Jugendlichen Löcher in das Plastik der Fahrpläne an den Bushaltestellen, wie Philipp und seine Kumpels das tun und auch in anderen Dörfern in der ost- wie westdeutschen Provinz wird an Stammtischen abfällig über „die Ausländer“ geredet.

Natürlich ist in Neschwitz nochmal alles ein bisschen trostloser und heruntergekommener und der Suizid des Arbeitskollegen des Vaters steht symbolisch für den ostdeutschen Mann, dessen Ausbildung nach der Wende nichts mehr wert war und dessen Frau in die westlichen Bundesländer ging. Und Rietzschel zeichnet das alles in kurzen Hauptsätzen, die kaum mal einen Nebensatz zulassen, denen manchmal gar ein Prädikat fehlt, weil sie nur Stimmungen erzeugen: “Tobi, der nichts sagte, aber jedes Wort verfolgte.” (77) Dieser parataktische Stil führt dazu, dass das alles noch viel trostloser wirkt und dazu, dass Rietzschel das Prinzip des show don’t tell soweit ausreizt, dass man der ganzen Symbolik irgendwann überdrüssig wird.

“Vater schnitt mit dem Messer die Spaghetti klein.” (83)

Die Leser*innen verstehen: Er ist provinziell.

“Er wollte nicht sehen, wie Männer tanzten, vor allem nicht mit nacktem Oberkörper.” (103) Philipp und Tobi haben Angst vor körperlicher Nähe durch andere Männer aus Angst homosexuell zu sein, sie leben in einer harten, männlichen Welt, die jede Form der Nähe zwischen Männern als Schwäche und Zeichen für Homosexualität deutet.

Tobi und seine Freunde bauen im Hort eine Stadt aus Holzklötzen und bombadieren diese dann mit Bällen – schon in diesem Alter zeigen sie Aggressionen.

Teilweise werden diese Beschreibungen, die einfach als Bild für etwas stehen, auch absurd, wie wenn es heißt: “Niemand hatte auf dem Display die Sommerzeit eingestellt.” (163) Was soll das heißen? Dass niemand sich darum kümmert und dass es deswegen mit der Familie bergab geht?

Solche Bilder und viele mehr stehen immer wieder im Raum und man bekommt den Eindruck, der Autor möchte uns etwas sagen, er möchte ein hartes und toxisch-männliches Umfeld in einer provinziellen Welt zeichnen, das letztlich in rechtsradikales Denken und Handeln führt. Das klappt auch, allein es könnte eben auch die Eifel oder die Oberpfalz sein. Es ist kurz gesagt, die Geschichte zweier Brüder, die in einem Provinzkaff aufwachsen. Es mag Spezifika geben, die typisch für eine Jugend in der Provinz in den neuen Bundesländern sind: der Konflikt mit den Sorben, die alten Fabriken und Steinbrüche, die leer stehen und die Frustration über die ausbleibenden Wunder der Wiedervereinigung.

Mit der Faust in die Welt schlagen ist solange gut, bis der Roman versucht als Erklärung für die aktuellen Entwicklungen in Chemnitz und Köthen und überhaupt für den gewalttätigen Rechtsradikalismus herzuhalten. Irgendwann tauchen immer mehr Hinweise auf Ereignisse der letzten Jahre auf: Da wird auf einmal mehr oder weniger stolz von sich selbst als Pack geredet, der Wahlabend der Bundestagswahl 2013 wird detailreich beschrieben, die Ankunft der Geflüchteten in großer Zahl im Sommer 2015 und weiteres – irgendwann wird der Roman auf einmal nicht mehr universell sondern spezifisch, scheint erklären zu wollen, warum junge Männer aus Sachsen Heime für Geflüchtete anzünden.

Man kann sagen, dass Rietzschel einen guten, aber keinen überragenden Debütroman über das trostlose Aufwachsen zweier Brüder in der ostdeutschen Provinz geschrieben hat – das würde reichen und wäre richtig.

Aber weiten wir unseren Blick und schauen auf das, was hier versucht wird – Ein Exkurs ins Feuilleton

Wenn man dem deutschen Feuilleton der letzten Jahre Glauben schenken darf, dann mangelt es Deutschland an Stoffen für narrative Kunst. Unter narrativer Kunst soll hier alles fallen, was in wie auch immer gearteter Form erzählt. Unter anderem die seit Jahren sehnsüchtig herbeigeschriebene große deutsche Serie. Die Serie aus deutscher Produktion, die nun endlich an die großen Erfolge aus den USA und Skandinavien und teilweise auch schon aus Frankreich und Italien anschließen soll, die Serie, die endlich beweist, dass wir mehr können als “Matthias Schweighöfer und die Hacker mit Hoodies”. Die Produktion, die endlich zeigt, dass auch wir hier in der neuen narrativen Form, die ja bekanntlich den Roman abgelöst hat, reüssieren können: das serielle Erzählen mit einem episodenübergreifenden Handlungsstrang. Alles, was dazu fehlte, waren scheinbar die Stoffe – wovon erzählen?

Neidisch blickt man in die USA, wo es anscheinend nur so strotzt vor Stoffen und wie gern geht man in den amerikanischen Serien und der Literatur ins Hinterland, dorthin, wo Drogen und Alkohol, Trailerparks und Arbeitslosigkeit den Alltag bestimmen, dort, wo die jungen Menschen nicht aus den Kleinstädten herauskommen, dort, wo die Frustration besonders groß ist und dort, wo die Trump-Wähler*innen leben. In Orte wie Knockemstiff in Ohio, das Donald Ray Pollock in seinem gleichnamigen Kurzgeschichtenband (2008) beschreibt. Da gibt es Kurzgeschichten, über die es in einer Rezension des SPIEGEL hieß: „Am Ende finden sich die Jungen auf einem Schrottplatz von Knockemstiff wieder, um ein totgefahrenes Huhn über einem brennenden Autoreifen zu grillen. Aus Knockemstiff kommt eben keiner raus.” Man ersetze Knockemstiff durch Neschwitz und dieser Satz könnte sinngemäß auch in einer Rezension zu Mit der Faust in die Welt schlagen stehen. In der SPIEGEL-Rezension stand damals: “Die ungefähre Übersetzung: Schlag ihn tot! Ein Stadtname als Programm.” Ein Titel wie ein Schlag in die Magengrube…oder in die Welt?

Unser Hinterland?

Auch nach 28 Jahren Wiedervereinigung ist Ostdeutschland vom Westen ausgesehen immer noch das unbekannte Land – wir kennen Dresden und Leipzig und waren vielleicht mal in Weimar und Jena, damit hört es meist auf. In unseren Köpfen existiert er, der Wilde Osten.
Es gibt anscheinend zwei Möglichkeiten diese Gegend zu narrativieren und beide haben mit US-amerikanischen Narrativen zu tun. Der romantisierte Wilde Westen, dessen weite Straßen auch lange nach der Zeit des Aufbruchs nach Westen als Symbol für die Weite und Freiheit Amerikas herhalten können: Das weite Land zwischen den Küsten, die Highways nach Westen, die romantische Idee der Landstraße. Das fehlte uns in Deutschland – die A5 ist kein Highway. Doch jetzt darf die B96 ran. Die Bundesstraße, die einmal von Süden nach Norden durch die neuen Bundesländer führt, ist aufeinmal die deutsche Route 66, der Highway durch den Wilden Osten. Die Band Silbermond hat ihr gar einen Song mit dem Titel B96 gewidmet, in dem es heißt:

Und die Welt steht still, hier im Hinterwald,
und das Herz schlägt ruhig und alt.
Und die Hoffnung hängt am Gartenzaun,
und kaum ein Mensch kommt je vorbei.
Im Hinterwald,
wo mein Zuhause ist.
Schön wieder hier zu sein.

Der Songtext schwankt zwischen Verklärung und Realität, es ist etwas trostlos dort, in den Städten an der B96, die an “rostigen Hoftoren” vorbeiführt, aber irgendwie ist es eben doch noch die Heimat im Wilden Osten, wo die Zeit stillsteht, wo die Kindheit noch wie der Nebel über den verregneten Feldern hängt – wenn man dem Video glaubt. Eben die deutsche Version des Wilden Westens.
Während der Hinterwald bei Silbermond zwar ein bisschen ambivalent, aber eben immer noch romantisch ist, wie der amerikanische Highway nach Westen, ist das zweite US-amerikanische Narrativ, das im Osten Deutschlands zum Tragen kommt, wesentlich düsterer und damit reizvoller.

Das Hinterland

Die USA haben trostloses Hinterland, das immer wieder gewalttätige Geschichten produziert, die von archaischer Männlichkeit geprägt sind, und man könnte meinen, wir haben das jetzt endlich auch. Irgendwann in Rietzschels Roman über Männer im Hinterland taucht auch das obligatorische Crystal Meth auf, das einen Kindheitsfreund von Tobi zerstört – Crystal Meth, spätestens seit Breaking Bad die popkulturelle Chiffre für das letzte Ende des Abstiegs, diejenigen, die ganz unten sind, nehmen Crystal Meth. Und seit diese Droge in Ostdeutschland (auch in Bayern an der tschechischen Grenze) aufgetaucht ist, ist diese Gegend noch ein bisschen mehr unser Hinterland.

In dem Song Crystal Meth in Brandenburg (2013) rappt Grim104:

Abseits der Städte
In Dörfern, die mit “ow” oder “itz” enden
Hier lernst Du Kids kennen, die nix kennen
Für die sich Prinz Pi nicht interessiert mit seiner Band

Songzeilen wie die Blaupause für Rietzschels Roman und weiter:

Auf dass der Netto wieder aufmacht?
In der Kneipe jemand auflacht?
Das Geld da ist zum bausparen?
Das kannst Du aber sehr schnell vergessen

Was Rietzschel auf 320 Seiten ausbreitet, verpackt Grim104 in ein paar Strophen eines Songs und schafft damit ein Bild der Zustände, das vermutlich prägnanter ist, und karikiert zudem im Refrain, in dem es heißt: “Rainald Grebe, K.I.Z., alle hatten recht/Angst vor dem Hinterland/Brandenburg, Breaking Bad” auch noch das Narrativ des äußersten deutschen Ostens als das herbeigesehnte deutsche Äquivalent zum amerikanischen Hinterland – auch wir können white trash.

Und solche Geschichten sind vor allem dann gut, wenn sie authentisch sind und damit sind wir wieder beim Anfang – beim „stoffspendenden Glück.“ Rietzschel hat keinen autobiographischen Roman geschrieben, aber Rietzschel kommt von dort – aus den „Dörfern, die mit „ow“ oder „itz“ enden“ und wird derzeit auch so inszeniert: der Erklärer des Ostens. Er ist derjenige, der dem deutschen Westen jetzt mit seinem Roman erklären soll, warum das mit der Demokratie in den neuen Bundesländern so nicht klappt. Glaubt man dem Roman von Rietzschel ist die toxische Männlichkeit schuld am Rechtsradikalismus, an den Hitlergrüßen auf Demos und an den Gewalttaten durch Neonazis. Denn letztlich läuft darauf alles hinaus: Männer, die keine Rolle mehr haben. Die wenigen weiblichen Figuren, die in Rietzschels Roman auftauchen sind nur die Kulisse, vor der die Männer zerbrechen: Mütter, die nie da sind, Schulkameradinnen, die sich nicht für einen interessieren, Ehefrauen, die abhauen, Frauen, die den Frauen, die immer arbeiten, die Ehemänner wegnehmen und schließlich Freundinnen, die auch nicht in der Lage sind, die jungen und verzweifelten Männer zu retten. Und die Männer sind brutal, haben Angst vor körperlicher Nähe, haben Angst homosexuell zu sein und haben keine Aufgabe mehr, weil echte Männer, die in die Fabrik gehen und arbeiten, die ihre Heimat schützen, ihre Familie ernähren und die Traditionen hochhalten, nicht mehr gefragt sind. Deswegen werden die Männer, die noch da sind, desillusioniert und noch frustrierter und überkompensieren ihre Männlichkeit und deswegen werden sie nationalistisch und schließlich rechtsradikal. Das mag so passieren, aber die Kausalkette stimmt nicht.

Der Roman ist trotzdem nicht schlecht (auch wenn man ihm stellenweise eine*n bessere*n Lektor*in gewünscht hätte) und wird vermutlich auch so enthusiastisch aufgenommen, weil er eben endlich auch literarisch ein Narrativ bedient: Trostlosigkeit im deutschen Hinterland, da wo die Orte mit „ow“ oder „itz“ enden – wie Neschwitz.

(Matthias Warkus verbindet in seinem Bericht über eine Blogger*innenreise mit Lukas Rietzschel eine Rezension des Romans mit einer Darstellung der Autorinszenierung)

Nobilität ist auch ohne Pferd möglich: Die Kunst des lässigen Anstands

alexander graf von schönburg die kunst des lässigen anstands

Als Abiturient oder Zivildienstleistender las ich Alexander von Schönburgs Kunst des stilvollen Verarmens und fühlte mich, so glaube ich mich zu erinnern, gut unterhalten. Verarmen musste ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht wirklich. Die Lebensphase, in der ich mich damals befand, ist im Allgemeinen nicht dafür bekannt, dass man aus dem Vollen schöpfte. Perfekt also vor dem Studium bereits zu wissen wie man aus den begrenzten Mitteln das Beste macht, um während des Jura Studiums trotzdem als edler Herr und nicht als Gernegroß durchzugehen.

Was ich bis heute allerdings aus den sicher vielen guten Tipps erinnere, ist nur der, man solle nicht mit (irgend)einem Auto protzen, ein alter Porsche Targa tue es auch. Der Leser möge kurz seinen Kontostand überprüfen. Sie kennen es, während der Verarmung verpasst man meist den Punkt, an dem es noch die finanzielle Möglichkeit gab einen Porsche Targa zu erwerben. Bei vielen allerdings wäre das Geld für den Targa erstmal zu besorgen, man müsste das Auto kaufen und dann darin stilvoll verarmen. Nichts ist heute einfach, nicht mal arm sein oder arm werden.

Die Themen und der Hintergrund Graf von Schönburg-Glauchaus laden natürlich zu Neid und Missgunst ein. Stefan Volk etwa ätzte im Bücher Magazin in der Rubrik Überschätzte Bücher über Die Kunst des stilvollen Verarmens:

Unangenehm aber ist die kumpelhafte Attitüde, mit der von Schönburg aus seinem Elfenbeinturm des „verarmten Adels“ und längst auf dem Weg zurück in die Chefredaktionen ein munteres „Haltung bewahren“ in die Gosse hinunter trällert. Er selbst hat gut daran verdient, dass er Armut zum besseren „Lifestyle“ verklärte.

alexander graf von schönburg die kunst des lässigen anstands piperNun schlägt der Graf aber trotz der Schelte – weil es sich eben auch gut verkauft – weiter in diese Kerbe (einer von denen da oben, der aber auch mal bei euch hier unten war, erklärt euch, wie echte Gentlemen das mit dem Leben machen und zwar von hier oben) und schreibt weiter über Themen, mit denen er sich gut auskennt, etwa ein Lexikon der überflüssigen Dinge oder über Smalltalk. Das neuste Werk, der langjährige Rowohlt Autor ist nun bei Piper, trägt den Titel Die Kunst des lässigen Anstands.

Adel hat nichts mit Geburt, aber sehr viel mit Kultur zu tun, die man sich aneignen kann. Oder eben nicht. Nicht alles, was der Adel bewirkt hat, war segensreich, aber niemand wird leugnen, dass es ein paar Werte, Traditionen, Denkweisen und tugendhafte Eigenarten gibt, die in Adelskreisen besonders hochgehalten worden sind und ein bewahrenswertes kulturelles Reservoir darstellen.

Wahrscheinlich kann man – wie jedem – Schönburg viele Dinge vorwerfen, z.B. für die Bild zu arbeiten – was man wiederum nicht jedem vorwerfen kann, aber auch jetzt erstmal ein recht pauschales Urteil ist. Man kann ihm aber nicht vorwerfen, dass er langweilig schreibe. Durch die zu erlernenden 27 Tugenden zum anständig Sein rauscht er in plaudernd-plapperndem Ton, paart Aristoteles und Thomas von Aquin mit Minnesang, Alltagsgeschichten mit Geschichte, ja man kann sich sehr gut vorstellen, einfach einen Abend von ihm unterhalten werden zu wollen. Denn offenkundig ist er sowohl klug als auch gebildet. Innerhalb der Kapitel gibt es noch putzige Seiten mit kurzen Fragen wie „Darf ich weiße Anzüge tragen?“ (in nuce: nein) oder „Wann darf ich mit den Fingern essen?“ (Spargel), die der Autor als letzte Instanz zu beantworten weiß. Das wäre alles herrlich kurzweilig, wäre das Buch 250 Seiten kürzer. Unklar bleibt dazu was AvS ist oder tut: Spielt er eine Rolle? Ist er ein Naseweis? Will er belehren oder wirklich nur unterhalten?

Wirklich ärgerlich sind vor lauter Kumpelhaftigkeit (wieder so eine Frage: will er mein Kumpel sein oder mein Lehrer?) dann aber Stellen wie

Wenn ich einer/m militanten LGBT-Aktivist*en gegenüberstehe und mit ihr/ihm/x streite, bringt das, muss ich offen eingestehen, in der Regel das Schlechteste in mir hervor. Ich will sie/ihn/x in Grund und Boden argumentieren, fertigmachen.

Offensichtlich tritt auch auf dem Papier beim bloßen Denken und Schreiben über „LGBT-Aktivist*en“ das Schlechteste im Autor hervor. Selbstverständlich endet der Absatz in einem „ich weiß, dies tut man nicht“, da liegt das Kind aber bereits im Brunnen, und es lässt dann doch vermuten, dass die Monstranz des Anstands vielleicht doch nur ein Deckmäntelchen sein könnte. Das Lustigmachen über Minderheiten finde ich dann unter dem Strich irgendwie höchst unanständig. Nicht nur hier, zwischen den Zeilen stolpert der Leser doch immer mal wieder über ein Vonobenherab. Mach ich es mir am Ende dann zu einfach, wenn ich einfach feststelle, dass es mit meinem eigenen Anstand nicht zu vereinen wäre, zusammen mit Julian Reichelt in der Chefredaktion der Bild zu sitzen? Aber was weiß ich schon über Anstand.

„Obacht, dass Sie im Alter kein Peter Hahne werden“, möchte man von Schönburg zum Schluss noch zurufen, wenn er im Buchmarkt Gespräch sagt, es ginge in seinem Buch „um unsere komplette Orientierungslosigkeit, den Verlust aller zeitlosen Werte, Maßstäbe und Standards. Seit 50 Jahren erleben wir eine fortwährende Destruktion und Verwüstung von allen jemals existierenden Wertesystemen.“