Man kann der Reihenfolge meiner Rezensionen natürlich auch mein Leseverhalten entnehmen: zwischen einem Haufen Klassiker verschiedenster Tendenzen finden sich immer wieder Ausreißer. Expeditionen durch die jüngere deutsche Geschichte, Musik und die Geschichten der Menschen, die sie machen und teilweise, nur noch nicht rezensiert, literarische Banalitäten für humorige Kurzweil.
Viele Bücher suche ich mir auch nach der Zeit aus, in der sie entstanden sind. Fabian, eines meiner erklärten Lieblingsbücher (siehe Toplist) zu Zeiten der Weimarer Republik, die Memoiren Canettis oder Zweigs – Jahrhundertwende bis Nazizeit (+/-), Ödön von Horvath – Weimarer Republik + Nazideutschland, Ansichten eines Clowns – Nachkriegs Deutschland – und so weiter usf.
Da ich daher versuche die jeweiligen Titel richtig in ihrem geschichtlichen Hintergrund einzubetten, ist also hin und wieder Nachhilfe im historischen Wissen nötig, gerne, bitte, in literarisch angenehmer Form.
Sebastian Haffner war neulich erst Protagonist in einer, m.M.n. inhaltsarmen Dokumentation über sein Leben als junger Mann (“Mein Kampf mit Hitler” ZDF), das nur einen winzigen und völlig aus dem Zusammenhang gerissenen, Ausschnitt seiner autobiographischen “Geschichte eines Deutschen” enthielt. Diese 1939/1940 verfassten und unvollendeten Lebenserinnerungen schildern die Zeit von 1914-1933 wie ein Schüler und junger Mann und Jurastudent den 1. WK, die Weimarer Republik und die Anfänge der Nazizeit erlebt hat. Haffner schreibt sehr besonnen und (besonders wichtig) zu einer Zeit, in der das Gro der Deutschen angeblich von den Greultaten der Nazi nichts mitbekommen hat. Im Nachhinein, will heißen nach ‘45, will es keiner gewusst haben und gewesen sein. Aber Haffner, zur Zeit der Niederschrift gerade Anfang dreißig, wusste es, schämt sich nicht es zu schreiben, schämt sich aber seines beschriebenen Verhaltens und kann stellenweise das Verhalten vieler Deutschen erklären. Warum er es wusste liegt nicht an besonderer Begabung, sondern offenen Augen und Beobachten.
Doch auch das retrospektive “Ich hätte anders gehandelt” des aufgeklärten jungen Staatsbürgers gerät ob seiner Beschreibungen ins Wanken und man fragt sich während des Lesens, ob man selbst nicht auch “umgefallen” wäre.
So beschreibt er seine Zeit in der Ausbildung als juristischer Referendar:
Die Musik signalisierte: Deutschland über alles, und alles hob die Arme. Ein paar mochten, gleich mir, zögern. Es hatte so etwas scheußlich Entwürdigendes. Aber wollten wir unser Examen machen oder nicht? Ich hatte, zum ersten Mal, plötzlich ein Gefühl so stark wie ein Geschmack im Mund – das Gefühl: “Es zählt ja nicht. Ich bin es ja gar nicht, es gilt nicht.” Und mit diesem Gefühl hob auch ich den Arm und hielt ihn ausgestreckt in der Luft […]. Ich bewegte ein wenig die Lippen und markierte Gesang, wie man es in der Kirche beim Choralsingen tut.
Aber die Arme hatten alle in der Luft, und so standen wir vor dem augenlosen Radioapparat, der nur die Arme hochzog wie ein Puppenspieler die Arme seiner Marionetten, und sagen oder taten so, als ob wir singen; jeder die Gestapo des anderen.
Und gerade aus diesem letzten Halbsatz lässt sich das Misstrauen, selbst unter jungen Leuten und Kollegen, dieser Zeit ablesen; schwer vorzustellen, wie das in einer Gruppe ausgesehen hätte, mit der ich noch vor nicht allzu langer Zeit zur Examensvorbereitung zusammen saß.
Auch die inneren Rufe nach Widerstand beantwortet Haffner, nicht vorwurfsvoll und eigentlich nicht rechtfertigend (anders als der Auszug vielleicht anfangs vermuten lassen mag):
Hätte ich mich vielleicht weigern soll, gleich am ersten Tag, als die Armbinden ausgehändigt wurden? Gleich erklären: Nein, so etwas trage ich nicht und es unter dem Fuß stampfen? Aber das wäre wahnsinnig gewesen und noch mehr lächerlich. Es hätte nur bedeutet, daß ich ins Konzentrationslager käme und nicht nach Paris; und meinem Vater mein Versprechen bräche, mein Examen zu machen. Und wahrscheinlich sterben würde – für nichts; eine quichottische Geste, die nicht einmal Publikum hatte. Lächerlich. Alle Leute trugen hier die Armbinden, und ich wußte nachgerade, es waren mehr darunter, die “privat” genau so darüber dachten wie ich. Wenn ich Theater gemacht hätte, sie hätten die Achseln gezuckt. Besser, ich trug jetzt die Armbinde, so blieb ich frei und konnte später meine Freiheit richtig benutzen.
Auf die Frage warum Haffner emigrierte, soll dieser geantwortet haben “Weil es mich ekelte.” – Wer kann es diesem klarsichtigen Mann verdenken.
Das zweite Buch “Im Schatten der Geschichte” versammelt Essays aus zwanzig Jahren journalistischer Tätigkeit Haffners, daher natürlich eine viel objektiver-distanzierte Sicht und Schreibe, aber ein durchaus interessanter Querschnitt nicht nur von historischen Evergreens, sondern z.B. auch über die Pariser Kommune (mir vorher völlig unbekannt), über die Bedeutung und Wirkung des Grundgesetzes (der Autor ist eben auch promovierter Jurist) oder Gustav Stresemann.
Beide Bücher kann ich dem geschichtsinteressierten Leser nur ans Herz legen, ganz besonderes aber die Autobiographie, die einen sehr persönlichen Einblick in die Denkweise des jungen Intellektuellen während der Weimarer Republik gibt.