Dies ist eine absolut wahre Geschichte!
Ein nicht mehr ganz junger Mann macht sich mit einer Spitzhacke bewaffnet in L.A. auf einen Stern des Walk of Fame zu zerstören. Denn für Samuel A. Saunders ist das Kino, das wirkliche Kino, nicht mehr existent.
Die Studios verdienen ihr Geld nur noch mit Popcorn-Filmen für Teenager. Explodierende Autos und Witze über Verdauungsfunktionen. Farbige Brillen soll man sich aufsetzen für ihre lächerlichen 3D-Effekte. Kinderkram. Sie schreien immer lauter, um sich gegenseitig zu übertönen. Weil sie das kunstvolle Lügen verlernt haben.
Dieser Saunders hat seine Promotion über Walter Arnold geschrieben, einen deutschen Schauspieler, der nach dem Zusammenbruch des dritten Reichs in die USA auswanderte und dort unter dem Namen Arnie Walton zu einem gefeierten, gar oscarprämierten Mimen wurde. Der Student recherierte so gut, dass seine Dissertation über die Vergangenheit Arnolds derartig viel Sprengstoff enthielt, dass sein Doktorvater die Annahme aus Sorge um einen Skandal verweigerte. Der Versuch seine Arbeit in ein Enthüllungsbuch umzuschreiben und als populärwissenschaftliches Werk herauszubringen, scheiterte an der Zurückhaltung der Verlage, dort scheute man sich ebenso ein Denkmal des amerikanischen Films vom Sockel zu stoßen. Saunders zog sich zurück und bestritt seinen Lebensunterhalt mit einer Videothek, spezialisiert auf Klassiker der Filmgeschichte, aber Digitalisierung und Internet gruben Wasser und Gewinne ab. Nach dem Tod Arnolds/Waltons witterte Saunders die letzte Chance sein Buch zur Veröffentlichung zu bringen, doch der Stern des Schauspielers ist so schnell verglüht, dass sich schon kurz nach dessen Tod keiner mehr für ihn interessiert, die Enthüllungen würden ungelesen verpuffen.
Also zieht Saunders los das in sterngegossene Andenken zu zerstören, mit roher Gewalt zu vollenden, was ihm mit Argumenten nicht vergönnt war. Er wird, wie in den USA üblich, von einem Polizisten angeschossen und stirbt an den Folgen. Nun hat Charles Lewinsky Saunders Nachlass gesichtet und aus dessen gesammelten Aufzeichnungen, Interviews, Tagebuchaufzeichnungen und Kurzgeschichten ein grandioses Buch komponiert.
Authentisches Bild einer unglaublichen Geschichte

Caspar David Friedrich (1824/25)
Lewinsky greift in die Texte Saunders kaum ein, arbeitet nur dem Auslassen von Redundantem oder stellt handschriftliche Einfügungen kursiv und so entsteht ein authentisches Bild einer unglaublichen Geschichte: Im Winter 1944 gaukelt eine Gruppe von Produzenten und Schauspielern der UFA dem Reichspropagandaministierium vor ihr Film Lied der Freiheit sei derart bedeutend für die Moral des bereits schwer kriegsmüde gewordenen deutschen Volks, dass dieser als kriegswichtig und die Beteiligten als unabkömmlich eingestuft werden. Um aber aus dem von Bombenangriffen schon stark zerstörten Berlin zu entkommen, geben sie auch vor, der Film, der eigentlich zur Zeit der napolionischen Kriege spielt, müsse in den Alpen gedreht werden. Also reist die Filmcrew in das Dorf Kastelau, nahe Berchtesgarden.
Dieses Dorf ist in seinem Glauben an das neue Deutschland noch nicht erschüttert, Auswirkungen vom heimkehrenden Krieg spürt man nicht und der rigorose Ortsvorsteher sorgt dafür, dass keiner der Bewohner aus der ideologischen Reihe tanzt.
Die Filmstars sind in der Provinz die erste Attraktion seit Ausbruch des Krieges und werden entsprechend neugierig, aber auch kritisch beäugt. Daher wird es umso schwieriger den Schein einer wirklichen Filmproduktion aufrecht zu erhalten, neben dem Problem einen Kriegsfilm mit einer Handvoll Schauspieler zu drehen, einem völlig falschen Drehort und dem zu Neige gehenden Filmmaterial, gibt es auch noch Spannungen in der Crew und die Amerikaner stehen bald nahe Berchtesgarden – was sollen die nur über einen Nazipropagandafilm denken?
Eine absolut unwahre-wahre Geschichte!
Was Charles Lewinsky in Kastelau konsturiert, ist derart überzeugend, dass es durchaus eine wahre Geschichte seien könnte und gerade der bereits auf Seite 11 in einer Fußnote gebrachte Link zum Nachlass von Saunders und die Beteuerung des Autors es handele sich um eine wahre Geschichte, lässt den Leser lange in dieser Illusion, durch eingebaute Wikipedia-Einträge z.B. zu Kastelau kommt man vorerst gar nicht auf die Idee die Spurensuche selbst im Internet weiterzuverfolgen. Jede Figur und jedes Dokument hat eine eigene Stimme, insbesondere die Kurzgeschichten von Werner Wagenknecht, dem mit Schreibverbot belegetem vom Produzenten aber protegierten Autor, sind derartig andersartig großartig, dass man an eine wahre Geschichte glauben will, allein um dessen Romane direkt nach Kastelau lesen zu können. Aber auch durch das Verraten dieses Tricks Lewinskys, den fast jede Rezension direkt zu Anfang preisgibt, dürfte dieses Buch nicht an Reiz verlieren. Denn diese unwahre könnte leicht eine wahre Geschichte sein. Das Verstecken von Deserteuren im Keller, das Belügen von sich und anderen, die Wendehalsmentalität von Mitläufern alles ist so in dieser wundersam-grausamen Zeit vorgekommen, insbesondere der Impuls der Filmcrew ihren Einfluss zu nutzen um der Gefahr für das eigene Leben zu entkommen, ist so verständlich, dass man die Realität dieses Buches selten hinterfragt.
Und selbst als ich (endlich) verstanden hatte, dass es sich um ein Konstrukt handelte, wollte ich an dessen Wirklichkeit glauben, ich wollte die wahren Darsteller kennenlernen und ihre Geschichten lesen, ich wollte die Autobiographie von Walter Arnold lesen, mit meinem Wissen über ihn und seine Verstellung, wollte die beschriebenen Filme sehen und vor allem mehr von Werner Wagenknecht lesen – ich wollte weiter an die Realität dieser Geschichte glauben – mehr kann man von Fiktion nicht verlangen!