Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945

Es kommt sogar vor, dass besonders naseweise Kunden bei Felix Jud in Hamburg Herrn Weber gegenüber äußern, ihre Werke dürften nicht nebeneinander stehen.* Die Abneigung der beiden deutschen Großkritiker Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki ist legendär, aber mit zunehmenden Jahren, so liest man in den Tagebüchern des Ersten, durch Altersmilde abgeschwächt worden. Die große Zeit als Widersacher, sei es als Kritiker in der Gruppe 47 oder als Feuilletonisten bei FAZ und ZEIT, war da schon länger vorbei.

Eva Demski – “Ich bin der Postillion d’amour” – überbrachte mir “allerherzlichste” Grüße von Reich-Ranicki, der mir ausrichten ließ, er liebe und verehre mich und verfolge alles, was ich tue.

Tagebücher Fritz J. Raddatz – Band II – 21. März 2005

Nun soll dieser Beitrag nicht aber zur ewigen Debatte Beatles oder Stones (Beatles!), FJR oder MRR (FJR!) werden, sondern vielmehr den neuen Sammelband von Rezensionen und Essays Reich-Ranickis verhandeln: Meine deutsche Literatur seit 1945. Und doch noch ein letztes Mal das Thema: “Die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur kannst nur Du schreiben”, soll ein Freund (war es Hochhuth?) Raddatz, die Jahre gingen bereits zur Neige, gesagt haben. Geschrieben hat sie am Ende aber weder Raddatz noch Ranicki.

meine deutsche literatur marcel reich-ranickiFritz veröffentlichte vor knapp 35 Jahren einen Band Die Nachgeborenen – Leseerfahrungen mit zeitgenössischer Literatur, der bereits viel dessen enthielt was nun auch bei Marcel wiederzufinden ist und dies ist allein schon aufgrund des Umstandes, dass hier zwei aus der Top 5 deutscher Literaturkritiker die Top-Autoren ihrer Zeit besprachen. Die Stars Johnson, Böll, Walser, Grass, Koeppen, die jungen Wilden Fichte und Brasch und Reich-Ranicki aufgrund der späteren Veröffentlichung die Namen der 90er und 00er: Maron, Biller, Hermann, Regener.

Nun, ich muss offen sagen: Das Buch ist vorgeschlagen worden für das Quartett vom Kollegen Karasek, und ich habe zwar – ohne es gelesen zu haben -, habe gesagt: Gut, wenn der Karasek es unbedingt will – einverstanden! […] Um Gottes Willen, warum bin ich verurteilt, diese Art Literatur zu lesen? Ich will das nicht lesen, das ist lächerliches Niveau, das ist ein Geschwätz ohnesgleichen.

Über Sven Regeners “Herr Lehmann” – Aus dem Literarischen Quartett vom 17. August 2011

Marcel Reich-Ranicki hat auch keine zusammenhängende Literaturgeschichte geschrieben. Thomas Anz nun aber eine klug ausgesuchte Sammlung herausgegeben, die sich durchaus als solche bezeichnen darf. Nun all diese Vorrede wäre nicht notwendig gewesen um zu sagen, dass auch dieser zweite Band der posthum erschienen Artikel grandios ist. Bereits die Beiträge zur Entwicklung von der Gruppe 47 bis zur Politisierung durch die 68er liefern einen Einblick in eine Zeit, die so nur durch Zeugen dieser erfahren werden kann. Wie funktionierte die Kritik bei der Gruppe 47, wie lief das Abschiedstreffen in Saulgau, bei dem die Arbeit der Gruppe endete, ab?** Aber auch die Kritiken zu den wichtigen Werken dieser Zeit Johnsons Mutmaßungen über Jakob oder Bölls Und sagte kein einziges Wort stoßen direkt hinein in den epochemachenden Beginn der Nachkriegsliteratur. Auch enthalten, in einer anderen Fassung als im ersten Band und auch ansonsten die einzige Wiederholung, das berühmte Fehlurteil Ranickis über die Blechtrommel mit dem Verriss Auf gut Glück getrommel. Nach dem einleitenden Teil ist bereits das Überfliegen des Registers eine wahre Freude – dieses Buch ist ein perfektes Nachschlagewerk und dazu, ganz anders als Raddatz Nachgeborene, der Wissenschaft und keine Unterhaltung betrieben hat, sehr kurzweilig und unterhaltsam.

Der erste Band Geschichte der deutschen Literatur enthält selbstverständlich bereits Artikel zur Literatur nach 1945. Der Herausgeber Thomas Anz möchte vielmehr, dass sich die beiden Bände ergänzen, daher gibt es auch nur die eine Wiederholung. Anders ist im zweiten Band auch die Anordnung, nämlich nach Erscheinungsdatum des Beitrags, die es ermöglicht nicht entlang eines Schriftstellerlebens, sondern die Essays und Kritiken vielmehr im Kontext der Literaturentwicklung im Nachkriegsdeutschland zu lesen. Falls nicht doch noch eine zusammenhängende Studie Raddatz’ zu dieser Zeit auftaucht, bleibt diese Sammlung Empfehlung Nummer 1.

*Der Hinweis auf die zwangsläufige Nähe durch Alphabet und Genre wurde durch den Kunden ignoriert.
**Zur Gruppe um Hans Werner Richter kann ich auch die Aufzeichnung dieser Sendung empfehlen (solch einen Anorak hätte Raddatz natürlich nie getragen!):

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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