Moby-Dick

Spoileralarm!

Einem Kapitän wird von einem riesenhaften, bösartigen Albino-Wal das Bein abgebissen, er beschließt daraufhin diesen Wal zu töten.

Das ist der Plot von Herman Melvilles Moby-Dick* oder Der Wal! Soweit ist sie inzwischen Allgemeingut geworden, soweit dürfte sie jedem, der mit halbwegs offenen Ohren und Augen durch die Welt spaziert, bekannt sein. Doch genauso berühmt-berüchtigt wie die Geschichte sind auch der Umfang des Buches, die Umständlichkeit der Erzählung und der Detailreichtum der Erläuterungen des Walfangs.

3-446-20079-7_25427113358-10537Warum aber handelt es sich bei einem solchen Monumentalwerk um einen Klassiker, ein immer wieder erwähntes, zitiertes und gepriesenes Buch? Der Reihe nach – vom Plot jetzt zur Handlung.

Nennt mich Ismael.

Dieser, wie das Buch, berühmte erste Satz steht erst auf Seite 33**. Herzlich spät für den Anfang eines Romans, wer aber 866 Seiten Platz hat, hat auch Zeit in Fahrt zu kommen. (Warum also nicht erst einmal eine lose Sammlung von Zitaten über Wale und Walfang vorschieben?!)

Ismael also ist der Erzähler. Dieser junge Mann möchte gerne auf einem Walfänger anheuern und begibt sich daher auf den Weg nach Nantucket, die Hochburg des Walfangs, um sich dort ein Schiff zu suchen. Auf den knapp ersten 100 Seiten schildert Ismael seine Reise dorthin, wie er in einer Absteige den kannibalistischen Wilden Queequeg trifft und nach anfänglicher Scheu sein bester Freund wird. Queequeg ist Harpunier und sie beschließen gemeinsam auf der Pequod anzuheuern.

Bis hierhin handelt es sich um ein wunderbar zu lesendes Buch! Auch die ersten Szenen auf der Pequod, die Charakterisierungen der Mannschaft und das Rätsel um Kapitän Ahab, der erst auf hoher See das erste Mal auftaucht sind (achtung!) spannend!

Fluch und Segen von Moby-Dick sind die Erläuterungen. Erläuterungen zur Cetologie (Walkunde) im Allgemeinen, zu Krill, Kalmaren, zur Walleine, zum Wal als Speisefisch, zu den Köpfen von Pott- und Glattwalen, zum Inneren des Wals, zum Weiß des Wals, zu Ruhm und Ehre des Walfangs, zu verschiedenen Techniken des Walfangs, zu Sput, zum Schwanz, zum Wal als Fossil etc. pp. Dazu kommen natürlich die verschiedenen Stadien des Walfangs: das Sichten, das Wegfieren der Boote, die Jagd, die Sicherung des Kadavers, seine Verarbeitung, die einzelnen Produkte, die Resteverwertung und diverse kleine Traditionen drum herum. Wahrscheinlich liest sich dieses Abschnitt von mir schon schwierig – man stelle sich dazu aber philosophische, kulturgeschichtliche, religiöse und politische Ausführungen vor.

Natürlich sind manche Stellen schrecklich öde! Natürlich war Walfang kein Thema, mit dem ich mich freiwillig mehrere Stunden meines Urlaubs beschäftigen würde. Aber durch dieses Herauszögern der Fortentwicklung des Plots, durch die detaillierte Schilderung der Jagd entwickelt sich aber auch eine Spannung, die ich in dieser Form selten bei einem Buch erlebt habe. Dazu kommt, dass in der vielfach allegorischen Ausschmückung dieser, ich sage mal, lexikarischen Passagen das Buch auch vielfältige Deutungen ermöglicht. Die eigentliche Handlung, deren Nebenhandlung das Zusammen- und Widerspiel der einzelnen Seeleute (die Hierarchie und die gemeinsame Arbeit beim Walfang oder das Gegensatzpaar Ahab – Starbuck) all dies entwickelt tatsächlich einen Sog!

Zugegeben habe ich von den über 850 Seiten rund 150 übersprungen. Dies ist auch daher so verlockend, da die Kapitel sehr eindeutig überschrieben sind und wenn ich nach zwei Seiten den Walschwanz nicht interessant fand, war ich mir sicher, dass sich dies auch nach sechs Seiten nicht ändern würde, konnte aber auch sicher sein, dass nichts von der Geschichte zu verpassen. Die Lesbarkeit wird durch kurze Kapitel unterstützt, die kleine Lesepausen ermöglichen.

Empfehlen oder Abraten? Ich bin, wie bei der Lektüre, hin und her gerissen. Manche Stellen sind tatsächlich reichlich langweilig, das muss man einfach zugeben und auch so deutlich sagen. Andererseits fand ich auch manche der lexikalischen Ausführungen so spannend, dass ich mir auch noch den Wikipedia-Artikel zu Pottwalfang oder Amber (bzw. Ambra) durchgelesen habe. Dazu kommen die Eigenheiten des Kosmos der Pequod, wunderbare Nebenfiguren wie Pip, Queeqod, Starbuck und natürlich eine der Figuren der Weltliteratur der monomanische Kapitän Ahab. Ich verstehe daher beide Parteien, diejenigen die Moby-Dick gelangweilt, voller Unverständnis für seine Größe und Berühmtheit weglegen und die, die ihn feiern als Meilenstein der Literatur, seine Tiefe, seine Vielfältigkeit und seine Sprache lieben.

Streckenweise habe ich mit dem Abbruch geliebäugelt, aber gebissen und wieder Blut geleckt. Aber wie immer muss das jeder selbst entscheiden.

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Zu den Unterschieden in den Übersetzungen wird es nach meinem Urlaub einen eigenen Artikel geben!

* Der Titel wird in deutschen Übersetzungen (z.B. in der Manesse-Ausgabe) als Moby Dick, also ohne den Bindestrich, verwendet. Die englische Erstausgabe nutzt den Bindestrich für den Titel. Im Roman selbst wird Moby Dick allerdings ohne Bindestrich geschrieben (so in der Hanser-Ausgabe).

** Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Hanser Ausgabe in der Neuübersetzung von Matthias Jendis, 2001.

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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