Muschg ist dem Juristen eher als MuSchG bekannt, doch verbirgt sich hinter diesem Kürzel im folgenden nicht das Mutterschutzgesetz, sondern der Schriftsteller Adolf Muschg aus der Schweiz. Statt mir einen seiner Romane vorzunehmen, beginne ich mit dem anlässlich seines 80. Geburtstages erscheinenden “Versuche und Reden”.
Muschg äußert sich viel zu tagesaktuellen, politischen Themen. Europa und Globalisierung, Kultur und Freiheit, Wandel und Tod – wer sich viel äußert, setzt sich auch mal in die Nesseln, so tat es Muschg als er die Missbrauchsvorwürfe gegen den Schulleiter der Odenwaldschule mit “pädagogischem Eros nach Platon” herunterspielte. Sei es drum (jetzt will ich nichts herunterspielen, sondern nur beiseite, weil hier irrelevant, lassen).”Statt eines Vorworts” berichtet der Autor wie seiner Frau im Prado der Inhalt ihrer Handtasche durch Taschendiebstahl verlustig ging. Grund dafür war das Versinken in Gedränge und im Gemälde Las Hilanderas – Die Spinnerinnen von Velázquez. Der Autor dieser Rezension denkt nicht nur an den Schutz werdender und junger Mütter, sondern ist auch ein ungeduldiger Kunstbetrachter. Wie sehr sich Muschg um Mama sorgt weiß ich nicht, dass aber bei diesem Ehepaar ob Unaufmerksamkeit im Museum leicht zu stehlen ist, wird sehr bald klar.

Während ich einen Haken hinter Velázquez (alte Meister: check!) gemacht hätte, begleitet Muschg den Leser auf einer Reise in das Gemälde. Allein die Wiedergabe des mit leichtem Blick zu Sehenden, C.H.Beck war so klug das Gemälde auf das Vorsatzblatt zu drucken, lässt mich mein Konsumentenverhältnis zur Kunst hinterfragen. So viele Details, Stimmungen und Gesichtsausdrücke, Licht und Schatten, Szenen, Ebenen – hätte/habe ich alles nicht gesehen. Doch was steckt noch alles in diesem Bild: Der Raub der Europa von Tizian auf dem Wandteppich des Alkovens eröffnet dem Kundigen oder dem Hingewiesenen eine riesige Welt auf 220 cm x 289 cm. Denn Der Raub der Europa war das Thema das Arachne im Wettstreit um die größere Webkunst mit Athene auf einen Teppich webte. Arachne gewann und wurde in eine Spinne (aráchnē = Spinne) verwandelt, so die extreme Kurzform. Muschg hangelt sich jetzt von der Schilderung des Bildes und seiner Hintergründe zu Ovids Metamorphosen und Vergil, zu Sozialkritik, Hermann Broch, Rilke, Gottfried Keller und Eichendorff, er entfernt sich weit von der eigentlichen Analyse und schlägt doch wieder einen Bogen zurück, der scheinbar so einleuchtend folgen musste, dass er zwangsläufig erscheint.
Allein dieser 50-Seiten-Essay macht soviel Lust auf mehr, auf Die Sagen des klassischen Altertums, auf Tod des Vergil von Broch, auf Musik, Gedicht, auf Kunst, auf alte Meister – ein wilder Ritt, alles Angeschnittene will ich nun selbst erfahren, lesen, hören. Das Wunderbare daran, dass der Gelehrte Muschg den Leser nie belehren, sondern begeisteren will, als würde ein Kunstenthusiast einen Unwissenden zum Fan bekehren.
Ich werde also mehr Muschg lesen und aufmerksamer durch Museen wandeln. Was gelernt: check!