Von Nora Bossong stammen die beiden besten Gedichte meines Jahres. Das liegt zum einen daran, dass sie auf unserem Literaturspielplatz 54stories erschienen sind und ich allgemein wenig Lyrik lese, wenn es sich denn vermeiden lässt. Zum anderen liegt es aber daran, dass Nora Bossong hervorragende Gedichte schreibt. Und Essays. Und Romane. Und überhaupt.
Nun also 36,9 Grad und gleich auf den ersten Seiten bestätigt sich der Verdacht, dass die Autorin irgendwo rare Verben und Adjektive züchtet, die sie nach Bedarf ernten und servieren kann. Selten wurden in einem Buch so viele Wörter textmarkergelb unterstrichen, weil die Frauenkörper so schön schwappen und die Worte bröseln und im Erzählton eine Süffisanz schwingt, bei der man – völlig gegen die Teilnahmslosigkeitsetikette – sogar morgens in der Bahn schon grinsen kann. Stilistisch gibt es also nichts zu meckern und viel zu loben. Und auch der Inhalt ist ein klug komponierter Spiegelplot. Auf der einen Seite der italienische Kommunist Antonio Gramsci (1891-1937), ein verwachsener Revolutionär, der zwischen Verstand und Verliebtheit taumelt und schließlich in Mussolinis Kerkern dahinsiecht. In den Episoden steckt viel Recherche und ein bisschen Fiktion und Gramscis verknotete Beziehung zu den Schwestern Julia, Eugenia und Tatiana Schucht zeichnet den scharfen Denker zwischendrin als hilflosen Herzschmerzensmann.
Im zweiten Handlungsstrang tritt fast ein Jahrhundert später der leidlich renommierte Wissenschaftler Tonio Stöver auf, den schon sein Vorname zur Gramsci-Forschung verdammt und der vor seiner zerbröckelnden Ehe nach Rom zur Feldstudie flieht. Angetrieben von seinem Vorgesetzten soll Stöver ein verschollen geglaubtes Notizheft Gramscis aufstöbern, wobei der schon fast pathologische Fremdgeher jedoch die Jagd nach einem mysteriösen Lockenphantom vorzieht, das an die Schucht-Schwestern erinnert.
Im Kern von Nora Bossongs Roman finden sich zwei Männer, die an ihren Partnerinnen vorbei lieben. Gramscis Begehren, das seinen Intellekt gefährdet, wie die Frauen schon so oft den Männern den Geist vernebelt haben, existiert vor allem in Briefumschlägen und in der Ferne. Tonio Stöver dagegen ist so verliebt in das Spiel der Verführung und die Idee der Unerreichbarkeit, dass er die gegebene Präsenz seiner Frau Hedda nicht ertragen kann. Das ist ein Gedanke, der Spannung enthält, der jedoch im Roman so akribisch auserzählt wird, dass ihm spätestens in der Mitte die Luft ausgeht. Die Streitdialoge zwischen Tonio und Hedda sind choreographierte Worttänzchen, die selten über routinierte Beleidigungen hinausgehen und insgesamt ändert keine der Figuren ernsthaft etwas an ihren Haltungen. Doch während Gramsci seine Faszination durch die Gedanken zur Natur des Widerstands zumindest weitgehend behält, verblasst Tonio Stöver schließlich zu einem berechenbar eitlen Waschlappen.
Insgesamt hat der Roman etwas von einer römischen Statue: perfekt geschnitzt und doch ein wenig – man verzeihe – unter Körpertemperatur.
[Saskia Trebing]