Jedes Paar ist ein unergründliches Rätsel

Der ganze Literaturbetrieb wurde hektisch, weil Glücklich die Glücklichen ein neues Buch von Yasmina Reza erscheint. Also musste ich erstmal Bildungslücken schließen: die weltweit meistgespielte zeitgenössische Dramatikerin? Ach, Kunst, Drei Mal Leben und Der Gott des Gemetzels. Ich weiß Bescheid, aber trotzdem – Hype bitte ohne mich. Auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk fiel es mir aber doch in die Hände: Gute Kritiken, nicht allzu dick (ich will niemanden mit geschenkten Wälzern dazu nötigen Lebenszeit an meine Empfehlungen zu verschwenden, auf der anderen Seite bin ich beleidigt, wenn meine Gaben nicht gelesen werden) und hoffentlich eine angenehme Balance zwischen Anspruch und Unterhaltung.

Weil die Beschenkte meine Freundin ist, liegt dieses Buch in meiner Reichweite und, ich gebe es zu, auch ich will gerne unterhalten werden. Die 175 Seite gebe ich der Dame, Reza nicht meiner Freundin, und ihrem Hype Zeit ihren positiven, teils euphorischen, Kritiken gerecht zu werden.

Glücklich die Geliebten und die Liebenden und die auf die Liebe verzichten können. Glücklich die Glücklichen.

Jorge Luis Borges

Das vorangestellte und titelgebende Borges Zitat gleicht der Essenz des gesamten Buches. Jedes Kapitel ist aus der Sicht einer anderen Person geschrieben, die alle auf die unterschiedlichsten Wege miteinander in Kontakt stehen: Der Krebsarzt zu seinen Patienten, diese wiederum als Wartezimmerbekanntschaften untereinander, Paare, deren Kinder, Freunde und Eltern. Aus diesem Stimmengewirr entwickelt sich zwar keine übergeordnete Story, aber doch ein Rahmen der die Personen zusammenhält und so vielschichtig wie Geschichten über Generationen hinweg gerät auch der gesamte Roman.

yasmina reza glücklich die glücklichenBereits in der Eröffnungsszene, dem Streit beim Käsekauf im Supermarkt, erkennt man die Kunstfertigkeit die Reza zu einer derartig erfolgreichen Dramatikerin gemacht haben  und die sie in ihre Prosa übertragen hat. Sie schafft starke Charaktere ohne dafür Details und steckbriefliche Personifikation ausbreiten zu müssen, der Leser weißt innerhalb von einer Seite wer in diesem Kapitel vor ihm steht. Insgesamt 19 Personen lässt Reza auftreten, von denen nur die beiden Käsekäufer erneut aus ihrer Perspektive zu Wort kommen. Jede dieser heimlichen Protagonisten ist glaubhaft, steckt voller Abgründe und ehrlicher Liebe, verstrickt sich in Lügen und betrügt seinen Partner auf verschiedenste Weise.

Reza erzählt von eigenem und gemeinsamen Glück in der Partnerschaft, Sex, Einsamkeit und dem Durst nach Leben, Streit, Versöhnung und Harmonie, Wünschen und Bedürfnissen. Die Verzweiflung mit der sich beispielsweise Jeannette zum Ende hin an eine wertlose Sporttasche krallt, nur weil ihr Mann seinen Willen durchgesetzt hat und sie, wie auch immer, das letzte Wort haben möchte, steht sinnbildlich für den Versuch irgendeine Form seines Selbst in eine Beziehung einzubringen und zu behaupten. Und am Ende bleibt allen doch die Erkenntnis, dass auch der moderne Mensch mit seinen modernen Problemen am Ende dem Tod hilflos ausgeliefert ist und von ihm nichts als Asche bleibt – manchmal nicht mal die.

Nach der Lektüre dieses Buches bleibt zumindest ein bleibender Eindruck, den man zwar auch nicht mit hinüber nehmen kann, der zu Lebzeiten aber beschäftigt. Die Fülle der Erzählenden auf den nur 175 Seiten dürfte eine stark gestückelte Lektüre erschweren, bei Glücklich die Glücklichen handelt es sich aber um ein perfektes Buch einen Nachmittag in einen interessanten Kosmos einzutauchen, ein Zoobesuch beim modernen Menschen mit all seinen Sorgen und Nöten, aber auch als Zaungast des Glücks der Anderen.

Wenn ich bei mir zu Hause bin, habe ich Angst davor, dass jemand vorbeikommen und sehen könnte, wie einsam ich bin.

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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