»Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche ist auf ihre eigene Weise unglücklich.«
Die Eindrücke nach der Lektüre mancher Bücher müssen sich erst setzen bevor man eine endgültige Einschätzung abgeben kann. Bei Anna Karenina von Lew Tolstoi, in der Neuübersetzung Rosemarie Tietze erschienen bei Hanser, musste sich eigentlich nicht mehr viel setzen, ich habe mich vielmehr nur gedrückt endlich die Rezension zu schreiben, auch der Länge des Werks geschuldet. Daher nur eine wirklich kurze Inhaltsangabe.
Der Haupthandlungsstrang ist praktisch Gemeingut. Anna Karenina ist die junge hübsche Frau eines hohen Beamten und Mutter seines Sohnes. Die Kälte in ihrer Beziehung macht der sensiblen Anna zu schaffen und sie beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit Graf Wronski. Gesellschaftlich isoliert, menschlich enttäuscht und halb wahnsinnig, wirft sie sich 1200 Seiten später vor einen Zug. Parallel hierzu laufen zwei weitere Handlungsstränge: der ihres Bruders und Lebemannes, der immer wieder außereheliche Affären hat, nicht aber mit seiner Frau bricht; und die Liebesgeschichte zwischen Kitty und dem Großbauern Lewin, die, vieler Hindernisse zum Trotz, am Ende in einer glücklichen Ehe aufgehen.
Tolstoi ist ein Meister der Details und Psychologie seiner Figuren. Im Laufe des Romans lernen wir jeden mindestens einmal von innen kennen und jede Figur gleicht dem Archetyp eines Beziehungscharakters der damaligen Zeit. Ebenso detailliert werden die gesellschaftlichen Beziehungen und Gegebenheiten Russlands des 19. Jahrhunderts geschildert. Im Laufe der Literatur lernt man nicht nur Neues über Salons, Gesellschaften, Bälle, sondern auch die Verhältnisse der Bauern, die ersten Bemühungen hin zu einer Mitbestimmung des Volkes und Bemühungen des Adels die Verhältnisse ihrer Untergebenen durch Schulen und Krankenhäuser zu verbessern.
Dieser Blick auf die russische Gesellschaft bereitet dem heutigen Leser und Normalinteressierten jedoch auch Schwierigkeiten. Detailreichtum kann eben, sofern man sich nicht für die Preisfestsetzung von Wäldern oder die Bewirtschaftung von Feldern interessiert, (böses Wort) langweilen. Fand ich die Gefühlsansichten Anna, Wronskis und auch Karenins interessant, konnte ich den Sermonen Lewins über Volk, Staat, Bauern, Politik, Adel usw. usf. streckenweise nicht viel abgewinnen.
Trotzdem ist historische Bedeutung des Stoffs ist nur an den unzähligen Verfilmungen und Bearbeitungen abzulesen. Auch wenn Tolstoi sich jeglicher Bewertung von Entscheidungen seiner Charaktere enthält, drängt sich dem Leser streckenweise die (heute) “richtige” (?!) Ansicht zu den damaligen gesellschaftlichen Zwängen und z.B. der Verbannung Annas aus dieser auf: warum soll sie ausgestoßen werden, nur weil sie aus einer unglücklichen Ehe ausgebrochen ist? Eben daher ist dieses Buch ein Klassiker: gesellschaftliche Missstände werden aufgezeigt und, wenn auch nur indirekt, hinterfragt. Klassiker aber auch, weil die Sprache Tolstois eine Kraft und ein Facettenreichtum offenbart, die in dieser Form ihresgleichen sucht. (Umso erstaunlicher, dass die Neuübersetzung von Rosemarie Tietze die erste seit fast 40 Jahren ist.)
Aus diesen Gründen kann ich eine (bedingte) Leseempfehlung aussprechen. Die 1200 Seiten sind keine einfache, aber sehr gut lesbare Lektüre (auch nicht jedem Klassiker eigen). Die Ausflüge Tolstois in die Tiefen der Gesellschaft, zu der eben (leider) auch Ackerbau u.ä. gehören, sind insofern “notwendig” als nur so ein wirkliches Verständnis der Gesellschaft aus verschiedenen Perspektiven möglich ist, aus denen der Roman aber auch seine Kraft und Faszination zieht. Eine absolute Leseempfehlung gilt aber für die, die sich für Russland dieser Zeit interessieren, wenn sie ihn dann nicht schon gelesen haben.
Dem Bibliophilen in Optik und Haptik kann nur immer wieder diese Serie des Hanser Verlags ans Herz gelegt werden.