Michael Kohlhaas – Einer der rechtschaffensten zugleich und
entsetzlichsten Menschen seiner Zeit
An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbar, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtsgefühl aber macht ihn zum Räuber und Mörder.
S. 7
I. Inhalt
Der Roßhändler Michael Kohlhaas wird auf dem Weg nach Dresden zu einem Pferdemarkt angehalten, als er das Land des Junkers Wenzel von Tronka durchqueren will. Doch auch nach Zahlung des Zolls will man ihn nicht ziehen lassen. Der Burgvogt verlangt einen Pass zu sehen, den Kohlhaas bei den letzten 17 Reisen nicht vorzeigen musste. Unwirsch, aber der Obrigkeit gehorchend, verspricht Kohlhaas diesen Pass zu besorgen und auf der Rückreise vorzuzeigen. Man lässt ihn ziehen, doch nicht ohne zwei der Rappen, die für den Markt bestimmt waren, als Pfand für seine Rückkehr einzufordern. Erneut fügt sich Kohlhaas, lässt aber auch seinen Knecht Herse zurück, damit dieser die Pferde pflegen kann.
Als Kohlhaas, nach Verkauf der restlichen Gäule und der Versicherung der zuständigen Stellen keinen Pass zu benötigen, zu Tronkas Burg zurückkehrt um Knecht und Rösser abzuholen, findet dieser im Schweinekoben zwei von Arbeit ausgemerkelte Schindmähren wieder, seinen Knecht hat man halb totgeprügelt und vom Hof gejagt. Der Geprellte reicht Klage auf Restitution beim zuständigen Gericht ein und verlangt seine Pferde in dem Zustand zurückzuerhalten, in dem er sie vorher in die mangelhafte Pflege gab. Doch seine Klage wird auf Intervention von Verwandten Tronkas abgewiesen, also wendet er sich in einer Bittschrift an den Kurfürsten von Brandenburg, jedoch bearbeitet diese erneut ein Verwandter Tronkas, mit entsprechendem Ergebnis. Kohlhaas‘ Frau Lisbeth wird bei dem erneuten Versuch den Kurfürsten, nun persönlich, zu erreichen, von einer Wache desselben verletzt und stirbt nur wenige Tage später.
Hierauf ruft Kohlhaas seine Knechte zusammen und bewaffnet sie. Gemeinsam reiten sie zur Burg Tronkas und brennen diese bis auf die Grundmauern nieder, hierbei kommen auch Frauen und Kinder ums Leben, doch der gesuchte Junker hatte sich bereits vorher abgesetzt. Auf der Suche nach diesem steckt die marodierende Bande dreimal Wittenberg in Brand und besiegt den eingreifenden Prinzen von Meißen. Nun interveniert sogar Martin Luther, der für Kohlhaas freies Geleit erwirkt, so dass dieser erneut seinen Fall vortragen kann, wenn nur die blutige Rache einstellt wird. Erneut geht der Prozess nur schleppend voran, während ein ehemaliger Mitstreiter Kohlhaas‘ sich als dessen Statthalter ausgibt und weiter plündernd und brandschatzend die Bevölkerung tyrannisiert. Kohlhaas wird daraufhin erneut festgehalten und will sich durch seine alten Kameraden befreien lassen, was allerdings rechtzeitig entdeckt und vereitelt wird. Als er zum Tod verurteilt wird, reklamiert der vorher untätige Kurfürst von Brandenburg den Roßhändler als seinen Untertan und lässt ihn nach Berlin bringen.
Auf dem Weg dorthin trifft der Kurfürst von Sachsen auf Kohlhaas und fällt bei der Entdeckung einer kleinen Bleikapsel um dessen Hals in Ohnmacht. In dieser befindet sich die Vorhersage einer Wahrsagerin, die den Namen des letzten Regenten seines Geschlechts und das Jahr seines Sturzes befindet. Alle Versuche vorher an diese Weissagung zu gelangen waren vergeblich. Indessen zieht der Kaiser den Kohlhaaschen Fall an sich und verurteilt diesen zum Tode.
Auf dem Schafott erfährt Kohlhaas von der Verurteilung des Junkers Tronka zu einer zweijährigen Haftstrafe und erhält alles wieder was er „auf der Tronkenburg gewaltsamer Weise eingebüßt […]: Rappen, Halstuch, Reichsgulden, Wäsche, bis auf die Kurkosten sogar für [den] bei Mühlberg gefallenen Knecht Herse.“ Bevor Kohlhaas seinen Kopf vor dem Scharfrichter senkt, öffnet er die Bleikugel, liest den Zettel und schluckt ihn, wohlwissend, dass dieser ihm, bei entsprechendem Handel mit dem Kurfürsten, das Leben hätte retten können.
II. Deutungsmöglichkeiten
Die Novelle handelt von der Unterscheidung von Recht und Unrecht, Gut und Böse. Sie dreht sich um die Themen Gerechtigkeit, Strafe und die Rechtfertigung von Rache und die Möglichkeit von der Vergebung, aber auch um die Hilflosigkeit des Einzelnen bei Korruption und Willkür. Allein die Erörterung des Feldzugs, den Kohlhaas beginnt, füllt Bücher, wurde in unzähligen literaturwissenschaftlichen, soziologischen und juristischen Abhandlungen bearbeitet. Die zum Hauptplot hinzutretente Handlung um die Prophezeiung der Wahrsagerin wird hierbei meist ausgeklammert, um die jeweiligen Rahmen nicht zu sprengen. Selten gibt es wohl eine Novelle von 110 Seiten, die derartig vielen Deutungsmöglichkeiten zugänglich ist.
Abgesehen von sämtlichen, mannigfaltigen Herangehensweisen der Literaturwissenschaft an den Text an sich und über diesen hinaus. Bietet die Novelle Historikern die historische Figur und Vorlage des Hans Kohlhase, die angedeuteten innerdeutschen Konflikte, den zwischen Sachsen und Polen und die Einbindung Martin Luthers Raum für Analysen. Juristen, Philosophen und Soziologen können Fragen nach Bestehen und Aufkündigung bzw. Widerstandsrecht innerhalb eines Gesellschaftsvertrags stellen. Selbst Psychologen und Medizinern könnte der gesteigerte Wahn des Kohlhaas Anlass zur Betrachtung bieten.
Den Vorgaben des Projekts #LawAndLit folgend soll es hier aber nur um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit gehen.
III. Was will Kohlhaas erwirken?
Michael Kohlhaas fordert vehement und wiederholt Resitution für den erlittenen Schaden. In concreto für den Schaden an den beiden Pferden, für die von seinem Knecht Herse zwangsweise zurückgelassene Wäsche, die Reichsgulden und die Kurkosten, die diesem aufgrund der Prügel entstanden sind.
Kohlhaas will, dass die Pferde in den ursprünglichen Zustand versetzt, also gefüttert und gepflegt, werden. Während heute die Geschädigten wohl meist nach Schadensersatz in Form des Geldersatzes schreien würde, möchte Kohlhaas klassische Naturalrestitution; auch weil so der Junker gezwungen würde, tätig zu werden, statt einfach nur die Schatulle zu öffnen.
Obwohl Kohlhaas nach heutigem Recht auch die Kosten der Rechtsverfolgung ersetzt verlangen könnte, ist er doch nicht so dreist dem Junker den Unterhalt einer marodierenden Bande in Rechnung zu stellen.
Die Kosten für die Heilbehandlung sind als Schadensersatz in Geld zu leisten, insoweit völlig unproblematisch. Problematisch dagegen, dass Kohlhaas und nicht Herse, der Knecht selbst, diese geltend macht, denn nur diesem steht der Ersatzanspruch zu, nach dessen Tod seinen Erben. Der Roßhändler selbst wäre für diesen Anspruch nicht prozessführungsbefugt. Bevor ich aber gezwungen bin über eine Prozessstandschaft nachzudenken, gibt Kohlhaas vor seiner Hinrichtung das Zurückerlangte der Mutter Herses zurück.
IV. Die Möglichkeiten eines modernen Kohlhaas statt des Griffs zur Klinge.
[Er…] erfuhr, daß die Klage, auf eine höhere Insinuation, bei dem Dresdner Gerichtshofe, gänzlich niedergeschlagen worden sei. […] daß der Junker Wenzel von Tronka mit zwei Jungherren, Hinz und Kunz von Tronka, verwandt sei, deren einer, bei der Person des Herrn, Mundschenk, der andre gar Kämmerer sei.
S. 21
Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör; Art. 103 Abs. 1 GG. Was heute so einfach klingt, wurde Kohlhaas durch Korruption und Klüngelei verwehrt. Nicht auszudenken, dass es auch im heutigen deutschen Rechtsstaats zu solchen Rechtsbeugungen kommt. All die heute üblichen Möglichkeiten im Zivilprozess durch Stellungsnahmen, Beweisanträge und den eigenen Vortrag Einfluss zu nehmen, bleiben Kohlhaas allein dadurch verwehrt, dass es zu keinem Prozess kommt. Wird heute in einem Prozess ein Urteil gefällt, sind hierzu, unter entsprechenden Umständen, Berufung, Revision, (sofortige) Beschwerde, schlussendlich auch die Verfassungsbeschwerde zulässig. Und was sollte Kohlhaas machen? Na, den Richter gem. § 42 ZPO ablehnen. Wenn es wirklich nicht zu einem Prozess kommt, weil in der Verwaltung geklüngelt wird, sollte man mal in §§ 20, 21 VwVfG schauen und das Verwaltungsgericht den Laden überprüfen lassen.
V. Moderne Formen
Auch heutzutage gibt es immer wieder moderne Formen des zivilen Widerstands. Rund um die Rote Flora in Hamburg fühlen sich Menschen in ihren subjektiv als rechtmäßig empfundenen Besitzansprüchen beschnitten. Ähnliches Beispiel sind Krawalle im Umfeld von Fußballspielen. Auch hier bilden meist „ich will aber“- oder „ihr könnt doch nicht“-Argumentation die Grundlage für subjektiv empfundene und mit Waffen zu verteidigende Rechte.
Immer wenn sich Einzelne oder auch einzelne Gruppen einem diffusen Unrecht von oben ausgesetzt fühlen, kann nur der Staat selbst diese Missstände ausräumen. Ein transparentes Rechtssystem, die Offenlegung von eigenen Fehlern und der Dialog sollten hier, auf beiden Seiten, stets das Mittel der Wahl bleiben, statt der Griff zum Knüppel, denn die haben beide Seiten allzu schnell zur Hand.
Die Seitenzahlen beziehen sich auf „Heinrich von Kleist Werke und Briefe in vier Bänden“ herausgegeben von Siegfried Streller, Band III Erzählungen, Gedichte, Anekdoten, Schriften, Insel Verlag, 1. Auflage 1986