Ferdinand von Schirach hat mich bereits mehrfach enttäuscht. Alle Fragen zu seinem Großvater Baldur hat er abgeblockt. Er hat sich von dem Hype um seine Person und (vor allem) seinen Schreibstil derart blenden lassen, dass er meinte einen Roman auf den Markt werfen zu können, der einer Verarsche am Leser gleichkam. Eine papiergewordene Enttäuschung nach deren Lektüre ich so aufgebracht war, dass ich das erste Mal in Internet- und Vor-Blog-Zeiten meine Meinung im Netz einreichte (die Amazon allerdings nie veröffentlich hat). Der Fall Collini ist stolze 192 Seiten dick, von denen aber durch Umbruch und Leerseiten vor jedem neuen Kapitel, 19 x 2 = 38 Seiten in Abzug gebracht werden müssen. Dazu ist die Schriftgröße für das erste Lesealter; der Roman so locker in unter einer Stunde durchgeschmökert, der Plot am Ende abgehackt. Sämtliches Potenzial der Geschichte verschenkt, sowie sämtliche durch die ersten beiden Kurzgeschichtenbände erarbeiteten Sympathiepunkte bei mir.
Nun kommt mit Die Würde ist antastbar ein neuer Schirach heraus, in dem schlicht alte Spiegel Essays neu aufgegossen werden. Kein Beitrag wurde neu geschrieben, also nur der Versuch neues Geld mit alter, bereits bezahlter, Arbeit zu verdienen. 134 Seiten gibt es für 16,99 €, wieder ein stolzer Preis für kleines Format gefüllt mit großer Schrift. Aber geben wir ihm eine Chance.
Baldurs Bürde
Sofort springe ich zu dem Essay über den Großvater und der Autor gewinnt wieder Pluspunkte. Offen, fast intim, schildert er die Probleme die ihm seine Herkunft, sein seltener und entlarvender Name bereiten, die Scheu vor dem Fremden, dem Opa, der im Gefängnis war und die offenen Fragen.
Warum ziehen ihn Schläger, rasierte Stiernacken und Bierkeller an? Wieso begreift er, der gerne über Goethe schrieb und Richard Strauss zum Patenonkel eines Sohnes machte, nicht schon bei der Bücherverbrennung, dass er jetzt auf der Seite der Barbaren steht? War er zu ehrgeizig, zu ungefestigt, zu jung? Und für was wäre das überhaupt wichtig? “Was war mit mir?”, sollen seine letzten Worte gewesen sein – eine gute Frage, aber keine Antwort.
Der Enkel beschreibt die Beklemmungen den Journalisten gegenüber: Sie denken, ich wiche aus – und sie haben damit recht. Ich kann keine Antworten geben: Ich kannte ihn nicht, ich konnte ihn nichts fragen, und ich verstehe ihn nicht. Und auch wenn am Ende weiter viele Fragen offen bleiben, hat Schirach darüber gesprochen. Und auch wenn er keine Antworten geben kann, hat er doch immerhin zugegeben, dass die Verbrechen des Verwandten nicht erklären kann. Das Eingestehen der eigenen Hilflosigkeit, macht weitere Fragen überflüssig. Eine frühere derartige Stellungnahme hätte ihn vielleicht schon eher erleichtern können, ein mutiger Schritt bleibt sie trotzdem.
Kritik aus dem Inneren des SystemsUnd wenn von Schirach dann über seinen (ehemaligen) Brotberuf, die Juristerei, schreibt, läuft er zur Hochform auf. Er schildert und erklärt aktuelle Debatten über das Urheberrecht an Büchern, über die PID oder die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft. So kritisiert er z.B. sehr deutlich die Arbeit derselben im Verfahren gegen den Abgeordneten Jörg Tauss. Und man merkt: Juristen, die, anders als viele ihrer anderen Standesvertreter, schreiben können, und den Betrieb kennen, sollten sich viel häufiger und deutlicher zu Wort melden. Leuchtendes Beispiel hierfür ist etwa auch Thomas Fischer, der Vorsitzende Richter des 2. Strafsenats beim Bundesgerichtshof, der in seinen Artikeln deutlich Stellung bezieht. Weder mit Fischer noch mit von Schirach muss man immer einer Meinung sein, vielmehr fordern ihre Texte dazu auf sich des eigenen Verstandes zu bemühen. Diese Kritiker aus dem Inneren des Systems machen dieses erst transparent, lassen auch den Laien nicht ahnungslos vor denen da oben erstarren.
Trotz der ihm gewährten Aufmerksamkeit gibt sich Schirach aber nicht der Versuchung hin sich in Zustimmung zu sonnen, er bleibt unbequem und kritisiert das Urteil im Falle des Polizisten, der dem Kindermörder Gäfgen Folter androhte. Viel einfacher, boulevard- und stammtischgerecht wäre es gewesen, die Drohung hier für rechtmäßig zu erklären, hängt den Kinderschänder zu rufen, aber Schirach erklärt warum dies eben nicht geschehen darf. Er nutzt seine Bekanntheit für Aufklärung in einem Bereich, der vielen sonst verschlossen bliebe.
Aufklärung für Nichtjuristen
Und auch wenn alles freiwillig war, ist es gar keine Frage: Kachelmanns moralische Schuld wiegt schwer. Aber ein Strafprozess ist nun mal keine Messe, nicht jede Gemeinheit ist strafrechtliche Schuld.
Schirach öffnet Augen, er erklärt den Rechtsstaat und sein Fundament, wenn er über die vielen psychatrischen Gutachten im Vergewaltigungsprozess um Jörg Kachelmann und die damit einhergehenden Zweifel um die Glaubwürdigkeit der Zeugin schreibt: Auch das heißt natürlich nicht, dass die Zeugin nicht vielleicht doch die Wahrheit sagte, aber es bedeutet, dass es viele Zweifel gibt – zu viele, als dass man den Angeklagten nur wegen der Aussage der Zeugin wieder in Gefängnis stecken könnte. Hier bringt er alles was es dazu zu sagen gibt auf den Punkt, das ist Jura für Nichtjuristen in Reinform. Aber ob es dem Nichtjuristen immer reicht, um die wichtigen rechtsstaatlichen Prinzipien, die dahinter stehen, zu verstehen, weiß ich nicht, wage es leicht zu bezweifeln.
Der Autor hat alle Argumente zu Ende gedacht, nur schreibt er manchmal nicht genug von seinen zum Teil brillianten Gedanken auf. Es bleibt sein Problem, dass er einfach zu sehr verkürzt, auch an Stellen, denen dieser Stil nicht bekommt.
Wir wünschen uns eindeutige Beweise, wir sehnen uns nach einer Klarheit ohne Zweifel, nach einer Welt, in der die Dinge schwarz oder weiß sind. Aber so ist die Wirklichkeit nicht. Strafprozesse sind kompliziert, ihre Wahrheit ist formell und selten einfach, sie wird immer nur schwer zu ertragen sein. Am Ende können wir uns nur auf die Strenge der Strafprozessordnung verlassen, sie ist immer noch das Beste, was wir haben, um die Schuld eines Menschen zu beurteilen.
Von Schirach bezieht in seinen Essays grundsätzlich deutlich Stellung und hat dazu noch die Gabe kompliziert erscheinende Wahrheiten in zwei Sätze zu gießen. Nur bleibt manchmal eben die Frage offen, ob nicht doch für den Leser ohne Vorbildung weiterführende Erläuterungen nötig wären.