Ich habe immer unglaublich fähige Leute in der Hinterhand, die ich mal für einen Gastbeitrag anhaue und habe endlich meinen alten Schulfreund Christoph dazu gebracht für 54books Die Schlafwandler bzw. The Sleepwalkers von Christopher Clark zu rezensieren:
Nach seiner hervorragenden Preußen-Chronik hat der australische Historiker Christopher Clark ein weiteres, viel beachtetes Werk vorgelegt. In “The Sleepwalkers” (deutsch: “Die Schlafwandler”) widmet sich Clark einem Ereignis, das uns im Zuge des bevorstehenden Super-Gedenkjahres in den kommenden Monaten noch ausführlich beschäftigen wird. Es geht um den ersten Weltkrieg, der viel zitierten ‘Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’.
Genauer gesagt beschäftigt sich der Autor mit der Genese dieses infernalischen Massenschlachtens und den europäischen Staaten, die als Schlafwandler zwar wach, aber zugleich auch blind für den von ihnen zu verantwortenden Horror auf den Schlachtfeldern Europas waren. Clarks umfassende Erzählung (knapp 900 Seiten in der deutschen Übersetzung) hört genau dort auf, wo der Schlachtendonner beginnt. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – dürfte es schwer werden, in der nächsten Zeit eine spannendere Neupublikation zum Themenkomplex 1. Weltkrieg zu finden. Denn die Kriegsvorgeschichte ist ein faszinierender Stoff!
Das Buch bietet ein Panorama der europäischen (Staaten-)Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei richtet sich der Blick vor allem auf die “Big Five” (England, Frankreich, Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn) und deren diplomatische Beziehungen im Vorfeld des Krieges. Hierbei wird deutlich, wie undurchsichtig das Machtgefüge dieser Zeit war. Jeder Staat war – trotz seiner Bündnisverpflichtungen – ein autonomer Akteur, der seine Mitspieler mit großem Misstrauen beäugte. Hinzu kamen sich stets wandelnde innenpolitische Machtkonstellationen, enormer Einfluss einzelner Personen und verschiedene Machtzentren in den jeweiligen Staaten (daher auch die Kapitel “Wer regiert in St. Petersburg/Berlin/Paris?”).
Aufgrund dieser verworrenen Konstellation hält Clark das Vorspiel zum 1. Weltkrieg für das komplexeste Ereignis der modernen Geschichte. Sicher eine steile These, die aber zweifellos von der Erzählung untermauert wird. Fehleinschätzungen der Positionen der Anderen waren jedenfalls vorprogrammiert – und letztlich ein wichtiger Auslöser der Katastrophe, wie Clark vor allem im Falle Deutschlands zeigt. Clark gelingt es auch, scheinbar periphere Ereignisse der Vorkriegszeit zu beleuchten. Denn wer hat schon wirklich einmal vom Königsmord von Belgrad, dem italienischen Angriff auf zwei osmanische Provinzen oder den beiden Balkankriegen von 1912/13 gehört? Obwohl auf den ersten Blick nebensächlich sind diese Kapitel ein wichtiger Teil des Buches, da sie zum Gesamtbild der Epoche beitragen (auch wenn, zugegeben, die Feinheiten der serbischen Innenpolitik zu Beginn des Buches doch ein paar Längen haben).
Clark beweist, dass er nicht nur ein hervorragender Historiker ist, der sich durch abertausende Quellen wühlen kann und dabei trotzdem die Materie im Blick behält, sondern auch über erzählerische Qualitäten verfügt. Dies zeigt sich in den vielen kleinen Porträts, die er von den zentralen Figuren der Zeit entwirft. Besonders gelungen, weil komisch und erschreckend zugleich, sind die Ausführungen über Conrad von Hötzendorf, dem Generalstabschef Österreich-Ungarns, der ein episodenreiches Liebesleben hatte und auf neue internationale Situationen stets gleich mit dem Ausruf “Krieg!!!” reagierte.
Besonders gut hat mir die Beschreibung der Julikrise nach dem Attentat auf Franz Ferdinand und Sophie Chotek gefallen, die sich wie ein historischer Krimi liest, der immer wieder zwischen den Handlungen der verschiedenen Staaten und Akteure hin und her springt. Clarks große Leistung ist, die komplizierten Verflechtungen der europäischen Diplomatie aufzudröseln und zu einer spannenden Erzählung zusammenzufügen. Interessant sind am Ende die Ausführungen zur Kriegsschuldfrage. Clark entzieht sich hier einem klaren Urteil. Zum einen daher, weil dieses Buch diese Frage gar nicht beantworten möchte (das “Wie konnte es passieren?” steht im Vordergrund). Zum anderen, da aufgrund der so wahnsinnig komplizierten Sachlage diese Frage nur schwer zu beantworten ist. Besonders schön fand ich zu diesem Punkt folgende zwei Sätze, die ich im Original zitieren möchte:
“The outbreak of war in 1914 is not an Agatha Christie drama at the end of which we will discover the culprit standing over a corpse in the conservatory with a smoking pistol. There is no smoking gun in this story; or, rather, there is one in the hands of every major character.”
In diesen Worten zeigt sich die Tragik der Ereignisse unmittelbar vor Kriegsausbruch. Statt auf eine Verhinderung des Krieges hinzuwirken, waren die beteiligten Staaten eher bestrebt, Gründe für die eigene Bedrängung durch andere zu finden. Unschuldig, das wird nach der Lektüre des Buches deutlich, ist in dieser Geschichte niemand. Die Einschätzung, wie sich die Schuld auf die einzelnen Akteure verteilt, überlässt Clark dem Leser selbst.
Christoph May hat Publizistik, Amerikanistik und Politik in Mainz und Iowa studiert und war Sportler der Woche der Hersfelder Zeitung. Er absolviert gerade sein Volontariat bei einer Kommunikationsagentur.