Wann haben Sie sich das letzte Mal Gedanken über die Arbeit eines Biographen gemacht? Wie schreibt man ein Buch über jemanden, über den anscheinend schon alles gesagt ist? Überlegungen und Mutmaßungen anlässlich von Das unmögliche Exil – Stefan Zweig am Ende der Welt von George Prochnik.
Ich will eine Biographie schreiben. Über Stefan Zweig.
Ich beginne also zu recherchieren und Quellen zu sammeln. Heute ist das natürlich alles viel einfacher, Recherche nennt man es schon, wenn man bei den Google-Ergebnissen auf Seite 2 geklickt hat. Die Basis für mein Projekt lege ich also im Internet, nicht in einer Bibliothek oder einem Archiv. Meine Google-Suche ergibt zu „Stefan Zweig“ (in Anführungszeichen) 449.000 Ergebnisse. Das war abzusehen. Denn möchte ich mich mit einer verstorbenen Person, die seit fast 75 Jahren tot ist und deren Leben ich für heute noch so interessant halte, dass ich meine ein Buch darüber verfassen zu müssen, fanden das sicher auch schon andere. Dazu gibt es eine Biographie von eigener Hand des Porträtierten (Die Welt von Gestern). Dazu kommen Tagebücher, Briefe und eigene literarische Werke, hierzu wiederum Zeitzeugenberichte, möglicherweise findet man noch einen lebenden Zeitzeugen (in diesem Falle eher unwahrscheinlich).
Aber wie unvergleichlich diesen immerhin leblosen Dingen war doch ein Mensch, ein atmendes, lebendes Wesen, das noch Goethes dunkles, rundes Auge bewußt und liebevoll angeblickt […]. Aber war sie nicht selbst das eigentliche Wunder mit ihrer Existenz, diese alte Dame, ein Biedermeierhäubchen über dem schon dünnen, weißen Haar, deren zerfalteter Mund gerne erzählte, wie sie die ersten fünfzehn Jahre ihrer Jugend in dem Hause am Frauenplan verbracht, das damals noch nicht wie heute Museum war und das die Dinge unberührt seit der Stunde bewahrte, seit der größte deutsche Dichter sein Heim und die Welt für immer verließ?
Stefan Zweig – Die Welt von Gestern
Ich werde also aus der Fülle von losen Informationen Bekanntes in Wahrheit oder Schwindel unterscheiden und im besten Fall noch Unbekanntes ergründen müssen. Alles was ich daraus schaffe, wird im Ergebnis eine Nacherzählung sein, beruhend auf den von mir zu Tage gebrachten und/oder verifizierten Fakten. Habe ich mir nun aber jemanden als Objekt herausgesucht, der seine mittelprächtige Prominenz über Jahre konserviert hat, wird es schon sehr schwer wirklich Neues aufzutreiben. Nur eine veritable Wühlmaus wird, sagen wir zum erwähntem größten deutschen Dichter, breaking news ausgraben können.1
Ideensammlung
Die allgemeinen Fakten liegen alle schon ohne mein Zutun auf dem Tisch. Da scheint keine große Notwendigkeit für weitere Forschungen zu bestehen. Der Lebenslauf ist nicht nur grob umrissen. Deutschsprachige Biographien gibt es zumindest eine Handvoll empfehlenswerte2, von einer weiteren sehe ich daher vorerst ab. Es muss ein besonderes Spezialgebiet zum Thema sein, wenn es mir denn genug Stoff zu liefern scheint. Spontane Ideen (Fußnoten erst nach der Niederschrift herausgesucht)
- Stefan Zweig und seine frühen Jahre
- Stefan Zweig und seine Zeit in Salzburg
- Stefan Zweig und seine Zeit im Exil3
- Stefan Zweig als Autographensammler4
- Stefan Zweig als gesellschaftliche Person und als Zeitzeuge5
- Stefan Zweig als Pazifist
- Stefan Zweig als Europäer6
- Stefan Zweig als Mäzen, Wohltäter und Helfer7
- Stefan Zweig als säkularer Jude8
- Stefan Zweig und seine Sexualität9
Stefan Zweig (1881 – 1942)
Das sind auf die Schnelle Themen, die problemlos über 150 Seiten füllen könnten. Von Stefan Zweig ist ein umfassender Briefwechsel (von 1897-1942 [allein der von 1932-1942 umfasst vier Bände]) und eine Menge von Tagebuchnotaten (1912-15, 1917-18, 1931, 1935, 1936, 1939 und 1940) erhalten, mit Geduld und Fleiß wird man hier also bereits aus den Primärquellen anständiges zusammenzimmern können.10
Je spezieller ich aber in meiner Themenwahl werde, desto schlechter wird sich das Buch wahrscheinlich verkaufen lassen, dann wäre es eher etwas für den Wissenschaftsmarkt. Weil ich annehmen muss, dass mein Publikum, anders als in der Wissenschaft, keine Vorbildung zu dem Thema hat, werde ich aber auch hier um eine gewisse Einbettung meines Themas in den zeitlichen Kontext und den des Lebens nicht herumkommen. Also doch wieder ausgetretene Pfade, um die ich so oder so nicht herumkomme.
Nur in der Wahl meiner Sprache bin ich dann wirklich frei. Der Aufbau scheint wiederum – schon wieder – durch die eigentlich Biographie festgelegt, klar ich kann ein bisschen hin- und herschieben, aber ein Leben wird wohl meist am besten am Stück erzählt. Ehrlich gesagt, stehe ich jetzt ziemlich ratlos vor meinem Projekt: ich habe ein Thema gewählt, aber so richtig zu forschen gibt es nichts mehr, ich muss mich einlesen, neu ordnen und eigene Schwerpunkte setzen, das ist klar, dann eine Sprache finden, aber was ist der Grund für eine neue Behandlung des Themas?
[Die Autobiographie] ist eine Quelle von vielen. Aber natürlich eine sehr wichtige, weil es eben das Selbstbild der Person ist, wie sie sich sieht und wie sie gewesen oder annähernd gewesen ist. Sie bietet aber auch einen gewissen Faden zur Orientierung, gibt aber natürlich auch immer wieder wunderbare Möglichkeiten die Person zu hinterfragen, weil die Autobiographie ein Genre ist, in dem viel gelogen wird, das liegt in der Natur der Sache. Gerade aber indem man diese Retuschen auch aufdeckt, indem man nachweist, das hat sie jetzt aber schön getürkt, kann man ganz viele weitere Aufschlüsse über diese Person gewinnen.
Oliver Hilmes im Gespräch mit 54books
Warum schreibe ich kein neues Buch zu Stefan Zweig, lese aber eines?
Ganz sicher hat sich George Prochnik vor Beginn der Niederschrift von Das unmögliche Exil – Stefan Zweig am Ende der Welt ähnliche Fragen gestellt, Ideen und Material gesammelt. Der Grund für dieses Buch wird bereits im Vorwort erläutert. Sein Vater lebte, wie Zweig, in Wien und wurde von dort, wie Zweig, durch die Nationalsozialisten vertrieben. Aus diesem Grund, der Spurensuche anhand zweier Flüchtlingsleben, erwachsen die Ambitionen Prochniks, daher auch sein Schwerpunkt auf dem Exil, das bei Zweig bereits 1934 beginnt.
Stefan Zweig lebte seit 1934, nachdem sein Haus auf dem Kapuzinerberg in Salzburg als Schikane nach Waffen durchsucht wurde, in England. Von London zog er 1939 nach Bath. Nachdem Großbritannien in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war, fürchtete Zweig die Internierung als feindlicher Ausländer und reiste nach einer längeren Station in und um New York nach Brasilien, wo er sich am 23. Februar 1942 das Leben nahm.
Manchen Leben wenden wir uns zu, weil ihr Genie – ob schöpferisch oder unheilvoll – dazu reizt, ihr Geheimnis zu ergründen. Und dann gibt es die Charaktere, die unser Interesse wecken, weil sich in ihnen wie in einem Brennglas bedeutsame Zeiten bündeln.
George Prochnik
Stefan Zweig war bereits lange bevor er ins Exil ging ein hochangesehener, bestens vernetzter und nicht nur wohlhabender, sondern reicher Autor. Er unterstützte zahlreiche Freunde, darunter etwa Joseph Roth, mit Geld, Gefälligkeiten und Fluchthilfe. Aber er war spätestens Ende der 30er Jahre ein tieftrauriger, gebrochener Mann, der von Europa und seinen Bürgern enttäuscht, deren Taten schwer erschüttert war. Stefan Zweig war des Lebens müde. An keiner der gewählten (Zwischen-)Stationen kam er wirklich an, nirgends fühlte er sich zu Hause. An seiner Seite stets seine zweite Frau Lotte, in der Lebensgeschichte Zweigs sicher die tragischste Figur.
Für Das unmögliche Exil hat Prochnik akribisch sämtliche Primärquellen zu dieser Zeit ausgewertet und bezieht sich zuweilen doch zu ausführlich auf diese. Nicht, dass es ein Fehler sei sie zu zitieren, im Gegenteil, doch erscheint in vielen Teilen das Buch doch zu sehr zu einer Nacherzählung dessen zu werden, was der Autor sich anlas. Dazu stören die persönlichen Bezüge des Autors. Wie Fremdkörper erscheinen sie im Text, und plötzlich erfährt man welcher dem Leser bisher völlig unbekannte Menschen wann, wo, an was dachte als er Apfelkuchen roch.
Gleiches gilt für die Treffen mit Zeitzeugen. Die 1929 geborene Nichte Eva Albermann, die bei den Zweigs in Bath lebte, und in deren Londoner Besitz sich die größten Teile des Nachlasses Zweigs befinden, traf Prochnik. Doch hier wird Das unmögliche Exil zuweilen etwas zu belanglos, statt die großen Fragen dieser Zeit in Zweigs Leben (Wie arbeiten ohne Material, wie den „Verlust“ der Sprache, der Veröffentlichungsmöglichkeiten ausgleichen, bin ich nur traurig oder bin ich depressiv, wie geht es der 30 Jahre jüngeren Frau in concreto mit den Umständen) aufzuwerfen oder sogar zu beantworten, wird berichtet wer wann den Rasen manikürt hat. Eva Albermann ist in der Zweig-Forschung eine gern genutzte Quelle, ein Treffen war daher für den Autor sicher Pflicht, aber über alles Naheliegende kam er offenbar nicht hinaus.
Gerade die Person der Lotte Zweig wird – wieder einmal – sträflich vernachlässigt. Scheinbar erst durch die Veröffentlichung des Briefwechsels Ich wünschte, dass ich Ihnen ein wenig fehlte 2013, aus dem Schatten der ewig kränkelnden zweiten Frau getreten, wäre hier mehr Raum für Innenansichten gewesen, die über das Kochen auf einem primitiven Herd in Brasilien hinausgegangen wären. Das unmögliche Exil zerfließt beim Lesen leider immer mehr in einen Geschichtsbrei, dem die Struktur verloren geht. Alltäglicheres wäre leicht zu streichen, Wichtigeres dringt hinzuzufügen gewesen.
Für jeden der Interesse an Leben und Werk Stefan Zweigs hat, kann ich nur eine Mitgliedschaft in der Internationalen Stefan Zweig Gesellschaft empfehlen.
- Man muss sich allein vor Augen führen, dass es ein Werk mit dem, angesichts des Titels Goethes Autobiographie, grandiosen Namen „Sichtung und Klarheit“ von 1999 gibt, das sich nur mit den damals letzten 15 Jahren der Sekundärliteratur befasst. Es gibt Einführungen, Werke zu Goethes Politik, psychologischen Aspekten, einzelnen Zeitabschnitten oder Begegnungen (Napoleon), zu Goethe als Naturkundler und Wissenschaftler, Bildbände und Spezialnummern wie Goethe und der Islam oder Goethe als Briefeschreiber, dazu zu Goethes Gedanken über den Tod oder – mein Liebling – ein Buch über seine äußere Erscheinung.
- u.a. Oliver Matuschek: „Stefan Zweig – Drei Leben“; Kerschbaumer: „Stefan Zweig – Der fliegende Salzburger“; Prater: „Stefan Zweig – Eine Biographie“
- Görner/Renoldner (Hrsg.): „Zweigs England“; Dines: „Tod im Paradies“; Prochnik „Das unmögliche Exil“; Gelber: „Exil und Suche nach dem Weltfrieden“; Renoldner (Hrsg.): „Abschied von Europa“; Schwamborn: „Die letzte Partie – Stefan Zweigs Leben und Werk in Brasilien“
- Matuschek: „Ich kennen den Zauber der Schrift“
- Eicher: „Stefan Zweig im Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts“; Dines (Hrsg.): „Stefan Zweig und sein Freundeskreis – Sein letztes Adressbuch 1940-1942“
- Brügge (Hrsg.): „Stefan Zweig und Europa“; Arens: „Der große Europäer Stefan Zweig“
- Buchinger: „Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent“
- Gelber: „Stefan Zweig, Judentum und Zionismus“
- Weinzierl: „Stefan Zweigs brennendes Geheimnis“
- Weinzierl reichte allein die kryptische Abkürzung „schaup“ in den Tagebüchern für ein Buch und ein kleines Skandälchen.