Kennt ihr noch den Witz aus StudiVZ-Zeiten? Dort gab es diese Gruppen, in denen man sich mit Gleichgesinnten austauschen konnte, deren Namen aber irgendwann nur noch als Statement unterhalb des Profils standen. Dabei herrlich dumme Sprüche, die heute auf Frühstücksbrettchen gedruckt werden. „Wo bleibt der Prinz mit dem Gaul?“ – „Wenn ich groß bin, werde ich Prinzessin“ – „Kann mir mal bitte jemand das Wasser reichen?“ Eine dieser Gruppen, die für erlesenen Humor von Profilbesitzer und Gruppengründer standen, hieß „Ich ficke für den Weltfrieden“. Angeblich, so wurde gemunkelt, lasen Personaler vor Vorstellungsgesprächen das Profil der Bewerber, sahen sich die Partyfotos an und sortierten so bereits großzügig aus. Eine junge Dame wurde also nach einem als bisher erfolgreich wahrgenommenen Gespräch vom Gegenüber gefragt, was sie persönlich denn für den Weltfrieden tue – er hatte ihre StudiVz-Gruppen gelesen und eindeutig mehr Humor als diverse Gruppengründer. Die Geschichte ist allerdings auch zu lang für ein Frühstücksbrettchen.
Selbe Zeit in einem Hörsaal in Münster. Ein Juraprofessor, der sich das Internet und dessen Recht auf die Fahnen geschrieben hatte, klitterte das StudiVZ-Profil einer Erstsemesterin, um seinen Studenten im Schwerpunkt eindrucksvoll zu demonstrieren wie leicht man an Informationen über Jedermann gelangt, die dieser auch noch freiwillig ins Internet gestellt hatte. Die Fotos, die Kommentare unter diesen und hirnlose Posts auf Pinnwänden sollten abschrecken und haben dies, der Legende nach auch, denn die gerade volljährig gewordene Dame, wurde, nachdem ihr Profil vor den 500 anderen Erstsemestern in BGB Allgemeiner Teil vorgetragen wurden, nie wieder in dieser Universität gesehen. Klar hätte man versuchen können sich dagegen zur Wehr zu setzten, aber gegen Informationen, die man selber preisgegeben hat? Und ja, verklagen Sie mal einen Juraprofessor!
LuvLuv, TruYou und The Circle
Ganz ähnlich geht es Mae Holland als sie bei der Präsentation von LuvLuv, einem neuen Tool der Firma Circle, auf die Bühne gebeten wird. Wohl hat sie irgendwo mal über eine Pferdeallergie oder eine Glutenunverträglichkeit gepostet, aber bei der Auswahl für den richtigen Ort für ein Date, das soll dieses Programm leisten, fühlt sie sich als Person nicht komplett wiedergegeben.
Mae kommt aus einer nichtigen Kleinstadt und hat nach dem Studium an einer teuren Eliteuni beim örtlichen Gas- und Stromversorger gearbeitet. Gelangweilt und unterfordert, besorgt ihr Annie, die beste Freundin und Mitbewohnerin aus Collegezeiten einen Job bei The Circle. Dieses fiktive Unternehmen ist eine Verschmelzung aus Google, Facebook, PayPal, Twitter, Xing, Pinterest und jedem anderen heute bereits existierenden Internetdienst. Ein Internetnerd hat mit TruYou, einer der ersten Innovationen des Circle, ein System geschaffen, das alle Plattformen vereint. Die Nutzer melden sich mit ihrem echten Namen und allen wichtigen Daten an, überall werden sie mit Klarnamen angezeigt und hierdurch ist eine permanente Rückverfolgung möglich. Das Pöbeln in Kommentaren und die Trolle des Internets wurden durch diese Transparenz abgestellt und vertrieben, die Welt des Internets zu einer schöneren. Weil der Geek aber weiter an Innovationen tüfteln will, stellt er sich zwei Alphatiere ein, die für ihn das operative Geschäft leiten.
The Circle ist nicht nur eine Firma, sondern zu einer eigenen Welt online und offline gewachsen. Seine über 10.000 Mitarbeiter werden mit Unterhaltung und Kultur überhäuft, mit technischen Gadgets und Wohnraum versorgt, das Essen auf dem Campus ist gratis und wird von Spitzenköchen zubereitet, sie können sämtliche Sportarten betreiben und werden in jeder nur erdenklichen Weise von ihrem Arbeitgeber unterstützt. Die Arbeit, die Mae erledigen muss, ist fordernd, aber befriedigend. Sie wird aber auch angehalten an freiwilligen Gesundheitsprogrammen teilzunehmen, die Veranstaltungen zu besuchen, Produkte ihrer Community zu empfehlen und diese Community durch Fotos, Kommentare und Posts zu füttern.
Das Unternehmen selbst expandiert immer weiter. Es kauft Startups auf, entwickelt ein Unterwasserfahrzeug, pflastert den Planeten mit Kameras und versucht durch einen Chip Kinder vor Entführungen zu schützen. Alle Ziele werden zum Wohle der Allgemeinheit verfolgt. Kriminalität soll verringert werden, auch körperlich eingeschränkte Menschen sollen in den Genuss eines Blicks vom Gipfel kommen, die Demokratie soll moderner und menschlicher werden.
Diese Traumwelt eine Dystopie?
Auf tausenden Buch-Blogs in der Jetztzeit werden nur Dystopien besprochen. Das sind diese Bücher, in denen nach dem Angriff der Aliens, dem Seuchentod von 7 Milliarden oder dem Atomkrieg nur noch zwei Menschen übrig sind, die aus verstrahlter Zahnpasta, einem Bunsenbrenner und einem Lampenschirm das Allheilmittel, die erlösende Waffe oder den Entseuchungsapparat bauen. Oder es sind die letzten Rebellen, die sich gegen die Tyrannei irgendeiner Regierungsform auflehnen, die alle Menschen versklavt hat. Am Ende hilft nur ein Wunder oder Engel.
Mae geht in einem Unternehmen auf, das in seiner offensichtlichen Großartigkeit nur Gutes im Sinn haben kann. Ihrem MS-kranken Vater spendieren sie eine Krankenversicherung, die flächendeckende Überwachung seines Hauses geschieht daher nur zu seinem Nutzen, ihrem Ex-Freund kann Mae mittels ihrer riesigen Followerschar Aufträge besorgen und entlaufene Straftäter können mit Hilfe von einer Milliarde Helfer in knapp zehn Minuten gefasst werden. Dass der per Internet aufgestachelte Mob fast zur Lynchjustiz greift, wird da zur Nebensache, schließlich könnte bald auch die Regierung im Circle aufgehen.
Ich meine, dieses ganze Zeug, mit dem du zu tun hast, das ist alles Klatsch und Tratsch. Da reden Leute hinterrücks übereinander. Das gilt für die überwiegende Mehrheit von diesen Social Media, all diesen Bewertungen, all diesen Kommentare. Deine Tools haben Klatsch und Tratsch, Hörensagen und Behauptungen auf die Ebene gültiger, regulärer Kommunikation erhoben.
Alles wird bewertet, Mae muss jeden Tag unzählige Fragen über ein Headset beantworten: welche Farben habe ihre Lieblingsschuhe, benutzt sie Haarspülung oder würde sie gerne einen Tauchausflug machen und was würde sie dafür ausgeben. Sie wird sogar nach dem Sex von ihrem Partner gefragt wie er war. Es war schlechter Sex, aber sie gibt ihm eine 100/100, mit weniger würde er sich nicht zufrieden geben. Er würde immer weiter nachfragen, solange in sie dringen, bis sie ihr Urteil anhebt. Alle wollen nur noch 5 von 5 Sternen, eine andere Einschätzung ist eine Beleidigung in dieser einen perfekten Welt. Verloren geht dabei aber, was das normale Leben ausmacht, dass es eben auch mal eine 90 gibt, häufig eine 50 und noch häufiger echte Nullen.
Es war wie ein gut geführter Biosupermarkt: Du wusstest, wenn du dort einkauftest, warst du gesünder; du konntest keine schlechte Wahl treffen, weil alles bereits gründlich überprüft worden war. (Offtopic über das Gegenteil)
Mae wird zu einem Aushängeschild der Firma als sie sich zu einer völlig gläsernen Person macht, die ihren gesamten Alltag mit einer Kamera um ihren Hals filmt und gleichzeitig in den sozialen Netzwerken kommentiert. Zur Nebensache bei Millionen von gleichzeitigen Viewern wird da, dass ihre Eltern und der Ex-Freund Mercer sich von ihr abwenden. Das Ungemach das über Mae und die globalisierte, transparente Welt in Form der monopolisitischen Macht des Circle hereinbricht, scheint sowieso nicht mehr aufzuhalten.
Dieses verkorkste System, in dem wir alle stecken
Aus unserer bekannten Welt heraus entwickelt Dave Eggers The Circle, das daher umso realer wirkt. Anders als bei 1984 von George Orwell oder Brave New World von Aldous Huxley lebt Mae nicht von Anfang das Leben in einem repressiven, diktatorischen System, sondern sie gleitet in ein solches hinüber, unter ihrer kräftigen Mithilfe.
Die Transparenz, die der Circle schafft, will nichts Böses, alle seine Innovationen wollen nichts Böses, aber vor lauter transparenter Individualität, geht die Individualität verloren. Der gleiche Zugang zu allen menschlichen Erfahrungen wird als grundlegendes Menschenrecht postuliert. Doch wenn wir alle schon kennen, wollen wir niemanden mehr kennenlernen und so wird getötet was eigentlich stimuliert werden sollte: die Neugier auf neue Orte, neue Menschen und eigene Erfahrungen. Warum noch selber erleben, wenn alles schon erlebt wurde. Wenn alle nur noch zusehen, wer erlebt dann noch etwas, bei dem man zusehen kann?
In der ganzen Kollektivierung wird aber zusehends immer deutlicher wozu diese geschieht, um immer mehr das Ich, aus egoistischen, selbstsüchtigen Motiven in den Vordergrund zu stellen, um immer wieder die Bestätigung des Kollektivs zu diesem Individuum zu erhalten, damit es sich besser und sicherer fühlt, es das Ich, das schon lange im Ganzen aufgegangen ist. Das Erschreckende ist nicht, dass wir unser Ich und seine Daten aus unserer Privatsphäre von einer Übermacht gerissen werden, sondern dass wir sie freiwillig und mit Freude hergeben, zu einem angeblich höheren Ziel, das uns, folgt man Eggers, am Ende verschlingen wird.
Du kommentierst Sachen, und das ist der Ersatz dafür, sie selbst zu tun. Du siehst dir Fotos von Nepal an, klickst auf einen Smile-Button und glaust, das ist das Gleiche, wie nach Nepal zu fahren. Ich meine, was würde denn passieren, wenn du tatsächlich hinfahren würdest? Deine Circle-Shit-Rating oder was auch immer würden unter ein akzeptables Niveau fallen! Mae, ist dir eigentlich klar, wie unglaublich langweilig du geworden bist?
Irgendwann wirst Du erfahren, dass man Likes nicht essen kann
Eggers ist weder ein großer Handlungskonstrukteur noch ein großer Stilist, schrieb Andreas Platthaus in der FAZ und fasst damit gut das literarische Können des Autors zusammen. Aber Eggers hat ein Buch geschrieben, in dem viele Dinge vorhersehbar sind, in dem viele Dinge bereits bekannt sind und in zwei Jahren vielleicht schon überholt, aber er zeichnet eben auch ein Bild, das man sich als Warnung vor Augen führen sollte. Er warnt nicht mit Kassandra Rufen, die lächerlich erscheinen, sondern erzählt eine Parabel von einer besseren Welt, die in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Den Schluss daraus muss jeder Leser selbst ziehen, für sich und für seine Daten. Ich für meinen Teil werde nun im Spiegel ein Foto von mir nach dem Duschen machen und an meine Freundin per WhatsApp schicken.
Am Ende, wenn die Haie kommen, können selbst die Idealisten ihr gutgemeintes Machwerk nicht mehr aufhalten, das immer diktatorischere Züge annimmt, dann können wir nur hoffen, dass die Engel kommen oder das Heilmittel von den zwei Rebellen aus der Enklave gefunden wird.