Ganz naseweiser Schlaumeier habe ich doch neulich ein Loblied auf das Hereinlesen in kleinere Werke von großen Autoren gesungen und trotzdem Arno Schmidts TINA oder über die Unsterblichkeit dreimal nach fünf Seiten abgebrochen. Anklagend lag das schöne Insel Bändchen nun seit Schmidts 100. Geburtstag auf meinem Schreibtisch. Jedem Besucher habe ich den merkwürdigen Satz gezeigt, denn jeder Absatz ist nach einem Wort komplett eingerückt, und ungläubig die ersten Seiten vorgelesen – die self fulfilling prophecy der schweren Lesbarkeit Schmidts. Aber eine vierte Chance sollte kommen, denn gerade einmal etwas über 40 Seiten sollten doch ergebnisoffen zu lesen sein.
Wir leben, solange sich jemand an uns erinnert.
Dante – Die göttliche Komödie
Der Ich-Erzähler, Arno Schmidt selbst wie sich bald herausstellt, wird auf der Straße angequatscht und eingeladen sich gemeinsam mit der Dame vom Kiosk gegenüber und eben dem Mann, den man gerade in der Apotheke das erste Mal traf, die Unterwelt anzusehen: unverbindlich, 36-Stunden nur, jederzeit abzubrechen. Sein Reiseführer übrigens Christian August Fischer (1771-1828), die Dame aus dem Kiosk Kathinka „Tina“ Zitz-Halein (1801-1877) beide heute (fast) vergessene Schriftsteller. Im Elysium werden alle Gestorbenen so lange geparkt bis man sich auf der Welt nicht mehr an sie erinnert; alle Bücher und Medien, in denen sie erwähnt werden, müssen verschwinden bis auch sie ins Nichts eingehen können. Je berühmter der Verstorbene desto länger also sein voraussichtlicher Aufenthalt in dieser Vorhölle, die, mit eigenem Währungssystem und vielfältigen Betätigungsmöglichkeiten, eigentlich ein angenehmer Ort zu sein scheint, wäre nicht die Malaise der Unsterblichkeit. Gutenberg ist hier unten ein verfolgter Mann, der, als einer der Hauptverantwortlichen für das Festsitzen der Meisten, keine Nacht im selben Bett schlafen kann. Aber nicht nur Goethe, von dem laut Aushang allein am 24.11.1955 460 mal, und davon 458 mal falsch, Verszeilen zitiert wurden, auch einfache Bauern namens Meier können hier festgehalten werden, so lange nur die Dorfstraße, die nach ihnen benannt wurde fortexistiert. Dem Gast und Autor wird nicht nur klar, dass er das Publizieren von Büchern einstellen muss, nein auch die Zerstörung des bisher Veröffentlichten muss angegangen werden, inklusive der Aufträge seiner neuen Geliebten.
Auf diesen wenigen Seiten erschafft Schmidt eine eigene (Unter-)Welt, lässt Fontane und Spitzweg eine Apotheke betreiben und bekommt eine Liebesgeschichte unter. Diese kleine Geschichte enthält einen Witz, den man nur pfiffig nennen kann; ein Schelmenstück nicht nur die Schnurren Schmidts mit Leer- und Satzzeichen zu jonglieren, sondern diese gesamte herrliche kleine Erzählung. Das Jenseits als literarisches Thema ist nicht neu und durch das Einbeziehen bekannter Verstorbener ein solches mit niedriger Einstiegsschwelle für den skeptischen Leser, zwischen der Verarbeitung desselben Sujets liegen aber z.B. zwischen Lewitscharoff mit Consummatus und Schmidts TINA Welten aus Esprit und Humor: Was Arno auf 40 Seiten (er)schafft, vermag Sibylle nicht auf 240.
Wer sich hier nicht amüsiert, amüsiert sich nie; bitte nicht nach fünf Seiten weglegen, sondern lesen. Ich fange nun wieder von vorne an, aber nicht wie die letzten Male; morgen kaufe ich mir mehr von diesem Schelm namens Arno Schmidt.
Was ist demnach das beste Rezept für ein Erdenleben überhaupt, oben wie unten ? : “Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten. Kirche gehen. Wenn n großer Mann in der Nähe auftaucht, in n Stall verschwinden : dahin kommt er kaum nach ! Gegen Schreib= und Leseunterricht stimmen; für die Wiederaufrüstung : Atombomen !”.