Der Journalist und Autor Volker Weidermann studierte Politikwissenschaften und Germanitik und ist seit 2003 Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Mit seinen Büchern Lichtjahre – Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute und Das Buch der verbrannten Bücher schrieb er zwei Werke, die für jeden Literaturbegeisterten eine Fundgrube an Entdeckungen bereithalten und zur Kanonisierung der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts beigetragen haben. Sein Buch Ostende: 1936, Sommer der Freundschaft wurde dieses Jahr zum Bestseller und handelt von der Freundschaft Stefan Zweigs zu Joseph Roth und den exilierten deutschen Schriftstellern, die sich im Sommer 1936 im kleinen Nordseebad Ostende in Belgien trafen.
Im Gespräch mit 54books spricht Volker Weidermann über die Arbeit an Ostende, den Einfluss von Marcel Reich-Ranicki auf seine Arbeit und mit wem er gerne mal am Strand spazieren würde.
Die Arbeit an Ostende
54books: Wer ist der Stefan Zweig aus ihrem Buch: der Stefan Zweig, ihr Stefan Zweig oder eine Chimäre?
Volker Weidermann: Oh, ich fürchte selbst Stefan Zweig hätte uns den wahren Stefan Zweig nicht beschreiben können. Joseph Roth auch nicht. Friederike, seine erste Frau, die später ein komplett verzerrtes Lebensbildnis ihres Mannes zeichnete – erst recht nicht. Aber schon falsch: was heißt “erst recht nicht”. Ich weiß es ja nicht. Ich war nicht dabei, habe ihn nicht kennen gelernt. Klar also, dass es “mein Stefan Zweig” ist, den ich da beschreibe. Ich bin natürlich sicher: superdicht an der Wirklichkeit. So dicht, wie ich nach jahre-, ja jahrzentelanger Zweig-Lektüre heran kommen konnte. Aber womöglich auch: meilenweit entfernt…
54books: Gibt es eine Recherchespirale, in der man immer noch einen “letzten” Tagebucheintrag, einen Brief sucht, um darin in einem vorher unentdeckten Detail den Schlüssel zur Gefühlswelt von Stefan Zweig oder Joseph Roth zu finden?
Volker Weidermann: Jo. Gibt es. Große Kunst: immer wieder Wege abbrechen, nicht weitergehen, um sich nicht zu verlaufen. Immer den Kern der Geschichte im Blick behalten. Das, was einem wirklich zu sagen wichtig ist.
54books: “In manchem Betracht gewannen seine Bücher durch die Übersetzung. Seine Prosa ist nachlässig, reich an Füllseln und schiefen Bildern”, schrieb Hermann Kesten über den Freund Stefan Zweig. Fritz J. Raddatz nannte ihn in einem Brief an Kesten gar den “Friseur unter den Literaten”. Wie erklären Sie sich seinen ungebrochenen, sogar neu aufbrandenden, Erfolg?
Volker Weidermann: Er war ein Meister darin, Menschen zu lesen. Das Innerste der Menschen zu erkennen. Dabei wurde er – und seine Sprache – oft sentimental. Aber scheinbar ist seine Menschenfreundlichkeit, seine Verstehenskunst so groß, dass die Menschen ihm seine stilistischen Schwächen verzeihen. Ungefähr so sah das ja auch Joseph Roth.
54books: Schätzen Sie Stefan Zweig mehr als Schriftsteller oder als Chronisten seiner Zeit?
Volker Weidermann: Als Chronist ist er kolossal unzuverlässig. Ich bin nicht sicher, ob auch nur ein Wort in der Welt von gestern wahr ist. Als Dokument würde ich es jedenfalls nicht empfehlen.
Verbrannte Bücher
54books: Der Roman Schlump wurde, auch mit Ihrer Hilfe, wiederentdeckt und neuaufgelegt. Welchem der verbrannten Schriftsteller aus Ihrem Buch würden Sie eine Renaissance wünschen?
Volker Weidermann: Arthur Holitscher. Maria Leitner. Rudolf Geist. Armin T. Wegner.
54books: Fiel es Ihnen so leicht wie es scheint die Autoren in Gruppen zu sortieren?
Volker Weidermann: Nö. Aber muss ja.
54books: Ich mutmaße, dass wir Ostende auch den Recherchen zu den verbrannten Büchern verdanken. Wann kommt das Pendant zu Lichtjahre; vielleicht ein neues Treffen in Telgte?
Volker Weidermann: Super Idee. Erscheinungstermin aber noch ungewiss.
Die Arbeit für die FAS
54books: “Sein Buch ist leider furchtbar. Rührselig. Kitschig. Gut gemeint.”, schreiben Sie über Georg Fink in den verbrannten Büchern. Würden Sie einen lebenden Autor in einem Artikel derart abstrafen oder lieber schweigen über ein Buch, das nur diese Meinung verdient?
Volker Weidermann: Mein Sonntags-Privileg: Ich kann in der FAS irre viel weglassen. Eigentlich alles. Ich hab keine Rezensionspflichten. Das erspart mir viel (und vielleicht auch vielen Autoren). Ich lobe lieber. Und lese lieber gute Bücher.
54books: Als letztes Jahr Marcel Reich-Ranicki starb, ging auch eine Ära der populären Literaturkritik zu Ende. Sehen Sie einen würdigen Nachfolger, vielleicht aus den Reihen derer, die zwei Generationen jünger sind als MRR?
Volker Weidermann: Nee. Ich sehe mich natürlich nicht als “würdigen Nachfolger”. So selbstbegeistert bin ich gerade noch nicht. Er war halt großartig. Ein phantastisches Geschenk für mich und die deutsche Literatur. Ich hab unfassbar viel von ihm gelernt. Schon während des Studiums. Auch aus dem Literarischen Quartett. Er war eben zu allererst ein toller Journalist.
Das Wichtigste – gerade in Zeiten, in denen Journalisten, Kritiker usw. nach Schutz suchen, ihre ungelesenen Artikel subventionieren zu lassen, vom Staat, von was weiß ich wem – ist der Text. Der Text ist wichtig. Der Text ist die Party. Die Leute wollen keine Literaturkritiken lesen? Gut, dann zwingen wir sie mit sanfter Gewalt und zwar mit: Unterhaltsamkeit. Verständlichkeit. Entschiedenheit. – mit gutem Journalismus.
54books: Was haben Sie persönlich, die Sie anlässlich seiner Kolumne in der FAS: Fragen Sie Reich-Ranicki jede Woche mit ihm Kontakt hatten, für Ihre Arbeit von ihm gelernt?
Volker Weidermann: Es war vor allem persönlich toll. Auch die Telefonate mit ihm – immer zwei, drei pro Woche, zwölf Jahre lang, waren nie langweilig. Und er forderte den Telefonpartner auch immer mit seinem nervigen” Was gibt es Neues”. Da musste man sich schon jedesmal zwei, drei gute Geschichten zurechtlegen. Sonst war das Gespräch schnell vorbei.
54books: Wenn Reich-Ranicki über Walsers Jenseits der Liebe schreibt, “Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman”, könnte das in seiner Deutlichkeit auch von Ihnen kommen. Eindeutige Parallelen – sind Sie gar der Nachfolger?
Immer noch nicht. Immer noch nicht. Aber ich bin ein fanatischer “in-Spuren-Geher”, wie Thomas Mann das mal genannt hat. Ich suche mir Vorbilder, ich will anknüpfen da, wo Fäden abgerissen sind, oder einer liegengelassen wurde. Ich brauche diese Spuren. Wie groß auch immer die sein mögen, das ist mir egal; oder: ja, ich suche gern große Spuren. Wie kleine meine eigenen Abdrücke dann darin wirken, ist mir egal.
54books: Sie sind mit Alice Carey auf den Spuren der gleichnamigen Erzählung von Max Frisch nach Montauk gefahren. Mit welcher weiteren Lynn, real oder fiktiv, wollen Sie mal am Strand spazieren?
Volker Weidermann: Irmgard natürlich. Irmgard Keun. Zum Beispiel. Oder Mascha Kaleko.
54books: Vor kurzem habe ich nach zehn Jahren Der Fänger im Roggen wiedergelesen und war erschüttert von der Großartigkeit dieses Buches, das mich vorher nicht wirklich berührte. Ihre Begeisterung für Montauk bringt mich dazu es bald noch einmal zu lesen, nachdem ich es vor sieben Jahren für langweilig befunden habe. Was war ihr letztes Erweckungserlebnis?
Volker Weidermann: Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene
54books: Sie sind u.a. Fachmann für Max Frisch und Exilliteratur, nun auch Herausgeber der Werke von Armin T. Wegner. Nehmen Sie sich ein fiktives Sabbatjahr. Zu wem möchten Sie in Ruhe forschen?
Volker Weidermann: Georg Büchner
54books: Herr Weidermann, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!