Was für eine Geschichte ist es denn, die ich zu erzählen habe?
Die Geschichte eines Intellektuellen zwischen zwei Weltkriegen, eines Mannes also, der die entscheidenden Lebensjahre in einem sozialen und geistigen Vakuum verbringen mußte: innig – aber erfolglos – darum bemüht, den Anschluß an irgendeine Gemeinschaft zu finden, sich irgendeiner Ordnung einzufügen: immer schweifend, immer ruhelos, beunruhigt, umgetrieben, immer auf der Suche …;
die Geschichte eines Deutschen, der zum Europäer, eines Europäers, der zum Weltbürger werden wollte;
die Geschichte eines Individualisten, dem vor der Anarchie fast ebenso sehr graut wie vor der Standardisierung, der “Gleichschaltung”, der “Vermassung”;
die Geschichte eines Schriftstellers, dessen primäre Interessen in der ästhetisch-religiös-erotischen Sphäre liegen, der aber unter dem Druck der Verhältnisse zu einer politisch verantwortungsbewußten, sogar kämpferischen Position gelangt…
So beschreibt Klaus Mann das Projekt seine Erinnerungen niederzuschreiben. Der Sohn Thomas’, der Neffe Heinrichs, der Bruder Golos, Erikas und Enkel der Pringsheims, Jahrgang 1906 war wohl einer der bedeutensten jungen Exil-Schriftsteller. Die Erinnerungen, die 1945 enden und üppige 700 Seiten umfassen, stellen ein Panoptikum der Geistes- und Kulturgeschichte Europas von 1918 bis 1945 dar. Nicht nur aufgrund seiner Familiengeschichte und -beziehungen, sondern auch wegen seiner persönlichen Leistungen kommt Mann in Kontakt mit nahezu allen intellektuellen Größen des angehenden 20. Jahrhunderts. Neben essayistischen Betrachtungen zur (Kultur-)Geschichte Deutschlands und Europas werden persönliche Bekanntschaften, Meinungen und Erfahrungen geschildert.
Die Kindheitserinnerungen aus dem ersten Weltkrieg, das Aufwachsen mit, oder unter, dem größten deutschen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts, die Sorgen und Nöte, aber auch Schrullen aus dem Alltag einer Intellektuellenfamilie. Umbruchstimmung zur Zeit der Weimarer Republik, die auch den jungen Schüler, Tänzer und Schriftsteller erfasst, schlägt in neue Sorgen um; aber auch die Hoffnung der Jugend blieb und wird beschrieben.
So begegnet Klaus dem aufstrebenden, erdbeertörtchenverspeisenden Hitler im Münchner Café und beruhigt sich mit der hoffnungsvoll, arroganten Vision des Scheitern Schicklgrubers; krasser Gegensatz dazu das bewegende Kapitel “Die Schrift an der Wand”. Hier beschreibt Mann u.a. die vielen resignierten Selbstmorde seiner Freunde und Bekannten zu Beginn der 30er Jahre. Den schweren Jahren der Angst, des Exils und der Heimatlosigkeit, folgen dann aber auch wieder schrullige Anekdoten von Joseph Roth, Ödön von Horváth, liebevolle Porträts von Ludwig Marcuse, Stefan Zweig, seiner Geschwister und Familie.
Der amerikanophile Mann schildert aber auch objektiv die Ignoranz mancher G.I.s, die den Nürnberger Parteitag für “a pretty good show” und die Bücherverbrennungen für “a lot of fun” halten, er trifft als Journalist nach dem Krieg Göring oder den alten Richard Strauss, der einzelne Nazis für famose Menschen hielt.
Fesselnd, aber nachdenklich und zum Teil sehr bedrückend zeichnet Klaus Mann deutsche und europäische Geschichte, die schließlich zur Weltgeschichte werden soll. Er beobachtet, analysiert, resigniert und schöpft wieder Hoffnung.
Immer wieder bringen einen aber auch seine Beobachtungen zum Schmunzeln:
Er [Max Brod] hatte Kafka entdeckt, dessen Ruhm um 1935 noch nicht so modisch laut war wie heutzutage, da man sich beinahe schämen muß, einen Dichter zu lieben, der von so vielen Snobs und Schmöcken gepriesen (wenn auch nicht immer gelesen oder gar verstanden) wird.
Um dann wieder der Einsicht zu weichen, dass sich der Autor kurz nach seiner deutschen Bearbeitung des Werks das Leben nahm. Vorboten bereits der omnipräsente Todeswunsch aus den Tagebuchaufzeichnungen aus dem Oktober ‘42:
Ich wünsche mir den Tod. Der Tod wär mir sehr erwünscht. Ich möchte gerne sterben. Das Leben ist mir unangenehm. Ich mag nicht mehr leben. Es wäre mir äußerst lieb, nicht mehr leben zu müssen. Der Tod wäre mir entschieden angenehm. Ich wünsche mir den Tod.
Ein solcher Chronist hätte mit dieser Beobachtungsgabe und diesem Mut auch unserer Zeit, oder zumindest den 50er, 60er und 70er Jahren, gut getan.