Die Erinnerungen eines Europäers sind vielmehr die Memoiren eines gebrochenen Mannes, eines enttäuschten Pazifisten, eines der größten Schriftsteller und Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Nach den (glücklicherweise) kurzen Ausführungen zu der Vergangenheit seiner Familie, schildert Stefan Zweig seine Kindheit und Jugend in Wien, als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Schon früh beginnt er sich für Literatur und Theater zu interessieren und kritisiert das, alle Individualität erstickende, Schulsystem des endenden 19. Jahrhunderts. In die Zeit seines Aufstiega als Autor, der bereits in jungen Jahren einen Gedichtband und erste Essays veröffentlicht, fallen auch die ersten Begegnungen mit den Größen dieser Zeit. Er verehrt Hugo von Hofmannsthal und besucht ihn bei Vorträgen, er bewundert die Schauspieler Wiens und arbeitet doch selbst bald für Theodor Herzl und reist als Student nach Paris und London.
Schon vor dem ersten Weltkrieg wandelt sich Zweig zum Kosmopoliten, der auch nach Indien und Nord- und Südamerika reist, überall freundliche Menschen kennenlernt, deren Namen zumeist später in die Geschichte eingehen. Geschockt von den Entwicklungen, die zum ersten Weltkrieg führen, beschreibt er plastisch die Stimmung in Österreich, Belgien, Deutschland und Frankreich.
Zweig schildert, durchweg gefühlvoll, Strömungen, Erregungen und Hoffnungen des Volkes, aber auch seine eigenen Gedanken dazu. Die Zeitgeschichte hinter seinen Beschreibungen setzt er dagegen größtenteils als bekannt voraus. In der Zwischenkriegszeit hofft er auf einen dauerhaften europäischen Frieden, setzt sich mit Freunden dafür ein, gesteht aber auch im Rückblick seine damalige Beklemmung, ob der Inflation in Österreich und Deutschland und der politischen Wirrnisse dieser Zeit, nicht nur in der Weimarer Republik, sondern gesamteuropäisch. Über dem ganzen, in Zweigs detailreichem Stil geschriebenen, Werk hängt merklich die Enttäuschung, die diesen großen Europäer bei der Niederschrift in den ersten Jahren der 40er bereits überkommen hatte und ihn wenig später in den Selbstmord treiben sollte. Resigniert ob der Greul, die die Erde nun schon zum zweiten Mal, überzogen, im Angesicht eines sich immer weiter und grausamer ausbreitenden Hitler-Deutschland, verzweifelt Zweig in seinem Exil.
Stefan Zweig ist ein zurückhaltender, fast demütiger Chronist seiner Zeit. Mit derselben Ehrfurcht, mit der wir heute diesem Mann begegnen würden, trifft Zweig seine Zeitgenossen, die er heute teilweise in ihrem Ruhm überflügelt hat. Zwischen den Seiten lauern immer wieder Geheimtipps wie William Blake, Paul Valéry oder Henri Barbusse und natürlich der von Zweig fast vergötterte Romain Rolland. Wobei diese vier nur wahllos herausgegriffene Beispiele sind für Personen und Werke, mit denen ich mich aufgrund seines Lobes und seiner Begeisterung in Zukunft näher beschäftigen will. Weiteres Highlight ist die Schilderung seiner Leidenschaft für die Sammlung von Autographen und einige Beispiele aus seiner umfangreichen Sammlung, umso rührender dann aber seine Euphorie über die Begegnung 1910 mit einer alten Damen, die Goethe noch kennengelernt hat.
Dieses Buch kann ich jedem, der Interesse an der europäischen Geschichte, den Metropolen und den Intellektuellen des 20. Jahrhunderts hat, aber denen, die die Gedanken und Innenwelt eines Mannes kennenlernen wollen, der als wirklicher Pazifist, die Idee eines geeinten Europas unterstützt, die Kunst geliebt hat und am Ende daran zerbrochen ist, dass viele Chancen für eine bessere Welt nicht genutzt wurden. Völlig zurecht, auch nach dem Wiederlesen, (weiter) auf meiner TopList!