https://www.faz.net/-gr0-6ygz2

Romane im Frühjahr : Auf der Jagd nach einem Phantom

  • Aktualisiert am

Bild: Graf Verlag

Von Göttern und Gegenwart, Eigenbrötlern und Exempeln: bei Autoren wie Mathias Gatza und Péter Nadás geht es in diesem Frühjahr um die großen kosmischen Zusammenhänge. Eine Auswahl aus unserer Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse.

          5 Min.

          Von Göttern und Gegenwart, Eigenbrötlern und Exempeln: bei Autoren wie Mathias Gatza und Péter Nadás geht es in diesem Frühjahr um die großen kosmischen Zusammenhänge. Eine Auswahl aus unserer Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse.

          Was für eine Welt! Das Wissen explodiert, die Grenzen zwischen den Disziplinen verwischen, der Fortschritt ist schneller als die Einsicht, und China droht mit seinen Erfindungen und seiner Produktivität die alte Welt noch älter aussehen zu lassen, wie überhaupt der Globus beängstigend zusammenrückt. Es ist noch nicht lange her, da hat ein verheerender Krieg Europa in Trümmer gelegt, und die Erinnerung daran bleibt eine Wunde, auch wenn diejenigen, die diese Barbarei noch selbst erlebt haben, immer weniger werden. Die großen Städte sind gigantische Baustellen, wo die etablierten Marken mit Residenzen ihr Revier abstecken. Es ist eine Epoche der Selbstinszenierung, der Wissensrevolution und der ständigen Reizüberflutung. Wer die Kunst dieser Zeit betrachtet, sieht Blumen, Früchte und Totenschädel; wer aus den Bildern in die Welt schaut, entdeckt Prachtentfaltung und Barbarei - und eine so ansteckende wie gefährliche Illusionsbegeisterung.

          Was ein Porträt unserer Zeit sein könnte, ist tatsächlich ein Panorama des Barocks. Diesen Blickwechsel wagt nicht zufällig jetzt Mathias Gatza, der schon früher im scheinbar Entlegenen das überraschend Zeitgemäße hervorholte. Gatza ist neunundvierzig Jahre alt und hat die Literatur und ihren Betrieb über zwei Jahrzehnte als Leser, Lektor, Verleger und Schriftsteller aus ebenso vielen Perspektiven erkundet wie jetzt seinen historischen Romanstoff. Seine geistige und sinnliche Zeitreise in die Blüte des Dresdner Barock unternimmt er dezidiert aus der Gegenwart heraus - und das macht seinen Kunst-Liebes-Philosophie-Krimi „Der Augentäuscher“ von einem schmissig-eleganten Mantel-und-Degen-Roman zu einer faszinierenden Folie unserer Gegenwart.

          Briefroman, Thriller, Wissenschaftsfarce - Gatza jongliert mit beängstigend vielen Genres zugleich. Dabei ist ihm die Wahrscheinlichkeit der Handlung mit barocker Nonchalance im Grunde gar nicht so wichtig. Ähnlich wie in seinem erstaunlichen Debütroman „Im Schatten der Tiere“ von 2008 legt er zwar auch hier für Trüffelsucher alle möglichen Fährten aus, doch ist diesmal nicht allein ein neugieriger Intellektueller und hochversierter Rechercheur am Werk, sondern vor allem ein lustvoller Erzähler. Und noch dazu einer mit Humor.

          Frühen Zeitgeist weiterspinnen

          Präsentiert wird die aktionsgeladene Reflexion über unsere Sehgewohnheiten in einem dreifach gebrochenen Plot. Das Buch tritt uns auf den ersten Seiten entgegen als unentgeltlicher Download von der Internetseite eines namenlos bleibenden Herausgebers, der ohne Verlag, ohne Fürsprecher und ohne höhere akademische Weihen selbstbewusst verkündet, mit seinem Dokument „das Bild des deutschen Barocks, die gesamte Bildgeschichte und die Kunstgeschichte überhaupt“ neu schreiben zu wollen. Die Mischung aus Größenwahn, erschreckender Offenheit - die Bemerkungen zu seiner Selbsteinschätzung, seinen Zwangshandlungen und seinem Kommunikationsverhalten sind geeignet, an jeder zweiten Biegung Scharen von Therapeuten auf den Plan zu rufen - und stolzer Skrupellosigkeit bei der Verfolgung seiner Mission nimmt der vermeintlich wissenschaftlichen Abhandlung alle Erdenschwere. Zwar geht es um nicht weniger als die Frage danach, was und wie wir sehen - aber das Nachdenken darüber führt vom Atelier des Goldenen Zeitalters bis zu den Promibildchen der „Gala“, vom vatikanischen Archiv (kleiner Gruß an Dan Brown) zum zerwühlten Liebeslager.

          Weitere Themen

          Herr der tollen Fliegen

          Peter Raue zum Achtzigsten : Herr der tollen Fliegen

          Quirlig, hellwach, charmant: Er holte die Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art nach Berlin und vertrat Mandanten wie Frank Castorf und Heiner Müller. Nun wird der Anwalt und Kunstfreund Peter Raue achtzig Jahre alt.

          „Land“ (OV) Video-Seite öffnen

          Trailer : „Land“ (OV)

          „Land“, Reg. Robin Wright. Mit: Robin Wright, Demián Bichir, Sarah Dawn Pledge. Start: 12.02.2021 (Amerika).

          Topmeldungen

          Von der Riester-Rente hatte man sich einst mehr Komfort im Alter erhofft.

          Riester-Rente : Vier verschenkte Jahre für deutsche Sparer

          Die Koalition wollte die private Altersvorsorge einfacher und billiger machen. Dafür hatte sie zwei Varianten zur Auswahl. Doch auf den letzten Metern verlässt die Politik der Reformwille. Sie hat sich für keine von beiden entschieden.
          Polizisten patrouillieren am 22. Januar in Kitzbühel in Tirol.

          Gefahr durch Mutante : Österreich erwägt Abriegelung Tirols

          Österreich will die Ausbreitung der südafrikanischen Corona-Mutante verhindern. Fachleute warnen vor einem „zweiten Ischgl“. Der Tiroler Landeshauptmann warnt vor übertriebenen Maßnahmen.
          Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, die Bundesvorsitzenden der SPD, kurz vor Beginn des Koalitionsausschusses vor dem Bundeskanzleramt

          Weitere Pandemie-Hilfen : Ein Corona-Paket ohne Wumms

          Union und SPD haben geräuschlos getagt und diverse Hilfsmaßnahmen verkündet. Das Ergebnis ist eine merkwürdige Mischung aus Großzügigkeit und Sparsamkeit.
          Sigrid Graumann, Alena Buyx und Volker Lipp präsentieren die Empfehlungen des Ethikrates

          Ad-hoc-Empfehlung : Ethikrat gegen Lockerungen für Geimpfte

          Der Ethikrat spricht sich dagegen aus, dass staatliche Freiheitsbeschränkungen zum aktuellen Zeitpunkt individuell zurückgenommen werden. Sobald dem Gesundheitssystem kein Kollaps mehr drohe, müssten die Einschränkungen für alle aufgehoben werden.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Abonnieren Sie unsere FAZ.NET-Newsletter und wir liefern die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.